Mexiko und zurück - Klaus Neugebauer - E-Book

Mexiko und zurück E-Book

Klaus Neugebauer

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Beschreibung

Nach dem Scheitern seiner Partnerschaft bemüht sich ein Vater vergebens, den Kontakt zu seinem Kind aufrechtzuerhalten. Die italienischen Behörden stellen sich hinter die Mutter und deren Verwandtschaft. Jeder Versuch, ein Besuchsrecht gerichtlich durchzusetzen, schlägt fehl. Daher entschließt er sich zur Selbsthilfe, wohl wissend, dass dieser Weg ins rechtliche Abseits führt. Der Autor beschreibt minutiös alle Stationen des Spießrutenlaufes vor und nach der Entführung seiner fünfjährigen Tochter. Doch Klaus Neugebauer "entführt" auch seine Leser: einmal in das Herz eines Vaters, der sein Glück in dem seiner Kinder findet, ein andermal in das Räderwerk behördlicher Mechanismen, darüber hinaus auf eine weite Reise nach Mittelamerika, die mit außergewöhnlichen Erlebnissen überrascht - wie zum Beispiel mit tiefen Einblicken in das Innenleben mexikanischer Gefängnisse.

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Seitenzahl: 602

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Widmung

I. Veronikas Geburt

II. Aufbruch nach Deutschland

III. Veronikas zwangsweise Rückführung nach Italien

IV. Suche nach neuen Perspektiven

V. Letzte pflegschaftsgerichtliche Entscheidungen

VI. Vorbereitungen zur Selbsthilfe

VII. Veronika bei uns!

VIII. Fort von Europa

IX. Am Stillen Ozean

X. Übersiedlung an den Atlantik

XI. Yucatán

XII. Mexikanische Karibik und Maya-Kultur

XIII. Interpol auf unseren Fersen

XIV. Noch ein Besuch im alten Maya-Reich

XV. Abschied von Mérida

XVI. Grenzübertritt nach Guatemala

XVII. Trennung von meinen Kindern

XVIII. In mexikanischer Auslieferungshaft

XIX. Emilys Besuch

XX. „Reclusorio Sur“

XXI. Gerichtsverhandlung auf mexikanisch

XXII. Überstellung nach Italien

XXIII. Im Gefängnis von Rom-Rebibbia

XXIV. Im Sicherheitsgefängnis Tolmezzo

XXV. Vor den Gerichten in Friaul

XXVI. Weiter in U-Haft

XXVII. Neue Gutachten und Verhandlungen

XXVIII. Urteil im Unterhaltsprozess

XXIX. Heimkehr

Nachwort

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2013 novum publishing gmbh

ISBN Printausgabe: 978-3-99026-875-9

ISBN e-book: 978-3-99026-876-6

Lektorat: Angelika Glock

Umschlagfoto: Klaus Neugebauer

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Klaus Neugebauer (25), Landkarten: © Kunth Verlag GmbH & Co. KG, München

Widmung

Vater und Schwester widmen dieses Buch

I. Veronikas Geburt

Ich erzähle Ihnen eine wahre Geschichte. Eine Geschichte, die noch nicht zu Ende ist.

Die Geschichte einer großen Eltern- und Geschwisterliebe.

Meine erstgeborene Tochter, Emily, wuchs im anmutigen Friaul auf, umgeben von heiteren Menschen, von Wiesen, Äckern, Weingärten, Obstplantagen und ruhigen Landstraßen.Im Süden dieser noch heilen Welt breiten sich die Lagunen der Adria aus, nördlich davon stellen sich die Voralpen in einem faszinierenden Bogen um die mediterrane Ebene zum Schutz vor dem rauen Klima jenseits der Berge. Einen schöneren Ort der Kindheit konnte es nicht geben. Schon deshalb hatte ich es nicht bereut, einen Arbeitswechsel nach Italien zu vollziehen, in ein Land, das mir aus einem früheren, mehrjährigen Aufenthalt in bester Erinnerung geblieben war.

Je größer eine Idylle, desto kürzer ihr Bestand: So legte sich in dieser goldenen Zeit allmählich und unaufhaltsam ein Schatten über meine Ehe.

Ich war seit zwanzig Jahren verheiratet, doch statt einer wachsenden Übereinstimmung mit meiner Frau kam es zu immer zahlreicheren Differenzen. In ihr ging eine Persönlichkeitsveränderung vor sich, die mit größter Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang stand mit den schweren psychischen Problemen, die ihre Zwillingsschwester von Jugend an hatte. Alle Versuche, sie zu einem Nachdenken in Fragen zu bewegen, die für ein harmonisches Zusammenleben unverzichtbar waren, blieben erfolglos.

Als ich mich 1990 in Udine selbstständig machte und ein Büro für Schadensregulierung eröffnete, bat ich meine Frau um Mithilfe, da ich mir noch kein Personal leisten konnte. Sie war dazu aber nicht bereit. Sie wollte sich nicht aus dem gemütlichen Leben auf dem Lande reißen lassen. Diese Absage an unser gemeinschaftliches Fortkommen war das Aus für unsere Partnerschaft. Ich biss die Zähne zusammen, machte fortan alles allein und beschloss, diesen Zustand weiter aufrechtzuerhalten. Es war mir nämlich klar, dass bei einer Auseinandersetzung mit meiner Frau das geringe Alter unserer Tochter Emily ein entscheidender Faktor für ihren Verbleib bei der Mutter sein würde. Auf Emily zu verzichten, war für mich völlig unvorstellbar. Als Vater in vorgerücktem Alter nahm ich meine Verantwortung für ihre Gegenwart und Zukunft wichtiger als alles andere. Wir waren so zusammengewachsen, dass eine Trennung auf Jahre für das Kind folgenschwer gewesen wäre. Ich konnte sie der Alleinerziehung meiner Frau, die zunehmend verhaltensauffällig wurde, bei bestem Wissen und Gewissen nicht überlassen.

So nahm ich mir vor, stillzuhalten, bis Emily zwölf Jahre alt war. Dann hätte sie die Situation selbst beurteilen und eine Entscheidung für ihren weiteren Verbleib treffen können.

Es fehlten noch sechs Jahre bis dahin. Ich gab mir Mühe, Diskussionen mit meiner Frau aus dem Weg zu gehen und nach außen hin Normalität zu zeigen.

Emily überstand diese Zeit unbeschadet. Die Umwelt war voller Ablenkungen für sie, ich unternahm mit ihr, was ich nur konnte. Lange Radausflüge, Rollschuhfahren, Tennis, Schwimmen, Wandern.

Manchmal kam es vor, dass sie mich, nachdem ich einer Meinungsverschiedenheit mit meiner Frau aus dem Wege gegangen war, fragte, weshalb ich mich nicht verteidigt hätte. Ich gab ihr auf diese Frage zu bedenken, dass ich, sollte es zu einem wirklich tief greifenden Zerwürfnis mit ihrer Mutter kommen, nicht mehr daheim bleiben könnte und wir uns folglich kaum mehr sehen würden. Dies genügte ihr. Ich durfte sie darüber hinaus nicht beunruhigen mit Problemen unserer Familie oder meiner Arbeit. Dazu war sie noch viel zu klein.

Eines Tages in jener Zeit lernte ich eine Italienerin kennen. Ich war glücklich darüber, einen Menschen gefunden zu haben, dem ich mich öffnen und mit dem ich viele Stunden im Gespräch verbringen konnte. Sie hieß Mary Berta, war dreiunddreißig Jahre alt, unverheiratet und lebte, immer noch eingebettet in ihrer Familie, in einem kleinen Landort bei Pordenone. Es mangelte ihr sichtlich an Selbstbewusstsein, ihr Vater war früh verstorben, die Mutter der Erziehung der drei Töchter nicht gewachsen. Daher hatte die älteste Tochter Sara die beiden jüngeren Schwestern Paola und Mary Berta unter ihre Fittiche genommen.

Als ich Mary Berta schon etwas näher kannte, wurde mir ihre Abhängigkeit von Sara mehr und mehr bewusst. Sie erledigte für ihre Schwester fast täglich irgendwelche Wege, was ihre Freizeit erheblich einschränkte. Ich machte ihr klar, dass Sara ihre persönlichen Dinge selbst zu besorgen hätte, im Übrigen war da noch Saras Tochter aus einer geschiedenen Ehe, die ihrer Mutter sehr wohl an die Hand gehen konnte.

Mit der Zeit gelang es mir, Mary Berta aus dem Abhängigkeitsverhältnis zu Sara herauszulösen und für unsere gemeinsamen Interessen zu gewinnen.

Der Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft war in Mary Berta und mir bald zu einer wechselseitigen Zusage herangereift. Ich knüpfte mein Versprechen mit Rücksicht auf Emily allerdings an die Bedingung, dass unser Zusammenleben erst mit Emilys zwölftem Lebensjahr beginnen konnte, zu welchem Zeitpunkt ich auch die faktische Trennung von meiner Ehegattin vollziehen würde.

Mary Berta war damit einverstanden. Es gelang uns, unsere Verbindung über Jahre geheim zu halten. Mary Berta begleitete mich auf Geschäftsreisen nach Deutschland, Tschechien und Ungarn, wobei wir immer in Wien Halt machten, wo ich eine kleine Wohnung nach meinem verstorbenen Onkel besaß.

Ich konnte es eines Tages so arrangieren, dass Emily Mary Berta kennenlernte, ohne etwas von deren Rolle mitzubekommen.

Die Zeit verging schnell. Ich dachte viel über die Zukunft nach und gelangte zu der Überzeugung, dass meine Verbindung mit Mary Berta erst dann in ihrer vollen Bedeutung besiegelt würde, wenn wir ein Kind bekämen. Zudem wäre es für Emily nicht gut gewesen, ein Einzelkind zu bleiben und früher oder später allein dazustehen, ohne irgendeinen engeren Verwandten. Als spät geborenes Wunschkind konnte sie nicht einmal mit ihren Eltern auf lange Zeit rechnen.

Mary Berta spürte ebenso das Verlangen, endlich eine Familie zu gründen. Im Spätherbst des Jahres 1997 kündigte sich zu unserer immensen Freude meine zweite Tochter an.

Nun war es an der Zeit, Emily in die Geschehnisse einzuweihen. Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit hinter sich und war meines Erachtens schon stark genug, die zukünftigen Ereignisse mitzutragen. Was ich ihr zu sagen hatte, kam für sie unerwartet. Dennoch fasste sie sich rasch und gelangte zu einer neuen Sicht der Dinge, vor allem dank ihrer außerordentlichen Fähigkeit, logisch zu denken und eigene Beobachtungen zu verarbeiten. Es war nicht das erste Mal, dass sie mich in wichtigen Fragen mit ihrer Treffsicherheit für das Wesentliche überraschte. Schon in ihrer frühen Kindheit konnte ich mich darauf verlassen, dass sie sich, falls allein auf sich gestellt, richtig verhielt. Ich brauchte ihr das, worauf es ankam, nicht zweimal zu sagen. Sie begriff schnell und nachhaltig. Mit ihren zwölf Jahren war sie für mich der größte Schatz, den ich je besaß: ein unersetzlicher Kamerad, ein weiser Freund, eine immer treue Seele und eine unendlich liebevolle Tochter. Dass sie auch jetzt auf meiner Seite stand, gab mir die nötige Zuversicht in einer Situation, die eine Vielzahl vorhersehbarer sowie nicht vorhersehbarer Folgeerscheinungen in sich barg.

Emily war über die baldige Ankunft eines Geschwisterkindes nicht weniger beglückt als ich. Als wir hörten, dass es ein Mädchen würde, beteiligte sie sich voll Freude an der Suche nach einem passenden Namen. Wir einigten uns schließlich alle auf „Veronika“ mit dem Zusatz „Désirée“ (die „Gewünschte“), zumal sie ebenso ein Wunschkind war wie Emily.

Zusammen mit Mary Berta hatte ich bei Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft eine große Wohnung in ruhiger Lage in Udine angemietet. Sie sollte sowohl als Wohnung wie auch als Büro für mich dienen. Als Erstes übersiedelte ich mit dem Büro dorthin, dann begannen wir, die übrigen Räume gemeinsam einzurichten.

Die Monate der Schwangerschaft verbrachte Mary Berta in der alten Wohnung auf dem Land bei ihrer Mutter, in einem kleinen Ort namens Fagnigola. Erst mit der Geburt Veronikas wollten wir die neue Wohnung gemeinsam beziehen.

Eines Tages, als ich Mary Berta dort besuchte, traf ich auf ihre Schwester Sara. Sie war damit beschäftigt, das Haus im Oberstock aufzuräumen. Für mich völlig überraschend sprach sie mich darauf an, dass Mary Berta mit dem Baby doch auch nach der Geburt im Haus der Mutter verbleiben könne, wo alles Erforderliche für die Pflege eines Kleinkindes vorhanden sei. Es erschien ihr offenbar bedeutungslos, dass die neue Wohnung in Udine bereitstand, dass ich dort meiner Arbeit nachging und unmöglich jeden Tag über 100 Kilometer zurücklegen konnte, um mein Kind zu sehen.

Ich machte ihr klar, dass dies nicht zur Diskussion stand. Ihr Vorschlag überraschte mich insofern, als sie sich seit Langem nicht mehr in unsere Angelegenheiten eingemischt hatte. Ich wusste aus letzter Zeit nur so viel, dass sie einen neuen Freund hatte, einen Anwalt aus Pordenone, der angeblich international tätig war. Sara stellte ihn eines Tages Mary Berta vor, sie besuchten gemeinsam ein Restaurant und bei dieser Gelegenheit gab auch Mary Berta diesem Herrn das Du-Wort. Ich erkundigte mich daraufhin bei einem ortsansässigen Anwaltsfreund nach dem Ruf dieses Herrn. Was ich erfahren konnte, deutete darauf hin, dass er Frauen alles andere als abgeneigt war, als Anwalt hingegen weniger auffällig in Erscheinung trat.

Meine Bedenken zu den moralischen Qualitäten dieses Herrn teilte ich Mary Berta mit.

Alles Weitere war Saras Privatangelegenheit.

Während der Schwangerschaft Mary Bertas gab es zwar gelegentlich Probleme, die eine vorzeitige Geburt befürchten ließen, schließlich ging aber die normale Wartezeit ohne ernste Schwierigkeiten zu Ende. Mary Berta wollte unbedingt mit Kaiserschnitt gebären. Sie war von Natur aus ängstlich und von der sie erwartenden Mutprobe überfordert. Besorgt war sie obendrein, dass das Baby eine Behinderung haben könnte.

Da sie vierzig und ich zweiundfünfzig Jahre alt war, empfahl man ihr, eine Fruchtwasseruntersuchung vorzunehmen. Während sie sich dem Eingriff, der für das Kind nicht risikolos war, unbedingt unterziehen wollte, war ich von der Sinnhaftigkeit dieses Schrittes nicht überzeugt. Was z.B. wäre geschehen, wenn die Untersuchung kein eindeutig negatives Ergebnis gebracht und uns in der Wartezeit bis zur Niederkunft nur Bangen bescherthätte?

Da ich mich Mary Bertas Wunsch aber nicht widersetzen wollte, begleitete ich sie eines Morgens zum Termin in die Triester KinderklinikBurlo. Nach vielen Stunden des Wartens wurde ihr endlich die Fruchtwasserprobe entnommen. Dann ließ man uns wieder warten. Angeblich sollte sie noch eine Injektion erhalten. Es war schon der Abend angebrochen, als meine Geduld zu Ende ging und ich die diensthabende Ärztin fragte, um was für eine Maßnahme es sich bei der besagten Injektion handelte. Sie nahm mich beiseite und erklärte mir, dass diese Injektion für das Kind unverzichtbar sei. Sollte nämlich nicht ich der Vater des Kindes sein, würde ohne diese Vorsorge eine Lebensgefahr für den Embryo bestehen. Meine Beteuerung, dass an meiner Vaterschaft kein Zweifel bestünde, tat sie als einseitige, egoistische Einstellung ab. Ich zog mich daher zurück, berichtete Mary Berta vom Ergebnis dieser Aussprache und bat sie, der Ärztin zu bestätigen, dass ohnehin nur ich als Vater infrage käme und die Injektion daher überflüssig sei.

Das wollte Mary Berta zu meiner Bestürzung aber nicht tun. Ihr latenter Angstzustand brach wieder hervor und erlaubte ihr nicht, eine völlig logische Entscheidung zu treffen. Im Nachhinein betrachtet schließe ich es nicht aus, dass sie sich damals per Handy mit ihrer Schwester Sara beraten hatte. Wie eng die schwesterlichen Kontakte zu jener Zeit tatsächlich waren, entzog sich meiner Kenntnis, ich bin mir aber heute so gut wie sicher, dass Sara Mary Bertas Schwangerschaft dazu benutzte, die „entwöhnte“ Schwester wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen.

In mir hinterließ jener Tag in Triest einen bleibenden Einschnitt. Es war wohl das erste Anzeichen dafür, dass mit Mary Berta etwas nicht stimmte.

Und noch etwas gab mir zu denken: Wie ich aus ihrem Mund erfuhr, hatte sie eine Psychologin konsultiert und mit ihr wiederkehrende Termine vereinbart. Da sie mir den Namen dieser Person sagte, rief ich sie an und fragte sie, ob ihr auch an meinem Erscheinen gelegen sei. Sie verneinte, also kam ich zu dem Schluss, dass Mary Bertas Bedürfnis, sich an eine Psychologin zu wenden, nichts mit mir, sondern allein mit ihrer Schwangerschaft und ihrer Besorgnis, es könne zu einer Frühgeburt oder gar zu einem Verlust des Kindes kommen, zu tun hatte.

Als die Zeit der Geburt herankam und im Hinblick auf die Entbindung mittels Kaiserschnitt der genaue Termin innerhalb einer bestimmten Anzahl von Tagen zur Auswahl stand, ersuchte ich Mary Berta, sich auf einen Tag nach dem 25. Juni festzulegen, damit ich die Aussprache mit meiner Frau hinter mich bringen und der Geburt beiwohnen konnte. Leider wollte sie mir diesen Wunsch nicht erfüllen. Sie hatte sich für den 25. Juni entschieden, weil ihr angeblich der Primarius des Spitals für jenen Tag seine Anwesenheit während des Eingriffes zusagen konnte und sie diese Gelegenheit nicht versäumen wollte.

So kam es, dass ich in den Morgenstunden des 25. Juni nicht in der Kinderklinik des Spitals vonSan Vito al Tagliamentowar, sondern ein langes, zermürbendes Gespräch mit meiner Frau führte, das ich bis zu diesem Tag aufschieben musste. Denn am 24. Juni hatte Emily ihre Unterstufen-Abschlussprüfung an der Mittelschule. Ich musste sie so langeheraushalten aus der anstehenden familiären Auseinandersetzung. Emily hatte mich Monate zuvor, als ich meiner Frau die Geburt des Kindes und damit unsere Trennung ankündigen wollte, gebeten, nach Möglichkeit bis zum Schulschluss zuzuwarten. Wann genau die Abschlussprüfung sein würde, die in Italien für den Zugang zur Oberstufe Voraussetzung ist, stand noch nicht fest.

Die Konfrontation mit meiner Frau, die Geburt des Kindes und Emilys Abschlussprüfung fielen somit in einem Zeitraum von weniger als 24 Stunden zusammen.

Das ließ sich nicht mehr ändern und ging an die Grenzen meiner Kräfte. Dem ersten Gespräch mit meiner Frau folgte übrigens noch eine Reihe weiterer Diskussionen, die nur der Aufarbeitung einer schon längst abgeschlossenen Vergangenheit dienten.

Am Nachmittag des 25. Juni war es mir endlich möglich, nach S. Vito al Tagliamento zu fahren und Veronika erstmals in meine Arme zu schließen. Kind und Mutter waren wohlauf. Tags darauf kehrte ich in Emilys Begleitung wieder und wir konnten uns nun längere Zeit der süßen und so hübschen neuen Erdenbürgerin erfreuen und diese Momente fotografisch festhalten. Der Stress der letzten Tage hatte mich arg mitgenommen, doch der Anblick Veronikas entschädigte mich für alles.

Mary Berta hatte nach dem Kaiserschnitt keine Komplikationen, dennoch erschien mir ihre Stimmungslage während des einwöchigen stationären Aufenthaltes sehr gedämpft.

Als der Tag der Entlassung kam, hätten vereinbarungsgemäß Emily und ich Mary Berta und Veronika gegen 14 Uhr vom Spital abholen sollen. Im Laufe des Vormittags erhielt ich jedoch einen Anruf Mary Bertas, wonach sie mit Veronika das Spital bereits verlassen und sich ins Haus der Mutter begeben hatte. Dieses Umschwenken Mary Bertas raubte mir buchstäblich den Atem. Es konnte nur Saras Werk sein. Sie beherrschte ihre Schwester wieder wie in alten Zeiten. Sogar bei der Geburt Veronikas war sie an meiner Stelle anwesend, wie ich später erfuhr.

Ich empfand das Geschehene als einen Bruch unseres gegenseitigen Vertrauens und erstmals kamen schlimme Ahnungen in mir auf. Emily konnte es ebenso wenig fassen.

Da saßen wir nun allein in der neuen Wohnung, die ich in monatelanger Arbeit mit allen wichtigen Utensilien ausgestattet hatte. In der Küche fehlte noch der Anschluss des Spülbeckens, da mein Installateur eine Woche Urlaub machte, ansonsten war alles fertiggestellt. Badezimmer, Schlafzimmer und Esszimmer waren geräumig, licht und mit besonderer Rücksicht auf das Baby eingerichtet. Darüber hinaus gab es noch ein großes Wohnzimmer und eine Dachterrasse, von der man ein grünes Panorama rundum genoss.

Ich hatte mit Emily vereinbart, dass sie weiterhin bei ihrer Mutter wohnen blieb, nach der Schule aber direkt zu mir kam, ihre Aufgaben bei mir machte und gegen Abend wieder in die alte Wohnung zurückkehrte.

Diese Regelung musste nun warten. Auch ich verbrachte die Abende in der alten Wohnung, in stundenlangen Diskussionen mit meiner Frau. So konnte Emily die Argumente beider Seiten hören und sich ein klareres Bild von Dingen machen, die sie zum Teil selbst erlebt, aber nie bewusst infrage gestellt hatte.

Ich war unendlich müde, dennoch war jeder Morgen ein neuer Arbeitstag für mich. Vor allem aber ein weiterer Tag ohne Mutter und Kind. Ich rief immer wieder nach Fagnigola an und versuchte Mary Berta klarzumachen, dass sie nicht dort bleiben konnte.

Letztendlich, nach über einer Woche, ließ sie sich doch dazu überreden, nach Udine zu kommen. Ich holte sie in Emilys Begleitung ab. Dabei traf ich kurz mit Veronikas Großmutter zusammen.Alles, was diese Frau mir zu sagen hatte, war: „Aber warum lasst ihr Veronika nicht da, hier ist ja alles, was sie braucht!“ Es ist wohl überflüssig, diese Aussage zu kommentieren. Zu weiteren Kontakten mit der Frau kam es in der Folge nicht mehr. Sie sprach übrigens Italienisch mit einem schweren dialektalen Einschlag. Ihre Kindheit hatte sie als Tochter italienischer Fremdarbeiter in Frankreich verbracht und dort die Grundschule besucht. Weitere Schulen nach ihrer Rückkehr nach Italien wohl kaum.

Bevor wir nach Udine zurückfuhren, gingen wir aufs Standesamt der Gemeinde Azzano Decimo, wo ich meine Vaterschaft anerkannte und meinen Familiennamen auf Veronika übertrug. Ihre Mutter wollte den Vornamen kürzen, also das „Désirée“ weglassen. Emily bestand jedoch vehement auf dessen Beibehaltung, so wie ursprünglich ausgemacht.

Auf dem Weg nach Udine wollte Emily auf dem Rücksitz unseres Wagens Platz nehmen, zusammen mit ihrem kleinen Schwesterchen, das sie länger nicht mehr gesehen hatte, Mary Berta überließ ihr das Baby aber nicht, sondern setzte sich selbst nach hinten. Irgendwie hatte ich in diesen Stunden das Gefühl, dass wir für Mary Berta ein Fremdkörper waren, oder umgekehrt, sie für uns. Es kam kein Lächeln über ihr Gesicht, sie machte einen abweisenden Eindruck.

In der Wohnung in Udine sollte ein neues Leben beginnen, ich hoffte auf einen ruhigen, geordneten Tagesablauf, da nun sowohl für Veronikas Pflege und die Führung des Haushaltes durch Mary Berta, als auch für meine Berufstätigkeit alle Voraussetzungen gegeben waren.

Schon in der ersten Nacht gab es ein kleines Problem. Mary Berta wollte nicht, dass das Baby zwischen uns schlief, weil sie befürchtete, ich könnte es, wenn ich mich umdrehte, erdrücken. Ich erklärte ihr, dass dies absurd sei, weil ich einen sehr seichten Schlaf hatte und mich nie unbewusst im Bett von einer Seite auf die andere legte. Außerdem wollte sie absolut nicht, dass Veronika auf dem Bauch lag, weil sie gelesen hatte, dass der sogenannte schnelle Kindestod statistisch häufiger bei Babys auftrat, die auf dem Bauch schliefen. Ich erklärte ihr, dass nicht die Bauchlage, sondern andere Ursachen für den Kindestod verantwortlich seien (nach neuesten Erkenntnissen ist er auf Bakterien oder bestimmte Substanzen in Matratzen zurückzuführen).

Aber es half nichts. Aus meiner Erfahrung mit Emily wusste ich, dass Babys sehr gerne auf dem Bauch liegend einschlafen und in dieser Lage auch ruhiger bleiben.

Am nächsten Morgen blieb Mary Berta mit Veronika liegen, bis sie sie gestillt hatte. Dann stand sie auf und wusch sich, während ich Veronika zu mir ins Büro nahm, da keinerlei Kundenbesuche angesagt waren. Eine kleine Schatulle auf meinem Schreibtisch erregte Veronikas Interesse. Es gelang ihr, mit ihren Händchen den Deckel etwas aufzuklappen. In den nächsten Tagen versuchte sie es immer wieder, bis sie den Deckel fast ganz öffnen konnte. Es war für mich ein vollendetes Glücksempfinden, sie im Arm zu halten, denn ich merkte, wie sehr sie sich dabei wohlfühlte und wie aufmerksam sie die kleine Welt um sich herum musterte.

Am späteren Vormittag kleidete sich Mary Berta an, um für das Mittagessen einkaufen zu gehen. Sie kam mit einigen schon fertigen Speisen zurück, sodass wir uns bald zu Tisch begeben konnten. Auch Emily war mittlerweile von der Schule eingetroffen. Sie konnte es nicht mehr erwarten, Veronika wiederzusehen und wollte sie so lange im Arm halten, bis Mary Berta und ich mit dem Essen fertig waren. Doch Mary Berta war damit nicht einverstanden. Sie befürchtete, Emily könnte die Kleine fallen lassen. Ich gab ihr zu bedenken, dass Emily nicht nur zwölf Jahre alt, groß gewachsen und stark, sondern auch absolut griffsicher war. Ich hatte nie erlebt, dass ihr je ein Glas, eine Flasche oder ein anderer heikler Gegenstand entglitten wäre. Im Unterbewusstsein registrierte ich, dass sich das Verhältnis Mary Berta−Emily und umgekehrt schon in den ersten Momenten des Zusammenlebens zu trüben begann.

Noch auffälliger war allerdings, dass Mary Berta von ihrer Umwelt kaum Notiz zu nehmen schien. Sie war nur auf das Kind fixiert. Meine Arbeit war wie nicht vorhanden für sie und die häuslichen Verrichtungen erledigte sie in einem Zustand geistiger Abwesenheit. Wenn ihr z.B. in der Küche bei der Essenszubereitung etwas auf den Boden fiel, hob sie es nicht auf. Sie schaffte es auch nicht, die Wohnung in Ordnung zu halten, obgleich das Staubsaugen immer ich besorgte. Die meiste Zeit des Tages ging sie im Schlafhemd umher, immer bereit, Veronika zu stillen. Weinte Veronika, versuchte sie erst gar nicht, den Grund hierfür festzustellen, sondern drückte sie sofort wieder an ihre Brust. Meist waren nicht der Hunger, sondern eine volle Windel oder Blähungen Ursache für Veronikas Unpässlichkeit.

In den folgenden Nächten wurden die Blähungen immer stärker, wie bei Babys üblich.

Ich bereitete daher Veronika einen Fencheltee zu, ein altbewährtes, völlig unbedenkliches Gegenmittel. Das Wort Tee und Fläschchen lösten in Mary Berta jedoch eine nahezu hysterische Abwehrreaktion aus. Sie wollte von einem Tee zusätzlich zu ihrer Milch absolut nichts wissen, ihre Milch sei alles, was Veronika benötigte und das Fläschchen darüber hinaus abträglich, weil sich das Kind an den Sauger gewöhnen und in der Folge die Brust zurückweisen würde.

Alles das war blanker Unsinn, denn ich hatte schon Emily vom Babyalter an betreut und wusste genügend Bescheid in Dingen, die ein Kleinkind betrafen. Ich konnte mir den Zustand Mary Bertas nur so erklären, dass sie sich in einer Depression befand, die nach der Geburt bekannterweise hin und wieder auftritt. Ich beschloss daher, eine Reise nach Österreich zu unternehmen, um Mary Berta Abwechslung zu verschaffen und bei dieser Gelegenheit Veronika meiner Mutter und meiner Schwester erstmals vorzustellen. Zusammen mit Emily fuhren wir nach Graz, wo meine Mutter ihr jüngstes Enkelkind in die Arme schließen konnte. Wir ahnten dabei nicht, dass es für sie die erste und letzte Gelegenheit sein sollte, Veronika zu sehen.

Danach setzten wir die Reise in Richtung Wien fort. Es war ein sehr heißer Julitag und auf den letzten Kilometern der Autobahn vor Wien bildete sich eine lange Kolonne, die uns zum Fahren in Schritttempo unter der vollen Sonne zwang. Trotz der Proteste Mary Bertas hatte ich einen Tee für Veronika mitgenommen. Den wollte ich ihr jetzt geben, sie tat mir ja so leid, dieses kleine Schatzerl, das noch nichts selbst für sich tun oder verlangen konnte. Es war umsonst, alles Zureden und Bitten half nichts, ich durfte Veronika keinen Schluck Tee zur Erfrischung verabreichen!

In meiner Wiener Wohnung erholten wir uns von der strapaziösen, unerquicklichen Reise, dann fuhren wir weiter an den Neusiedlersee, wo wir uns das einzige Bad in jenem außergewöhnlich heißen Sommer des Jahres 1998 gönnten.

Auf der Rückreise über Kärnten trafen wir noch mit meiner Schwester zusammen, die mit ihrem Mann und den beiden Söhnen Urlaub am Wörthersee machte.

Wieder zu Hause in Udine wurde mir klar, dass der Zustand Mary Bertas unverändert blieb. Sie hatte kaum noch Merkmale von jener Person, mit der ich durch sechs Jahre in Liebe und Harmonie verbunden war und mit der ich nach dem Misslingen meiner Ehe einen familiären Wiederaufbau versuchen wollte. Ich sprach Mary Berta darauf an, dass sie ganz offensichtlich nicht gesund war und sich in psychiatrische Behandlung begeben müsste. Sie wollte davon jedoch nichts wissen. Ich rief daher meinen alten Freund Aurel in Deutschland an. Er lebte seinerzeit in Rumänien mit Frau und Kind, als es unter Ceausescu kein Entkommen aus diesem Land gab. Er stammte aus einem ehemals deutsch kolonisierten Teil Rumäniens, seine Frau, eine Kinderärztin, war ungarischer Herkunft. Ich hatte diese Familie auf einer Rumänienreise durch Zufall kennengelernt und sie in der Folge immer wieder besucht. Dann gelang es mir über eine Petition an den österreichischen Bundeskanzler Kreisky, der ein Arbeitstreffen mit seinem rumänischen Kollegen im Programm hatte, eine Einladung dieser Freunde nach Österreich zu erwirken. So wurden nicht nur Aurel, sondern auch seiner Frau Kathy und seiner Tochter Christine, also der ganzen Familie Reisepässe ausgestellt, was normalerweise unmöglich war. Ihre Ankunft in Österreich am Weihnachtstag des Jahres 1972 war ein unvergessliches Freudenfest. Einige Tage danach fuhren sie, versehen mit neuen, deutschen Reisepässen, in die Bundesrepublik weiter. Bald konnten sie sich als Ärzte in einer aufstrebenden Kleinstadt in Bayern niederlassen und führten dort bis 2005, als sie das Pensionsalter erreichten, eine angesehene Gemeinschaftspraxis.

Ich wandte mich also per Telefon an meinen Freund Aurel und schilderte ihm die prekäre Situation, in der wir uns befanden. Er versprach, mir nach Konsultation mit Kollegen aus dem neurologischen Bereich bei der Lösung des Problems behilflich zu sein. Indessen wurde jeder Tag, der verging, zu einer immer größeren nervlichen Belastung. Die Differenzen mit Mary Berta mehrten sich von Stunde zu Stunde, sie ging auf Emily los, sobald diese das Haus betrat, denn sie konnte es nicht ertragen, wenn mich Emily in dieser oder jener Frage betreffend Veronikas Pflege unterstützte. Ich musste daher meine „Große“ bitten, sich jeder diesbezüglichen Äußerung zu enthalten.

Als mein Freund Aurel zurückrief, machte er mir den Vorschlag, zusammen mit Emily auf einen Sprung nach Deutschland zu kommen, um das Problem besser besprechen zu können. Zu Mary Berta sagte ich, wegen einer wichtigen Schadensakte eine kurze Reise nach Salzburg machen zu müssen und mich dabei von Emily begleiten zu lassen.

In einem Urlaubsort an der deutsch-österreichischen Grenze trafen wir mit Aurel und seiner Frau zusammen und verbrachten einen Abend und eine Nacht in seiner dortigen Ferienwohnung. Aurel meinte, Mary Berta leide möglicherweise an einer Stillpsychose, die unbedingt einer Behandlung mit Psychopharmaka bedürfe. Deren Verabreichung würde aber voraussetzen, dass die Mutter abstillt, weil andernfalls Substanzen dieser Medikamente mit der Muttermilch auf das Kind übergingen. Er schrieb mir den Namen von Produkten auf, die in Deutschland für solche Fälle zur Verfügung standen, und riet mir, Mary Berta unbedingt einer ärztlichen Behandlung zuzuführen. Schon wissend, dass dies nicht realisierbar sein würde, traten wir den Heimweg an.

Was Mary Berta während unserer Abwesenheit tat, ob sie zu ihrer Mutter gefahren war oder ob sie ihre Schwestern in unsere Wohnung nach Udine geholt hatte, entzog sich meiner Kenntnis. Jedenfalls kam eines Tages ihre Schwester Sara mit deren Tochter Elena bei uns vorbei. Sie begann unaufgefordert, in unserer Wohnung aufzuräumen und gab uns zu verstehen, dass Mary Berta einer Haushaltshilfe bedurfte. Darüber, dass mit Mary Berta offensichtlich etwas nicht stimmte, verlor sie kein Sterbenswörtchen. Als die beiden noch am späten Nachmittag unsere Räumlichkeiten, und damit auch mein Büro in Beschlag hielten, riss mir die Geduld und ich komplimentierte sie kurzerhand aus unserem Haus hinaus.

Mary Berta blieb apathisch wie immer, nichtsdestoweniger nahm ihre Aggressivität in den allerkleinsten Belangen rund um Veronika weiter zu, andere Personen gab es längst nicht mehr für sie. Ich konnte mich bald nicht mehr beherrschen und es kam zu lauten Wortgefechten, die auch unsere Hausherren in der unter uns liegenden Wohnung nicht überhören konnten.

Mary Berta machte mir zum Vorwurf, dass unsere Wohnung für den Sommer ungeeignet sei, die Hitze sei für sie und Veronika unerträglich. Nun war es sicher niemandes Schuld, dass der Sommer 1998 ein außergewöhnlich heißer war. Daher müssten wir alle Geduld aufbringen, meinte ich, die größte Hitzewelle würde bald vorbei sein. Mary Berta wollte sich aber nicht gedulden, sondern bestellte eines Tages den Gatten ihrer Schwester Paola, die ebenfalls in Fagnigola wohnte, mit seinem Auto zu uns, damit er sie und Veronika aufs Land zur Großmutter bringe. Entgegen meinem Willen verließ sie alsdann mit Veronika unsere Wohnung, keine drei Wochen nach ihrem erstmaligen Einzug.

Es vergingen zwei Wochen ohne Veronika. Ich wusste, dass sie mich vermissen würde, ich spürte es. Aber ich war machtlos. Was half es zu wissen, wo sie war, wenn ich doch nicht zu ihr konnte. Nach langem Zureden war Mary Berta endlich zur Rückkehr zu bewegen. Veronika war unruhig und ich musste mich lange mit ihr beschäftigen und sie fest an mich gedrückt halten, bis sie wieder die Alte war.

Einen Schluck Tee konnte ich ihr nur dann zubereiten, wenn Mary Berta zum Einkaufen das Haus verließ. Doch wenn sie zurückkam, suchte sie oft die ganze Wohnung nach dem kleinen Fläschchen ab. Es war eine unglaubliche Situation, an Arbeit war für mich gar nicht mehr zu denken. Ich beschäftigte mich umso mehr mit Veronika und konnte nur durch die Freude mit ihr einigermaßen im Gleichgewicht bleiben.

Mary Berta trank Unmengen von Mineralwasser, weil sie befürchtete, ihre Milch könnte versiegen. Als wir an einem Sonntag zu dritt in die Kirche gingen, nahm sie ihre Doppellitermineralwasserflasche mit. Sie saß in der Messe neben Emily, während ich mich mit Veronika teils innerhalb, teils außerhalb der Kirche bewegte. Wie Emily nachher berichtete, wäre sie am liebsten in den Boden versunken, als Mary Berta mitten in der Messfeier die große Plastikflasche zum Mund führte, um zu trinken. So war jedes gemeinsame Ausgehen ein Spießrutenlauf, unbedeutende Dinge erregten Mary Bertas Ärgernis. Einmal war die Sonne zu stark für Veronika, einmal war es zu kühl, nie konnten wir unbeschwert mit dem Kind an die frische Luft gehen. Allein ließ mich Mary Berta überhaupt nicht mit Veronika ausgehen, ich konnte mit meiner eigenen Tochter die Schwelle des Hauses nicht überschreiten.

Aus Emilys Babytagen hatte ich eine Bauch-an-Bauch-Umhängetrage aufbewahrt, in die ich jetzt Veronika setzen wollte. Auch dagegen wehrte sich Mary Berta. Sie habe gehört, dass diese Sitzposition die Wirbelsäule eines Kleinkindes überbelaste.

Ende August kam der nächste Tiefschlag: Mary Berta verließ uns abermals mit Veronika unter dem Vorwand, dass sie sich bei ihrer Mutter Herbstgewand abholen müsse. Auf meine Frage, wie lange sie wegzubleiben gedenke, meinte sie, höchstens drei Tage.

Die drei Tage vergingen und es vergingen weitere drei Tage. Nach über einer Woche machte ich Mary Berta darauf aufmerksam, dass ich mich, falls sie nicht sofort mit Veronika heimkäme, an die Polizei wenden würde. Das half, sie tauchte wieder auf.

Wie schon beim ersten Mal merkte ich sofort, dass Veronika verstört war. Ich nahm mich ihrer wieder so lange an, bis sie ihr inneres Gleichgewicht fand. Ich stellte Mary Berta wegen ihrer wiederholten und langen Abwesenheiten nun zur Rede. Sie entgegnete mir trocken, dass sie, sollte ich ihr nochmals Vorhaltungen machen, mit Veronika überhaupt nicht mehr zurückkommen würde. Diese Drohung ließ meine Sorge um die Kleine ins Unermessliche wachsen. Emily sagte zu mir: „Papi, du machst dich selbst kaputt, wir müssen etwas unternehmen.“ Dies war auch das Einzige, was mir von Stunde zu Stunde klarer wurde.

Ich rief neuerlich meinen Freund Aurel an und berichtete ihm von der Ausweglosigkeit der Situation, insbesondere, dass es gar nichts mehr helfen würde, wenn sich Mary Berta doch noch zu einer Behandlung bereitfände. Ich war total am Ende, jeder Tag mehr hätte einen Nervenzusammenbruch bewirken können. Ich fragte ihn, ob wir ein paar Tage mit Veronika zu ihm kommen dürften, da es bei der Umstellung von Muttermilch auf Fläschchen für uns beruhigender sei, ihn und seine Frau in unserer Nähe zu wissen. Meine Absicht war es, Mary Berta durch unsere Abwesenheit mit Veronika zum Abstillen und zur ärztlichen Behandlung ihrer Krankheit zu zwingen.

Aurel war gerne bereit, uns bei sich aufzunehmen. In rasender Eile, aber endlich wieder klar denkend, entschloss ich, mit meinen Töchtern Udine ohne Mary Bertas Wissen zu verlassen. Wir konnten nur so viel mit uns nehmen, als Platz in unserem Wagen, einem alten Mercedes, war. Um das Auto vollzuladen, benötigten wir etwa eine Stunde Zeit. So lange entfernte sich Mary Berta nie von zu Hause. Also musste uns etwas einfallen, um sie länger fernzuhalten. So fassten wir den Plan, ihr Auto, das ebenfalls unter unserem Haus geparkt war, unbemerkt zu verstellen und so einen Diebstahl vorzutäuschen. Seit langer Zeit verfügte ich über einen Reserveschlüssel zu ihrem Wagen, was die Sache vereinfachte. Meinen Wagen mussten wir allerdings ebenfalls entfernen, und zwar an einen verdeckten Ort in nächster Nähe, damit wir ihn schnell mit unseren Sachen erreichen konnten.

Eines Abends, als ich Emily wie gewöhnlich in die alte Wohnung zu ihrer Mutter brachte, gingen wir in der Dunkelheit zuerst zu Mary Bertas Wagen, ließen ihn vorsichtig an und fuhren ihn an einen nicht zu nahen, vorher ausgesuchten Platz. Dort konnte man ihn über unseren Hinweis jederzeit wieder auffinden. Alsdann gingen wir zu unserem Haus zurück, nahmen unser Auto und fuhren zur alten Wohnung, wo ich Emily absetzte. Bei meinem Wiedereintreffen bei der neuen Wohnung stellte ich den Wagen aber nicht mehr vor dem Haus ab, sondern auf der Rückseite in einem Hof, der zu einem anderen Grundstück gehörte und mehrere Garagen beherbergte, von denen ich eine angemietet hatte. Dieser Platz war von unserer Wohnung aus nicht einsehbar.

Kurz darauf fand ich mich wieder bei Mary Berta ein und erklärte ihr, ich hätte so lange gebraucht, weil mein Wagen auf der Rückfahrt streikte und ich einen halbstündigen Fußmarsch zurücklegen musste. Damit war auch das Fehlen meines Wagens am folgenden Tag begründet.

Als der Morgen anbrach und Veronika aufgewacht war, trug ich sie wie üblich in der Wohnung spazieren und ließ sie durch die großen Fenster hinab auf den Platz vor unserem Haus blicken, was stets ihr Interesse weckte. Dann wandte ich mich zu Mary Berta und sagte: „Schau hinunter, ich sehe deinen Wagen nicht, er müsste doch da stehen, wo er zuletzt geparkt war!“ Sie überzeugte sich selbst. Ihr roter R 4 war verschwunden. Nun begann der Plan Gestalt anzunehmen. Es war nämlich klar, dass Mary Berta höchstpersönlich die Diebstahlsanzeige machen und sich zu diesem Zweck in die nächstgelegene Polizeidienststelle begeben musste. Sie versuchte es zwar zuerst per Telefon, doch wie erwartet, benötigte man ihr Erscheinen zur Verfassung und Unterzeichnung des Protokolls.

Kaum war sie aus dem Haus, rief ich Emily auf das Handy an, das ich ihr am Vorabend überlassen hatte. Vereinbarungsgemäß ging sie an diesem Morgen nicht zur Schule, sondern wartete in einem Kaffeehaus ganz in der Nähe auf mein Zeichen. Kaum war sie bei mir eingetroffen, packten wir die seit Tagen unauffällig beiseitegelegten Dinge in Säcke und trugen diese so schnell wie möglich hinter das Haus zu unserem Wagen. Wir mussten uns sehr beeilen, es durfte nichts schiefgehen.

Auf meinem Schreibtisch ließ ich ein Blatt Papier zurück, auf das ich für Mary Berta schrieb: „Ich bin mit Veronika ausgegangen. Komme bald.“

II. Aufbruch nach Deutschland

Als wir Udine voll bepackt verließen, fiel mir ein Mühlstein vom Herzen. Die Umklammerung der letzten zwei Monate löste sich allmählich von uns, ein Albtraum schien zu Ende.

Bald lag die Grenze hinter uns. Am Wörthersee machten wir die erste Rast und riefen Mary Berta an. Ich sagte ihr, wir würden ein paar Tage mit Veronika in Österreich verbringen, um unsere Verwandten zu besuchen. Sie war außer sich vor Wut und schrie, wir sollen sofort zurückkommen. Das verneinte ich natürlich und damit war das Gespräch beendet. Wir setzten unsere Reise bis Wien fort, wo wir übernachteten.

Am darauf folgenden Tag wollten wir Oberösterreich und von dort unsere Freunde Aurel und Kathy jenseits der Grenze erreichen.

Auf der Fahrt in Richtung Bayern bemühte sich Emily, Veronika erstmals die Milch per Fläschchen zu verabreichen. Wie vorauszusehen war, ging die Umstellung nicht so rasch. Aurel, mit dem wir mittels Handy laufend in Kontakt waren, sagte, wir brauchten uns keine Sorgen zu machen, Babys könnten ruhig einen Tag mit der Nahrung aussetzten. Ansonsten war Veronika ganz ruhig und schlief viel. Sie fühlte sich geborgen, zumal ja zwei ihrer ständigen Bezugspersonen bei ihr waren. Auf dem letzten Teil der Reise nahm sie dann das Fläschchen plötzlich an. Wir atmeten auf.

Mit der Ankunft bei unseren Freunden in Bayern und der Wärme ihres Empfanges trat in uns eine erlösende Entspannung ein.Wir bekamen den Oberstock ihres luxuriösen Hauses, bestehend aus einem großen, holzgetäfelten Schlafzimmer mit Balkon zum Garten, einem Badezimmer vom Feinsten, einer kleinen Küche und einem Abstellraum für alle unsere Mitbringsel. Hier fühlten wir uns vollends daheim und in Sicherheit.

Aurel und Kathy sahen auf den ersten Blick, dass Veronika wohlauf war. Kathy, die ja als Kinderärztin tätig war, fand Veronika zum Auffressen lieb und plauderte gleich mit ihr auf Ungarisch.

Das Haus lag an einer ruhigen Wohnstraße, an der sich beiderseits schmucke Villen reihten. Die Gärten waren voller Blumen, Sträucher und Bäume, die schon die Farben des Herbstes trugen. Am Ende der Straße begann ein Wald mit hohen Kiefern, unter denen kleinere Laubbäume entlang gepflegter Geh- und Radwege wuchsen. Es war ein Erlebnis, diesen Wald mit Veronika im Arm zu durchschreiten. An seinem anderen Ende tat sich der Stadtkern von Waldkraiburg auf, eine betriebsame, moderne Ansiedlung mit eleganten Geschäften und freundlichen Menschen. Im Zentrum befand sich die Gemeinschaftspraxis von Aurel und Kathy.

Wir fühlten uns in dieser Umgebung unglaublich wohl. Wald und Stadt wechselten sich in allen Bezirken ab, in einer seltenen Symbiose.

Im Haus der Freunde gab es einen Wintergarten, an dessen Wänden exotische Pflanzen rankten. Fast immer saßen wir in diesem Raum zu Tisch, mit Veronika auf einer gemütlichen Wippe in Reichweite. Veronika genoss sichtlich diese Atmosphäre und legte großen Appetit an den Tag. Wir unternahmen lange Spaziergänge mit ihr, bald war sie an einigen Plätzen, die wir öfter aufsuchten, wie z.B. in der fein duftenden Bäckerei, ein bekannter Gast.

Wir versäumten es nicht, Mary Berta alle zwei, drei Tage anzurufen und ihr vom Befinden Veronikas zu berichten. Unseren genauen Aufenthaltsort teilten wir ihr vorerst nicht mit. Wir wollten in ein, zwei Wochen nach Wien zurückkehren, um uns dort mit ihr zu treffen und auch mit ihr wohnen zu bleiben. Es versprach absolut nichts, es mit Udine nochmals zu versuchen. Mary Berta musste endlich in der eigenen Familie leben, losgelöst vom üblichen Verwandtenkreis.

Ich konnte meine Arbeit auch in Wien weiterführen, zumindest in einem beschränkteren Umfang. Also beschloss ich, allein nochmals nach Udine zurückzufahren, um wichtige Unterlagen aus dem Büro mitzunehmen. Außerdem wollte ich mich mit Mary Berta treffen, um sie für das weitere Zusammenleben in Wien zu gewinnen.

Ich ließ Emily mit Veronika allein zurück, d.h. relativ allein, da unsere Freunde zu jeder Stunde für sie erreichbar waren. Was Veronika zu essen benötigte und wie sie sonst zu versorgen war, wusste Emily längst genau.

Die Fahrt nach Udine trat ich mit gemischten Gefühlen an. Hoffentlich konnte ich nach zwei Tagen pünktlich wieder zurück sein. Als ich spät abends in Udine eintraf, fand ich Wohnung und Büro erwartungsgemäß leer vor. Am Morgen suchte ich meine Akten und sonstige wichtige Unterlagen zusammen und telefonierte mit Mary Berta. Als sie wenig später ins Büro kam, war sie nicht alleine. Ihre Schwester Sara und ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, begleiteten sie. Wie mir erst zu einem späteren Zeitpunkt klar wurde, handelte es sich um den neuen Freund Saras, den Anwalt Vito Claut.

Ich eröffnete Mary Berta meinen Wunsch, mit ihr in Zukunft in Wien zu leben, da es sonst keinen Ausweg aus dieser Situation gab. Sie kannte Wien sehr gut, es sprach nichts gegen diesen Ortswechsel. Mary Berta willigte auch sofort ein und Sara schien diesen Vorschlag ebenfalls gutzuheißen. Zu meiner Überraschung erzählte mir Mary Berta, sie habe sich sofort nach meiner Abreise in ärztliche Behandlung begeben. Sie ersuchte mich, sie zu diesem Arzt zu begleiten und selbst mit ihm zu reden. Ich willigte ein und wir trafen uns am nächsten Tag in Pordenoneim „Centro di Salute Mentale“,was wörtlich übersetzt heißt: „Zentrum für geistige Gesundheit“. Es handelte sich um eine Einrichtung der italienischen Sanitätsverwaltung, bei uns vergleichbar mit einer Ambulanz der Sozialversicherung.

Ich hoffte, dass sich endlich ein Psychiater Mary Bertas angenommen hatte. Der behandelnde Arzt, ein gewisser Dr. Antonio Loperfido, war jedoch nur Psychotherapeut und meinte, er hätte in Mary Berta keine Anzeichen von Halluzinationen feststellen können. Sie würde aber einer dreimonatigen Behandlung bedürfen, möglichst im Beisein Veronikas. Ich machte darauf aufmerksam, dass diese Behandlung auch in Wien durchgeführt werden könnte, worauf der Arzt zu bedenken gab, dass dieser Alternative Verständigungsschwierigkeiten im Wege stünden. Mary Berta war der deutschen Sprache nicht mächtig, obgleich ich mich jahrelang bemüht hatte, sie mit meiner Muttersprache vertraut zu machen. Daher erklärte ich mich grundsätzlich bereit, zum Zweck dieser Behandlung an bestimmten Tagen mit Mary Berta und Veronika nach Pordenone zu kommen. Der Arzt gab mir seine Telefonnummer, ich sollte ihn am Abend zur Bestätigung des Zeitplanes für den Besuchszyklus anrufen. Überdies meinte er, ich sollte Veronika unbedingt ein Kleidungsstück von Mary Berta mitbringen, da andernfalls das Kind glauben würde, seine Mutter sei nicht mehr am Leben. Also gab mir Mary Berta ihr Unterleibchen mit, um es Veronika „riechen“ zu lassen.

Zu dieser sonderbaren Maßnahme fand unser Freund Aurel nach meiner Rückkehr nur Worte des Unverständnisses. Er hatte so etwas noch nie in seinem Berufsleben gehört und hielt es für mittelalterlichen Hokuspokus. Auch mir erschien die Geschichte höchst zweifelhaft. Wie oft kommt es vor, dass Babys vorübergehend von ihrer Mutter getrennt werden aufgrund von Krankheit, Unfällen oder sonstigen unausweichlichen Ereignissen.

In all diesen Fällen sollten Kleinkinder diese Trennung mit dem Tod ihrer Mutter gleichsetzen? Was ist der Beweis für diese These? Einen Beweis kann es schwerlich geben, da Babys nichts erzählen. Es könnte sich also um reine Spekulation handeln.

Vor meiner Rückreise begab ich mich noch aufs Gemeindeamt in Udine, um meinen Wohnsitz abzumelden. Das war für meine steuerlichen Belange in Italien ratsam. Jahre später im ersten Strafprozess gegen mich erfuhr ich, dass ich auf dem Weg in die Gemeinde bereits von einem Privatdetektiv beschattet worden war.

Schließlich suchte ich noch kurz Emilys Mutter in Udine auf, um Bekleidung für Emily mitzunehmen. Dann machte ich mich endgültig auf den Heimweg. Aus dem Auto rief ich Mary Bertas Psychotherapeuten wie vereinbart an, doch ich fand nur seine Frau vor, die nicht informiert war. Ich hatte erst ein kurzes Stück auf der Autobahn zurückgelegt, als mich ein Streifenwagen der Polizei überholte und mich zum Anhalten aufforderte. Ich wurde nach dem Verbleib meiner Tochter Veronika befragt und man durchsuchte mein Auto. Anscheinend wussten die beiden Polizisten nicht, was sie mit mir anfangen sollten, denn sie führten verschiedene Telefongespräche mit ihrer Zentrale, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Ich war sehr besorgt. Hätte man mich jetzt festgehalten, würde Emily ohne Nachricht von mir bleiben und das Schlimmste annehmen. Mobiltelefon hatte ich keines dabei, weil dessen Verwendung Veronikas Aufenthaltsort verraten hätte. Die Minuten vergingen in Zeitlupe. Ich begann zu beten. Als es hieß, ich könne weiterfahren, erwachte ich aus einem bösen Traum. Ich stieg ein und fuhr langsam davon.

Noch glaubte ich nicht daran, wirklich freigekommen zu sein. Vermutlich wollte man mir nachfolgen und so auf Veronikas Aufenthaltsort stoßen. Ich fuhr mit geringer Geschwindigkeit und beobachtete den nachfolgenden Verkehr. Mir fiel ein weißer Fiat auf, der konstant in größerem Abstand nachfolgte. Bald wusste ich, wie ich dieses Fahrzeug abhängen konnte. Die Dämmerung brach an und in einer halben Stunde würde es finster sein. Ich fuhr mit unveränderter Geschwindigkeit bis zur ersten Tankstelle nach der österreichischen Grenze. Dort tankte ich voll. Auch der weiße Fiat fuhr zur Tankstelle ab, blieb jedoch außerhalb der Zapfsäulen stehen. Ich ließ mir Zeit, ging zahlen und beobachtete zwei Männer, die dem weißen Fiat entstiegen und ins Verkaufslokal kamen. Von Minute zu Minute wurde es dämmriger. Ich ging wieder zu meinem Fahrzeug und verließ langsam die Tankstelle. Dabei kam ich an dem weißen Fiat vorbei, der noch immer in Richtung Ausfahrt geparkt da stand. Als ich in die Autobahn einfuhr, herrschte reger Verkehr. Ich stieg nun voll aufs Gaspedal, beschleunigte bis über 170 km/h und überholte unzählige Fahrzeuge. Mit einem Schlag war die Finsternis hereingebrochen und es war unmöglich, ein bestimmtes Fahrzeug in der langen Lichterkette auszumachen. Zur Sicherheit fuhr ich aber beim Autobahnkreuz Salzburg–Wien nicht in Richtung Salzburg, sondern Wien weiter. Bei der AbfahrtVelden reihte ich mich rechts ein und verließ die Autobahn, wobei ich ein Stück ohne Licht fuhr. Sobald es möglich war, ordnete ich mich wieder zur Autobahnauffahrt in die Gegenrichtung ein. So kam ich bald ans Autobahnkreuz zurück und setzte meine Reise in Richtung Salzburg fort. Niemand folgte mir mehr. Leider war es spät geworden, doch ich wusste, dass ich in wenigen Stunden bei Emily eintreffen würde. Dass es mir gelungen war, meine Verfolger abzuschütteln, gab mir neue Kraft für den Rest des Weges. Ich spürte eine Genugtuung in mir, die mich wieder zuversichtlich machte.

Emily und unsere Freunde waren tatsächlich schon in Sorge, da ich viel später als geplant eintraf. Trotz der nächtlichen Stunde waren alle noch auf und ich erzählte sofort, was mir widerfahren war. Eines stand jetzt fest: Mary Berta hatte gegen mich Anzeige wegen Kindesentziehung und Privatanklage erstattet, sonst hätte die Polizei nicht einschreiten können.

Ich rief Mary Berta am nächsten Tag an (wie immer von einem öffentlichen Fernsprecher und mit internationaler Telefonkarte) und forderte sie auf, die Privatanklage zu widerrufen, andernfalls sich ihr Wiedersehen mit Veronika verzögern würde. Wie jedes Mal beteuerte sie, dass sie nicht länger auf Veronika warten könne und sie versprach, ihre Anzeige zurückzuziehen.

Seit unserer Ankunft bei Aurel waren fast zwei Wochen vergangen. Die zunehmend kalten Nächte tauchten die Natur in immer leuchtenderes Gelb, das in malerischem Kontrast zum blauen Herbsthimmel stand. Ob wir wollten oder nicht, wir mussten an den Aufbruch denken. Denn in Wien sollte es einen neuen Anfang mit Mary Berta geben, einen neuen Anfang auch mit Emilys Schule sowie mit meiner Arbeit.

Ende Oktober verließen wir unsere Freunde. Über die weit geschwungenen, sonnenbeschienenen Hügel der bayrischen Landschaft nahmen wir wieder den Weg, den wir gekommen waren. Ich fühlte, dass ein kurzer, aber für uns drei entscheidender Lebensabschnitt zu Ende ging. Wie unsagbar glücklich waren diese Tage gewesen, die wir ganz allein mit Veronika verbringen konnten!

Von Wien aus setzten wir uns wieder mit Mary Berta in Verbindung und luden sie ein, uns alsbald zu erreichen. Sie meinte, vor ihrer Abreise noch die Möbel unserer Wohnung in Udine verkaufen zu wollen. Es fiel auf, dass ihr Bedürfnis, Veronika wiederzusehen, nicht mehr so vordringlich war.

Bei unserem nächsten Telefonat berichtete sie, dass sie Fieber hätte, dessen Herkunft der Arzt erst abklären müsste. So verging Tag auf Tag. Ich konnte Emily in ein Gymnasium ganz in der Nähe einschreiben, womit für sie ein lernintensives Jahr begann. Denn bis dahin hatte sie nie ein deutsches Schulbuch in Händen gehabt. Doch nicht nur die deutsche Sprache bedeutete eine Herausforderung, sie musste auch ein Jahr Französisch nachholen, weil sie sonst in diesen Jahrgang nicht aufgenommen worden wäre. Während Emily in der Schule war, arbeitete ich an meinen Akten oder besorgte Wege zusammen mit Veronika, die ich entweder im Arm oder umgehängt in einem Beutel trug. Es war rührend, wie uns die Leute in den Bussen Platz machten und uns bei jeder Gelegenheit den Vortritt ließen. Wenn ich daheim das Essen zubereitete, lag Veronika in ihrer Wippe auf der Couch und verfolgte mich mit ihren wachen Augen überallhin. Ich setzte sie oft auf meinen Schoß mit Blickrichtung zu mir, dann stützte ich ihren Oberkörper am Rücken mit meinen Händen ab und ließ sie zurückkippen. Das gefiel ihr so ungemein, dass sie in ein helles, überlautes Lachen ausbrach, welches ich nie vergessen würde.

III. Veronikas zwangsweise Rückführung nach Italien

Am 25. November um 14 Uhr, als Emily mit Veronika im Nebenzimmer ein Mittagsschläfchen machte und ich mittlerweile das Geschirr abwusch, läutete es an unserer Tür. Nichts ahnend öffnete ich sofort, da wir manchmal Besuch von Leuten aus dem Haus erhielten. Ehe ich begriff, was vor sich ging, stürmten uniformierte Polizisten an mir vorbei in die Wohnung, ungefähr acht Mann sowie zwei Männer in Zivil, die sich als Gerichtsvollzieher legitimierten. Sie hielten mir einen Beschluss des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien unter die Nase, wonach ich das Kind Veronika-Désirée Neugebauer herauszugeben hätte.

Die Polizisten mit ihren schweren Stiefeln verteilten sich über unsere Wohnung und besetzten das Schlafzimmer. Als Emily und Veronika erwachten, sahen sie in eine bedrohliche Wand von finsteren Gesichtern und Uniformen. Veronika begann sofort zu weinen. Einer der Gerichtsvollzieher herrschte mich an, ich solle Veronika auf der Stelle ankleiden, man hätte keine Zeit zu verlieren.

Ich verlangte, mit der Richterin Dr. Gabriele Langer, die den Beschluss auf Kindesabnahme erlassen hatte, zu telefonieren. Als ich sie erreichte und nach dem Grund dieser Maßnahme fragte, sagte sie mir lakonisch, in ihrem Beschluss sei ohnehin alles nachzulesen; im Übrigen könnte ich am folgenden Tag bei ihr vorsprechen. Diese Einladung fasste ich als Hohn auf, weil es nichts mehr zu besprechen gab, wenn man Veronika einmal fortgebracht hatte.

Als Veronika wintermäßig fertig angekleidet war, bat ich Emily, mit ihr mit hinunterzugehen, um festzustellen, wer sie in Empfang nahm. Bisher hatte ich nur Männer um mich gesehen, keine Frau und vor allem aber keinen Arzt, der bei einem solchen Anlass unbedingt hätte beigezogen werden müssen. Ansonsten konnte man im Nachhinein jede Art von Behauptungen zum Gesundheitszustand des Kindes bei seiner Abnahme von mir aufstellen.

Emily kam zurück und berichtete, dass unten ein Wagen stand und darin Veronikas Mutter saß. Sie hatte das Kind entgegengenommen und es sofort zum Stillen an ihre Brust gedrückt.

Man muss sich vorstellen, was in dem armen Kindchen vor sich ging. Veronika erkannte ihre Mutter nach so langer Zeit natürlich nicht mehr. Sie war von lauter unbekannten Menschen umgeben und fuhr mit diesen in die Dämmerung davon, auf eine lange, Unheil verheißende Reise. Emily und ich blieben völlig geschockt zurück. Wir würden diese Szene unser Leben lang nicht vergessen. Jetzt erst konnte ich nachempfinden, wie es jenen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus ergangen war, die aus ihren Wohnungen geholt und mit unbekanntem Ziel abtransportiert wurden. Ich verlor in diesem Moment den Glauben an den Rechtsstaat. Es konnte doch nicht angehen, dass das in der österreichischen Exekutionsordnung verankerte Rechtsinstitut dereinstweiligen Verfügungin einer so heiklen Situation brutal eingesetzt wird. Die Richterin hatte nur die Mutter angehört, ihre Angaben für wahr gehalten und auf meine Anhörung verzichtet. Es hätte ihr doch wenigstens auffallen sollen, dass ich als 53-jähriger Vater und österreichischer Staatsbürger sowie als ehemaliger Rechtsanwalt nicht ohne besondere Gründe das Kind bei mir hatte. Ob die Mutter − eine Ausländerin und der deutschen Sprache nicht mächtig − überhaupt gesund und zurechnungsfähig war, wurde nicht geprüft.

Ungeprüft für wahr gehalten hatte die Richterin auch Mary Bertas unverschämte Behauptung, ich sei gewalttätig, weshalb zur Unterstützung der beiden Gerichtsvollzieher auch noch der achtköpfige Polizeitrupp ausrückte.

Ich brachte in meinem Rekurs gegen den Gerichtsbeschluss vor, dass ich mich seit Anfang November nachweislich nicht versteckt hielt, sondern auf Mary Berta in der ihr bestens bekannten Wohnung wartete. Aber das Obergericht wies meine Beweisanträge zurück und bestätigte die einstweilige Verfügung. Ich hatte mir aufgrund meiner Erfahrung in der Zeit meiner Anwaltspraxis auch nichts anderes erwartet, wollte nur prinzipiell nichts unversucht lassen. Ich verfasste sogar noch einen Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof, natürlich ohne Erfolg.

In Italien ging das Zurückbringen Veronikas als Erfolg des Anwaltes Vito Claut durch alle Regionalzeitungen. Ich schaffte es, einen Artikel in einem dieser Blätter zu platzieren, um die völlig einseitige, tendenziöse Berichterstattung nicht unwidersprochen zu lassen.

Mary Berta hatte ihre Privatanklage gegen mich trotz Zusage nicht zurückgenommen, sondern mithilfe des Anwaltes und Intimfreundes ihrer Schwester Sara die Rückführung Veronikas auf der Grundlage des sogenannten Haager Abkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung sorgfältig geplant. Dafür benötigte sie Zeit und täuschte das Fieber vor. Mir war als Jurist dieses Haager Abkommen leider nicht bekannt, auch andere meiner Kollegen hatten nie damit zu tun gehabt. Nach diesem auch von Österreich ratifizierten Abkommen wird vom Justizministerium des Staates der Mutter das Justizministerium des Staates, wohin das Kind entführt wurde, kontaktiert, damit die dortigen Justizbehörden auf schnellstem Wege über die Rückführung entscheiden.

Das österreichische Justizministerium hatte dem Wiener Pflegschaftsgericht alle Informationen zum Verbleib des Kindes übermittelt, darüber hinaus aber noch eine bedenkliche Empfehlung, die wie folgt lautete:

„Im Hinblick auf den Umstand, dass das Kind erst fünf Monate alt ist und im Zeitpunkt des widerrechtlichen Verbringens von der Mutter noch gestillt wurde, wird dringend gebeten, ehestmöglich eine Rückgabeentscheidung zu treffen, wobei angeregt wird – ohne der Rechtssprechung vorgreifen zu können – diese nach § 12 Abs. 1 Außerstreitgesetz sogleich in Vollzug zu setzen. Im Hinblick auf die Gefahr des Weiteren Verbringens des Kindes durch den Kindesvater wird weiters angeregt, mit dem sofortigen Vollzug den Gerichtsvollzieher unter Assistenz des Jugendamtes und der Sicherheitsbehörden – in Anwesenheit der bereits in Wien befindlichen Kindesmutter – zu betrauen.

Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass eine Rückgabe nur aus den im Art. 13 des Übereinkommens, BGBl. Nr. 512/1988, genannten Gründen, die überdies nach herrschender Lehre und Rechtsprechung nur äußerst restriktiv auszulegen sind, versagt werden kann.

25. November 1998

Für den Bundesminister: Dr. Werner Schütz“

Aus der Perspektive der Weisungsfreiheit des Richterstandes hatte diese Empfehlung unzweifelhaft den Beigeschmack einer Einflussnahme. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Richterin Dr. Gabriele Langer darauf verzichtete, sich persönlich ein Bild von der Situation zu machen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, dass dieselbe Richterin bei meinem Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge für meine große Tochter Emily, den ich zwei Jahre später einbrachte, Emily nie vorladen wollte, um sie persönlich zu befragen. Sie verfügte lediglich Emilys gutachtliche Beurteilung durch eine Psychologin. Weil es sich aber ergab, dass ich selbst vorgeladen wurde, nahm ich Emily mit und ersuchte die Richterin, sie ebenfalls anzuhören. Auf diesem Weg erst wurden Wille und Motive meiner Tochter (damals schon 14 Jahre alt), bei mir und nicht bei ihrer Mutter zu bleiben, gerichtlich zu Protokoll genommen!

In Wien hatte mittlerweile der Winter Einzug gehalten. Die Tage waren grau und kalt, unsere Stimmung auf dem Nullpunkt. Von Veronika hörten wir nichts. Wenn ich versuchte, nach Fagnigola anzurufen, hob niemand ab. Ich konnte auch niemanden in Italien kontaktieren, um etwas über sie und ihren Verbleib zu erfahren. Ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es ihr schlecht ging. Meine Sorge und Ohnmacht waren gleich groß. Ich konnte nur für sie beten. Schließlich kam mir die Idee, den Psychotherapeuten Dr. Antonio Loperfido in Pordenone anzurufen, der ja Mary Berta behandelt hatte oder noch behandelte. Ich erreichte ihn sofort und erfuhr von ihm, dass Veronika an dauernden Weinanfällen litt und von Psychologen betreut werden musste. Er sagte, ich solle alles, was ich konnte, für sie unternehmen, ich hätte gute Chancen, etwas durchzusetzen. Diese Nachricht traf mich fürchterlich. Ohne Emilys Stütze hätte mein Verstand versagt. Gemeinsam rafften wir uns auf und versuchten, einen klaren Gedanken zu fassen. Wir beschlossen, nach Pordenone zu fahren und dort einen Rechtsanwalt mit einem Obsorgeantrag für mich zu beauftragen. Von Freunden wurde mir ein Anwalt empfohlen, den ich aus meiner Tätigkeit in Italien schon kannte und der mir Vertrauen einflößte. Er zeigte sich optimistisch und versprach, den Antrag alsbald beim zuständigen Pflegschaftsgericht, dem Jugendgericht in Triest, einzubringen.

Nach der Besprechung mit dem Anwalt − es war Ende Januar 1999 − versuchte ich an Ort und Stelle, Mary Berta per Telefon zu erreichen. Ich rief bei ihrer Schwester Sara an, bei der sie ja früher einmal wohnte. Und ich hatte Glück: Mary Berta selbst hob ab. Ich sagte ihr, dass wir uns in ihrer Nähe befanden und Veronika kurz sehen wollten.

Ich bat sie um Rückruf, damit wir einen Treffpunkt vereinbaren konnten. Sie rief bald darauf zurück, meinte aber, dass es für Veronika nicht gut wäre, uns jetzt wiederzusehen. Es lag auf der Hand, dass dies mit ihrer Schwester so abgesprochen war.

Wie ich später erfuhr, verbrachte sie mit ihrer Mutter und Veronika den ganzen Winter in Saras Wohnung in Pordenone, deshalb blieb in Fagnigola das Telefon immer still.

Wir kehrten nach Wien zurück und hofften, unser Anwalt würde sich mit allem Nachdruck für unsere Sache einsetzen. Emily gab sich in der Schule viel Mühe und schaffte es schon zum Halbjahr, ihr Aufholprogramm positiv abzuschließen. In Deutsch ging es ihr überraschend gut, sie verstand es, inhaltsreiche Aufsätze zu schreiben. Die Umstellung auf die neue Rechtschreibung kam ihr dabei sehr entgegen, weil orthografische Fehler weitgehend pardoniert wurden. In Französisch arbeitete ich mit ihr oft mehrere Stunden am Tag, um den Jahresrückstand wettzumachen. Das brachte uns wenigstens Ablenkung. Wenn es uns in unseren vier Wänden gar zu eng wurde, fuhren wir zumBellaria-Kino, wo laufend alte, wertvolle Filme gespielt wurden. So lernte Emily viel aus Österreichs Vergangenheit kennen, was ich ihr kaum jemals in dieser Vielfalt und Eindringlichkeit vermitteln hätte können. Die Filme zeigten Schicksale, mit denen wir uns identifizieren konnten und die uns unser Kreuz leichter ertragen ließen.

Im Frühjahr erhielt ich vom Strafgericht in Udine die Mitteilung, dass gegen mich Voruntersuchungen eingeleitet worden waren. Es ging um die Privatanklage Mary Bertas wegen Kindesentziehung, die sie nie widerrufen hatte. Mein Anwalt meinte, wir sollten bis zum Abschluss des Strafverfahrens mit dem Obsorgeantrag zuwarten. Dem widersprach ich entschieden, war doch allgemein bekannt, dass sich Strafverfahren in Italien über Jahre hinzogen. Ich urgierte daher wiederholt bei ihm, den Antrag in Triest einzubringen. Als er das endlich erledigte, konnte er aus dem Pflegschaftsakt ersehen, dass auch Mary Bertas Anwalt einen Antrag auf alleinige Obsorge gestellt hatte. Nicht nur das: Er verlangte, dass mir jeder Kontakt zu Veronika untersagt und die elterlichen Rechte aberkannt würden!

Als ich wieder einmal den Psychologen Dr. Loperfido anrief, um mich nach Veronikas Befinden zu erkundigen, hatte ich plötzlich eine Wand vor mir. Er war zugeknöpft und abweisend, das genaue Gegenteil von früher. Ich konnte mir diesen Gesinnungswandel nicht erklären und war äußerst bestürzt, hatten wir doch sonst niemanden, der uns auch nur irgendetwas von Veronika berichten konnte. Monate später fand ich beim Kopieren des Pflegschaftsaktes in Triest einen Bericht von ihm, worin er eine gänzlich andere Darstellung des Zusammentreffens mit mir und Mary Berta gab und Letzterer nur eine leichte Depression bescheinigte. Kein Wort von der in Aussicht genommenen Behandlung. Die Gespräche mit ihr seien nicht psychotherapeutischer Natur gewesen, sondern hätten nur dazu gedient, ihr angesichts der Entführung ihrer Tochter Mut zu machen! Was diesen Mann dazu gebracht haben konnte, eine solche 180-Grad-Wendung zu vollziehen, war nur so zu erklären, dass Mary Bertas Schwester Sara, die vor ihrer Frühpensionierung im Gesundheitsamt der Stadtverwaltung von Pordenone arbeitete und zu vielen leitenden Ärzten enge Kontakte unterhielt, ihre Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um Dr. Loperfido, der auch nur ein Angestellter im regionalen Gesundheitswesen war, zum Umdenken zu veranlassen.

In unserer Situation auf Menschen mit Rückgrat zu stoßen, noch dazu in Italien, das konnten wir uns wirklich aus dem Kopf schlagen. Mein Großvater, der im Ersten Weltkrieg an der italienischen Front kämpfte, kam bei seinen Erzählungen von den Ereignissen jener Zeit immer wieder darauf zu sprechen, dass die Italiener nur eine einzige entscheidende Schlacht gewonnen hatten, und zwar deshalb, weil sie unter Bruch einer vereinbarten Waffenruhe über die völlig unvorbereiteten Österreicher hergefallen waren.

Noch eine Aussage meines Großvaters, ein ohnehin bekanntes Bonmot, ist mir in Erinnerung: „Italien ist wie ein Schnitzel. Je mehr man es klopft (d.h. je mehr militärische Niederlagen es erleidet), umso größer wird es.“ In der Tat waren Italiens Territorialgewinne praktisch nie auf militärische Erfolge zurückzuführen. Entschieden erfolgreicher war Italien hingegen mit seinen Exportgütern, darunter Ferrari und Gucci, aber auch Mafia und neapolitanischer Müll. Letztere sind kein Aushängeschild für einen Gründerstaat der EU. Die langjährigen Fortschritte Italiens in der Bekämpfung dieser Phänomene sind absolut zu vergleichen mit jenen, die Staaten der Dritten Welt bei der Bewältigung ihrer Probleme mit dem organisierten Verbrechen (Rauschgift) und den sozialen Missständen (Armut) erzielen. Nämlich so gut wie keine.