Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren - Jules Verne - E-Book

Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Jules Verne bei Null Papier Komplett neu überarbeitet; reichhaltig illustriert und kommentiert Michael Strogoff, der Kurier des Zaren. Jules Vernes spannende und vielleicht ausgereifteste Geschichte. Nun vollkommen überarbeitet und mit 83 stimmigen Graphiken versehen. Grundlage dieser Neubearbeitung ist die erste Übersetzung ins Deutsche aus dem Jahr 1876. Da diese Version aber heutzutage schwer zu lesen ist, hat sich der Null Papier Verlag der Sache angenommen und eine von vermeintlichen Rechtschreibfehler, mißzuverstehenden Vokabeln und verwirrenden Dialog-Konstruktionen befreite und um Erläuterungen ergänzte Version geschaffen. Diese ermöglicht ein flüssiges und spannendes Lesen, ohne den Charme der damaligen Zeit und Sprache zu verlieren. Machen Sie den Test und lesen Sie ein Probekapitel Erzählt wird die Geschichte des Offiziers Michael Strogoff, der als Kurier im Dienste des Zaren steht. Von diesem erhält er in Moskau den Befehl, während einer Invasion der Tataren eine Depesche nach Irkutsk zu bringen. Er soll den Bruder des Zaren vor dem Verräter Iwan Ogareff warnen. Dieser will Rache und hat sich daher mit dem Tatarenfürsten Feofar-Khan verbündet. Mit der Eisenbahn, per Dampfschiff, mit Pferd und Wagen und zu Fuß macht sich Strogoff auf den gefährlichen Weg durch Sibirien. Auf dem Weg lernt er die schöne junge Nadia kennen. Strogoff hat ein Abenteuer nach dem anderen zu bestehen, und daß Ogareff seinen Auftrag kennt, macht die Sache für ihn noch gefährlicher. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 527

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Jules Verne

Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren

Vollständige Überarbeitung der Erstübersetzung, kommentiert und illustriert

Jules Verne

Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren

Vollständige Überarbeitung der Erstübersetzung, kommentiert und illustriert

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Illustrationen: Jules FératÜbersetzung und Fußnoten: Jürgen Schulze EV: A. Hartleben’s Verlag, 1876 3. Auflage, ISBN 978-3-954180-51-6

www.null-papier.de/verne

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ju­les Ver­ne – Le­ben und Werk

Band 1

Ers­tes Ka­pi­tel – Ein Fest im Neu­en Palais

Zwei­tes Ka­pi­tel – Rus­sen und Tar­ta­ren

Drit­tes Ka­pi­tel – Mi­cha­el Strogoff

Vier­tes Ka­pi­tel – Von Mos­kau nach Nis­hny-Now­go­rod

Fünf­tes Ka­pi­tel – Eine Ver­ord­nung mit zwei Ar­ti­keln

Sechs­tes Ka­pi­tel – Bru­der und Schwes­ter

Sieb­tes Ka­pi­tel – Auf der Vol­ga strom­ab­wärts

Ach­tes Ka­pi­tel – Die Kama strom­auf­wärts

Neun­tes Ka­pi­tel – Tag und Nacht im Ta­ran­tass

Zehn­tes Ka­pi­tel – Ein Un­wet­ter in den Ural­ber­gen

Elf­tes Ka­pi­tel – Rei­sen­de in Not

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Eine Her­aus­for­de­rung

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Die Pf­licht über al­les!

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Mut­ter und Sohn

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Der Ba­ra­bi­nen-Sumpf

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Eine letz­te An­stren­gung

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Bi­bel­sprü­che und Sie­der­ver­se

Band 2

Ers­tes Ka­pi­tel – Ein tar­ta­ri­sches Feld­la­ger

Zwei­tes Ka­pi­tel – Alei­de Jo­li­vets Hal­tung

Drit­tes Ka­pi­tel – Schlag für Schlag

Vier­tes Ka­pi­tel – Der sieg­rei­che Ein­zug

Fünf­tes Ka­pi­tel – Nun sieh’ Dich um

Sechs­tes Ka­pi­tel – Ein Freund un­ter­wegs

Sieb­tes Ka­pi­tel – Die Über­schrei­tung der Je­ni­seï

Ach­tes Ka­pi­tel – Ein Hase, der über der Weg läuft

Neun­tes Ka­pi­tel – In der Step­pe

Zehn­tes Ka­pi­tel – Bai­kal und An­ga­ra

Elf­tes Ka­pi­tel – Zwi­schen zwei Asern

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Ir­kutsk

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Ein Ku­ri­er des Za­ren

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Die Nacht vom 5. zum 6. Ok­to­ber

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Schluss

Ein Nach­wort

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Ju­les Ver­ne ge­hört zu den Au­to­ren, die je­der schon ein­mal ge­le­sen hat. Eine Be­haup­tung, die man nicht über vie­le Schrift­stel­ler auf­stel­len kann. Die Ge­schich­ten von Ver­ne sind un­ter­hal­tend, lehr­reich und im­mer sehr at­mo­sphä­risch.

In un­re­gel­mä­ßi­ger Fol­ge wird mein Ver­lag die Wer­ke von Ver­ne ver­öf­fent­li­chen – die be­kann­ten wie die un­be­kann­ten. Im­mer in der über­ar­bei­te­ten Er­st­über­set­zung, um den (sprach­li­chen) Ch­ar­me der Zeit bei­zu­be­hal­ten.

Kor­ri­giert und kom­men­tiert wer­den Orts- und Per­so­nen­na­men oder of­fen­sicht­lich falsche An­ga­ben. Sie fin­den die Er­läu­te­run­gen in Fuß­no­ten.

Ich habe es mir auch nicht neh­men las­sen, die ur­sprüng­li­chen Na­men zu ver­wen­den: Aus dem Jo­hann wird so wie­der der ur­sprüng­li­che Jean, aus Lud­wig wie­der Louis und aus Ma­ri­an­ne wie­der Ma­rie. Ich den­ke, das tut den Ge­schich­ten nur gut.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Ju­les Ver­ne – Le­ben und Werk

Bei­na­he wäre Klein-Ju­les als Schiffs­jun­ge nach In­di­en ge­fah­ren, hät­te eine Lauf­bahn als See­mann ein­ge­schla­gen und spä­ter un­ter­halt­sa­mes See­manns­garn ge­spon­nen, das ver­mut­lich nie die Drucker­pres­se er­reicht hät­te.

Ju­les Ver­ne

Ver­liebt in die aben­teu­er­li­che Li­te­ra­tur

Glück­li­cher­wei­se für uns Le­ser hin­dert man ihn dar­an: Der Elf­jäh­ri­ge wird von Bord ge­holt und ver­lebt wei­ter­hin eine be­hü­te­te Kind­heit vor bür­ger­li­chem Hin­ter­grund. Ge­bo­ren am 8. Fe­bru­ar 1828 in Nan­tes, wächst Ju­les-Ga­bri­el Ver­ne in gut si­tu­ier­ten Ver­hält­nis­sen auf. Als äl­tes­ter von fünf Spröss­lin­gen soll er die vä­ter­li­che An­walt­spra­xis über­neh­men, wes­halb er ab 1846 in Pa­ris Jura stu­diert.

Viel span­nen­der fin­det er schon zu die­ser Zeit al­ler­dings die Li­te­ra­tur. Ver­ne freun­det sich so­wohl mit Alex­and­re Du­mas als auch mit sei­nem gleich­na­mi­gen Sohn an. Ge­mein­sam mit Va­ter Du­mas ver­fasst er Opern­li­bret­ti und ers­te dra­ma­ti­sche Wer­ke. Nach dem Ab­schluss sei­nes Stu­di­ums be­schließt er, nicht nach Nan­tes zu­rück­zu­keh­ren, son­dern sich völ­lig der Dra­ma­tik zu wid­men.

Zwar schreibt er nicht ganz er­folg­los – drei sei­ner Er­zäh­lun­gen er­schei­nen in ei­ner li­te­ra­ri­schen Zeit­schrift. Doch zum Le­ben reicht es nicht, wes­halb der jun­ge Au­tor 1852 den Pos­ten ei­nes In­ten­danz-Se­kre­tärs am Théâtre ly­ri­que an­nimmt. Im­mer­hin wird die­se Ar­beit zu­ver­läs­sig ver­gü­tet und Ver­ne darf sich als Dra­ma­ti­ker be­tä­ti­gen. In sei­ner Frei­zeit ver­fasst er wei­ter­hin Er­zäh­lun­gen, wo­bei ihn aben­teu­er­li­che Rei­sen am meis­ten in­ter­es­sie­ren.

Als er 1857 eine Wit­we hei­ra­tet, die zwei Töch­ter in die Ehe mit­bringt, muss sich der Li­te­rat nach ei­ner bes­ser be­zahl­ten Ein­kom­mens­quel­le um­se­hen. Wäh­rend der nächs­ten zwei Jah­re schlägt er sich als Bör­sen­mak­ler durch, wo­bei er ge­nug Zeit fin­det, län­ge­re Schiffs­rei­sen zu un­ter­neh­men, be­vor 1861 sein Sohn Mi­chel ge­bo­ren wird.

Ver­liebt ins li­te­ra­ri­sche Aben­teu­er

Letzt­lich ist es ei­ner be­son­de­ren Be­geg­nung im Jahr 1862 ge­schul­det, dass al­les, was der Au­tor bis­her »geis­tig an­ge­sam­melt« hat, in sei­nen künf­ti­gen Ro­ma­nen kul­mi­nie­ren darf: Der Ju­gend­buch-Ver­le­ger Pier­re-Ju­les Het­zel ver­öf­fent­licht Ver­nes uto­pi­schen Rei­se­ro­man »Fünf Wo­chen im Bal­lon«. Die­ses von ihm oh­ne­hin be­vor­zug­te Su­jet wird den Schrift­stel­ler nie wie­der los­las­sen – die aben­teu­er­li­chen Rei­sen, auf wel­cher Rou­te auch im­mer sie ab­sol­viert wer­den. Het­zel ver­legt Ver­nes noch heu­te be­lieb­tes­te Schrif­ten: 1864 »Rei­se zum Mit­tel­punkt der Erde«, im fol­gen­den Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Rei­se um den Mond« und »Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer«. Mit »Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen« er­scheint 1872 Ju­les Ver­nes er­folg­reichs­ter Ro­man über­haupt.

Die Zu­sam­men­ar­beit mit Het­zel, der gleich­zei­tig als sein Men­tor fun­giert, sorgt in den spä­ten 1860er Jah­ren da­für, dass der höchst pro­duk­ti­ve Schrift­stel­ler sei­ner Fa­mi­lie ei­ni­gen Wohl­stand bie­ten und sich selbst »ju­gend­traum­haf­te« Rei­se­wün­sche er­fül­len kann. Sein Ver­le­ger stellt ihn nam­haf­ten Wis­sen­schaft­lern vor – in Kom­bi­na­ti­on mit den er­wähn­ten Rei­sen ent­steht auf die­se Wei­se ein un­ge­heu­rer Fun­dus der In­spi­ra­ti­on: Ju­les Ver­nes Zet­tel­kas­ten ent­hält an­geb­lich 25.000 No­ti­zen!

Zwar ist er seit »Rei­se um den Mond« glei­cher­ma­ßen wohl­ha­bend und ge­ach­tet; er en­ga­giert sich seit den spä­ten 1880er Jah­ren so­gar als Stadt­rat in Amiens, wo­hin er 1871 mit sei­ner Fa­mi­lie über­ge­sie­delt war. Der »Rit­ter­schlag« aber bleibt aus: In der Aca­dé­mie françai­se möch­te man den Ju­gend­buch­au­tor nicht ha­ben, er gilt als nicht se­ri­ös ge­nug.

Den Ze­nit sei­nes Schaf­fens hat der Li­te­rat be­reits über­schrit­ten, als er 1888 blei­ben­de Ver­let­zun­gen durch den Schuss­waf­fen-An­griff ei­nes geis­tes­ge­stör­ten Ver­wand­ten da­von­trägt. Den­noch ar­bei­tet der Au­tor un­un­ter­bro­chen wei­ter. Als Ju­les Ver­ne im März 1905 stirbt, hin­ter­lässt er ein ge­wal­ti­ges Ge­samt­werk: 54 zu Leb­zei­ten er­schie­ne­ne Ro­ma­ne, wei­te­re elf Ma­nu­skrip­te be­ar­bei­tet sein Sohn Mi­chel nach dem Tod des Va­ters. Er­gänzt wird Ver­nes Œu­vre durch Er­zäh­lun­gen, Büh­nen­stücke und geo­gra­fi­sche Ver­öf­fent­li­chun­gen.

Ge­liebt und miss­ach­tet

Je­nes zwie­späl­ti­ge Ver­hält­nis, das sich be­reits in der Ab­leh­nung der Aka­de­mie­mit­glie­der äu­ßert, kenn­zeich­net die aka­de­mi­sche Re­zep­ti­on bis heu­te: Ju­les Ver­ne ist eben »nur ein Ju­gend­buch­au­tor«. We­ni­ger be­fan­ge­ne Re­zi­pi­en­ten frei­lich schrei­ben ihm eine ganz an­de­re Be­deu­tung zu, die dem Vi­sio­när und lei­den­schaft­li­chen Er­zäh­ler bes­ser ge­recht wird.

Wenn­gleich der al­tern­de Li­te­rat zum Ende sei­nes Schaf­fens durch­aus nicht mehr in gläu­bi­ger Tech­nik­be­geis­te­rung auf­geht, blei­ben uns doch ge­nau jene Wer­ke in lie­be­vol­ler Erin­ne­rung, in de­nen tech­ni­sche und mensch­li­che Groß­ta­ten die Hand­lung be­stim­men: »Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen« oder »Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer« bei­spiels­wei­se. Wer als Kind von Nemo und sei­ner Nau­ti­lus liest, wird un­wei­ger­lich ge­fan­gen von die­sem tech­ni­schen Wun­der­werk und des­sen Ka­pi­tän. Ver­nes Ro­ma­ne ge­hö­ren zu je­nen Ju­gend­bü­chern, die man als Er­wach­se­ner ger­ne noch­mals zur Hand nimmt – und man staunt er­neut, er­in­nert sich, lässt sich wie­der­um ein­fan­gen und fragt sich, warum man ei­gent­lich so sel­ten Ver­ne liest…

So wie der Au­tor sich selbst durch Rei­sen und Wis­sen­schaft in­spi­rie­ren lässt, die­nen sei­ne Wer­ke seit je­her der In­spi­ra­ti­on sei­ner Le­ser­schaft. Wie prä­sent die­ser ex­zel­len­te Un­ter­hal­ter in den Köp­fen sei­ner Le­ser bleibt, be­le­gen Be­nen­nun­gen in See- und Raum­fahrt: Das ers­te Atom-U-Boot der Ge­schich­te ist die ame­ri­ka­ni­sche USS Nau­ti­lus. Ein Raum­trans­por­ter der Eu­ro­päi­schen Raum­fahr­t­agen­tur heißt »Ju­les Ver­ne«, ein As­te­ro­id und ein Mond­kra­ter tra­gen eben­falls den Na­men des Schrift­stel­lers. Die »Ju­les Ver­ne Tro­phy« wird seit 1990 für die schnells­te Wel­t­um­se­ge­lung ver­lie­hen, was dem be­geis­ter­ten Jacht­be­sit­zer Ver­ne ge­wiss ge­fal­len hät­te.

Der kom­mer­zi­el­le Li­te­ra­tur­be­trieb so­wie die Film­wirt­schaft be­trach­ten den fran­zö­si­schen Va­ter der Science-Fic­ti­on-Li­te­ra­tur eben­falls mit Wohl­wol­len: Un­zäh­li­ge Neu­auf­la­gen der Ro­man­klas­si­ker, Hör­bü­cher und Ver­fil­mun­gen der ra­san­ten, stets mit­rei­ßen­den Hand­lun­gen spre­chen Bän­de. Mitt­ler­wei­le gel­ten die äl­tes­ten Ver­fil­mun­gen selbst als kul­tu­rel­le Mei­len­stei­ne, die kei­nes­wegs nur ein jun­ges Pub­li­kum er­freu­en.

Ju­les Ver­nes Be­deu­tung für die Li­te­ra­tur

Der Ein­fluss Ver­nes auf nach­fol­gen­de Science-Fic­ti­on-Au­to­ren ist gar nicht hoch ge­nug ein­zu­schät­zen: Aus heu­ti­ger Sicht ist er ei­ner der Vor­rei­ter der uto­pi­schen Li­te­ra­tur Eu­ro­pas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Wel­ten«) und Kurd Laß­witz (»Auf zwei Pla­ne­ten«) das neue Gen­re be­grün­det. Sein­er­zeit gibt es die­sen Be­griff noch nicht, wes­halb Het­zel die Ro­ma­ne sei­nes Er­folgs­schrift­stel­lers als »Au­ßer­ge­wöhn­li­che Rei­sen« ver­mark­tet

Der Fran­zo­se sieht, an­ders als Wells und ähn­lich wie Laß­witz, im tech­ni­schen Fort­schritt das künf­ti­ge Wohl der Mensch­heit be­grün­det. Trotz­dem ist Ju­les Ver­ne vor al­lem Er­zäh­ler: Er will we­der war­nen wie Wells noch be­leh­ren wie Laß­witz, son­dern in ers­ter Li­nie un­ter­hal­ten. Im Ver­gleich zum sprö­den Rea­lis­mus ei­nes Wells wir­ken sei­ne Ro­ma­ne für mo­der­ne Le­ser aus­ufernd, viel­leicht so­gar ge­schwät­zig. Den­noch sind sie leich­ter zu­gäng­lich als das sti­lis­tisch ähn­li­che Schaf­fen des Deut­schen Laß­witz, weil sie Uto­pie und Tech­nik­be­geis­te­rung nicht zum Zweck ih­res In­halts ma­chen, son­dern le­dig­lich zu des­sen Trä­ger: Schließ­lich ist es ein­fach auf­re­gend, in ei­nem Bal­lon eine Welt­rei­se an­zu­tre­ten oder Ka­pi­tän Nemo in sein ge­hei­mes Reich zu fol­gen.

Band 1

Erstes Kapitel – Ein Fest im Neuen Palais

Sire, eine neue De­pe­sche.«

»Von wo­her?«

»Aus Tomsk.«

»Über die­se Stadt hin­aus ist die Lei­tung un­ter­bro­chen?«

»Sie ist seit ges­tern ge­stört.«

»Ge­ne­ral, Sie wer­den von Stun­de zu Stun­de ein Te­le­gramm von Tomsk ein­for­dern und mich auf dem Lau­fen­den er­hal­ten.«

»Zu Eure Ma­je­stät Be­fehl« ant­wor­te­te der Ge­ne­ral Kis­soff.

Die­se Wor­te wur­den ge­gen zwei Uhr mor­gens ge­wech­selt, als ein im Neu­en Palais ab­ge­hal­te­nes Fest eben in höchs­tem Glan­ze strahl­te.

Die Ka­pel­len der Re­gi­men­ter von Preo­bra­jens­ky und von Pau­low­sky spiel­ten zu die­ser Soirée die ge­wähl­tes­ten Num­mern ih­res Re­per­toires, Pol­kas, Ma­zur­kas, Schot­ti­sche und Wal­zer, un­un­ter­bro­chen auf. Im­mer neue Paa­re von Tän­zern und Tän­ze­rin­nen rausch­ten durch die präch­ti­gen Sa­lons die­ses Palas­tes, der sich nur we­ni­ge Schrit­te ent­fernt von dem »al­ten Hau­se aus Stein« er­hebt, in welch letz­te­rem sich so vie­le furcht­ba­re Dra­men ab­ge­spielt ha­ben und das jetzt nur die flüch­ti­gen Me­lo­di­en der Qua­dril­len wi­der­hall­te.

Der Ober­hof­mar­schall fand bei Er­fül­lung sei­ner de­li­ka­ten Pf­lich­ten eine sehr be­ach­tens­wer­te Un­ter­stüt­zung. Die Groß­fürs­ten selbst, de­ren Ad­ju­tan­ten, die Kam­mer­her­ren vom Dienst und die Hau­s­of­fi­zie­re des Palas­tes un­ter­zo­gen sich des Ar­ran­ge­ments der Tän­ze. Die von Dia­man­ten strah­len­den Groß­fürs­tin­nen und die Hof­da­men in ge­wähl­tes­ter Gala­toi­let­te gin­gen den Frau­en und Töch­tern der höchs­ten Mi­li­tär- und Zi­vil­be­am­ten mit auf­mun­tern­dem Bei­spie­le vor­an. Als das Si­gnal zur Po­lo­nai­se er­tön­te, als die Ein­ge­la­de­nen je­den Ran­ges her­bei­eil­ten zu die­ser rhyth­mi­schen Pro­me­na­de, wel­che bei der­ar­ti­gen Fest­lich­kei­ten die vol­le Be­deu­tung ei­nes Na­tio­nal­tan­zes er­langt, da bot das Ge­misch der lan­gen, spit­zen­über­web­ten Ro­ben und der an Or­dens­schmuck so rei­chen Uni­for­men bei dem Glan­ze der hun­dert Kron­leuch­ter, de­ren Licht­meer die un­ge­heu­ren Spie­gel noch zu ver­dop­peln schie­nen, dem Auge ein ent­zücken­des, kaum zu be­schrei­ben­des Bild.

Dazu lie­fer­te der große Sa­lon, das schöns­te der Ge­mä­cher im Neu­en Palais, für die­se Ver­samm­lung ho­her und höchs­ter Per­so­nen und ver­schwen­de­risch ge­schmück­ter Frau­en den ent­spre­chend pracht­vol­len Rah­men. Die rei­che De­cke mit ih­ren von der Zeit schon et­was ge­mil­der­ten Ver­gol­dun­gen er­schi­en wie be­sä­et mit blit­zen­den Ster­nen. Der Bro­kat der Gar­di­nen und der in schwe­ren Fal­ten her­ab­fal­len­den Por­tièren färb­te sich mit war­men Tö­nen, wel­che sich nur an den schär­fe­ren Kan­ten des kost­ba­ren Stoffs leb­haf­ter her­aus­ho­ben.

Durch die Schei­ben der großen Rund­bo­gen­fens­ter drang das Licht des In­nern nur we­nig ge­schwächt, ähn­lich dem Wi­der­schein ei­ner Feu­ers­brunst nach au­ßen, und stach grell ab von dem nächt­li­chen Dun­kel, das seit we­nig Stun­den die­sen glit­zern­den Palast um­hüll­te. Die­ser Kon­trast moch­te auch die Auf­merk­sam­keit zwei­er Ball­gäs­te er­re­gen, wel­che am Tan­ze kei­nen An­teil nah­men. In ei­ner der Fens­ter­öff­nun­gen ste­hend, konn­ten sie meh­re­re jetzt nur un­deut­lich sicht­ba­re Glock­en­tür­me wahr­neh­men, de­ren rie­si­ge Sil­hou­et­ten sich am Him­mel ab­zeich­ne­ten. Un­ten be­weg­ten sich schwei­gend, das Ge­wehr wag­recht über die Schul­ter ge­legt, zahl­rei­che Wacht­pos­ten auf und ab, und auf den Spit­zen ih­rer Pi­ckel­hau­ben blitz­te es dann und wann von dem dar­auf fal­len­den Lich­te aus dem Palas­te. Jene ver­nah­men wohl auch den Schritt der Pa­trouil­len auf den Stein­plat­ten des Vor­plat­zes, der ge­wiss takt­ge­rech­ter war, als manch­mal die Be­we­gun­gen der Tan­zen­den auf dem Par­kett des Fest­saa­l­es. Dann und wann hör­te man den Zu­ruf der Schild­wa­chen von Pos­ten zu Pos­ten und manch­mal misch­te sich ein hell­schmet­tern­des Trom­pe­ten­si­gnal har­mo­nisch mit den Ak­kor­den des Or­che­s­ters.

Noch wei­ter un­ten er­schie­nen dunkle Mas­sen in den un­ge­heu­ren von den Fens­tern des Neu­en Palais aus­ge­ström­ten Licht­ke­geln. Das wa­ren Schif­fe, die auf dem Stro­me her­ab­glit­ten, des­sen Wel­len, über­strahlt von den grel­len Licht­bün­deln meh­re­rer klei­ner Leucht­feu­er, den Fuß der Ter­ras­sen des Palas­tes be­spül­ten.

Die Haupt­per­son des Bal­les, der Fest­ge­ber des heu­ti­gen Abends, dem ge­gen­über Ge­ne­ral Kis­soff jene nur den Sou­ve­rä­nen zu­kom­men­de An­re­de be­nutz­te, er­schi­en ein­fach in der Uni­form ei­nes Of­fi­ziers der Gar­de­jä­ger. Sei­ner­seits lag hier­in kei­ne Zie­re­rei, son­dern die Ge­wohn­heit ei­nes Man­nes, der für äu­ße­ren Pomp we­nig emp­find­lich ist. Sei­ne Er­schei­nung kon­tras­tier­te dem­nach mit den pracht­vol­len Ko­stü­men, die sich um ihn dräng­ten, und eben­so zeig­te er sich auch ge­wöhn­lich in­mit­ten sei­ner Es­kor­te von Ge­or­gi­ern, Ko­sa­ken und Lesghi­ern, je­ner präch­ti­gen Rei­ter­leib­wa­che in den bril­lan­ten Uni­for­men des Kau­ka­sus.

Je­ner hoch­ge­wach­se­ne Mann mit freund­li­chem Ge­sicht, ru­hi­ger Phy­sio­gno­mie, aber bis­wei­len sor­gen­vol­ler Stirn, ging leut­se­lig von ei­ner Grup­pe zur an­de­ren, sprach aber we­nig und schi­en selbst we­der den hei­te­ren Ge­sprä­chen der jün­gern Welt eine be­son­de­re Auf­merk­sam­keit zu schen­ken, noch den erns­te­ren Wor­ten sei­ner höchs­ten Staats­be­am­ten oder der Mit­glie­der des di­plo­ma­ti­schen Corps, wel­che die Haupt­staa­ten Eu­ro­pas an sei­nem Hofe ver­tra­ten. Zwei oder drei die­ser scharf­sich­ti­gen Po­li­ti­ker – ge­bo­re­ne Phy­sio­gno­mi­ker – glaub­ten auf dem Ant­litz ih­res ho­hen Wirts ei­ni­ge Zei­chen von Un­ru­he be­merkt zu ha­ben, de­ren Ur­sa­che ih­nen zwar un­er­klär­lich blieb, aber ohne dass ei­ner der­sel­ben sich er­laubt hät­te, ein­ge­hen­der da­nach zu for­schen. Auf je­den Fall lag es, dar­an war gar nicht zu zwei­feln, in der Ab­sicht des Of­fi­ziers der Gar­de­jä­ger, durch sei­ne Ge­heim­nis­se die Fes­tes­freu­de in kei­ner Wei­se zu be­ein­träch­ti­gen, und da er ei­ner der sel­te­nen Fürs­ten war, dem fast eine gan­ze Welt, so­gar im Ge­dan­ken, zu ge­hor­chen sich ge­wöhnt hat­te, so wur­den auch die Ver­gnü­gun­gen des Bal­les nicht einen Au­gen­blick un­ter­bro­chen.

In­des­sen war­te­te Ge­ne­ral Kis­soff von dem Of­fi­zier, dem er das Te­le­gramm aus Tomsk über­reicht hat­te, auf die Er­laub­nis, sich zu­rück­zie­hen zu dür­fen, aber je­ner ver­harr­te in Schwei­gen. Er hat­te das Blatt an­ge­nom­men, durch­le­sen und mehr und mehr Wol­ken la­ger­ten sich auf sei­ne Stir­ne. Un­will­kür­lich fass­te sei­ne Hand nach dem De­gen­griff und er­hob er die­se wie­der bis an die Au­gen, wel­che er einen Au­gen­blick be­deck­te. Es schi­en, als blen­de ihn der Schein der tau­send Flam­men und als su­che er et­was Schat­ten, um bes­ser in sein In­ne­res bli­cken zu kön­nen.

»Wir sind also«, be­gann er wie­der, nach­dem er den Ge­ne­ral Kis­soff in eine Fens­ter­ni­sche ge­führt, »seit ges­tern ohne alle Ver­bin­dung mit dem Groß­fürs­ten?«

»Ohne Ver­bin­dung, Sire, und es steht zu be­fürch­ten, dass die De­pe­schen bald nicht ein­mal die Gren­ze Si­bi­ri­ens mehr über­schrei­ten kön­nen.«

»Aber die Trup­pen des Amur­ge­bie­tes, so­wie die von Trans­bai­ka­li­en ha­ben die Or­der emp­fan­gen, so­fort nach Ir­kutsk auf­zu­bre­chen?«

»Die­sen Be­fehl ent­hielt das letz­te Te­le­gramm, wel­ches über den Bai­kal­see hin­aus zu sen­den mög­lich war.«

»Doch mit den Gou­ver­ne­ments Je­ni­seisk, Omsk, Se­mi­pa­la­tinsk und To­bolsk ste­hen wir seit Be­ginn des Ein­falls stets in di­rek­ter Kom­mu­ni­ka­ti­on?«

»Ge­wiss, Sire, da­hin ge­lan­gen un­se­re De­pe­schen, und wir sind si­cher, dass die Tar­ta­ren zur Stun­de den Ir­tysch und Obi noch nicht über­schrit­ten ha­ben.«

»Und von dem Ver­rä­ter Iwan Ogareff hat man noch kei­ne wei­te­re Kun­de?«

»Nein«, ant­wor­te­te Ge­ne­ral Kis­soff, »der Po­li­zei­chef ver­mag nicht zu sa­gen, ob je­ner die Gren­ze über­schrit­ten hat oder nicht.«

»Sein Si­gna­le­ment1 wer­de so­fort nach Nis­hny-Now­go­rod, Perm, Je­ka­te­rin­burg, Kas­si­mow, Tin­men, Ichim, Omsk, Elamsk, Ke­li­wan, Tomsk und über­haupt nach al­len Sta­tio­nen ge­sandt, mit de­nen wir noch in te­le­gra­fi­schem Ver­kehr ste­hen.«

»Eure Ma­je­stät Be­feh­le wer­den un­ver­züg­lich aus­ge­führt wer­den«, er­wi­der­te der Ge­ne­ral.

»Kein Wort über al­les Die­ses!«

Nach ei­nem stum­men Zei­chen ehr­furchts­vol­ler Er­ge­ben­heit ver­neig­te sich der Ge­ne­ral, misch­te sich erst un­be­fan­gen un­ter die Gäs­te, ver­ließ aber bald die Sa­lons, ohne dass sein Ver­schwin­den ir­gend­wel­ches Auf­se­hen er­reg­te.

Der Of­fi­zier blieb träu­me­risch noch kur­ze Zeit ste­hen, und als er sich den ver­schie­de­nen Grup­pen von Di­plo­ma­ten und Mi­li­tärs wie­der nä­her­te, hat­te sein Ge­sicht die einen Au­gen­blick ver­lo­re­ne Ruhe voll­stän­dig wie­der­ge­fun­den.

Die sehr erns­te Ur­sa­che je­ner schnell ge­wech­sel­ten Wor­te war aber kei­nes­wegs so un­be­kannt, als der Gar­de­jä­ge­r­of­fi­zier und der Ge­ne­ral Kis­soff glau­ben moch­ten. Man sprach zwar nicht of­fi­zi­ell da­von, ja nicht of­fi­zi­ös, da die Zun­gen jetzt noch nicht ge­löst wa­ren, aber ver­schie­de­ne hoch­ge­stell­te Per­so­nen hat­ten doch mehr oder we­ni­ger ge­naue Be­rich­te er­hal­ten über die Vor­gän­ge jen­seits der Gren­ze.

Was man nur so vom Hö­ren­sa­gen wuss­te, da­von un­ter­hielt man sich nicht, nicht ein­mal die Mit­glie­der der Di­plo­ma­tie un­ter­ein­an­der, zwei Ein­ge­la­de­ne, wel­che we­der eine Uni­form, noch sonst wel­che Aus­zeich­nung als be­rech­tigt zu die­ser Fest­lich­keit kenn­zeich­ne­te, spra­chen mit ge­dämpf­ter Stim­me über die­se An­ge­le­gen­heit und schie­nen sehr ge­naue In­for­ma­tio­nen zu be­sit­zen.

Auf wel­chem Wege, durch wel­ches Zwi­schen­mit­tel wuss­ten aber die­se bei­den ein­fa­chen Sterb­li­chen das, was an­de­re und selbst sehr ein­fluss­rei­che Per­so­nen kaum mut­maß­ten? Nie­mand hät­te das sa­gen kön­nen. Wa­ren sie mit ei­nem Vor­ge­fühl oder mit ei­ner Voraus­sicht be­gabt? Be­sa­ßen sie noch einen sechs­ten Sinn, der es ih­nen er­mög­lich­te, über den be­grenz­ten Ho­ri­zont hin­aus zu bli­cken, der sonst die Trag­wei­te des Men­schen­au­ges ab­schließt? Hat­ten sie eine be­son­ders schar­fe Wit­te­rung, um die ge­heims­ten Neu­ig­kei­ten aus­zu­spü­ren? Soll­te sich ihre Na­tur bei der tief ein­ge­wur­zel­ten Ge­wohn­heit, von und durch die In­for­ma­ti­on zu le­ben, gänz­lich ver­än­dert ha­ben? Man wur­de ver­sucht, das zu glau­ben.

Die­se bei­den Män­ner, der eine Eng­län­der, der an­de­re Fran­zo­se, wa­ren lan­ge, ha­ge­re Ge­stal­ten – die­ser ge­bräunt wie die Süd­län­der der hei­ßen Pro­vence – je­ner rot, wie ein Gent­le­man aus Lan­ca­shi­re. Der ab­ge­mes­se­ne, kal­te phleg­ma­ti­sche, mit Be­we­gun­gen und Wor­ten haus­häl­te­ri­sche Anglo-Nor­ma­ne schi­en nur bei der Aus­lö­sung ei­ner Fe­der zu re­den und zu ges­ti­ku­lie­ren, die von Zeit zu Zeit in ihm wirk­te. Der leb­haf­te, fast un­ge­stü­me Gal­lo-Ro­ma­ne da­ge­gen sprach gleich­zei­tig mit Lip­pen, Au­gen und Hän­den, und schi­en sei­ne Ge­dan­ken auf zwan­zi­ger­lei Art mit­zu­tei­len, wäh­rend sei­nem Part­ner nur eine zu Ge­bo­te stand, wel­che ste­reo­ty­pisch in sei­nem Hirn fest saß.

Die­se phy­si­schen Un­ter­schie­de hät­ten des ober­fläch­li­chen Beo­b­ach­ters Ur­teil ge­wiss leicht irre füh­ren kön­nen, der Phy­sio­gno­mi­ker aber, der die­se bei­den Per­sön­lich­kei­ten aus der Nähe be­ob­ach­te­te, hät­te den phy­sio­lo­gi­schen Kon­trast, der sie cha­rak­te­ri­sier­te, ge­wiss in die Wor­te zu­sam­men­ge­fasst, dass der Fran­zo­se »ganz Auge« und der Eng­län­der »ganz Ohr« sei.

In der Tat hat­te sich der Ge­sichts­sinn des einen durch den Ge­brauch ganz au­ßer­or­dent­lich ge­schärft. Sei­ne Netz­haut be­saß die­sel­be Au­gen­blicks­emp­find­lich­keit, wie die der ge­üb­ten Ta­schen­spie­ler, wel­che eine Kar­te schon beim schnel­len Mi­schen oder an ei­nem so un­schein­ba­ren Zei­chen er­ken­nen, dass es je­dem an­de­ren zwei­fel­los ent­geht. Die­ser Fran­zo­se be­saß also in höchs­tem Gra­de das, was man so be­zeich­nend »das Ge­dächt­nis des Au­ges« nennt.

Der Eng­län­der im Ge­gen­teil schi­en ganz spe­zi­ell or­ga­ni­siert, nur zu hö­ren und in sich auf­zu­neh­men. Traf sei­nen Ge­hör­ap­pa­rat der Ton ei­ner Stim­me nur ein ein­zi­ges Mal, so ver­gaß er die­sen nie­mals mehr und hät­te die­se Stim­me nach zehn, nach zwan­zig Jah­ren un­ter tau­send an­de­ren wie­der her­aus­ge­hört. Sei­ne Ohren be­sa­ßen zwar si­cher­lich nicht das Ver­mö­gen, sich so zu be­we­gen, wie die der Tie­re, wel­che mit sehr ent­wi­ckel­ten Ohr­mus­keln ver­se­hen sind, da die Ge­lehr­ten aber au­ßer Zwei­fel ge­setzt ha­ben, dass die äu­ße­ren Ohren des Men­schen nur »na­he­zu« un­be­weg­lich sind, so wäre man an­zu­neh­men be­rech­tigt ge­we­sen, dass die des ge­nann­ten Eng­län­ders sich muss­ten stre­cken, ver­schie­ben und win­den kön­nen, um die Schall­wel­len un­ter den güns­tigs­ten Ver­hält­nis­sen auf­zu­neh­men, so­dass ei­nem Sach­ver­stän­di­gen ihre Be­we­gun­gen wohl nicht ent­gan­gen wä­ren.

Es sei gleich hier­bei be­merkt, dass die­se Ver­voll­komm­nung des Ge­sichts und Ge­hörs den bei­den Män­nern bei ih­rer Be­schäf­ti­gung sehr zu Stat­ten kam, denn der Eng­län­der war ein Kor­re­spon­dent des Dai­ly-Te­le­graph, der Fran­zo­se Kor­re­spon­dent des… ja, wel­ches oder wel­cher Jour­na­le, das sag­te er nicht, und wenn man ihn dar­um frag­te, so ant­wor­te­te er scher­zend, er kor­re­spon­die­re mit »sei­ner Cou­si­ne Ma­de­lai­ne«. Im Grun­de war die­ser Fran­zo­se trotz sei­nes legèren Auf­tre­tens ein sehr schar­fer Beo­b­ach­ter, und wenn er so in den Tag hin­ein plau­der­te, viel­leicht um sei­ne ei­gent­li­che Ab­sicht de­sto mehr zu ver­de­cken, so gab er sich doch nie­mals eine Blö­ße. Gera­de sei­ne Red­se­lig­keit diente ihm dazu, zu schwei­gen, und wahr­schein­lich war er ei­gent­lich ver­schlos­se­ner und dis­kre­ter als sein Kol­le­ge vom Dai­ly-Te­le­graph.

Wenn bei­de die­sem in der Nacht von 15. zum 16. Juli im Neu­en Palais ge­ge­be­nen Fes­te bei­wohn­ten, so ge­sch­ah das in ih­rer Ei­gen­schaft als Jour­na­lis­ten, und zwar zur größ­ten Er­bau­ung ih­rer Le­ser­krei­se.

Es ver­steht sich ganz von selbst, dass die­se bei­den Män­ner für ihre Mis­si­on in der Welt wirk­lich be­geis­tert wa­ren, dass sie es lieb­ten, sich wie Spür­hun­de auf die Fähr­te der un­er­war­tets­ten Neu­ig­kei­ten zu stür­zen, dass Nichts sie zu­rück­schreck­te oder ab­hielt, zu ih­rem Zie­le zu ge­lan­gen, und dass sie das ab­so­lut un­er­reg­ba­re, kal­te Blut und den wirk­li­chen Mut die­ser Hel­den von der Fe­der be­sa­ßen. Wahr­haf­te Jockeys die­ser Stee­plecha­se,2 die­ser Jagd nach Neu­ig­kei­ten, spran­gen sie über die He­cken, flo­gen über die Flüs­se, setz­ten über die Hür­den mit dem un­ver­gleich­li­chen Feuerei­fer je­ner Voll­blut­ren­ner, die ent­we­der die Ers­ten am Zie­le sein oder ster­ben wol­len.

Üb­ri­gens geiz­ten ihre Jour­na­le nicht mit dem Gel­de, je­nem bis jetzt si­chers­ten, schnells­ten und voll­kom­mens­ten Mit­tel, sich zu in­for­mie­ren. Zu ih­rer Ehre sei aber hier ein­ge­floch­ten, dass we­der der eine noch der an­de­re je über die Mau­er des Pri­vat­le­bens sah oder horch­te, und dass sie nur dann in Tä­tig­keit tra­ten, wenn po­li­ti­sche oder so­zia­le In­ter­es­sen ins Spiel ka­men. Mit ei­nem Wor­te, sie wa­ren, wie man seit den letz­ten Jah­ren zu sa­gen pflegt, »die großen po­li­ti­schen und mi­li­tä­ri­schen Be­richt­er­stat­ter«.

In­des wird man bei nä­he­rer Be­trach­tung se­hen, dass sie die Tat­sa­chen und ihre Kon­se­quen­zen meist auf be­son­de­re Art und Wei­se an­sa­hen, da sie eben je­der sei­ne be­son­de­re Ma­nier hat­ten, zu se­hen und zu ur­tei­len. Da sie je­doch stets mit Frei­mut han­del­ten und bei je­der Ge­le­gen­heit ihr Mög­lichs­tes ta­ten, so wür­de man Un­recht tun, sie des­halb zu ta­deln.

Der fran­zö­si­sche Kor­re­spon­dent hieß Al­ci­de Jo­li­vet. Har­ry Blount war der Name des eng­li­schen Re­por­ters. Sie be­geg­ne­ten sich eben zum ers­ten Male bei dem Fes­te im Neu­en Palais über wel­ches sie ih­ren Jour­na­len Be­richt er­stat­ten woll­ten. Die Ver­schie­den­heit ih­res Cha­rak­ters in Ver­bin­dung mit ei­ner ge­wis­sen Ge­schäfts­vor­sicht, konn­te ih­nen nur we­nig ge­gen­sei­ti­ge Sym­pa­thie ein­flö­ßen. Je­doch, sie ver­mie­den sich des­halb nicht, ja, sie such­ten sich so­gar, um ei­ner dem an­de­ren die Neu­ig­kei­ten des Ta­ges ab­zu­lo­cken. Sie wa­ren al­les in al­lem zwei Nim­rods, die auf dem näm­li­chen Ge­bie­te jag­ten. Was der eine fehl­te, konn­te ja dem an­de­ren zum Schus­se ge­le­gen kom­men, und ihr In­ter­es­se ver­lang­te es, dass sie im­mer so weit Füh­lung be­hiel­ten, um ein­an­der zu se­hen und zu hö­ren.

An die­sem Abend be­fan­den sich bei­de auf dem An­stan­de. Of­fen­bar lag et­was in der Luft.

»Und wenn’s nur ein Volk En­ten wäre«, sag­te sich Al­ci­de Jo­li­vet, »einen Flin­ten­schuss wird’s doch wert sein!«

Die bei­den Kor­re­spon­den­ten ka­men also in ein Ge­spräch wäh­rend des Bal­les, kur­ze Zeit, nach­dem Ge­ne­ral Kis­soff die Sa­lons ver­las­sen hat­te, und bei­de klopf­ten erst ge­gen­sei­tig auf den Busch.

»Wahr­lich, mein Herr, die­ses klei­ne Fest ist rei­zend!«, be­gann Al­ci­de Jo­li­vet, mit der lie­bens­wür­digs­ten Mie­ne von der Welt die Un­ter­hal­tung mit die­ser aus­ge­spro­chen fran­zö­si­schen Phra­se ein­lei­tend.

»Ich habe schon te­le­gra­fiert: splen­did!«, ant­wor­te­te fros­tig Har­ry Blount mit be­son­de­rer Be­to­nung die­ses Wor­tes, wel­ches je­der Bür­ger des Ve­rei­nig­ten Kö­nig­reichs als Aus­druck sei­ner Be­wun­de­rung zu ge­brau­chen pflegt.

»Ich je­doch, füg­te Al­ci­de Jo­li­vet hin­zu, glaub­te mei­ner Cou­si­ne…«

»Ih­rer Cou­si­ne?…«, wie­der­hol­te Har­ry Blount er­staunt, in­dem er sei­nen Kol­le­gen un­ter­brach.

»Ja­wohl«, fuhr Al­ci­de Jo­li­vet fort, »ich ste­he mit mei­ner Cou­si­ne Ma­de­lai­ne in Brief­wech­sel, sie hat es gern, schnell al­les zu er­fah­ren, mei­ne Cou­si­ne!… Ich glaub­te ihr also mit­tei­len zu müs­sen, dass die Stirn des Sou­ve­räns bei die­sem Fes­te doch von ei­ni­gen Wölk­chen be­schat­tet ge­we­sen sei.«

»Mir da­ge­gen schi­en sie strah­lend frei«, ant­wor­te­te Har­ry Blount, der wahr­schein­lich sei­ne An­sicht über die­sen Ge­gen­stand zu ver­ber­gen such­te.

»Und in Fol­ge des­sen ha­ben Sie sie auch in den Spal­ten des Dai­ly-Te­le­graph ›strah­len‹ las­sen?«

»Ge­wiss.«

»Erin­nern Sie sich, Herr Blount«, sprach Al­ci­de Jo­li­vet wei­ter, »was im Jah­re 1812 in Za­kret vor­ge­kom­men ist?«

»So ge­nau, als ob ich da­bei ge­we­sen wäre«, er­wi­der­te der eng­li­sche Re­por­ter.

»Nun«, sag­te Al­ci­de Jo­li­vet, »so ist Ih­nen be­kannt, dass man bei ei­nem dem Kai­ser Alex­an­der zu Ehren ge­ge­be­nen Fes­te die­sem die Nach­richt brach­te, dass Na­po­le­on mit der fran­zö­si­schen Vor­hut so­eben den Nie­men über­schrit­ten habe. Der Kai­ser ver­ließ je­doch das Fest nicht, trotz der Wich­tig­keit die­ser Nach­richt, die ihm sei­ne Herr­schaft kos­ten konn­te, und be­kämpf­te äu­ßer­lich jede Un­ru­he…«

»So we­nig wie un­ser Wirt eine sol­che zeig­te, als ihm Ge­ne­ral Kis­soff die Mel­dung mach­te, dass die te­le­gra­fi­schen Ver­bin­dun­gen zwi­schen der Gren­ze und dem Gou­ver­ne­ment von Ir­kutsk un­ter­bro­chen sei­en.«

»Ah, Sie ken­nen die­se Ein­zel­hei­ten?«

»Ich ken­ne sie.«

»Ich muss wohl da­von un­ter­rich­tet sein, da mein letz­tes Te­le­gramm bis Ud­insk ge­langt ist, be­merk­te Al­ci­de Jo­li­vet mit ei­ner ge­wis­sen Ge­nug­tu­ung.«

»Und die mei­ni­gen nur bis Kras­no­jask«, er­wi­der­te Har­ry Blount et­was un­wirsch.

»So wis­sen Sie auch, dass schon Be­feh­le an die Trup­pen von Ni­co­la­jewks ab­ge­gan­gen sind?«

»Ja­wohl, mein Herr, gleich­zei­tig, als man den Ko­sa­ken des Gou­ver­ne­ments To­bolsk te­le­gra­fisch die Or­der zu­ge­hen ließ, sich zu sam­meln.«

»Sehr rich­tig, Herr Blount, auch die­se Maß­nah­men sind mir voll­kom­men be­kannt, und glau­ben Sie, mei­ne lie­bens­wür­di­ge Cou­si­ne wird schon mor­gen Ei­ni­ges da­von zu er­zäh­len wis­sen.«

»Ganz so wie die Le­ser des Dai­ly-Te­le­graph da­von un­ter­rich­tet sein wer­den, Herr Jo­li­vet.«

»Das kommt da­von, wenn man al­les sieht, was rings­um vor­geht…«

»Und wenn man al­les hört, was ge­spro­chen wird!«

»Da wird’s einen in­ter­essan­ten Feld­zug zu ver­fol­gen ge­ben.«

»Dem ich mich an­schlie­ße, Herr Jo­li­vet.«

»O, dann kann sich’s tref­fen, dass wir uns auf ei­nem min­der si­che­ren Ter­rain, als das Par­kett die­ses Saa­l­es, wie­der be­geg­nen.«

»Wohl ei­nem min­der si­che­ren, aber auch…«

»Ei­nem we­ni­ger glat­ten!«, ant­wor­te­te Al­ci­de Jo­li­vet, der sei­nen Kol­le­gen in den Ar­men auf­fing, als die­ser eben beim Rück­wärts­ge­hen fast um­ge­fal­len wäre.

Spä­ter trenn­ten sich die bei­den Kol­le­gen, ganz zu­frie­den, zu wis­sen, dass kei­ner dem an­de­ren um eine Na­sen­län­ge vor­aus war.

Jetzt spran­gen die Tü­ren der an­sto­ßen­den Säle auf. Dort zeig­ten sich ver­schie­de­ne große und präch­tig ser­vier­te Ta­feln, schwer be­la­den mit kost­ba­rem Por­zel­lan und gol­de­nen Ge­fäßen. Auf der mit­tels­ten, für die Prin­zen, Prin­zes­sin­nen und die Mit­glie­der des di­plo­ma­ti­schen Corps re­ser­vier­ten Ta­fel glänz­te ein Ta­fe­lauf­satz von un­schätz­ba­rem Wer­te aus Lon­do­ner Werk­stät­ten und rund um die­ses Meis­ter­werk der Ju­we­lier­ar­beit spie­gel­ten sich un­ter dem Glan­ze der Lustres3 die un­zäh­li­gen Stücke des herr­lichs­ten Ge­schirrs, das je­mals die Ma­nu­fak­tu­ren von Sèvres ver­las­sen hat­te.

Die Gäs­te des Neu­en Palais be­ga­ben sich nach den Spei­se­sä­len.

In die­sem Au­gen­bli­cke nä­her­te sich der Ge­ne­ral Kis­soff, der in­zwi­schen zu­rück­ge­kehrt war, rasch dem Of­fi­zier der Gar­de­jä­ger.

»Nun, wie steht’s?«, frag­te die­ser leb­haft.

»Die Te­le­gram­me ge­hen nicht über Tomsk hin­aus, Sire.«

»So­fort einen Ku­ri­er!«

Der Of­fi­zier ver­ließ den großen Saal und zog sich in ein da­ne­ben lie­gen­des großes Ge­mach zu­rück. Es war das ein mit Ei­chen­mö­beln sehr ein­fach aus­ge­stat­te­tes Ar­beits­ka­bi­nett an ei­ner Ecke des Neu­en Palais. Ei­ni­ge Bil­der, dar­un­ter ein­zel­ne Öl­ge­mäl­de von Horace Ver­net, hin­gen an den Wän­den.

Der Of­fi­zier riss schnell ein Fens­ter auf, als habe es sei­nen Lun­gen an Sau­er­stoff ge­man­gelt, und sog auf ei­nem mäch­ti­gen Bal­kon die laue Luft der schö­nen Ju­li­nacht ein.

Vor sei­nen Au­gen brei­te­te sich, in sanf­tes Mond­licht ge­ba­det, eine Art Fes­tungs­werk aus, in wel­chem sich zwi­schen zwei Ka­the­dra­len drei Pa­läs­te und ein Ar­se­nal er­ho­ben. Rings um das­sel­be die be­stimmt un­ter­schie­de­nen Städ­te: Ki­tal-Go­rod, Bo­loï-Go­rod und Zem­lia­noï-Go­rod, das un­ge­heu­re eu­ro­päi­sche, tar­ta­ri­sche und chi­ne­si­sche Quar­tier, über­ragt von Tür­men und Mina­retts, von den Kup­peln der drei­hun­dert Kir­chen mit ih­ren grü­nen Dä­chern und dem sil­ber­nen Kreuz dar­auf. Ein klei­ner Fluss mit viel­ge­wun­de­nem Lau­fe glänz­te manch­mal in den Strah­len des Mon­des. Das En­sem­ble bil­de­te eine wun­der­ba­re, ver­schie­den ge­färb­te Mo­sa­ik, wel­che ein zehn Stun­den lan­ger Rah­men um­schloss.

Die­ser Fluss war die Mos­ko­wa, die­se Stadt war Mos­kau, je­nes Fes­tungs­werk war der Kreml und je­ner Of­fi­zier der Gar­de­jä­ger, der mit ge­kreuz­ten Ar­men und träu­me­ri­scher Stirn nur halb den Lär­men des Fes­tes hör­te, der sich aus dem Neu­en Palais über die alte Stadt der Mos­ko­wi­ter ver­brei­te­te – das war der Zar.

Steck­brief  <<<

Stee­plecha­se (etwa: Kirch­turmjagd) ist eine im Ve­rei­nig­ten Kö­nig­reich, Tsche­chi­en, den USA, Frank­reich und Ir­land ver­brei­te­te Art des Pfer­de­ren­nens. Bei ei­ner Stee­plecha­se müs­sen die ver­schie­dens­ten na­tür­li­chen Hin­der­nis­se wie Zäu­ne, Grä­ben und an­de­ren Ar­ten von Hin­der­nis­sen über­sprun­gen wer­den.  <<<

Lüs­ter, Kron­leuch­ter  <<<

Zweites Kapitel – Russen und Tartaren

Wenn der Zar so un­er­war­tet und ge­ra­de in dem Au­gen­bli­cke, als das Fest, wel­ches er den Spit­zen der Zi­vil- und Mi­li­tär­be­hör­den gab, in schöns­tem Glan­ze strahl­te, die Sa­lons des Neu­en Palais ver­ließ, so kam das da­her, das sich jen­seits des Ural sehr wich­ti­ge Er­eig­nis­se vor­be­rei­te­ten. Es war gar nicht zu be­zwei­feln: eine furcht­ba­re In­va­si­on droh­te die si­bi­ri­schen Pro­vin­zen der rus­si­schen Au­to­no­mie zu ent­zie­hen.

Das asia­ti­sche Russ­land oder Si­bi­ri­en be­deckt eine Ober­flä­che von 560.000 Qua­drat­mei­len (fran­zö­si­sche Lieu­es) und zählt etwa zwei Mil­lio­nen Ein­woh­ner. Es er­streckt sich von dem Ge­birgs­zu­ge des Ural, der es von dem eu­ro­päi­schen Russ­land trennt, bis nach dem Ge­sta­de des Pa­zi­fi­schen Ozeans.

Nach Sü­den zu schließt es Tur­kes­tan und das Chi­ne­si­sche Reich mit ei­ner häu­fig un­be­stimm­ten Gren­ze ab, im Nor­den der ark­ti­sche Ozean von dem Ka­ra­mee­re bis zur Beh­ring­stra­ße. Es wird in Gou­ver­ne­ments oder Pro­vin­zen ge­teilt, näm­lich in die von To­bolsk, Je­ni­seisk, Ir­kutsk, Omsk, und Ja­kutsk, fer­ner um­fasst es zwei Distrik­te, die von Ok­sotsk und von Kam­schat­ka, und be­sitzt end­lich zwei Län­der, wel­che jetzt dem mos­ko­wi­ti­schen Szep­ter un­ter­tan sind, das Land der Kirg­hi­sen und das Land der Tschukt­schen.

Die­se un­ge­heu­re Stre­cke von Step­pen, in der Län­gen­aus­deh­nung über 110 Gra­den von Wes­ten nach Os­ten um­fas­send, bil­det einen De­por­ta­ti­ons­ort für Ver­bre­cher das Exil für die­je­ni­gen wel­che ein Ukas mit Ver­ban­nung be­leg­te.

Zwei Ge­ne­ral­gou­ver­neu­re ver­tre­ten die Ober­herr­schaft des Za­ren in die­sem wei­ten Rei­che. Der eine re­si­diert in Ir­kutsk, der Haupt­stadt des west­li­chen Si­bi­ri­ens. Der Tchu­ma, ein Ne­ben­fluss des Je­ni­sei, trennt die bei­den Hälf­ten des Ter­ri­to­ri­ums.

Noch furcht kei­ne Ei­sen­bahn die­se un­end­li­chen Ebe­nen, un­ter de­nen ei­ni­ge aus­neh­mend frucht­bar sind, kein Schie­nen­weg ent­las­tet die rei­chen Mi­nen, wel­che bei ih­rer Aus­deh­nung über große Stre­cken den Bo­den Si­bi­ri­ens un­ter der Erde kost­ba­rer er­schei­nen las­sen, als auf der Ober­flä­che. Im Som­mer reist man da­selbst im Ta­ran­tass, im Win­ter im Schlit­ten.

Die ein­zi­ge Ver­bin­dung, aber eine elek­tri­sche, ver­knüpft die bei­den Gren­zen im Wes­ten und im Os­ten Si­bi­ri­ens durch einen Draht, der nicht we­ni­ger als 8000 Werst1 lang ist. Nach Über­schrei­tung des Ural pas­siert er Je­ka­te­rin­burg, Kas­si­mow, Ti­u­men, Ichim, Omsk, Elamsk, Ko­ly­wan, Tomsk, Kras­no­jarsk, Nis­hny, Ud­insk, Ir­kutsk, Ver­kne-Nert­schinsk, Stre­link, Al­ba­zi­ne, Bla­go­wes­ten­ks, Rad­de, Or­lo­nes­ka­ga, Alex­an­drow­skoë, Ni­co­la­jewsk, und kos­tet je­des bis an das äu­ßers­te Ende zu be­för­dern­de Wort 6 Ru­bel 19 Kope­ken (= fast ge­nau 20 Mark oder 10 ös­ter­rei­chi­sche Gul­den). Von Ir­kutsk aus ver­läuft eine Zweiglei­tung nach Kjach­ta an der mon­go­li­schen Gren­ze, von wo aus die De­pe­schen, das Wort für 30 Kope­ken (= 96,7 Pf. oder 48,3 Kreu­zer), in wei­te­ren vier­zehn Ta­gen bis Pe­king be­för­dert wer­den.

Jene Draht­lei­tung war zu­erst zwi­schen Je­ka­te­rin­burg und Ni­co­la­je­wek, nach­her vor Tomsk und ei­ni­ge Stun­den spä­ter zwi­schen Tomsk und Ko­ly­wan durch­schnit­ten wor­den.

Eben des­halb hat­te der Zar, nach der zwei­ten Mit­tei­lung, wel­che Ge­ne­ral Kis­soff ihm mach­te, nur geant­wor­tet: »So­fort einen Ku­ri­er!«

Seit kur­z­er Zeit stand nun der Zar be­we­gungs­los am Fens­ter sei­nes Ka­bi­netts, als die Huis­siers wie­der­um des­sen Tü­ren öff­ne­ten. Der ers­te Chef der Po­li­zei er­schi­en auf der Schwel­le.

»Tritt ein«, sag­te der Zar kurz, »und tei­le mir al­les mit, was Du über Iwan Ogareff weißt.«

»Es ist das ein sehr ge­fähr­li­cher Mann, Sire, er­wi­der­te der hohe Po­li­zei­be­am­te.«

»Er hat­te den Rang ei­nes Obers­ten?«

»Ja, Sire.«

»Und war ein in­tel­li­gen­ter Of­fi­zier?«

»Ge­wiss, sehr in­tel­li­gent, aber un­mög­lich zu zü­geln und von sinn­lo­sem Ehr­geiz, der vor nichts zu­rück­schreck­te. Er ver­wi­ckel­te sich sehr bald in ver­schie­de­ne Int­ri­gen und wur­de da­mals von Sei­ner Kai­ser­li­chen Ho­heit dem Groß­fürs­ten erst de­gra­diert und spä­ter nach Si­bi­ri­en ver­wie­sen.«

»Wann un­ge­fähr?«

»Vor etwa zwei Jah­ren. Nach sechs­mo­nat­li­cher Ver­ban­nung durch Eure Ma­je­stät Gna­de er­löst, kehr­te er nach Russ­land zu­rück.«

»Und seit die­ser Zeit wand­te er sich nicht wie­der nach Si­bi­ri­en?«

»Doch, Sire, aber dies­mal kehr­te er frei­wil­lig da­hin zu­rück«, ant­wor­te­te der Chef der Po­li­zei.

Dann füg­te er mit et­was zu­rück­ge­hal­te­ner Stim­me hin­zu: »Es gab eine Zeit, Sire, da man nicht zu­rück­kehr­te, wenn man nach Si­bi­ri­en ging!«

»Mag sein, so lan­ge ich lebe, soll aber Si­bi­ri­en ein Land sein, aus dem man auch wie­der­kehrt!«

Der Zar hat­te wohl ein Recht, auf die­se Wor­te einen be­son­de­ren Aus­druck zu le­gen, denn wie­der­holt hat­te er durch sei­ne Mil­de be­wie­sen, dass die rus­si­sche Jus­tiz auch zu ver­zei­hen ver­mö­ge.

Der Po­li­zei­chef er­wi­der­te nichts, aber of­fen­bar war er kein Freund von hal­b­en Maß­re­geln. Sei­ner An­sicht nach durf­te kei­ner, der den Ural un­ter Be­de­ckung von Gen­darmen über­schrit­ten hat­te, je­mals dar­an den­ken, es noch ein­mal zu tun. An­ders war es aber jetzt un­ter der neu­en Re­gie­rung, und der Chef der Po­li­zei be­dau­er­te das auf­rich­tig. Wie! Es soll­te kei­ne an­de­re Ver­ban­nung auf Le­bens­zeit mehr ge­ben, als für Ver­bre­chen ge­gen das ge­mei­ne Recht? Po­li­ti­sche Sträf­lin­ge kehr­ten von To­bolsk, von Ja­kutsk, von Ir­kutsk in das Va­ter­land zu­rück? Wahr­lich, der Po­li­zei­chef, ge­wöhnt an die au­to­kra­ti­schen Uka­se,2 wel­che jede Am­nes­tie aus­schlos­sen, konn­te sich mit die­ser Art und Wei­se zu re­gie­ren nie­mals aus­söh­nen. Doch er schwieg und war­te­te es ab, dass der Zar ihn wei­ter fra­gen wer­de.

Das ließ nicht lan­ge auf sich war­ten.

»Ist Iwan Ogareff«, be­gann der Zar, »nach die­ser Rei­se nach den si­bi­ri­schen Pro­vin­zen, ei­ner Rei­se üb­ri­gens, de­ren ei­gent­li­cher Zweck wohl un­er­kannt blieb, nicht auch ein zwei­tes Mal nach Russ­land ge­kom­men?«

»Ge­wiss, Sire.«

»Und seit die­ser Rück­kehr hat die Po­li­zei sei­ne Spur ver­lo­ren?«

»O nein, denn ein Ver­bann­ter wird von dem Tage sei­ner Be­gna­di­gung an erst ge­fähr­lich!«

Über die Stirn des Za­ren flog eine leich­te Wol­ke. Vi­el­leicht fürch­te­te der Po­li­zei­chef et­was zu weit ge­gan­gen zu sein, ob­wohl das Fest­hal­ten sei­ner Ide­en ge­wiss nicht grö­ßer und stär­ker war, als sei­ne un­be­grenz­te Er­ge­ben­heit ge­gen sei­nen Herrn. Der Zar aber, der sol­che in­di­rek­te Vor­wür­fe be­züg­lich sei­ner in­nern Po­li­tik un­be­ach­tet ließ, fuhr ein­fach in sei­ner Fra­ge­stel­lung fort: »Und wo be­fand sich Iwan Ogareff zu­letzt?«

»Im Gou­ver­ne­ment von Perm.«

»In wel­cher Stadt?«

»In Perm selbst.«

»Was tat er da­selbst?«

»Er schi­en un­be­schäf­tigt und er­reg­te durch sei­ne Le­bens­wei­se kei­ner­lei Ver­dacht.«

»Er stand nicht un­ter po­li­zei­li­cher Auf­sicht?«

»Nein, Sire.«

»Zu wel­cher Zeit hat er Perm ver­las­sen?«

»Etwa im März.«

»Und wand­te sich wo­hin?«

»Das ist mir un­be­kannt.«

»Seit die­ser Zeit weiß man auch nicht, was aus ihm ge­wor­den ist?«

»Nie­mand weiß es.«

»Recht schön, aber ich, ich weiß es!«, ant­wor­te­te der Zar. »Ge­hei­me Nach­rich­ten, wel­che die Bü­ros der Po­li­zei nicht pas­sier­ten, sind an mich ge­langt, und in Berück­sich­ti­gung der Tat­sa­chen, wel­che sich jetzt jen­seits der Gren­ze voll­zie­hen, habe ich al­len Grund, an die Rich­tig­keit der­sel­ben zu glau­ben!«

»Wol­len Sie da­mit sa­gen, Sire«, rief der Po­li­zei­chef, »dass Iwan Ogareff bei der Tar­ta­ren-In­va­si­on die Hand im Spie­le habe?«

»Ja, Ge­ne­ral, und ich will Dir auch sa­gen, was Du noch nicht weißt, Iwan Ogareff über­schritt, nach­dem er das Gou­ver­ne­ment Perm ver­las­sen, den Ural. Er be­gab sich nach Si­bi­ri­en, in die Step­pen der Kirg­hi­sen, und hat dort nicht ohne Er­folg die No­ma­den­völ­ker auf­zu­wie­geln ge­sucht. Da­rauf hat er sich wei­ter nach Sü­den, bis nach dem un­ab­hän­gi­gen Tur­kes­tan be­ge­ben. Dort fand er in den Kha­na­ten von Buk­ha­ra, Khok­hand und Kun­duz Häupt­lin­ge, wel­che be­reit wa­ren, ihre Tar­ta­ren­hor­den in die si­bi­ri­schen Pro­vin­zen zu wer­fen und einen all­ge­mei­nen Auf­stand ge­gen die rus­si­sche Herr­schaft in Asi­en her­vor­zu­ru­fen. Die gan­ze Be­we­gung ist sehr ge­heim ge­schürt wor­den, sie bricht aber jetzt wie ein Don­ner­schlag aus und schon sind alle Wege und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel zwi­schen dem öst­li­chen und dem west­li­chen Si­bi­ri­en ab­ge­schnit­ten! Dazu trach­tet Iwan Ogareff, von Ra­che ge­trie­ben, mei­nem Bru­der nach dem Le­ben!«

Als er so sprach, war der Zar er­reg­ter ge­wor­den und ging mit ra­schen Schrit­ten auf und nie­der. Der ers­te Chef der Po­li­zei er­wi­der­te kein Wort, aber er sag­te sich, dass Iwan Ogareffs Plä­ne zur Zeit, als die Selbst­herr­scher al­ler Reu­ßen nie­mals einen Exi­lier­ten be­gna­dig­ten, nicht hät­ten zur Rei­se ge­dei­hen kön­nen.

Still ver­gin­gen ei­ni­ge Au­gen­bli­cke, dann nä­her­te er sich dem Za­ren, der sich in einen Fau­teuil3 ge­wor­fen hat­te.

»Eure Ma­je­stät«, sag­te er, »ha­ben un­zwei­fel­haft Be­fehl ge­ge­ben, dass die­ser Ein­fall so schnell als mög­lich zu­rück­ge­wie­sen wird?«

»Ja«, ant­wor­te­te der Zar. »Das letz­te Te­le­gramm, das Nis­hny-Ud­insk hat er­rei­chen kön­nen, hat auch die Trup­pen der Gou­ver­ne­ments Je­ni­seisk, Ir­kutsk und Ja­kutsk, so­wie die­je­ni­gen der Amur­pro­vin­zen und des Bai­kal­sees in Be­we­gung set­zen müs­sen. Gleich­zei­tig zie­hen die Re­gi­men­ter von Perm und Nis­hny-Now­go­rod in Eil­mär­schen nach der Gren­ze am Ural, lei­der brau­chen sie aber meh­re­re Wo­chen, be­vor ein Zu­sam­men­tref­fen mit den Tar­ta­ren­hor­den mög­lich ist!«

»Und Eure Ma­je­stät Bru­der, Sei­ne kai­ser­li­che Ho­heit der Groß­fürst, der in die­sem Au­gen­bli­cke al­lein im Gou­ver­ne­ment Ir­kutsk weilt, steht mit Mos­kau in kei­ner di­rek­ten Ver­bin­dung mehr?«

»Nein.«

»Er muss aus den letz­ten De­pe­schen aber die Maß­re­geln Eure Ma­je­stät er­fah­ren ha­ben und auch wis­sen, wel­che Hil­fe er aus den Ir­kutsk zu­nächst ge­le­ge­nen Gou­ver­ne­ments zu er­war­ten hat?«

»Das ist ihm be­kannt, er­wi­der­te der Zar, er weiß aber nicht, dass Iwan Ogareff sich un­ter falschem Na­men bei ihm zu die­nen an­bie­ten wird. Ge­lang es ihm dann, sein Ver­trau­en zu ge­win­nen, so wird er, wenn die Tar­ta­ren Ir­kutsk an­grei­fen, die Stadt aus­lie­fern, nebst mei­nem Bru­der, des­sen Le­ben un­mit­tel­bar be­droht ist. Das sind die Nach­rich­ten, wel­che ich er­hielt, die aber der Groß­fürst nicht kennt und folg­lich so­fort er­fah­ren muss!«

»Nun wohl, Sire, ein tüch­ti­ger, mu­ti­ger Ku­rier…«

»Den er­war­te ich.«

»Und be­ei­len muss er sich«, füg­te der Chef der Po­li­zei hin­zu, »denn Sie ge­stat­ten mir aus­zu­spre­chen, Sire, dass die­ses gan­ze Si­bi­ri­en zur Re­bel­li­on sehr ge­neigt ist!«

»Glaubst Du, Ge­ne­ral, dass die Sträf­lin­ge mit den Fein­den ge­mein­schaft­li­che Sa­che ma­chen könn­ten?«, rief der Zar, der bei die­ser An­deu­tung des Po­li­zei­chefs ganz au­ßer sich ge­riet.

»Ver­zei­hung, Ma­je­stät!…«, ent­geg­ne­te stam­melnd der Chef des Po­li­zei­we­sens, denn wirk­lich war das der Ge­dan­ke ge­we­sen, der in sei­nem un­ru­hi­gen und miss­traui­schen Kop­fe auf­ge­stie­gen war.

»Ich traue den Ver­bann­ten mehr Va­ter­lands­lie­be zu!«, er­wi­der­te der Zar.

»In Si­bi­ri­en be­fin­den sich auch an­de­re Sträf­lin­ge, als die po­li­ti­schen Ver­bann­ten«, ant­wor­te­te der Po­li­zei­chef.

»Die Ver­bre­cher! O, Ge­ne­ral, die über­las­se ich Dir! Das ist der Aus­wurf des mensch­li­chen Ge­schlechts, die­se ha­ben über­haupt kein Va­ter­land. Die Er­he­bung, oder viel­mehr der Ein­fall, ist aber nicht ge­gen den Kai­ser ge­rich­tet, son­dern ge­gen Russ­land, ge­gen die Hei­mat, wel­che die Ver­bann­ten doch noch ein­mal wie­der zu se­hen hof­fen, und die sie wie­der se­hen wer­den!… Nein, Nein, nie wird ein Rus­se sich auch nur eine Stun­de lang mit ei­nem Tar­ta­ren ver­bin­den, um die mos­ko­wi­ti­sche Macht zu un­ter­gra­ben und zu schwä­chen!«

Der Zar war be­rech­tigt, an den Pa­trio­tis­mus der­je­ni­gen zu glau­ben, die sei­ne Po­li­tik zeit­wei­lig ver­bannt hat­ten. Jene Mil­de, der Grund­zug sei­ner Jus­tiz, wenn er die­sel­be selbst hand­hab­te, die weit­ge­hen­den Er­leich­te­run­gen bei Aus­füh­rung der frü­her so schreck­li­chen Uka­se ga­ran­tier­ten ihm, dass er sich hier­in nicht täu­sche. Aber auch ohne die­se mäch­ti­ge Bei­hil­fe zu ei­nem Er­fol­ge der Tar­ta­ren-In­va­si­on ge­stal­te­te sich die Sach­la­ge über­aus ernst, denn es stand min­des­tens zu be­fürch­ten, dass sich ein großer Teil der Kirg­hi­sen­be­völ­ke­rung den An­grei­fern an­schlie­ßen wer­de.

Die Kirg­hi­sen zer­fal­len in drei Hor­den, die Gro­ße, die Klei­ne und die Mitt­le­re, und zäh­len etwa 40.000 »Zel­te«, d. h. ge­gen 2.000.000 See­len. Von die­sen ver­schie­de­nen Tri­bus sind die einen ganz un­ab­hän­gig, an­de­re er­ken­nen ent­we­der die rus­si­sche Ober­ho­heit an, oder die der Kha­na­te von Khi­wa, Khok­hand oder Buk­ha­ra, d. h. der mäch­tigs­ten Häupt­lin­ge von Tur­kes­tan. Die Mitt­le­re Hor­de, die rech­te, ist üb­ri­gens auch die be­deu­tends­te und ihre La­ger be­de­cken den gan­zen Raum zwi­schen den Was­ser­läu­fen des Sora-Su, des Ir­tysch, des obe­ren Thim und dem Ha­di­sang- und Ak­sa­kal­see. Die Gro­ße Hor­de, wel­che die öst­lich von der Mitt­le­ren ge­le­ge­nen Ge­gen­den be­wohnt, dehnt sich bis zu den Gou­ver­ne­ments Omsk und To­bolsk aus. Em­pör­ten sich die­se Kirg­hi­sen­völ­ker, so über­schwemm­ten sie das asia­ti­sche Russ­land und ris­sen Si­bi­ri­en öst­lich vom Je­ni­sei los.

Zwar sind die­se Kirg­hi­sen nur Neu­lin­ge in der Kriegs­kunst und weit mehr nächt­li­che Räu­ber oder ge­wohnt, die Ka­ra­wa­nen zu über­fal­len, als re­gu­lä­re Sol­da­ten. Lev­chi­ne sag­te von ih­nen: »Eine ge­schlos­se­ne Front oder ein Quarré4 tüch­ti­ger In­fan­te­rie wi­der­steht ei­ner zehn­fach grö­ße­ren An­zahl Kirg­hi­sen und eine ein­zi­ge Ka­no­ne rich­tet sie in Mas­sen zu Grun­de.«

Das mag wohl wahr sein, aber erst ist es doch nö­tig, dass ein Quarré In­fan­te­rie in dem em­pör­ten Lan­de bei der Hand sei und dass die Feu­er­schlün­de die Ar­til­le­rie­parks der rus­si­schen Pro­vin­zen ver­las­sen, wel­che im­mer­hin zwei- bis drei­tau­send Werst ent­fernt sind. Au­ßer auf der di­rek­ten Stra­ße von Je­ka­te­rin­burg nach Ir­kutsk sind aber die häu­fig sump­fi­gen Step­pen nur schwie­rig pas­sier­bar, und meh­re­re Wo­chen muss­ten un­zwei­fel­haft ver­ge­hen, be­vor die rus­si­schen Trup­pen in die Lage ka­men, die Tar­ta­ren­hor­den zu Paa­ren zu trei­ben.

Omsk, das Zen­trum der Mi­li­tä­r­or­ga­ni­sa­ti­on von West­si­bi­ri­en, dazu be­stimmt, die Kirg­hi­sen­be­völ­ke­rung in Re­spekt zu er­hal­ten. Dort ver­lau­fen die Gren­zen, wel­che die hal­b­un­ter­joch­ten No­ma­den wie­der­holt ver­letzt ha­ben, und im Kriegs­mi­nis­te­ri­um nahm man nicht ohne Ur­sa­che an, dass Omsk schon sehr be­droht sei.

Die Li­nie der Mi­li­tär­ko­lo­ni­en, d. h. der Ko­sa­ken­pos­ten, wel­che von Omsk bis Se­mi­pa­la­tinsk ver­teilt sind, war ge­wiss an ver­schie­de­nen Punk­ten durch­bro­chen, und es stand zu be­fürch­ten, dass die »Groß­sul­ta ne«, wel­che die Kirg­hi­sen­dis­trik­te re­gie­ren, ent­we­der frei­wil­lig oder ge­zwun­gen die Herr­schaft der Tar­ta­ren, Mu­sel­män­ner so wie sie selbst an­er­kann­ten und da­bei der durch ihre Bot­mä­ßig­keit schon ge­nähr­te Hass sich durch den Ant­ago­nis­mus der mu­sel­män­ni­schen und grie­chi­schen Re­li­gi­on ver­stärk­te.

Schon seit lan­ger Zeit such­ten tat­säch­lich die Tar­ta­ren von Tur­kes­tan, und vor Al­len die aus den Kha­na­ten von Buk­ha­ra, Khi­wa und Khok­hand, durch Ge­walt eben­so, wie durch Über­re­dung, die Kirg­hi­sen­hor­den dem mos­ko­wi­ti­schen Szep­ter zu ent­rei­ßen.

Über die­se Tar­ta­ren nur ei­ni­ge Wor­te.

Spe­zi­ell ge­hö­ren die Tar­ta­ren zu zwei ver­schie­de­nen Ras­sen, der kau­ka­si­schen und der mon­go­li­schen Men­schen­ras­se.

Die kau­ka­si­sche Ras­se, die­je­ni­ge, von der A. von Rému­sat sagt, »dass sie in Eu­ro­pa als der Ty­pus der Schön­heit un­se­rer Men­schen­klas­sen an­ge­se­hen wird, weil alle Völ­ker die­ses Erd­tei­les von ihr ab­stam­men«, um­fasst un­ter dem­sel­ben Na­men die Tür­ken und die Ein­ge­bor­nen per­si­scher Ab­kunft.

Die rein mon­go­li­sche Ras­se fin­den wir bei den Mon­go­len, den Mand­schus und Thi­be­ta­nern.

Die Tar­ta­ren, wel­che da­mals das rus­si­sche Reich be­droh­ten, ge­hör­ten zur kau­ka­si­schen Ras­se und wa­ren vor­züg­lich in Tur­kes­tan zu Hau­se. Die­ses wei­te Ge­biet wird in ver­schie­de­ne Staa­ten ge­teilt, wel­che von Khans, da­her auch der Name Kha­nat, re­giert wer­den. Die wich­tigs­ten Kha­na­te sind die von Buk­ha­ra, Khok­hand, Kun­duz usw.

Das Kha­nat von Buk­ha­ra war je­ner Zeit das ein­fluss­reichs­te und mäch­tigs­te. Schon mehr­mals hat­te Russ­land Krieg ge­führt mit sei­nen Häupt­lin­gen, wel­che aus per­sön­li­chem In­ter­es­se und um sie un­ter ihr Joch zu beu­gen, die Un­ab­hän­gig­keit der Kìrg­hi­sen ge­gen die mos­ko­wi­ti­sche Herr­schaft ver­tei­dig­ten. Der der­ma­li­ge Häupt­ling, Feo­far-Khan, folg­te ganz den Fuß­stap­fen sei­ner Vor­gän­ger.

Die­ses Kha­nat von Buk­ha­ra er­streckt sich von Sü­den nach Nor­den vom 37. bis zum 41. Brei­ten­gra­de, von Os­ten nach Wes­ten vom 61. bis 66. Län­gen­gra­de, d. h. über eine Flä­che von ge­gen 10.000 Qua­drat­mei­len.

Die Be­völ­ke­rung des Staa­tes schätzt man auf 2.500.000 Ein­woh­ner mit ei­ner Ar­mee von 60.000 Mann Fuß­volk, wel­ches in Kriegs­zei­ten auf das Drei­fa­che ver­stärkt wird, und etwa 30.000 Rei­tern. Es ist ein rei­ches Land mit großen Schät­zen aus dem Tier-, Pflan­zen- und Mi­ne­ral­rei­che, und noch durch den Hin­zu­tritt der Ter­ri­to­ri­en von Balkh, Au­koï und Meï­ma­neh nicht un­we­sent­lich ver­grö­ßert. Es be­sitzt neun­zehn be­mer­kens­wer­te Städ­te Buk­ha­ra, um­schlos­sen von ei­ner acht eng­li­schen Mei­len lan­gen und von Tür­men flan­kier­ten Mau­er, eine be­rühm­te Stadt, de­ren schon die Ovi­ren­nas und an­de­re Ge­lehr­te des 10. Jahr­hun­derts er­wäh­nen, wird als Mit­tel­punkt mu­sel­män­ni­scher Wis­sen­schaft be­trach­tet und zu den Haupt­plät­zen Zen­trala­si­ens ge­rech­net, Sa­mar­kand, mit dem Gra­be Ta­mer­lans und je­nem be­rühm­ten Palas­te mit dem blau­en Stein dar­in, auf wel­chen sich je­der Khan bei An­tritt sei­ner Re­gie­rung set­zen muss, wird von ei­ner un­ge­mein star­ken Zi­ta­del­le ver­tei­digt, Kar­schi mit sei­ner drei­fa­chen Mau­er und ge­le­gen in ei­ner Oase mit sump­fi­ger, von Schild­krö­ten und Ei­dech­sen wim­meln­den Um­ge­bung, er­scheint fast un­ein­nehm­bar, Tscha­ro­schui wird von ei­ner Volks­men­ge von fast 20.000 See­len ver­tei­digt, end­lich Kat­ta-Kur­gan, Nu­ra­ta, Dji­zah, Paï­kan­de, Ka­ra­kul, Khuzar und an­de­re – sie alle bil­den einen Kranz von schwer zu bän­di­gen­den Städ­ten. Die­ses durch sei­ne Ber­ge ge­schütz­te und durch sei­ne Step­pen iso­lier­te Kha­nat von Buk­ha­ra ist dem­nach ein in Wahr­heit zu fürch­ten­der Staat, und Russ­land muss ihm stets nicht un­be­trächt­li­che Streit­kräf­te ent­ge­gen­wer­fen. Da­mals be­herrsch­te nun der ehr­gei­zi­ge und wil­de Feo­far die­sen Win­kel der Tar­ta­rei. Ge­stützt auf die an­de­ren Khans – vor­züg­lich die von Khok­hand und von Kun­duz, zwei grau­sa­me und beu­te­gie­ri­ge Kriegs­män­ner, wel­che stets be­reit wa­ren, sich zu be­tei­li­gen, wo es ihr In­ter­es­se galt – und un­ter Mit­wir­kung der Häupt­lin­ge, wel­che alle die Hor­den in Zen­trala­si­en be­feh­lig­ten, stell­te er sich an die Spit­ze die­ser In­va­si­on, de­ren ei­gent­li­che See­le Iwan Ogareff war. Die­ser Ver­rä­ter hat­te, ge­trie­ben durch einen sinn­lo­sen Ehr­geiz und ge­sta­chelt von wil­dem Has­se, die Be­we­gung so ge­lei­tet, dass man zu­erst die große si­bi­ri­sche Stra­ße in sei­ne Ge­walt be­kam. In Wahr­heit ein Toll­häus­ler, glaub­te er die rus­si­sche Macht bre­chen zu kön­nen, und auf sei­ne An­ord­nung über­schritt der Emir, es ist das der Ti­tel, den sich die Khans von Buk­ha­ra aus­neh­mend bei­le­gen, die rus­si­sche Gren­ze. Er fiel in das Gou­ver­ne­ment Se­mi­pa­la­tinsk ein, wo­selbst die zu schwa­chen Ko­sa­ken­pos­ten sich vor sei­ner Über­macht hat­ten zu­rück­zie­hen müs­sen. So­gar über den Balk­hach­see drang er vor und riss die Kirg­hi­sen­be­völ­ke­rung mit sich fort. Rau­bend, sen­gend und bren­nend, wälz­te sich der Schwarm von Stadt zu Stadt. Wer sich un­ter­warf, ward ein­ge­reiht ins Herr, wer Wi­der­stand leis­te­te, um­ge­bracht. So drang er vor, ge­folgt von den un­aus­bleib­li­chen An­hängseln ei­nes ori­en­ta­li­schen Sou­ve­räns, sei­ner aus den Frau­en und Skla­ven be­ste­hen­den Haus­die­ner­schaft – im­mer mit der ge­dan­ken­lo­sen Toll­kühn­heit ei­nes mo­der­nen Gen­gis-Khan.

Wo stand er in die­sem Au­gen­bli­cke? Bis wo­hin wa­ren sei­ne Scha­ren zu der Stun­de vor­ge­drun­gen, als die Nach­richt von dem Ein­fall nach Mos­kau ge­lang­te?

Bis zu wel­chem Punk­te in Si­bi­ri­en hat­ten die rus­si­schen Trup­pen zu­rück­wei­chen müs­sen? Nie­mand ver­moch­te das zu sa­gen. Die Ver­bin­dun­gen wa­ren ge­stört. Hat­ten den Draht zwi­schen Ko­ly­wan und Tomsk aber nur ei­ni­ge Rei­ter aus der Vor­hut der Tar­ta­ren­ar­mee zer­schnit­ten oder über­zog schon der Emir selbst die Pro­vin­zen von Je­ni­seisk? Stand das gan­ze süd­li­che West­si­bi­ri­en in Flam­men? Reich­te die Em­pö­rung schon bis nach den Ge­bie­ten im Os­ten? Kei­ner wuss­te es. Der ein­zi­ge Kund­schaf­ter, der we­der die Käl­te noch die Hit­ze fürch­tet, we­der die Rau­ig­keit des Win­ters, noch die ver­dor­ren­de Glut des Som­mers, und der da­hin fliegt mit der ra­sen­den Schnel­lig­keit des Blit­zes, der elek­tri­sche Fun­ke, konn­te nicht mehr durch die Step­pen lau­fen, war au­ßer­stan­de, den Groß­fürs­ten zu be­nach­rich­ti­gen von der Ge­fahr, die ihm in Ir­kutsk durch den Ver­rat Iwan Ogareffs be­droh­te.

Nur ein Ku­ri­er konn­te den un­ter­bro­che­nen Strom ei­ni­ger­ma­ßen er­set­zen. Die­ser Mann be­durf­te ei­ner ge­wis­sen Zeit, um die 5200 Werst (= 5523 Ki­lo­me­ter) von Mos­kau bis Ir­kutsk zu­rück­zu­le­gen. Er muss­te, um die Hau­fen der Re­bel­len und der Fein­de zu durch­bre­chen, einen so­zu­sa­gen über­mensch­li­chen Mut und eben sol­che Klug­heit ent­wi­ckeln. Doch, mit Kopf und Herz kommt man ja weit!

»Wer­de ich die­sen Kopf und die­ses Herz fin­den?«, frag­te sich der Zar.

Russ. Weg­maß, 1 Werst en­spricht etwa 1 km  <<<

Ein Ukas war im Za­ren­tum Russ­land und im Rus­si­schen Kai­ser­reich ein Er­lass der za­ris­ti­schen und kai­ser­li­chen Re­gie­rung bzw. der or­tho­do­xen Kir­chen­füh­rung mit Ge­set­zes­kraft.  <<<

Lehn­stuhl, Lehn­ses­sel oder Arm­ses­sel  <<<

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Drittes Kapitel – Michael Strogoff

Bald öff­ne­te sich die Tür des kai­ser­li­chen Ka­bi­netts und der Huis­sier1 mel­de­te den Ge­ne­ral Kis­soff.

»Nun, der ver­lang­te Ku­ri­er?«, frag­te rasch der Zar.

»Ist schon da, Sire«, ant­wor­te­te der Ge­ne­ral.

»Du hast einen ge­eig­ne­ten Mann ge­fun­den?«

»Ich wage, mich Eure Ma­je­stät da­für zu ver­bür­gen.«

»Stand er in Palast­diens­ten?«

»Ja, Sire.«

»Du kennst ihn?«

»Per­sön­lich: und mehr­mals hat er schon schwie­ri­ge Mis­sio­nen zur Zufrie­den­heit aus­ge­führt.«

»Im Aus­lan­de?«

»Gera­de in Si­bi­ri­en.«

»Wo­her ist er?«

»Aus Omsk, also selbst ein Si­bi­ri­er.«

»Er be­sitzt kal­tes Blut, In­tel­li­genz und Mut?«

»Ge­wiss, Sire, er be­sitzt alle Ei­gen­schaf­ten, auch da zu re­üs­sie­ren, wo an­de­re viel­leicht schei­tern könn­ten.«

»Wie alt?«

»Drei­ßig Jah­re.«

»Es ist ein ge­sun­der, kräf­ti­ger Mann?«

»Sire, er ver­mag Frost, Hun­ger, Durst und An­stren­gung bis zum Äu­ßers­ten zu er­tra­gen.«

»Er hat einen Kör­per von Stahl?«

»Ohne Zwei­fel, Sire.«

»Und ein Herz?…«

»Ein Herz von Gold.«

»Sein Name?«

»Mi­cha­el Strogoff.«

»Ist er be­reit ab­zu­rei­sen?«

»Im Saa­le der Gar­den er­war­tet er Eure Ma­je­stät Be­feh­le.«

»Er soll hier­her kom­men«, sag­te der Zar.

Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke spä­ter trat Mi­cha­el Strogoff in das Ka­bi­nett des Kai­sers ein.

Mi­cha­el Strogoff war hoch­ge­wach­sen, kräf­tig, hat­te brei­te Schul­tern und eine vol­le Brust: Sein mäch­ti­ger Kopf zeig­te die bes­ten Merk­ma­le kau­ka­si­scher Ras­se. Sei­ne wohl­ge­bil­de­ten Glied­ma­ßen er­schie­nen wie eben so viel me­cha­ni­sche He­bel zur si­che­ren Aus­füh­rung kräf­ti­ger Be­we­gun­gen. Der äu­ßer­lich an­spre­chen­de Mann mit ge­win­nen­dem Auf­tre­ten schi­en nicht leicht wi­der Wil­len aus sei­ner Stel­lung ge­bracht wer­den zu kön­nen, denn wenn er sei­ne Füße auf den Bo­den ge­setzt hat­te, schie­nen sie schon mehr dar­in zu wur­zeln. Auf sei­nem nicht eben klei­nen Kopf mit brei­ter Stirn kräu­sel­te sich üp­pi­ges Haar, das in Lo­cken her­ab­fiel, wenn er es mit der mos­ko­wi­ti­schen Müt­ze be­deck­te. Verän­der­te sich sein ge­wöhn­lich et­was blas­ses Ge­sicht, so ge­sch­ah das nur, wenn ihm das Herz schnel­ler schlug, un­ter dem Ein­flus­se ei­ner be­schleu­nig­ten Blut­zir­ku­la­ti­on, wel­che je­nes leb­haf­ter färb­te. Sei­ne tief­blau­en Au­gen mit ge­ra­dem, of­fe­nem und si­che­rem Bli­cke glänz­ten un­ter dem vol­len Bo­gen der durch ihre Mus­keln et­was zu­sam­men­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en und ver­rie­ten sei­nen Mut, »je­nen Mut ohne Zorn, den die Hel­den be­sit­zen«, wie die Phy­sio­lo­gen sa­gen. Sei­ne nicht zu klei­ne Nase be­herrsch­te einen sym­me­tri­schen Mund mit ein we­nig her­vor­sprin­gen­den Lip­pen, je­nem Zei­chen ei­nes edel­mü­ti­gen und gu­ten Cha­rak­ters.

Mi­cha­el Strogoff be­saß das Tem­pe­ra­ment des ent­schie­de­nen Man­nes, der sei­nen Ent­schluss schnell zu fas­sen ge­wöhnt ist, der nicht in der Un­ge­wiss­heit die Nä­gel zer­nagt, sich nicht im Zwei­fel hin­ter den Ohren kraut und nicht un­ent­schlos­sen mit den Fü­ßen stampft. Karg in Be­we­gun­gen und Wor­ten, stand er vor sei­nem Vor­ge­setz­ten still wie ein Sol­dat, wenn er je­doch ging, so zeig­te sei­ne Hal­tung eine große Leich­tig­keit, eine auf­fal­len­de Si­cher­heit der Be­we­gun­gen – ein Zei­chen des Selbst­ver­trau­ens und der Leb­haf­tig­keit sei­nes Geis­tes. Er ge­hör­te zu den Leu­ten, die im­mer et­was vor­zu­ha­ben schei­nen und die Aus­füh­rung nicht zu ver­zö­gern pfle­gen.

Mi­cha­el Strogoff trug eine ele­gan­te Uni­form, ähn­lich je­ner des Of­fi­zier­corps der be­rit­te­nen Feld­jä­ger, Stie­feln, Spo­ren, an­lie­gen­de Bein­klei­der und einen pelz­ver­bräm­ten Dol­man mit gel­ben Schnü­ren auf brau­nem Grun­de. Auf sei­ner brei­ten Brust glänz­ten ein Kreuz und ver­schie­de­ne Me­dail­len.

Mi­cha­el Strogoff ge­hör­te zu der Spe­zi­al­ab­tei­lung der Ku­rie­re des Za­ren und stand bei die­ser Eli­te­trup­pe in Of­fi­ziers­rang. Ganz zwei­fel­los er­kann­te man an sei­nem Gan­ge, sei­ner Phy­sio­gno­mie, sei­ner gan­zen Per­son, und leicht ge­nug er­kann­te es auch der Zar, dass die­ser Mann ge­wöhnt war, ei­nem er­hal­te­nen Be­fehl un­be­dingt nach­zu­kom­men. Er be­saß also eine der in Russ­land schät­zens­wer­tes­ten Ei­gen­schaf­ten, eine Ei­gen­schaft, wel­che nach Aus­sa­ge des be­rühm­ten Schrift­stel­lers Tur­gen­jew, im Mos­ko­wi­ten­rei­che die Staf­fel nach den höchs­ten Ehren­stel­len bil­det.

Ge­wiss, wenn ei­ner die­se Rei­se von Mos­kau nach Ir­kutsk glück­lich vollen­den, in je­nem em­pör­ten Ge­bie­te alle Hin­der­nis­se be­sie­gen, alle Ge­fah­ren über­win­den konn­te, so war es Mi­cha­el Strogoff.

Ein für das Ge­lin­gen je­nes Vor­ha­bens sehr güns­ti­ger Um­stand war es, dass Mi­cha­el Strogoff das zu durch­zie­hen­de Land voll­kom­men kann­te und die ver­schie­de­nen Spra­chen des­sel­ben ver­stand, nicht weil er je­nes schon be­reist hat­te, son­dern weil er, wie er­wähnt, von Ge­burt selbst Si­bi­ri­er war.

Sein Va­ter, der vor zehn Jah­ren ver­stor­be­ne Pe­ter Strogoff, be­wohn­te die in dem gleich­na­mi­gen Gou­ver­ne­ment ge­le­ge­ne Stadt Omsk, wo­selbst sei­ne Mut­ter, Mar­fa Strogoff, noch jetzt leb­te. Dort, in je­nen wil­den Step­pen der Pro­vin­zen Omsk und To­bolsk, war es, wo der furcht­ba­re si­bi­ri­sche Jä­ger sei­nen Sohn Mi­cha­el »ver­stählt« hat­te, wie der land­läu­fi­ge Aus­druck hieß. Som­mer und Win­ter, im glü­hen­den Son­nen­bran­de, wie in der grim­migs­ten Käl­te, streif­te er über die end­lo­sen Ebe­nen, durch die Lär­chen- und Wei­den­ge­bü­sche, durch die düs­tern Kie­fern­wäl­der, leg­te sei­ne Fal­len aus, ver­folg­te das klei­ne­re Wild mit dem Ge­weh­re, das große mit dem Spie­ße und dem Waid­mes­ser. Un­ter großem Wil­de ver­stand man hier­bei den si­bi­ri­schen Bä­ren, eine furcht­ba­re und sehr wil­de Art, wel­che an Grö­ße ih­ren Ver­wand­ten in den Po­lar­ge­gen­den voll­stän­dig gleich­kommt. Pe­ter Strogoff hat­te mehr als neun­und­drei­ßig Bä­ren er­legt, das will sa­gen, dass auch schon der vier­zigs­te un­ter sei­ner Hand ge­fal­len war – und man weiß ja, wenn den Jagd­ge­schich­ten aus Russ­land ei­ni­ger­ma­ßen zu trau­en ist, wie vie­le Jä­ger bis zum neun­und­drei­ßigs­ten Bä­ren glück­lich da­von ka­men und beim vier­zigs­ten un­ter­lie­gen muss­ten!

Pe­ter Strogoff hat­te die­se Un­glücks­zahl also über­schrit­ten, ohne auch nur eine Schram­me da­von zu tra­gen. Von da ab un­ter­ließ es der da­mals elf­jäh­ri­ge Mi­cha­el Strogoff nie­mals, sei­nen Va­ter bei den Jagd­aus­flü­gen zu be­glei­ten, wo­bei er die »Ra­ga­ti­na« trug, d. h. eine Art Ga­bel­spieß, um sei­nem Va­ter, der meist nichts als ein Mes­ser bei sich führ­te, im Not­fall zu Hil­fe zu kom­men. Mit dem vier­zehn­ten Jah­re hat­te Mi­cha­el Strogoff sei­nen ers­ten Bä­ren er­legt, und zwar ganz al­lein, was nicht so gar viel hei­ßen will, nach­dem er die­sen aber ab­ge­zo­gen, hat­te er auch das Fell des rie­si­gen Tie­res bis nach dem meh­re­re Werst ent­fern­ten vä­ter­li­chen Hau­se ge­schleppt – was bei dem Kin­de eine un­ge­wöhn­li­che Kraft vor­aus­set­zen ließ.

Die­se Le­bens­wei­se be­kam ihm gut, und als er das Man­nes­al­ter er­reich­te, ver­moch­te er al­les zu er­tra­gen, Frost und Hit­ze, Hun­ger und Durst, Müh­sal und Pla­ge.

Er war mit ei­nem Wort, so wie die Ja­ku­ten des un­wirt­ba­ren Nor­dens, ein gan­zer Mann von Ei­sen. Er hielt leicht vier­und­zwan­zig Stun­den aus, ohne et­was zu es­sen, zehn Näch­te, ohne zu schla­fen, und be­gnüg­te sich mit ei­nem La­ger in der frei­en Step­pe, wo tau­send an­de­re sich zum Tode er­käl­tet hät­ten.

Be­gabt mit un­end­lich fei­nen Sin­nen, durch die wei­ße Ebe­ne ge­führt von ei­nem rei­nen De­la­wa­ren­in­stinkt,2 wenn auch der Ne­bel den gan­zen Ho­ri­zont ver­hüll­te, und das selbst in hö­he­ren Brei­ten, wo die Po­lar­nacht schon meh­re­re Tage an­hält, fand er doch im­mer sei­nen rich­ti­gen Weg, wo an­de­re nicht mehr ge­wusst hät­ten, wo­hin sie den Fuß set­zen soll­ten.

Alle Ge­heim­nis­se sei­nes Va­ters wa­ren auch ihm be­kannt. Er wuss­te sich nach kaum be­mer­kens­wer­ten An­zei­chen zu rich­ten, nach der Lage der Eis­na­deln, der Stel­lung der dünns­ten Baum­zwei­ge, nach schwa­chen Gerü­chen, wel­che von au­ßer­halb der Gren­ze des Ho­ri­zon­tes her­ka­men, nach der Spur der Blät­ter im Wal­de, nach den schwächs­ten Geräuschen in der Luft oder nach ent­fern­ten De­to­na­tio­nen, wie nach dem Zuge der Vö­gel in der duns­ti­gen At­mo­sphä­re – nach tau­send Ein­zel­hei­ten, wel­che für den Ken­ner eben so viel Wahr­zei­chen sind. Da­bei hat­te er, der von dem Schnee­trei­ben ab­ge­här­tet war, wie der Stahl in den Was­sern von Da­mas­kus, wirk­lich eine Ge­sund­heit von Ei­sen, und doch, wie der Ge­ne­ral Kis­soff ganz rich­tig ge­sagt hat­te, da­bei ein Herz von Gold.

Eine ein­zi­ge Lei­den­schaft be­saß Mi­cha­el Strogoff, die Lie­be zu sei­ner al­ten Mut­ter Mar­fa, wel­che nicht zu be­we­gen ge­we­sen war, das alte Haus der Strogoffs in Omsk, an der Gren­ze von Ir­tysch, zu ver­las­sen, in dem sie so lan­ge Zeit mit dem al­ten Jä­ger ver­eint ge­lebt hat­te. Als der Sohn sie ver­ließ, ge­sch­ah es, um sei­nem Trie­be nach ei­nem grö­ße­ren Wir­kungs­krei­se zu ge­nü­gen, aber er ver­sprach ihr da­bei, stets zeit­wei­lig zu ihr zu­rück­zu­keh­ren, so­bald die Um­stän­de es er­laub­ten – ein Ver­spre­chen, das mit re­li­gi­öser Stren­ge ein­ge­hal­ten wur­de.

Es war be­schlos­sen wor­den, dass Mi­cha­el Strogoff mit sei­nem zwan­zigs­ten Jah­re in den per­sön­li­chen Dienst des Kai­sers von Russ­land ein­tre­ten soll­te, und zwar in das Corps der Ku­rie­re des Za­ren. Der küh­ne, in­tel­li­gen­te, eif­ri­ge und sich wa­cker auf­füh­ren­de jun­ge Si­bi­ri­er fand die ers­te Ge­le­gen­heit, sich aus­zu­zeich­nen, bei ei­ner Sen­dung nach dem Kau­ka­sus, mit­ten durch das von ei­ni­gen un­ru­hi­gen Nach­fol­gern Scha­myls auf­ge­wühl­te Land, spä­ter bei ei­ner wich­ti­gen Mis­si­on, wel­che ihn bis Pe­tro­po­lawsk in Kamtschat­ka, nach den äu­ßers­ten Gren­zen des asia­ti­schen Russ­land, führ­te.

Wäh­rend die­ser so wei­ten Rei­sen leg­te er wie­der­hol­te Pro­ben sei­ner aus­ge­zeich­ne­ten Ei­gen­schaf­ten, sei­ner Kalt­blü­tig­keit, Klug­heit und sei­nes Mu­tes ab, wel­che ihm die Aner­ken­nung und das Wohl­wol­len sei­ner Vor­ge­setz­ten er­war­ben und sei­ne Kar­rie­re be­schleu­nig­ten. Den ihm nach so müh­se­li­gen Ex­pe­di­tio­nen mit Recht zu­kom­men­den Ur­laub ver­säum­te er nie sei­ner al­ten Mut­ter zu wid­men – und wenn er auch Tau­sen­de von Wers­ten ent­fernt war von ihr, und der Win­ter alle Wege fast un­gang­bar mach­te. Jetzt hat­te Mi­cha­el Strogoff, der im Sü­den des Rei­ches viel­fach be­schäf­tigt wur­de, die alte Mar­fa zum ers­ten Male seit drei Jah­ren, für ihn drei Jahr­hun­der­te – nicht ge­se­hen! In we­nig Ta­gen soll­te er sei­nen re­gle­ments­mä­ßi­gen Ur­laub an­tre­ten und hat­te auch schon alle Vor­be­rei­tun­gen zur Rei­se nach Omsk ge­trof­fen, als die uns schon be­kann­ten Er­eig­nis­se ein­tra­ten.

Mi­cha­el Strogoff wur­de vor den Za­ren ge­führt, in voll­stän­di­ger Un­kennt­nis des­sen, was der­sel­be von ihm ver­lan­gen wür­de.

Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke be­trach­te­te ihn der Zar, ohne ein Wort zu re­den, mit durch­drin­gen­dem Bli­cke, wäh­rend Mi­cha­el Strogoff un­be­weg­lich ste­hen­blieb.

Dann wen­de­te sich der Zar, of­fen­bar be­frie­digt von die­ser Vor­prü­fung, nach sei­nem Schreib­ti­sche, mach­te dem Chef der Po­li­zei ein Zei­chen, sich da­hin zu set­zen, und dik­tier­te ihm mit lei­ser Stim­me einen Brief von we­nig Zei­len.

Nach Vollen­dung des Schrei­bens durch­las es der Kai­ser noch ein­mal mit größ­ter Auf­merk­sam­keit und un­ter­zeich­ne­te es, nach­dem er sei­nem Na­men noch die Wor­te: »Byt po se­mu«, wel­che »So ge­sch­ehe es« be­deu­ten und eine ge­wöhn­li­che Be­stä­ti­gungs­for­mel der rus­si­schen Kai­ser aus­ma­chen, vor­ge­setzt hat­te.

Der Brief ward dann in ein Cou­vert ge­steckt und mit ei­nem Sie­gel mit dem kai­ser­li­chen Wap­pen ver­schlos­sen.

Der Zar er­hob das Schrift­stück und wink­te Mi­cha­el Strogoff, sich zu nä­hern.

Die­ser tat dann ei­ni­ge Schrit­te vor­wärts und blieb wie­der un­be­weg­lich vor sei­nem Kai­ser ste­hen.

Noch ein­mal sah der Zar ihn durch­drin­gend, Auge in Auge, ins Ge­sicht. Dann be­gann er:

»Dein Name?«

»Mi­cha­el Strogoff, Sire.«

»Dei­ne Stel­lung?«

»Ka­pi­tän bei den Ku­rie­ren des Za­ren.«

»Du kennst Si­bi­ri­en?«

»Ich stam­me da­her.«

»Du bist ge­bo­ren?«

»In Omsk.«

»Hast Du Ver­wand­te in Omsk?«

»Mei­ne alte Mut­ter.«

Der Zar un­ter­brach einen Au­gen­blick die Rei­he sei­ner An­fra­gen. Dann fuhr er fort, in­dem er dem Ku­ri­er den Brief zeig­te, den er in der Hand hielt: »Hier ist ein Brief, den ich Dich, Mi­cha­el Strogoff, be­auf­tra­ge, dem Groß­fürs­ten ei­gen­hän­dig – kei­nem, kei­nem an­de­ren! – zu über­lie­fern.«

»Ich wer­de ihn be­sor­gen, Sire.«

»Der Groß­fürst be­fin­det sich in Ir­kutsk.«

»Ich wer­de nach Ir­kutsk ge­hen.«

»Es han­delt sich hier aber dar­um, ein von Re­bel­len un­si­cher ge­mach­tes, von den Tar­ta­ren über­fal­le­nes Land zu durch­rei­sen, in wel­chem jene Meu­te­rer ein In­ter­es­se ha­ben könn­ten, die­sen Brief auf­zu­fan­gen.«

»Ich wer­de hin­durch kom­men.«

»Und wirst Dich vor al­lem vor ei­nem Ver­rä­ter, Iwan Ogareff, zu hü­ten ha­ben, dem Du auf dem Wege viel­leicht be­geg­nen könn­test.«

»Ich wer­de ihm aus­zu­wei­chen wis­sen.«

»Kommst Du über Omsk?«

»Mein Weg führt mich da­hin.«

»Wenn Du Dei­ne Mut­ter se­hen woll­test, wür­dest Du Ge­fahr lau­fen, er­kannt zu wer­den. Du darfst Dei­ne Mut­ter nicht be­su­chen!«

Mi­cha­el Strogoff zö­ger­te einen Au­gen­blick mit sei­ner Ant­wort.

»Ich wer­de sie nicht se­hen«, sag­te er.

»Schwö­re mir, dass nichts Dich ver­mö­gen wird, Dir zu ent­lo­cken, wer Du bist und wo­hin Du gehst.«

»Ich schwö­re es.«

»Mi­cha­el Strogoff«, fuhr der Zar fort, in­dem er dem jun­gen Ku­ri­er das Schrei­ben ein­hän­dig­te, »so nimm die­sen Brief, von dem das Heil Si­bi­ri­ens und viel­leicht das Le­ben mei­nes Bru­ders, des Groß­fürs­ten, ab­hängt.«

»Die­ser Brief wird in die Hand Sei­ner Ho­heit des Groß­fürs­ten ge­lan­gen.«

»Du wirst also auf je­den Fall durch­zu­drin­gen su­chen?«

»Ich drin­ge hin­durch über­all, bis man mich tö­tet.«

»Ich be­darf aber Dei­nes Le­bens.«

»Ich wer­de auch le­bend durch Si­bi­ri­en kom­men«, ant­wor­te­te Mi­cha­el Strogoff.

Der Zar schi­en mit der ein­fa­chen und ru­hi­gen Si­cher­heit der Ant­wor­ten Mi­cha­el Strogoffs wohl­zu­frie­den.

»So geh also, Mi­cha­el Strogoff«, sag­te er, »Geh mit Gott für Russ­land, für mei­nen Bru­der und für mich!«

Mi­cha­el Strogoff grüß­te mi­li­tä­risch, ver­ließ so­fort das Ka­bi­nett des Kai­sers und we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter das Neue Palais.

»Ich glau­be, Du hast eine glück­li­che Hand ge­habt, Ge­ne­ral«, sag­te der Zar.

»Ich glau­be es, Sire«, ant­wor­te­te Ge­ne­ral Kis­soff, »Und Eure Ma­je­stät kön­nen ver­si­chert sein, dass Mi­cha­el Strogoff al­les tun wird, was ein Mann zu leis­ten ver­mag.«

»In der Tat, das schi­en ein gan­zer Mann zu sein!«, be­merk­te der Zar.

Viertes Kapitel – Von Moskau nach Nishny-Nowgorod

Die Ent­fer­nung, wel­che Mi­cha­el Strogoff von Mos­kau nach Ir­kutsk zu­rück­zu­le­gen hat­te, be­trug 5200 Werst (= 5523 Ki­lo­me­ter). Als noch kein Te­le­gra­fen­draht den Zwi­schen­raum zwi­schen den Ber­gen des Ural und der Ost­küs­te Si­bi­ri­ens über­spann­te, wur­de der De­pe­schen­dienst durch Ku­rie­re ver­se­hen, de­ren schnells­ter min­des­tens acht­zehn Tage be­durf­te, um sich von Mos­kau nach Ir­kutsk zu be­ge­ben. Das war aber nur eine Aus­nah­me und dau­er­te die Rei­se durch das asia­ti­sche Russ­land ge­wöhn­lich vier bis fünf Wo­chen, ob­wohl alle Be­för­de­rungs­mit­tel den Ab­ge­sand­ten des Za­ren zur Ver­fü­gung ge­stellt wur­den.

Als ein Mann, der we­der Frost noch Schnee fürch­te­te, hät­te es Mi­cha­el Strogoff vor­ge­zo­gen, wäh­rend der rau­en Win­ters­zeit zu rei­sen, wel­che es er­laubt, die gan­ze Stre­cke zu Schlit­ten zu­rück­zu­le­gen. Dann sind alle Schwie­rig­kei­ten, mit de­nen man sonst des Fort­kom­mens we­gen zu kämp­fen hat, bei der Ni­vel­lie­rung der end­lo­sen Step­pen durch den Schnee, merk­lich ver­min­dert. Kein Was­ser­lauf tritt hin­dernd in den Weg. Über­all die glat­te Eis­flä­che, auf wel­cher der Schlit­ten leicht und schnell da­hin glei­tet. Zwar sind zu die­ser Zeit ge­le­gent­lich wohl ver­schie­de­ne Na­tur­er­schei­nun­gen zu fürch­ten, wie an­dau­ern­de, di­cke Ne­bel, sehr stren­ge Käl­te, lan­ge an­dau­ern­des, furcht­ba­res Schnee­trei­ben, des­sen Wir­bel manch­mal gan­ze Ka­ra­wa­nen ver­we­hen und be­gra­ben. Es kommt wohl auch vor, dass von Hun­ger ge­quäl­te Wöl­fe die Ebe­nen zu Tau­sen­den be­de­cken. Doch im­mer wäre es noch bes­ser ge­we­sen, sich die­sen Ge­fah­ren aus­zu­set­zen, denn bei solch har­tem Win­ter muss­ten die tar­ta­ri­schen Ein­dring­lin­ge sich vor­zugs­wei­se in den Städ­ten auf­hal­ten, ihre Mar­o­deu­re hät­ten die Step­pen nicht un­si­cher ge­macht, jede Trup­pen­be­we­gung wäre un­aus­führ­bar ge­we­sen und Mi­cha­el Strogoff leich­ter hin­durch ge­kom­men. In­des er konn­te we­der Zeit noch Stun­de selbst wäh­len. Wie auch die Um­stän­de la­gen, er muss­te sie hin­neh­men und ab­rei­sen.

Der­art war also die Lage, wel­che Mi­cha­el Strogoff klar über­schau­te, und er rich­te­te sich dar­auf ein, sich mit ihr ab­zu­fin­den.

Dazu ka­men ihm nicht die ge­wöhn­li­chen Ver­hält­nis­se ei­nes Ku­ri­ers des Za­ren zu Stat­ten. Im Ge­gen­teil durf­te nie­mand wäh­rend sei­ner Fahrt die­se Ei­gen­schaft ver­mu­ten. In ei­nem von Fein­den über­schwemm­ten Lan­de wim­melt es auch von Spio­nen. Ward er er­kannt, so war auch sei­ne Mis­si­on kom­pro­mit­tiert. Auch als Ge­ne­ral Kis­soff ihm eine be­deu­ten­de Sum­me ein­hän­dig­te, wel­che zur Rei­se hin­rei­chen und die­sel­be nach Mög­lich­keit er­leich­tern muss­te, gab er ihm kei­ner­lei schrift­li­che Or­der mit der Be­zeich­nung: »Spe­zi­al­dienst des Kai­sers«, das Se­sam, des­sen Kräf­te nie ver­sa­gen. Er be­gnüg­te sich, ihm nur einen »Po­da­ros­h­na« aus­zu­stel­len.