Milan und das Meer - Felipe Vasques - E-Book

Milan und das Meer E-Book

Felipe Vasques

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der junge Milan erhält die Chance seines Lebens: Ein grosses und erfolgreiches Finanzinstitut sucht neue Mitarbeiter. Zunächst gescheitert, trifft Milan auf einen Mann, der ihn als Mentor in sein Team aufnimmt, und startet dann eine grandiose Karriere. Doch mit dem beruflichen Erfolg gerät sein Leben allmählich aus den Fugen. Als er sich das endlich eingesteht, ist es schon zu spät. Der Prozess einer Erschöpfung hat längst begonnen. Eines Morgens erwacht er an einem See, ohne genau zu wissen, wie er dahin gekommen ist. Dort begegnet er einer Frau und lässt sich auf ein langes Gespräch mit ihr ein. Er erkennt sein Fehlverhalten, das auch zu einem körperlichen Zusammenbruch führte. Nur mit einem Zettel in der Hand, auf den ihm die Fremde eine Adresse geschrieben hatte, begibt sich Milan auf eine unbekannte Reise. An deren Ende landet er zu seinem grossen Erstaunen bei einem Steinmetz auf Korsika. Bei der schweren Arbeit mit Hammer und Meißel am harten Stein beginnt Milan zunehmend, die hintergründige Sprache des Lebens zu verstehen. Er erkennt auf eindrückliche Weise, dass ihn die eigentliche Reise weit zurück in die eigene Vergangenheit führt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 236

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Copyright © 2020 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2019-2020 unterstützt.

Lektorat: Christiane Lober, Halle

Umschlaggestaltung: André De Carvalho, Cameo Verlag GmbH Bern

Layout und Satz: Rafael Schlegel, Cameo Verlag GmbH Bern

ISBN: 978-3-906287-76-8

E-Book: CPI books GmbH, Leck

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1; Am See

Der erste Atemhauch

Es begann im Regen

Die zweite Haut

Das dritte Schmuckstück

Auf Raubzug

Im Niemandsland

Sein alter Freund

Hoffnungsschimmer

An den Abgrund gedrängt

Vom Wind getragen

Teil 2; Der Stein

Im Wolkenbruch

Der Stachel im Fleisch

Ein seltsamer Name

Wiederentdeckte Leidenschaft

Auf dem Turm

An der Quelle

Der Meisterstein

Ein unerwarteter Besucher

Aufbruch in die Dämmerung

Vor langer Zeit überlegten die Götter, dass es sehr schlecht wäre, wenn die Menschen die Weisheit des Universums finden würden, bevor sie tatsächlich reif genug dazu wären.

So entschieden sich die Götter, die Weisheit des Universums so lange an einem Ort zu verstecken, wo die Menschen sie erst finden würden, sobald sie reif genug wären.

Einer der Götter schlug vor, die Weisheit auf dem höchsten Berg der Erde zu verstecken. Aber sie erkannten schnell, dass der Mensch bald alle Berge erklimmen würde und die Weisheit auf der Bergspitze nicht sicher genug versteckt wäre.

Dann schlug ein anderer vor, die Weisheit an der tiefsten Stelle des Meeres zu verbergen. Aber auch dort wähnten die Götter die Gefahr, dass die Menschen die Weisheit zu früh finden würden.

Dann meldete sich der weiseste aller Götter zu Wort:

«Lasst uns die Weisheit des Universums im Menschen selbst verstecken. Er wird erst dort danach suchen, sobald er reif genug ist. Und das ist er dann, wenn er den Weg in sein Inneres geht.»

Die anderen Götter waren von diesem Vorschlag begeistert, und so versteckten sie die Weisheit des Universums im Menschen selbst.

Persische Geschichte

Prolog

Die Frau mit den weißen Haaren hielt das Päckchen in der Hand, das sie auf dem großen Stein gefunden hatte, las ihren Namen in schwarzer Tinte auf dem braunen Papier und schloss kurz die Augen. Erneut sah sie das Päckchen an, zog an der Schnur, die darumgebunden war, und schob das Papier zur Seite. Darin verpackt lag eine kleine Schachtel. Die Frau saß auf einer Bank im schräg einfallenden Licht der Abendsonne. Fein gefächerte Lichtstrahlen schimmerten über den See. Das Grau des Nebels ließ alle strengen Konturen der Landschaft weich zerfließen, während rot schimmerndes Laub raschelnd zu Boden fiel. Ihre Hände strichen über die raue Oberfläche der kleinen Schachtel; in der Stille war das Geräusch der Wellen zu hören, die sanft ans Ufer schlugen.

Sie hob den Deckel ab und sah hinein. Das Innere war mit rubinrotem Stoff ausgekleidet, der zu den Seiten hin in feinen Wellen angenäht war. In der Mitte, leicht vertieft, lag ein Zettel. Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm sie das Papier heraus und faltete es auseinander. Die feine Narbe, die sich von ihrem linken unteren Augenlid bis zum Wangenknochen zog, vertiefte sich leicht, als die Frau lächelte. Es war der gleiche Zettel, den sie vor einigen Monaten einem jungen Mann gegeben hatte. Nur ein Wort hatte er draufgeschrieben, ein einziges Wort.

Am See

Es ist ein Teil der Evolution, dass es erst schlimmer werden muss, bevor es besser wird. Menschen wachsen nicht ohne Krise und Herausforderung.

- Eckhart Tolle

Der erste Atemhauch

Geräusche bahnten sich aus der Ferne ihren Weg in die dämmrige Stille seines Kopfes. Er konnte den eigenen Atem spüren, nahm war, wie die Luft stoßweise durch die Nase in den Körper ein- und ausströmte. Ein rötlicher Schimmer drang durch die gesenkten Lider, bis er schließlich blinzelte und die Umgebung von einem diffusen Licht erhellt wurde. Sein Blick fiel auf den ausgestreckten Arm und die Hand, die sich in etwas Feuchtem festgekrallt hatte. Ein kühler Luftzug strich über seine Haut. Der verschwommene Anblick wich langsam einzelnen Konturen und Formen. Kraftlos hob er den Kopf. Sein ganzer Körper war steif vor Kälte und Schmerz. Verwundert stellte er fest, dass er die Finger in die kühle Erde einer Wiese eingegraben hatte.

Der junge Mann löste sich langsam vom Boden und stand auf. Es knackte, als er sich streckte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Ihm schwindelte, und gepunktete Linien schossen hinter seinen Augenlidern hin und her. Er taumelte ein wenig und musste sich gegen einen großen Steinblock abstützen, der neben ihm lag.

Er nahm sich auf einer Wiese wahr, die hinter ihm an einen Wald grenzte. Bewegungslos stand er da und blickte auf den Morgennebel, der sich am Horizont abzeichnete. Vor ihm lag ein kleiner See. Und während die Bäume und Steine des gegenüberliegenden Ufers in der glatten Wasserfläche gespiegelt wurden, goss die aufgehende Morgensonne langsam satte Farben über das Land.

Plötzlich war da ein Gedanke, mehr eine Ahnung von etwas, was wie hinter einem Stück sanft schimmernder Seide verborgen lag. Vorsichtig wandte er den Kopf, und ihm war, als würde ein feiner Riss durch diese flüssige Wand gezogen werden.

Er schauderte.

Seitlich neben dem Stein stand eine Bank. Eine Frau mit weißen Haaren saß darauf und blickte auf das Wasser.

Der Riss im seidigen Schleier wurde breiter, und mit einem Mal brach er auf.

Die Erinnerungen lagen frei und trafen ihn mit voller Wucht. Sein Herz begann zu rasen, ein unkontrolliertes Zittern erfasste seinen Körper, und eine rasch einsetzende Atemnot löste in ihm das Gefühl aus, gleich ersticken zu müssen. Langsam ließ er sich an dem Stein zu Boden gleiten. Danach schien sein Bewusstsein zu zersplittern, als er noch einmal erlebte, wie ein dunkler Abgrund geöffnet wurde und seine wohlbehütete Welt darin verschwand. Als sich der Staub der Erinnerung aus seinem Geist verflüchtigt hatte, breitete sich hermetische Stille aus.

Stumm und entrückt saß er da, und in all seinem Unvermögen, in all seiner Verwirrung hörte er eine sanfte Stimme.

«Hallo.»

Die Frau mit den weißen Haaren hatte sich ihm zugewandt. Er sah in ihre strahlenden Augen, um kurz darauf wieder auf den See hinauszustarren. Er fixierte einen Punkt, der weder am Horizont noch sonst irgendwo im Außen lag.

Der junge Mann ließ den Kopf in die schmutzigen Hände sinken und sah zu Boden. Neben seinen Schuhen wuchsen Blumen mit kleinen weißen Blüten. Gleichgültig beobachtete er eine Waldameise, die sich vom Weiß einer Blüte abhob wie ein dunkler Fleck.

* * *

Die Wärme der ersten Sonnenstrahlen wanderte über seine blasse Haut, und das frostige Gefühl, das sich tief in seinen Knochen festgesetzt hatte, verdampfte allmählich. Als er wieder aufblickte, war die Sonne schon ein gutes Stück weitergewandert. Verwundert stellte er fest, dass die Frau noch immer auf der Bank saß.

«Wer sind Sie?», fragte er mit brüchiger Stimme.

«Von Zeit zu Zeit laufe ich hier am See entlang», antwortete sie. «Du lagst regungslos auf dem Boden. Ich habe deinen Puls gefühlt. Er war schwach, aber du hast gleichmäßig geatmet.»

«Was ist geschehen?», sagte er mehr zu sich selbst.

«Hm, es scheint, als wäre in dir etwas zusammengebrochen.»

Er sah sie sprachlos an und klappte den Mund auf.

«Ich …», sagte er gedehnt, aber mehr kam nicht aus ihm heraus.

Schon länger hatte er das Gefühl, dass etwas in seinem Leben unwiderruflich schiefgelaufen sei. Alles, was ihm wichtig und wertvoll erschienen war, hatte in den letzten Wochen zusehends an Bedeutung verloren. Er schnappte hastig nach Luft, als er wieder an die letzten Stunden dachte, die allmählich aus dem trüben Wasser des Vergessens auftauchten.

«Warum passiert das ausgerechnet mir?», fragte er mit zittriger Stimme eher sich selbst und dachte bestürzt daran, was jetzt aus all dem werden solle, das er sich in den letzten Jahren so hart aufgebaut hatte.

«Haben dich die letzten Jahre denn erfüllt?» Der Tonfall der Frau wurde bestimmter. «Bist du am Morgen aufgestanden und voller Freude deinen Tätigkeiten nachgegangen und am Abend zufrieden eingeschlafen?»

«Ich habe eine wichtige Arbeit», sagte er, doch weiter wollte er nicht denken, denn die Frau hatte eine äußerst empfindliche Stelle getroffen: seinen Schlaf. «Ich reise viel, treffe interessante Menschen und», er dachte kurz nach, «verdiene viel Geld, sehr viel Geld», der letzte Halbsatz war mehr ein Flüstern.

Die Frau schwieg daraufhin, und mit einem Mal breitete sich in ihm eine diffuse Unruhe aus. Denn trotz all seiner Erfolge, all seinem Geld, das er verdiente, war das Gefühl, dass etwas in seinem Leben fehle, nie von seiner Seite gewichen.

«Was lebe ich bloß für ein Leben!», sagte er in Gedanken versunken wie jemand, der allmählich eine Wahrheit erkannte, aber noch nicht bereit war, sie sich einzugestehen.

Der tiefblaue Himmel spiegelte sich im See, über den ein unmerkliches Säuseln des Windes strich und kleine Wellen an die Ufersteine spülte. Dieses Plätschern wirkte beruhigend auf seinen von Unruhe und Lärm geplagten Geist.

«Was willst du jetzt tun?», fragte die Frau, dabei wandte sie sich ihm zu und sah Milan in die Augen.

«Willst du so weitermachen mit deinem Leben wie bisher», sie zeigte mit einer ausladenden Geste über den See, «mit diesem Leben auf der Suche nach Erfüllung im Außen», sie zog die Hand zurück und presste sie leicht, aber bestimmt auf die Brust, «oder willst du dich auf einen anderen Weg begeben, um deine tieferen Seelenschichten zu erforschen?» Er zuckte leicht zusammen, als sie ihm mit einer scharfen Bestimmtheit die nächste Frage stellte:

«Wer bist du wirklich?»

Ratlos sah er die Frau an. Obwohl er sie nicht kannte, wusste er, dass sie recht hatte. Er war in einem Schattengang gestrandet und fühlte sich wie eingegossen in sein trostloses Leben. In den Schläfen fühlte er den beschleunigten Puls, als er den Eindruck hatte, die Schatten rückten im dunklen Gang noch weiter zusammen.

Was geschieht hier? Ich muss da raus.

Mit einer abrupten Kopfbewegung versuchte er, die freudlose Vorstellung abzuschütteln, und sah zu den raschelnden Blättern des Baumes empor, der in der Nähe des Ufers stand. Die Blätter hatten sich erst aus den Knospen geschält, ihre blässliche Farbe war noch nicht dicht genug, um die Äste zu verbergen, denen sein Blick folgte, bis er oben in der Krone angelangt war. Dabei hallte die Frage in ihm nach: Wer bist du wirklich?

Die Schlichtheit der Frage verärgerte ihn. Als könnte man seine ganze Lebensgeschichte einfach wegwischen, und alles begänne von vorn; wenn das nur so leicht wäre! Aber er musste sich auch eingestehen: Es war eine Frage, die er sich noch nie gestellt hatte.

Wer bin ich?

Sein Blick verweilte in der Baumkrone, und mit einem Mal begannen Gedanken durch seinen Kopf zu ziehen, und aus diesem zusammenhangslosen Wirbel überkam ihn ein Gefühl aus längst vergangenen Zeiten.

Während seines Studiums hatte er mit seinem Freund für ein paar Stunden die Woche in einer Motorradwerkstatt gearbeitet. Mit der Zeit hatten sie längere Motorradtouren unternommen, und dieses Gefühl flammte in ihm auf, das Lebensgefühl der Freiheit, der Grenzenlosigkeit.

Nach dem Studium hatte er zusammen mit seinem Freund Amerika durchqueren wollen, doch kurz davor hatte er diese einmalige Möglichkeit erhalten, in ein Unternehmen einzusteigen mit sehr Erfolg versprechenden Aussichten. Mit dieser Anstellung, so hatte er damals gedacht, könne er jedes Jahr in die USA fahren, um Urlaub zu machen, und an viele andere Orte der Welt. Sein Freund war allein gefahren. Und während er beschrieben hatte, wie herrlich die unberührte Natur des Westens sei, wie er auf den grenzenlosen Horizont zufahre, hatte er im Büro gesessen und seine Karriere, sein neues Leben geplant.

«Ich will frei sein, genau wie damals.» Der freudige Ton seiner Worte ging in der sichtlichen Anstrengung seiner Stimme unter.

«Und wie ist es denn dazu gekommen, dass du wohl lebst, aber weder Freude noch Freiheit in deiner Person zu sehen ist?»

Einen Moment sah er die Frau verblüfft an, dann wandte er den Blick ab und sah starr auf die andere Seite, als könnte er durch das Abwenden des Kopfes unsichtbar werden, um sich der unangenehmen Antwort zu entziehen.

Doch er wusste selber, dass er am äußersten Ende des Astes angekommen war, wo er sich selbst nicht mehr ausweichen konnte. Hörbar atmete er ein.

«Was soll ich denn Ihrer Ansicht nach tun?», fragte er, ohne die Frau anzusehen.

Sie lächelte und lehnte sich an die Bank zurück.

«Bestimmte Dinge sind so wichtig, dass wir sie allein entdecken müssen.»

Verständnislos sah er zu ihr hinüber. Ein Schatten fiel über seine Wangen, und dabei sah er aus wie ein Schuljunge. Ohne eine weitere Bemerkung zog sie eine Tasche aus Leder unter der Bank hervor.

«Wasch dir erst einmal Gesicht und Hände.» Sie löste den Riemen, öffnete sie und nahm eine Wasserflasche heraus.

Unschlüssig beobachtete er die Frau. Eine Weile später wandte er sein Gesicht ab und hielt es in die Sonne. Die Wärme der Sonnenstrahlen breitete sich darauf aus und regte in ihm eine Sehnsucht an, die tiefe Sehnsucht nach Freiheit.

Frei sein.

Noch immer nicht ganz Herr seiner selbst, zog er sich dem Stein entlang hoch und stand vorsichtig auf, ging unsicher die wenigen Schritte zum Wasser, kniete sich hin und lehnte sich über das Ufer hinaus. Eine schauerliche Leere blickte ihm aus dem im Spiegel erscheinenden Gesicht entgegen. Die kurzen dunklen Haare waren zerzaust, und blutige Striemen überzogen seine rechte Wange. Seine müden Augen waren matt geworden wie Kieselsteine, die man aus dem Wasser genommen hatte und die an der Sonne ausgetrocknet waren.

Was ist bloß aus mir geworden?

Wer ist das, der mir von unten in die Augen schaut?

* * *

Er tauchte die Hände ins kühle Nass, und sein Spiegelbild zersplitterte. Einen Augenblick ließ er sie im Wasser treiben, dann wusch er sie, reinigte sein Gesicht und spülte den verklebten Mund aus. Die Hände rieb er sich an den verdreckten Hosen trocken, die an einigen Stellen zerrissen waren. Er stand auf und lief zur Bank zurück; verstohlen sah er die Frau an. Sie war dezent gekleidet und trug ein weich fallendes Kleid in einem Savannen-Beige mit einer einfachen Gürtelschlaufe. Es glänzte im hellen Sonnenlicht. Über der Lehne hing eine Jacke mit Karomuster in feinen Grautönen mit einem Stehkragen und aufgesetzten Taschen. Ihre feingliedrige Statur ließen Sanftmut und Gelassenheit erkennen. Die nahezu weißen Harre trug sie lang und offen. Von ihrem linken unteren Augenlid verlief eine feine, leicht gekrümmte Narbe bis zu ihrem Wangenknochen. Sie mochte etwas über sechzig Jahre alt sein, schätzte er, und dennoch schien sie ihm jünger.

Was ihn aber am meisten faszinierte, waren ihre Augen. Sie waren so klar und rein. Lange konnte er seinen Blick nicht auf sie gerichtet halten, denn es zog ihn in ihre Augen hinein, als wären sie eine Eintrittspforte zu sich selbst. Und was er darin gespiegelt sah, ließ ihn bestürzt zusammenfahren. Da war nur ein karger und brüchiger Boden, in dem weder Freude noch Liebe gediehen. Er hörte die Stimme der Frau und war froh, dass sie ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte.

«Und wie ist es gekommen, dass einem jungen Mann wie dir die Lust am Leben vergangen ist?» Nachdem er sich auf die Bank gesetzt hatte, faltete er die Hände zusammen, neigte sich nach vorne und stützte seine Ellenbogen auf die Oberschenkel.

Es begann im Regen

Milan sah dem Gebäude entlang nach oben. Den Kopf musste er weit in den Nacken legen, um den obersten Rand zu erspähen. Einzelne Regentropfen peitschten ihm ins Gesicht. Wie ein grüner Kristall stand das Bauwerk mit verglaster Fassade vor ihm und erstrahlte trotz des stürmischen Nachmittags in einem schlichten Grün, als würde es von innen heraus leuchten.

Er betrat die Lobby, und ein Aufzug brachte ihn in die obersten Stockwerke. Der weiche Teppich mit feinen Ornamenten in beiger Farbe ließ ihn sanft auftreten. Eine dezent beleuchtete Theke aus weißem Leder stand schräg gegenüber. Dahinter saß eine Dame mit dunklen Haaren, die zu einem Zopf geflochten waren, und hieß ihn willkommen.

«Sie sind früh», sagte sie, und ihr Lächeln gab für ein paar Sekunden ihre weißen Zähne frei. Sie wies ihn zu einer Sesselgruppe, die mitten im Raum stand. Milan wusste, dass er zu früh war, durchquerte den Raum, vorbei an der Sesselgruppe, und blieb an der riesigen Glasfront stehen.

Von den raumhohen Fenstern hatte man einen atemberaubenden Blick über die Stadt, den See und die Berge im Hintergrund. Kein Laut war zu hören vom geschäftigen Treiben aus Zürich. Milan stand wie in einem geschützten Kokon.

Mit der einen Hand berührte er das kühle Glas, und seine Gedanken brachten ihn ein paar Wochen zurück zu dem Moment, als er zum ersten Mal die Firma betreten hatte.

Er war überrascht gewesen, wie unverstellt und sympathisch alle waren, anders als bei anderen Unternehmen.

Das Vorstellungsgespräch neigte sich dem Ende, als ihm die alles entscheidende Frage gestellt wurde: warum er für die Firma arbeiten wolle.

«Weil mich das Finanzgeschäft fasziniert», sagte er selbstsicher, «weil Sie eines der besten und angesehensten Unternehmen in der Branche sind und weil Sie mit mir die hochgesteckten Ziele erreichen können.» Bei den letzten Worten zog er seine Wirbelsäule voller Selbstvertrauen noch etwas mehr in die Länge. Er absolvierte die weiteren Gespräche mit einer eleganten Souveränität und wurde zur Kandidatenprüfung vorgeschlagen.

* * *

Milan blickte in den Spiegel. Seine dunklen Haare, die er halblang trug, hatte er mit Gel zu einem rechts liegenden Scheitel gekämmt. Seine blauen Augen strahlten ihm aus dem Gesicht mit ebenmäßigen Zügen entgegen. Zwischen seinen Augen vertiefte sich eine feine senkrechte Falte, als er an sich hinuntersah. Ein kleiner dunkler Fleck zeichnete sich auf dem weißen Hemd ab. Ausgerechnet an diesem Morgen hatte er den Kaffee verschüttet. Vergeblich versuchte, er das helle Kaffeebraun auszuwaschen, denn er besaß nur zwei weiße Hemden, und eines davon war in der Wäsche. Normalerweise trug er keine weißen Hemden, er liebte Farben mit Mustern und Symbolen, die seiner Extravaganz entsprachen. Mit leichtem Widerwillen zog er ein beinahe schwarzes Jackett über die Schultern, knöpfte es zu und konnte somit den Fleck mehr oder weniger gut überdecken.

Er überprüfte den Sitz seiner schlichten Krawatte. Seine ganze Person strahlte eine intensive Zuversicht aus, und die brauchte er heute auch – am Abschlusstag der Kandidatenprüfung.

Es war ein hartes Auswahlverfahren der Firma, wo potenzielle Bewerber auf den Umgang mit heiklen Kunden getestet wurden, und die Firma hatte jede Menge schwierige Kunden auf der ganzen Welt.

Milan öffnete die Haustür, stürmte auf den Gang und rannte die alte Holztreppe hinunter. Sie knarrte und ächzte. Unruhig glitt seine Hand auf dem glatt geschliffenen Holzlauf über Kerben und Auswölbungen hinab. Obwohl er heute früh aufgestanden war, musste er zwei Stufen auf einmal nehmen. Er war ein Idealist und Träumer: Immer wieder blieb er an Dingen hängen, die seine ausgeprägte Neugier weckten, so auch heute Morgen. Nur kurz las er eine Überschrift in einem Magazin: Uruk, das erste Zentrum der Welt, und augenblicklich tauchte er in die alten Geschichten ein, die sich vor fünftausenddreihundert Jahren im ehemaligen Persien abgespielt hatten. Mächtige Paläste und Markthallen hatten die Menschen am Fluss Euphrat gebaut, und im Zentrum hatte ein weißer Tempel gestanden, der nur über eine lange, schmale Treppe zu erreichen gewesen war. Ein lautes Kreischen drang von der Straße durch das kleine Fenster im Bad und lies ihn abrupt aufschrecken aus der mit Kerzen erleuchteten Tempelhalle, in der die damaligen Priester den Göttern ein Opfer dargebracht hatten. Verwundert stellte er fest, dass er sich in der Zeit verloren hatte.

Milan kam auf die Straße, beschleunigte seine Schritte, bog um die Ecke und sah die Straßenbahn schon in der Haltestelle stehen. Nach einem letzten Satz stand er im Waggon, der sogleich die Türen hinter ihm schloss und losfuhr. Direkt am Fenster ließ er sich schwer atmend auf einen Sitz fallen und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn, die sich im schwülen Sommermorgen gebildet hatten.

* * *

«Mein Herz pochte schneller, als ich von der Haltestelle frohen Mutes auf den Bürokomplex zulief», erzählte Milan der Frau mit den weißen Haaren und setzte sich etwas gerader auf.

«Zwei Tage lang wurde ich von verschiedenen Fachleuten ausgefragt, musste Formulare und psychologische Fragebögen ausfüllen, und Coaching-Trainer leiteten Übungen, an denen ich mit weiteren Kandidaten teilgenommen habe.

Der Erfolg lag in greifbarer Nähe, dachte ich damals, da war so ein Gefühl von …», er verstummte kurz und schüttelte den Kopf. «Doch das war ein Irrtum», sagte Milan und lachte dünn. «Die Dame, die ich vom Vorstellungsgespräch her kannte, meinte, ich sei eine begeisterungsfähige und überzeugende Persönlichkeit, strahlte Charme und Selbstvertrauen aus und fördere Ideen. Aber dafür hätte ich Schwierigkeiten, mich auf Details zu konzentrieren, und tendiere deshalb dazu, eine Aufgabe aus den Augen zu verlieren, was, wie sie ausdrücklich betonte, entscheidend im Finanzsektor sei. Ein Herr mittleren Alters neben ihr, den ich noch nie gesehen hatte, nahm das Gespräch auf.

Mir mangele es an Durchsetzungskraft, vor allem, wenn es darum gehe, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, oder wenn Umstrukturierungen schnell und hart durchgeführt werden müssten.» Milan lehnte sich zurück und starrte auf den See.

«Der Mann sah kurz auf seine Notizen, und ohne ein Anzeichen von emotionaler Regung meinte er: ‹Ja, wie meine Kollegin schon sagte, haben Sie einen jugendhaften Charme, aber ihre schwiegersohnhafte Freundlichkeit eignet sich nicht als Führungspersönlichkeit.›»

* * *

Milan hörte, wie die Dame von der Empfangstheke seinen Namen rief. Noch immer hielt er seine Hand auf das Glas gepresst, das unter seiner Handfläche warm geworden war, und bevor er sich vom raumhohen Fenster löste, ließ er noch einmal seinen Blick von ganz oben über die Stadt schweifen.

Nachdem er beim Auswahlverfahren ausgeschieden war, ging Milan zurück in die Lobby, um seine Unterlagen zu holen. Dort wartete ein Mann auf ihn, und mit diesem Mann hatte er heute Nachmittag ein Treffen.

Die Dame führte ihn in ein großes Büro, das von kubischen Wandleuchten erhellt wurde. Leicht versetzt in der Mitte stand ein runder Tisch aus dunklem Holz mit einzelnen Ledersesseln darum.

Sie bat ihn zu warten.

In einer Ecke fiel ihm eine schmale, hüfthohe Vase auf, die mit verschiedenen farbigen Mustern verziert und schon leicht verschossen war. Er vermutete, dass sie sehr alt und wertvoll sei. Ansonsten war der Raum etwas karg, aber stilvoll eingerichtet. Wenige Augenblicke später betrat der Mann den Raum, von dem er in der Lobby angesprochen worden war.

«Ich hatte den gleichen Blick wie du, als ich in deinem Alter war», eröffnete er das Gespräch, trat zum Tisch und schenkte Wasser aus einer Karaffe in die beiden Gläser, die darauf standen. Ein Tropfen blieb am Rand der bauchigen Karaffe hängen. Milan sah zu, wie der Wassertropfen sich vom Rand löste und in einer feinen Bahn außerhalb der Flasche den Weg nach unten suchte.

«Ich war wie du, energievoll und erfolgsorientiert, und suchte das Abenteuer», seine Stimme war kernig, «wusste aber auch nicht, was ich aus meinem Leben machen sollte», dabei musterte er Milan.

«Da ist etwas in dir, aber du weißt nicht genau, was es ist.» Der Mann trat an ihn heran und gab Milan die Hand. Sein Händedruck war fest, und er hielt Milans Hand etwas länger gedrückt als normal. Während er Milan mit einer Geste bat, Platz zu nehmen, nahm er eines der Gläser, umrundete den Tisch und ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite auf einem der Sessel nieder. Eine Aktenmappe lag auf dem Tisch; er öffnete sie, ohne hineinzuschauen.

«Ich baue eine Abteilung innerhalb der Firma auf, mit einer strategischen Neuausrichtung.» Nach einer kurzen Pause, in der er Milan aus dunklen Augen beobachtete, blätterte er durch den Stapel Papier. Kurz darauf schloss er die Akte und schob sie beiseite, als würde sie ihn nicht interessieren. «Du warst nicht der Beste bei dem Auswahlverfahren. Aber das hast du ja selber erfahren», sagte er und tippte dabei auf den bräunlichen Umschlag. «Dieses dämliche Auswahlverfahren, das sie veranstalten, als könnte man anhand von Fragebögen und diesen idiotischen Spielen und Tests einen Menschen beurteilen, wie er sich bei der Arbeit entfalten wird!»

Milan war überrascht über die offene und direkte Art. Zwischenzeitlich hatte sich der Mann von ihm abgewandt und sah aus dem hohen Fenster. Die Stadt verschwand langsam im Dämmerlicht.

«Ich mag unkonventionelle Menschen, die ihren eigenen Kopf haben. Die Präsentationen, die du während des Auswahlverfahrens gehalten hast, waren anders, und du konntest innert kurzer Zeit eine Atmosphäre erzeugen, sodass die Zuhörer dir förmlich an den Lippen klebten», der Mann zögerte leicht und wandte sich wieder Milan zu. «Du hast die Fähigkeit, in den Menschen Visionen zu wecken», dabei zogen sich seine Augenbrauen leicht zusammen. «Dich will ich in meinem neuen Team», dabei zeigte er auf ihn, ließ den Ellenbogen aber auf der Tischplatte aufgestützt. «Du wirst von den Besten lernen.» Er beugte sich über den Tisch. «Dann verinnerliche alles, was du gelernt hast auf deine Art und Weise. Das wird entscheidend sein, sonst wirst auch du nur einer der vielen Nachahmer, die sich fremden Theorien unterwerfen.» Er lehnte sich wieder in den Sessel und fuhr mit einer Hand durch die Luft. «Zu viele kopieren die Worte und Handlungen erfolgreicher Menschen, ohne jemals etwas Eigenes auf die Beine zu stellen.» Die letzten Worte sagte er in einem abschätzigen Tonfall. Er griff nach dem Glas, trank einen Schluck und stellte es wieder auf den Tisch. «Die Firma sucht immer junge und dynamische Mitarbeiter, denen man eine regelrechte Gehirnwäsche verabreicht, damit sie den internen Werten entsprechend denken und handeln. Anstatt frischen Wind zu bringen, erzieht man sie zu folgsamen Schafen, die weder anecken noch aufbegehren.» Wieder fuhr er mit der Hand durch die Luft, diesmal energischer. «Das Leitbild erzieht die Mitarbeiter zu einem idiotischen Einheitsbrei», sagte er platt. «Diese Speichellecker bringen ein Unternehmen nicht weiter. Wir brauchen Visionäre, denn große Ziele verlangen große Träume.» Mit der Hand zeigte er wieder in seine Richtung, und seine Stimme wurde wieder leiser. «Ich frage mich, bist du einer dieser Menschen, die noch Träume haben?»

Milan saß einfach nur da und verlor jegliches Zeitgefühl, als er dem Redefluss des Mannes zuhörte, der nur so von Selbstsicherheit und Stärke strotzte. Er trug einen gut sitzenden dunklen Anzug, eine fein gemusterte Krawatte in Scharlachrot und ein leuchtend weißes Hemd mit einem kleinen Kragen, das um die ausgeprägte Nackenmuskulatur spannte. Sein schwarzes Haar war nach hinten gekämmt, und die Wangenknochen standen im kantigen Gesicht markant vor. Die Querfalten, die seine Stirn durchzogen, wurden durch die ausdrucksvolle Mimik immer wieder tief zerfurcht. Er war eine lebendige und beeindruckende Erscheinung. Aber ein Element übertraf alles: die Strahlkraft seiner Worte.

«In der Jugendzeit wissen viele, was ihre Träume sind. Da ist alles noch so einfach, das zu erträumen, was sie im Leben gerne hätten. Doch im Alter geht das verloren. Viele begnügen sich mit dem, was sie haben, und erstarren langsam, anstatt Neues zu wagen und ins Unbekannte aufzubrechen.» Wieder griff er nach dem Glas und leerte es in einem Zug. Er hielt es eine Zeit lang in der Hand und drehte es um die eigene Achse, bevor er es wieder absetzte. Danach stützte er die Ellenbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen aneinander, sodass die Hände eine Art Dreieck bildeten.

«Dass alles muss man wollen. Führung muss man wollen, denn eine Führungsperson steht immer und überall an der Spitze, und das hat seinen Preis. Da bekommt man die Konsequenzen seiner Entscheidungen gnadenlos zu spüren. Klare Entscheidungen zu treffen, steigert nicht unbedingt die eigene Beliebtheit: Man trifft auf Widerstand, denn eine Entscheidung darf nie abhängig sein, ob du dafür Beifall bekommst oder Proteststürme. Man muss immer sein Ziel im Blick halten, wenn entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Bedenke immer: Viele Menschen sind erstarrt und festgefahren in ihren engen Bahnen, und manchmal bedarf es eines großen Willensaktes, diese Erstarrung zu durchbrechen und sie in Bewegung zu setzen.»

Jetzt hielt der Mann Milans Blick fest. «Ich kann dir bieten, was du suchst, aber du wirst hart arbeiten müssen. Denn erst, wenn man für etwas kämpfen muss, wird einem klar, was man will.» Jetzt war seine Stimme schneidend wie Stahl. Milan nickte bloß.