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Leistung! – das Schlüsselwort für einen guten Schulabschluss. Da könnte doch die eine oder andere Pille helfen ... Eine Abiturklasse wird Schauplatz eines Pharma-Krimis. Für Eileen und Ben brechen turbulente Zeiten an – als sei das Leben mit 17 kurz vor dem Abi nicht ohnehin schon chaotisch und anstrengend genug! Als mitten im Chemiepraktikum ihr Mitschüler Jerome ohnmächtig zusammenbricht und ins Koma fällt, gerät das Leben der beiden besten Freunde gehörig durcheinander. Warum sollte ein kerngesunder Jugendlicher urplötzlich auf der Intensivstation landen - Ausgang ungewiss? Gemeinsam mit Jeromes bestem Freund Max gehen Ben und Eileen der Sache auf den Grund. Ihr Verdacht bestärkt sich, dass an ihrer Schule etwas ganz und gar nicht stimmt. Während Jerome weiterhin um sein Leben kämpft, beginnt für die unerschrockenen Schüler ein Wettlauf gegen die Zeit. Sie stoßen auf jemanden, der keinerlei Skrupel kennt, wenn es darum geht, die eigenen Ziele erfolgreich durchzusetzen. Im Anhang: - Informationen über die gefährliche Illusion, als gesunder Mensch durch Psychopharmaka kognitive Leistungssteigerung zu erreichen - Wissenswertes zu ADHS/ADS - Ein Glossar, in dem wissenschaftliche Begriffe erläutert werden
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Für Jeremias
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
mit diesem Wissenschaftskrimi wollte ich eine spannende, unterhaltsame und ein bisschen informative Geschichte schreiben. Sie ist frei erfunden, aber es ist nicht völlig undenkbar, dass etwas ähnliches bei uns geschieht.
Während meiner Arbeit an der Schule habe ich viele Jugendliche kennengelernt, bei denen ADHS/ADS diagnostiziert worden ist. Einige von ihnen hatten bereits mehr als ihr halbes Leben lang Medikamente eingenommen – in der Absicht, leichter lernen zu können oder ein vermeintliches „Defizit“ auszugleichen. Andere wiederum standen kurz vor dem Abitur und wollten etwas einnehmen, um bessere Leistungen zu erzielen, da sie meinten, dem Leistungsdruck nicht anders begegnen zu können.
Als Neurobiologin habe ich das immer mit sehr gemischten Gefühlen betrachtet, weil ich weiß, was Psychopharmaka im Gehirn bewirken. Aus meiner Sicht ist der Eingriff in den Botenstoffwechsel des Gehirns eine gefährliche Sache. Wenn eine medizinische Notwendigkeit dafür vorliegt, hat es seine Berechtigung; bei gesunden Gehirnen sollte man das Risiko allerdings nicht eingehen.
Das alles hat mich dazu motiviert, dieses Buch zu schreiben, das sich um die Themen ADHS/ADS und Neuro-Enhancement (Steigerung der kognitiven Fähigkeiten durch Medikamente bei gesunden Menschen) dreht.
Die im Buch verwendeten wissenschaftlichen Begriffe werden im Glossar im Anhang erläutert. Außerdem befinden sich im Anhang einige Informationen zu Neuro-Enhancement und ADHS/ADS, beispielsweise was in einem Gehirn so passiert, wenn man leistungssteigernde Medikamente nimmt oder was sich hinter dem Begriff Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) eigentlich verbirgt.
Und wer es noch genauer wissen möchte: Weitere, detailliertere Informationen sowie eine ausführliche Literaturliste stehen auf meiner Homepage:
www.babettepribbenow.de
Viel Spaß beim Lesen!
Babette Pribbenow
Das erste Maigrün – Eileen liebte die Jahreszeit, wenn die Welt langsam grün wurde, die Vögel morgens zwitscherten und es noch hell war, wenn sie abends nach Hause kam. Wer mochte den Frühling nicht … Aber jetzt sah sie das alles nur aus dem Fenster des Chemielabors.
Ihr langes, rotgelocktes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und hing über dem weißen Laborkittel bis zur Mitte des Rückens hinab. Neben ihr stand Ben, mit ihm arbeitete sie im Chemiepraktikum zusammen. Ben war ziemlich gutaussehend und groß, mit kurzen blonden Locken. Sie mochte ihn, weil er ein richtig netter Kerl war und für einen Jungen erstaunlich uncool. Allerdings war er auch ziemlich ungeduldig. Heute sollten sie den Gehalt an Sauerstoff im Teichwasser bestimmen, und ihm ging es wieder nicht schnell genug. Sie musste ihn daran hindern, den nächsten Arbeitsschritt zu machen, bevor die Flüssigkeit in dem Glasbehälter nach dem Schütteln wieder klar geworden war.
Die beiden besuchten die 12. Klasse des Otto-Hahn-Gymnasiums in Beutzenburg. Es war eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Schule, die einen guten Ruf genoss. Die Schülerinnen und Schüler hatten neben dem normalen theoretischen Fachunterricht ebenfalls praktischen Unterricht in den sehr gut ausgestatteten Laboren. Dafür erwarben sie Zusatzqualifikationen, allerdings brauchten sie auch 13 Jahre bis zum Abitur.
Eine lange Auffahrt führte zu dem alten, imposanten Schulgebäude. Es war der ehemalige Wohnsitz eines bedeutenden Industriellen und Naturforschers. Davor lag ein Parkplatz für die Autos der Lehrkräfte. Da Beutzenburg eine überschaubare Kleinstadt war, wurde der Parkplatz nicht von vielen Lehrern benutzt. Die meisten nahmen das Fahrrad oder kamen zu Fuß.
Die Praktikumsgruppe von Eileen und Ben bestand nur aus 14 Schülerinnen und Schülern. Zu zweit standen sie vor den Arbeitstischen und führten die praktischen Schritte aus, die auf ihren Arbeitsanweisungen standen. Ihr Lehrer, Frank Bündner, lief zwischen den Arbeitstischen im Chemieraum herum und passte auf, dass die Arbeitsschritte und Sicherheitsbestimmungen eingehalten wurden. Er war immer bemüht, seine Schülerinnen und Schüler bei Laune zu halten. Sein Blick fiel auf Eileen und Ben und er schmunzelte über dieses ungleiche Paar. Sie war die Jahrgangsbeste, es schien, als würde ihr alles gelingen. Als Lehrer konnte man froh sein, wenn man mehr wusste als sie, was leider nicht immer der Fall war. Ben hingegen war ein Träumer, er verschusselte eigentlich grundsätzlich sein Arbeitsmaterial oder vergaß Dinge. Außerdem war er hypermotorisch und brauchte immer Bewegung. Man musste vorsichtig sein, damit er die Laborgeräte durch seine Unachtsamkeit nicht umwarf. Seine Schulnoten waren eher durchschnittlich. Trotzdem war er immer fröhlich, eine echte Sportskanone und bei allen beliebt. Aus unerfindlichen Gründen arbeiteten die beiden gerne zusammen und verbrachten wohl auch viel Freizeit miteinander. Er sah auf die Uhr, noch zwei Stunden bis zum Ende des Praktikums um 16 Uhr. Sie lagen gut in der Zeit.
Nachdem Eileen Ben dazu gebracht hatte abzuwarten, bis sich die weißen Flocken in ihrer Lösung unten abgesetzt hatten, sah sie sich um. Ihre Mitschüler überführten gerade die verschiedenen Substanzen in die Teichproben. Frank Bündner lief entspannt wie immer zwischen den Tischen hindurch und sprach hier und da mit ihren Mitschülern. Er war nett, fand sie, und gab sich mit dem Unterricht Mühe.
Dann blieb ihr Blick an Jerome hängen. Der gemütliche, etwas übergewichtige Klassenkamerad sah heute sehr bedrückt aus, als wäre er total müde und kaputt. Sein Partner Max stand neben ihm, er war ziemlich klug und ganz gut in der Schule. Allerdings war er recht schweigsam, und sie wusste eigentlich gar nichts über ihn, außer dass er eng mit Jerome befreundet war. Jerome profitierte von seinem Freund, der ihn unterstützte, wo es ging. Bei der praktischen Arbeit im Labor blühte er auf, das war sein Ding. Heute dagegen schien Jerome keinen Spaß am Experimentieren zu haben. Sie bemerkte, dass er schweißgebadet war. Komisch, dachte sie, ist doch gar nicht so warm hier drin. Sie schubste Ben an: „Schau mal, Jerome geht es irgendwie nicht gut, oder?“
Ben sah zu Jerome hinüber. In diesem Augenblick schwankte Jerome plötzlich und suchte Halt an den Glasgefäßen auf dem Tisch. Keine gute Idee! Ben sprang los, um Jerome aufzufangen - aber er kam zu spät. Jerome fiel wie ein Sack auf den Boden und blieb dort in den Scherben liegen. Er lag völlig reglos am Boden, eines der Glasgefäße hatte ihm in die Hand geschnitten. Aus der Wunde sickerte Blut.
„Eh, was ist denn los, Mann, komm, ich helf dir hoch“, rief Ben. Jerome rührte sich nicht. „Herr Bündner!“, schrie Ben, aber der stand schon neben ihm.
„Ist er tot?“, fragte Felix, der Klassenclown vom Dienst, doch das fand heute niemand lustig. Inzwischen waren alle nähergekommen und starrten die reglose Gestalt auf dem Fußboden an. Max hielt die Hand seines Freundes und versuchte ihn hochzuziehen.
Ben sagte zu ihm: „Lass ihn lieber, Max, wir müssen erstmal die Scherben beseitigen.“
Max stand unter Schock. Auch ihr Lehrer kniete nun neben Jerome und untersuchte ihn linkisch.
Ben fragte höflich: „Herr Bündner, ich gehöre zum Schulsanitätsdienst, soll ich das vielleicht machen?“
Frank Bündner stand auf und sah erleichtert aus: „Ja, mach das, Ben.“
Dann wandte er sich an die anderen. „Felix, hast du ein Handy? Ruf sofort die 112 an, sie sollen zur Schule kommen! Mike, renn runter ins Sekretariat und sag dort Bescheid!“
Mit fachkundigen Händen fühlte Ben nach dem Puls, überprüfte die Atmung und fegte vorsichtig ein paar Glassplitter beiseite.
Er rief den anderen zu: „Wir müssen ihn anders lagern, räumt mal das ganze Zeug auf dem Boden zur Seite.“
Schnell packten ein paar Mitschüler mit an. Sie zogen Stühle und Tische beiseite, bis eine große Lücke entstand. Marie hatte geistesgegenwärtig den Besen aus der Ecke geholt und fegte die Scherben beiseite. Fachmännisch legte Ben Jerome in die stabile Seitenlage und schob ihm dann noch eine Jacke unter den Kopf. Jerome war leichenblass und schweißgebadet und gab immer noch keinen Mucks von sich. Max kniete hinter ihm und redete leise auf ihn ein, eine Hand auf seiner Schulter. Er sah sehr unglücklich und besorgt aus.
„Eileen?“ Ben schaute hoch und sah sich nach seiner Freundin um. „Könntest du mir bitte etwas Verbandszeug bringen. Die Wunde an seiner Hand blutet wie Sau.“
Eileen holte Verbandsmaterial. Ben zog sich Einmalhandschuhe über und versorgte die Wunde.
Inzwischen interviewte der Lehrer die Schülerinnen und Schüler: „Weiß jemand, was mit Jerome los ist, war er krank oder ging es ihm nicht gut?“
Die Schüler zuckten mit den Schultern und redeten durcheinander, keiner konnte sich daran erinnern, dass irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung war.
„Nein, mir ist nichts aufgefallen“, sagte Marie. „Er hatte Appetit wie immer!“
Eileen schaute in die Runde, ihre Klassenkameraden sahen erschrocken aus. Sie standen um Jerome herum, sprachen leise und mutmaßten über die Gründe für den Zusammenbruch. Sie bewunderte Ben, der sich ruhig und umsichtig um Jerome kümmerte. In seinen Augen konnte sie tiefe Besorgnis sehen. Die Stimmung wurde immer beklommener, je länger Jerome kein Lebenszeichen von sich gab. Einige gaben zweifelhafte gute Ratschläge, wie: ein Eimer kaltes Wasser könnte helfen.
„Vielleicht ist er ja auf den Kopf gefallen und deshalb bewusstlos?“, fragte Marie.
„Im Krankenhaus werden sie bestimmt schnell feststellen, was ihm fehlt“, versuchte Frank Bündner seine Schüler zu beruhigen. „Ich höre schon das Martinshorn, ein Glück! Rick, bitte hol die Sanitäter hoch.“
Die Rettungssanitäter untersuchten Jerome kurz und packten ihn auf die Trage. Max hatte sich die beiden Rucksäcke und Jacken geschnappt und folgte ihnen. Er würde seinen Freund nicht alleine lassen.
Eileen sah vom Fenster aus zu, wie der Krankenwagen losfuhr. Jerome hatte das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, und sie sorgte sich um ihn.
„Was könnte denn mit ihm los sein, Ben?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber ich habe gesehen, dass er bereits bewusstlos war, als er gestürzt ist. Und er ist auch nicht mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen, der Sturz kann eigentlich nicht die Ursache für seine Bewusstlosigkeit sein.“
Moleküle. Moleküle hatten sein Leben begleitet. Auf Moleküle konnte man sich verlassen. Anders als auf Menschen, die enttäuschten einen immer. In manche Menschen hatte er große Hoffnungen gesetzt. Er hatte sich Mühe gegeben und ihnen geholfen, aber sie hatten ihn im Stich gelassen. Deshalb mochte er die Menschen nicht mehr. Tiere mochte er auch nicht. Nur Pflanzen, die hatten eine gewisse Berechtigung.
Vor ein paar Monaten war er aufgestanden und hatte es gefühlt, heute, heute würde etwas passieren. Heute würde er endlich einen Durchbruch schaffen. Seit Jahren suchte er es, das Molekül, das alles verändern könnte. Das sein Leben verändern würde.
Er war es leid. Er war es leid, dass niemand sein Können zu würdigen wusste. Egal, wie sehr er sich abrackerte, bei den wichtigen Beförderungen wurde er immer übersehen. Das war schon im Studium so gewesen. Dabei war er im Chemielabor grundsätzlich als Erster fertig gewesen, jede Analyse war ihm gelungen. Jede Prüfung hatte er mit Eins bestanden. Und trotzdem waren die Doktorandenstellen immer an andere Leute vergeben worden. Keine wissenschaftliche Hochschulkarriere, dieser Makel würde für immer an ihm haften. Obwohl er fachlich immer der Beste gewesen war, hatte man andere Menschen vorgezogen. Es war ihm unerklärlich. Konnten sie denn nicht sehen, wozu sein Geist im Stande war? Oft wachte er nachts auf und hatte schon wieder eine neue Idee. Seine Ideen verfolgten ihn geradezu. Und mit den Ideen kam dieses euphorische Gefühl, nach dem er geradezu süchtig war. Dann brauchte er kaum noch Schlaf. Er konnte arbeiten, ohne erschöpft zu sein. Die Welt leuchtete in neuen Farben.
An diesem einen Morgen hatte er nachts wieder so eine Idee gehabt. Er konnte an nichts anderes denken. Er spürte, wie sein Schritt federte, er keinen Hunger empfand und sich ein wunderbares, warmes Gefühl in ihm ausbreitete. Das wäre eine Sensation, wenn es klappt! Genau danach suchten sie! Das war sein Sprungbrett nach ganz oben. Er würde es ihnen beweisen. Nicht, dass er noch einen weiteren Beweis brauchte. Aber dann konnten ihn die anderen nicht länger übersehen. Er arbeitete ohne Unterlass. Gut, die Zahlen hätten besser sein können, das wusste er auch. Das war aber nicht seine Schuld! Es waren die verdammten Vorgaben, die den Profit schwinden ließen.
An dem Abend hatte er es geschafft. Er hatte das Spiegelbild eines bereits vorhandenen Moleküls gefunden – nicht absolut deckungsgleich, etwa so wie linke und rechte Hand. So einfach war es gewesen, man hatte nur die Idee gebraucht. Dann kann man Dinge schaffen, für die andere Jahre benötigen. So war das eben.
Er öffnete eine Flasche Champagner und leerte sie allein. Freunde hatte er kaum. Er wusste nicht so recht, was er mit ihnen anfangen sollte. Ihm fehlten die Gesprächsthemen. Mit sich selbst fühlte er sich eigentlich am wohlsten. Er kostete seinen Triumph aus. Seine Gedanken flogen nur so dahin.
Am nächsten Morgen hatte er einen ausgewachsenen Kater. Seine Euphorie war verschwunden. Missmutig öffnete er den Kleiderschrank und holte ein auf Kante gebügeltes, weißes Hemd hervor, wie jeden Mittwoch. Was, wenn er sich irrte? Nicht auszudenken, er würde sich bis auf die Knochen blamieren. Und was noch schlimmer war, es würde lange dauern, bis er es tatsächlich wusste. Wenn er sich an die Vorschriften hielt. Jahre würden ins Land gehen, ohne dass er wissen würde, ob er richtig lag. Wieso hatte er nicht vorher daran gedacht? Diesmal musste es schneller gehen. Er musste einfach wissen, ob seine Annahme stimmte. Und es gab nur einen Weg, es herauszufinden.
Frank Bündner hatte den Unterricht für heute beendet. Nach dem fürchterlichen Vorfall war niemand mehr in der Lage gewesen, den Versuch fortzuführen. Eileen und Ben verließen die Schule durch das Eingangsportal und gingen zu den Radständern. Sie schlossen ihre Räder auf und machten sich auf den Heimweg zu Eileens Wohnung. Eileen wohnte mit ihrer Mutter in einer Wohnung in der Altstadt von Beutzenburg, nicht weit von der Schule. Es war ein wunderbarer Frühlingstag, der Himmel blau mit kleinen, weißen Wölkchen. Die Nachmittagssonne wärmte schon ein bisschen und die Luft roch verheißungsvoll. Die beiden radelten schweigend nebeneinander her. Jeder hing seinen Gedanken nach. Ben freute sich darauf, mit Eileen am Küchentisch zu sitzen und Tee zu trinken. Er war fast jeden Tag bei ihr und fühlte sich pudelwohl. Nicht, dass er kein schönes Zuhause hatte, ganz im Gegenteil. Er lebte mit seinen Eltern in einer vornehmen Villa im grünen Außenbezirk der Stadt. Der Pool im Garten war sensationell. Seine Eltern hatten eine gutgehende Kanzlei und verdienten viel Geld. Dafür war Ben viel alleine gewesen in seinem Leben. Erst als er Eileen näher kennenlernte, hatte er bemerkt, wie schön es war, gemeinsam am Küchentisch zu sitzen und zu quatschen. Eileens Mutter Grace saß oft bei ihnen und erzählte spannende Dinge. Sie war Pharmakologin und arbeitete bei BEUTZPHARMA.
Eileens Mutter wusste die unglaublichsten Dinge, warum Verliebtsein nur eine chemische Reaktion ist; was im Gehirn passiert, wenn ein Mensch an Alzheimer erkrankt oder dass wir glücklich sind, wenn unser Gehirn den Botenstoff Dopamin ausschüttet. Für ihn hatte sich eine neue Welt erschlossen, die Gesprächsthemen zu Hause hatten ihn oft gelangweilt. Es ging meistens um juristische Themen, und das interessierte ihn überhaupt nicht. Oder es ging um seine nicht so besonderen Schulleistungen und seine Zukunft! Das war ein grässliches Thema! Mit Grace hingegen konnte man über alles reden.
Bei Eileen angekommen, ließ Ben sich auf einen Stuhl plumpsen und sah ihr beim Teekochen zu - das war immer das Erste, was sie tat, wenn sie nach Hause kam.
Heute sah sie besorgt aus, ihre Stirn war in Falten gezogen - bestimmt machte sie sich Sorgen um Jerome.
„Das wird schon wieder“, versuchte er sie zu beruhigen. „Im Krankenhaus werden sie feststellen, was ihm fehlt und dann kommt er schnell wieder auf die Beine.“
„Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Irgendwie war das sehr erschreckend. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was mit ihm passiert sein soll. Es kam so aus heiterem Himmel!“
„Morgen werden wir von Max mehr erfahren, er wird sicher bleiben, bis Jerome wieder aufwacht.“
Sie hörten, wie jemand die Haustür aufschloss.
„Mutter kommt immer genau dann, wenn der Tee fertig ist!“, freute sich Eileen.
Ihre Mutter kam zur Tür herein, sie sah erschöpft aus. Selbst ihre braunen Locken, die ihr bis auf die Schultern reichten, hingen heute müde herab. Sie war eine kleine, zierliche und sehr energische Person und immer geschmackvoll gekleidet. Meistens hatte sie gute Laune.
„Ah, da komme ich aber genau richtig, eine Tasse Tee wird mir jetzt guttun! Wie war’s in der Schule?“
„Na, nicht so toll“, antwortete Eileen. „Jerome ist heute mitten im Chemiepraktikum zusammengebrochen und nicht mehr aufgestanden. Dabei hat er auch noch das Glasmaterial vom Tisch gefegt und sich böse geschnitten. Herr Bündner hat den Rettungsdienst geholt und die haben Jerome mitgenommen. Aber er hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt! Ich glaube, es ist etwas Schlimmes, der Notarzt hat sehr besorgt geschaut, und alle haben sich mächtig beeilt.“
„Das hört sich ja dramatisch an. Ist Jerome denn krank gewesen?“
Eileen und Ben sahen sich an und schüttelten dann die Köpfe.
„Nicht, dass wir wüssten“, beantwortete Eileen die Frage. „Er hatte aber schon vorher Schweißausbrüche, zitterte und sein Gesicht war richtig rot. Ich habe Ben Bescheid gegeben, aber es war schon zu spät, Jerome ist umgefallen, bevor Ben ihn erreicht hat.“
„Wer hat denn die Erstversorgung übernommen, bestimmt du, Ben, oder? Du bist doch im Schulsanitätsdienst.“ Grace wandte sich an Ben.
„Ja, ich habe mich um ihn gekümmert. Aber es war ganz anders als in der Erste-Hilfe-Ausbildung. Jeromes Puls habe ich am Anfang kaum messen können, er war ganz flach. Dann habe ich nach seinem Herzschlag gespürt und gemerkt, dass sein Herz rast. Seine Atmung ging auch sehr schnell. Leider konnte ich nicht viel für ihn tun, außer ihn in Seitenlage zu bringen und seine Hand zu verbinden.“
„Also, ich finde, das war eine ganze Menge!“ Sie schielte zu ihrer Tochter und musste trotz des ernsten Themas schmunzeln. Eileen sah Ben voller Bewunderung an.
Gemeinsam tranken sie Tee, und Grace bereitete nebenbei das Essen zu. Sie war keine besonders gute Köchin und hatte auch tatsächlich überhaupt keinen Spaß am Kochen. Sie tat das nur für ihre Tochter, sie selbst hätte sich wahrscheinlich immer nur von Fast Food ernährt. Eileen verbrachte sowieso die meiste Zeit mit Lernen – viel zu viel, fand Grace. Sie war immer froh, wenn sie sich mit Ben traf und fragte sich, ob sie wohl irgendwann mal ein Paar werden würden.
Beim Essen kamen sie noch einmal auf das Ereignis in der Schule zu sprechen. Eileen beschäftigte der Vorfall sehr.
„Das ist doch nicht normal, Mama, dass Menschen einfach bewusstlos zusammenbrechen, oder?“
„Nein, das ist natürlich nicht normal und muss irgendeine Ursache haben. Ich habe über Bens Worte nachgedacht, flacher Puls und schneller Herzschlag, das deutet auf Kreislaufversagen hin und möglicherweise auch auf eine Weitung der Gefäße. Dann ist der Puls schlecht fühlbar, und das Herz versucht durch vermehrtes Schlagen den Blutfluss in den geweiteten Gefäßen anzukurbeln. Aber das sind jetzt nur Spekulationen …“
„Wenn ich jetzt noch mal genau darüber nachdenke, sah Jerome in den letzten Wochen ohnehin etwas angeschlagen aus, oder, Eileen? Er hatte einen ziemlich üblen Hautausschlag am Hals, im Nacken und außerdem an den Händen.“
„Stimmt, das ist mir auch aufgefallen“, bestätigte Eileen.
„Das würde ja zu dem Vorfall heute passen“, überlegte Grace laut. „Hautausschlag und die Symptome, die Ben gerade beschrieben hat, könnten auf eine Unverträglichkeit hindeuten. Bei dieser Heftigkeit beispielsweise auf eine Medikamentenunverträglichkeit oder eine allergische Reaktion auf irgendetwas.“
„Stimmt, mir ist der Gedanke an einen anaphylaktischen Schock ebenfalls schon gekommen. Genau diese Symptome haben wir bei der Ersthelferausbildung gelernt.“
„Und wenn man Medikamente nicht verträgt, kann das solche Auswirkungen haben?“, erkundigte sich Eileen.
„Ja, leider“, antwortete Grace. „Jeder Mensch reagiert anders auf Medikamente. Antibiotika zum Beispiel retten sehr viele Menschenleben. In Einzelfällen lösen sie aber allergische Reaktionen aus, bis hin zum anaphylaktischen Schock. Auch wenn das nur sehr selten passiert.“
„Manche Menschen reagieren ja auch auf Lebensmittel allergisch, z.B. auf Erdnüsse. Bei einigen Allergikern reichen schon kleinste Mengen aus, um sie umzubringen, wenn sie nicht behandelt werden.“ Ben kannte sich da aus, er hatte einen Onkel mit einer Erdnussallergie, der immer seine Notfallmedikamente dabeihatte.
„Wir fragen morgen einfach mal nach, ob er auf etwas allergisch reagiert hat, vielleicht ein Medikament nehmen muss oder so. Hoffentlich geht es ihm bald wieder besser, damit er nach Hause darf.“ Für Eileen waren Krankenhäuser eine schreckliche Vorstellung.
Mit diesen Worten war das Thema beendet. Grace erzählte von ihrem anstrengenden neuen Projekt. Anschließend zogen sich Eileen und Ben in Eileens Zimmer zurück. Sie hatten noch einiges an Hausaufgaben zu erledigen. Ben war froh darüber, dass er fast alle Kurse mit Eileen zusammen hatte. Eileen wusste immer, was sie aufhatten. Sonst würde er sicher die Hälfte seiner Hausaufgaben schlichtweg vergessen. Als sie zwei Stunden später mit allem fertig waren, verabschiedete sich Ben und fuhr nach Hause.
Tagsüber versuchte er, so zu sein wie immer. Wie jeden Morgen holte er das zum Wochentag gehörende farbliche Hemd aus dem Schrank und sorgte für sein akkurates Äußeres. Das große Ding landen, davon hatte er immer geträumt. Und diesmal war er ganz dicht dran. Freudige Erregung durchflutete ihn. Aber er durfte sich nichts anmerken lassen. Der Weg lag klar vor ihm. Sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, war gar nicht so einfach gewesen. Diese Käfige waren so verdammt sperrig. Man konnte immer nur einen tragen. Und dann diese Aufregung, als die Viecher vermisst wurden, einfach unnötig. Und niemand hatte ihm gesagt, dass Mäuse stinken. Dieser Gestank in seiner Wohnung! Seiner Putzfrau hatte er kündigen müssen, damit sie nicht merkte, was er tat. Es dauerte eine Weile, bis er die richtige Dosis für die Tiere gefunden hatte. Aber jetzt stand er glücklich vor den Käfigen in seinem Wohnzimmer, munter liefen die Mäuse in ihren Laufrädern herum - gut so! Diese Viecher waren genauso rastlos wie er. Ständig probierten sie neue Sachen aus und scheinbar brauchten sie auch keinen Schlaf.
Am Morgen beeilte sich Eileen, zur Schule zu kommen. Es war ein klarer Tag, und die Vögel zwitscherten um die Wette. Bestimmt würde es wieder schön werden. Allerdings nahm Eileen das nur am Rande wahr. Sie war morgens einfach nicht zu gebrauchen. Eileen radelte die Auffahrt zur Schule hoch und stellte ihr Rad in den Ständer. Von Weitem sah sie schon Ben die Auffahrt hochkommen, der strahlend alle begrüßte. Wie er das machte, mit dieser guten Laune am frühen Morgen, war ihr ein Rätsel! Sie begrüßten sich und schlossen wie immer ihre Räder zusammen. Dann betraten sie gemeinsam die Schule, heute hatten sie in der ersten Stunde Informatik-Leistungskurs bei ihrem Lieblingslehrer, Kai Baumann.
„Lass uns schnell noch zu Max gehen und fragen, wie es Jerome geht“, sagte Eileen. „Er müsste jetzt Bio-LK haben.“ Sie konnte gar nicht abwarten zu erfahren, wie es Jerome ging. Die beiden liefen in den 1. Stock und suchten nach Max. Sie fanden ihn am Ende des Ganges vor einem Klassenraum stehend, er sah bedrückt und übernächtigt aus.
„Hi Max, wie geht es Jerome, weißt du was Neues?“, fragte Eileen ohne Umschweife.
„Ich war gestern den ganzen Nachmittag im Krankenhaus, durfte aber nicht zu ihm. Heute Morgen war ich auch schon da und habe seine Mutter getroffen, sie war die ganze Nacht bei ihm. Er liegt immer noch im Koma.“ Max klang verzweifelt.
„Oh Mann, das hört sich aber gar nicht gut an, tut mir leid“, sagte Ben und legte eine Hand auf Max Schulter. „Weiß man denn irgendwas? Ist er krank gewesen?“
„Nein, die Ärzte können sich nicht erklären, was mit ihm los ist, und seine Eltern sind ebenfalls ratlos.“
„Hat er vielleicht irgendein Medikament genommen?“, hakte Eileen nach. „Er hatte doch schon seit einiger Zeit so einen Hautausschlag.“
„Ich weiß von keinem Medikament. Aber ich werde seine Eltern fragen, ich wollte in der Pause sowieso anrufen und mich erkundigen, wie es ihm geht. Wir sehen uns später.“
„Jetzt müssen wir dringend los, Ben, sonst kommen wir zu spät zum Unterricht!“
Die beiden hasteten über den Flur und huschten gerade noch rechtzeitig in den Informatikraum. Kai Baumann fuhr gerade die Rechner hoch. Bevor er an die Schule gekommen war, hatte er in einer Computerfirma gearbeitet und war für die IT-Sicherheit zuständig gewesen. Den Schülern erschien der Lehrer manchmal etwas paranoid, wenn dieses Thema im Unterricht behandelt wurde. Er warnte sie vor vielen Dingen, die sie ganz unbekümmert taten, z.B. in sozialen Netzwerken aktiv zu sein, eigene Fotos hochzuladen, bei Amazon Sachen online mit Kreditkarte zu bezahlen und so weiter. Trotzdem war Kai Baumann bei fast allen Schülern beliebt, er war lustig, nett und gerecht. Außerdem machte er einen guten Unterricht, manchmal vielleicht etwas chaotisch, aber er wusste, wovon er sprach. Berühmt berüchtigt waren ebenso die Geschichten aus seiner Jugend, z.B. wie er als Rausschmeißer in einem Club gearbeitet und seinen Baseball-Schläger immer griffbereit hatte. Wenn ein Schüler im Unterricht mal unausstehlich war, drohte er immer damit, gleich seinen Schläger zu holen. Das sorgte für allgemeine Belustigung, vor allem als er ihn zum Spaß tatsächlich einmal mitbrachte … Bei der Schulleitung kam sein ungezwungener Umgang mit den „schulischen Belangen“ allerdings weniger gut an.
Kai Baumann hatte seinem Kurs eine anspruchsvolle Programmieraufgabe gestellt. Die Schülerinnen und Schüler saßen zu zweit vor den Rechnern und tüftelten. Normalerweise mochten sie solche Aufgaben. Heute wurde allerdings nebenbei viel getuschelt. Jeromes Zusammenbruch war natürlich Thema Nr. 1. Es wurde wild darüber spekuliert, warum Jerome ohne ersichtlichen Grund ins Koma gefallen war. Viele sorgten sich um ihn, weil er immer noch nicht wieder bei Bewusstsein war. Und es stand die Frage im Raum, ob er noch der Alte sein würde, wenn er wieder aufwachte.
Der Informatiklehrer bemerkte schnell, dass seine Schüler heute nicht bei der Sache waren. Als er sie darauf ansprach, erzählten sie ihm von Jeromes Zusammenbruch, ihrer Ratlosigkeit über die Ursache und auch von ihren Sorgen um seine Gesundheit.