Minich stirbt - Rudolf Schandalik - E-Book

Minich stirbt E-Book

Rudolf Schandalik

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Beschreibung

Die schwüle Hitze liegt wie ein Leichentuch über Wien. Das Kind stirbt auf der Wiener Höhenstraße. Die Mutter wird entführt, die junge Frau des alten Minich! Wer ist dieser Minich? Ein liebevoller Gatte mit verkalkten Herzgefäßen, der es sicher nicht mehr lange machen wird, wie die Ärzte es ihm sagen? Ein Immobilien-Tycoon mit viel Dreck am Stecken? Der abkassierte, als es so Usus war, unten bei der Süd-Bank. Ein Netzwerk des Verbrechens türmt sich vor Schilling, Preinfalk und der unermüdlichen Sue auf.

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Seitenzahl: 281

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

978-3-7345-2134-8 (Paperback)

978-3-7345-2135-5 (Hardcover)

978-3-7345-2136-2 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

© 2016 Rudolf Schandalik

Internet: www.schandalik.eu

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Internet: www.tredition.de

Für Uli

Handelnde Personen:

Dr. Sam Schilling, Hauptkommissar

Dr. Max Preinfalk, Staatsanwalt

Maria Preinfalk, dessen Gattin

Sue Palmer, Journalistin

Dr. Karl-Heinz Karrer, Anwalt

Dr. Ines Stapler, Anwältin

Mag. Franz Minich, Immobilien-Tycoon

Michaela Minich, geb. Tollmann

Eva Graf, Minichs Schwester, und ihr Gatte Franz

Paula Jäger, Verunglückte

Graf Marcel Poloypü, von altem Adel

Decker, Detektiv

Herrmann, Oberinspektor

Binder, Oberregierungsratwitwe

u. v. a. m.

Obwohl dieser Roman unverkennbar in Wien, München und südlich der Ost-Alpen spielt, sind Figuren und Handlung ausnahmslos frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen, lebenden wie toten, wäre rein zufällig, aber nicht ungewollt.

TEIL EINS

1

Die Sonne sticht unbarmherzig vom blauen, wolkenlosen Himmel und saugt die letzten Tropfen Feuchtigkeit aus der Erde. Es ist Juli, und dieser Tag hält es für seine Pflicht, der heißeste des Monats zu werden. Eine schwüle Hitze hängt über Wien. Wie ein Leichentuch.

Schilling steht am Fenster in seinem Büro in der Polizeidirektion und schaut auf die menschenleere Straße.

Vor ihm, unten im kleinen Grünstreifen entlang der Fahrbahn, ist das Gras braunverbrannt. Die paar erst gepflanzten Bäume lassen die frühzeitig vertrockneten Blätter zu Boden segeln. Kein Lüftchen rührt sich. Wer jetzt noch in dieser Stadt regt, ist selbst schuld. Die Aggressionen der Menschen steigen an, jede Kleinigkeit kann zur Explosion führen. Oder zur Abreise.

Ohne anzuklopfen, stößt Dr. Preinfalk die halboffenstehende Türe zum Allerheiligsten der Wiener Mordkommission ganz auf. Der großgewachsene Hüne aus dem Ybbstaler Alpenvorland kann die bäuerliche Abstammung nicht verleugnen. Alles ist groß an ihm, Hände, Füße und der nur mehr dürftig behaarte Kopf. Die lächelnden Augen und das freundliche Gesicht nehmen jeden für ihn ein. Max ist ein zu groß gewordenes Kind geblieben. Alle mögen ihn. Ein Staatsanwalt, der sich Anerkennung verschafft hatte. Und sich auch als Staatsanwalt zum Anfassen behaupten konnte.

»Hallo, Schilling, hältst du nach etwas Bestimmtem Ausschau da unten?«

»Nein, Max, ich beobachte nur die Straße und denke über die Menschen hier nach.«

»Wie gehts Fritzi? Hab schon Wochen nichts mehr von ihr gehört!«

»Sie arbeitet an den letzten Kapiteln ihrer Diplomarbeit, kannst dir doch vorstellen, wie angespannt sie ist! Um in Ruhe arbeiten und schreiben zu können hat sie sich im Waldviertel für zwei Wochen einquartiert.«

»Das verstehe ich gut. Damals, in den letzten Zügen meines Studiums hat Maria es auch nicht einfach gehabt mit mir. Sie sagte mir später, ich glich zu jener Zeit mehr einem brummelnden Braunbären aus den Voralpen als einem menschlichen Wesen!« Dabei verziehen sich seine Gesichtszüge in ein aufgekratztes Lächeln.

Dr. Preinfalk stellt sich neben Dr. Schilling ans Fenster. Er nimmt seine allgegenwärtige Pfeife aus der Tasche, nuckelt an dieser und lässt sie wieder in den Tiefen des Hosensack’s verschwinden.

»Verdammt heiß heute«, sagt er.

Schilling nickt zustimmend, »Die trockene Hitze treibt den Schweiß aus allen Poren.»

Zwei, die sich gut kennen, erzählen von dem, dass sie interessiert, aber nicht bewegt. Small-Talk, wie in jedem Café es gang und gäbe ist.

»Gibt’s was Neues?«, fragt Max.

»Der Wagen wurde gefunden, du weißt, der an der Fahrerfluchtgeschichte beteiligt war.«

»Was war da genau?«

»Der Wagen hat das Auto einer Frau Jäger gerammt!«

Max erinnert sich, »Wobei das Baby getötet worden war? Ein Baby war getötet worden! Ein Baby! Da muss man mit aller Strenge vorgehen. Und die Mutter, war sie die Lenkerin? Auch verletzt?«

»Nicht der Rede wert, nichts Wesentliches. Fürchte, dass mit der Strenge wird nicht so einfach werden!«

»Warum?«

»Die Besitzer des Wagens behaupten steif und fest, sie wären nicht gefahren! Das Auto wäre ihnen gestohlen worden und ich muss ihnen glauben!«

»Wer sind diese Leute?«

»Franz und Eva Graf aus Waidhofen. Wohnen derzeit in einer Garçonnière in der Gersthoferstraße.«

Max fragt weiter, »Wo wurde das Auto gestohlen?«

»Praktisch direkt vorm Haus. In Währing draußen ist kein Parkverbot.«

»Noch nicht! Wird auch noch kommen, wenn der Bezirk einmal ›grün‹ ist, wirst es schon sehen! Aber, der Unfall ereignete sich am frühen Nachmittag, stimmt das?«

»Gestern um 14 Uhr 35. Oben auf der Höhenstraße, Richtung Tulln hinunter. Frau Jäger hat ausgesagt, sie wollte einem mit überhöhten Tempo fahrenden Wagen ausweichen. In der 50-km-Begrenzung! Und ist über den Straßenrand hinausgedrückt worden! Schrecklich!«

»Und wie seid ihr auf den Fahrerfluchtwagen gekommen?«

»Sie hat nur ein ›WY‹ am Nummernschild erkennen können. Genaueres konnte sie nicht sagen. Einer aufmerksamen Streifenpolizistin ist aber der am linken Kotflügel beschädigte Wagen mit dem seltenen ›WY‹ aufgefallen. Irgendwo in Floridsdorf. Das linke Vorderlicht war demoliert und an der Karosserie mehrere Kratzer.«

»Wie war es den gestartet worden«, fragt Max betroffen.

»Ach, ist so ein älteres Auto. Da hat jemand die Zündung kurzgeschlossen!«

»War denn der Wagen nicht versperrt?«

»Nein, sagte Herr Graf«, meint der Kommissar.

»Eigenartig! Welcher Idiot lässt sein Auto unversperrt?«

»Es handelt sich um ein Uralt-Auto. Ein Cabrio, das seinen besten Zeiten schon lange nachtrauert. Sie behaupten, dass ein Fenster klemme und halb offen geblieben war. Schau, da, das Foto. Irgendwie erinnert es mich an was.«

»Sam Schilling! Schaust du nicht fern? Das kann ich dir schon sagen: Sieht aus wie dieses Peugeot-Cabrio vom Inspektor Colombo. Glaub nicht, dass dieses versperrbar war. Das Stoffdach war auch hin.«

»Von welchem Auto?«

»Ich meinte das vom Colombo. Und die Graf’s, können die beweisen, dass sie nicht selbst gefahren sind?«

»Ja, Max, sie waren in der Albertina. Die Eintrittskarten hatten sie noch, sie waren mit der Straßenbahn in die Stadt gefahren. Sogar die Fahrscheine hatten sie noch! Entwertet mit Datum und Uhrzeit!«

»Also ein komplettes Alibi!«

»Ja, und nach dem Besuch der Albertina wollten sie noch ins Maria-Theresien-Schlössel, dem neurologischen Krankenhaus im Neunzehnten. Den Professor dort kenne ich gut, ich hab Hans, Professor Bandon, schon angerufen. Er bestätigte, dass der Bruder von Frau Graf einen Schlaganfall erlitten hatte und seit zwei Wochen dort betreut wird. Dem Herrn Minich ginge es gar nicht gut, sagte er. Am vorgestern Abend habe er einen neuerlichen Schlaganfall gehabt.«

»Schlimm. Und wer ist der Minich?«

»Der hat ein kleines Häuschen im Marchfeld. Eigentlich wollte ich jetzt ins Spital fahren. Hans sagte am Telefon, er versuche ständig, was zu sagen. So wie ›Schlüssel‹. Und wie ›Polizei‹. Und ›Schilling‹.«

»Was?«

»Nichts Eindeutiges, aber Hans meinte, es klang so, wie wenn die Polizei, wie wenn ich zu seinem Haus gehen sollte. Irgendetwas will er mir sagen.«

Max kommt wieder auf den Unfall auf der Höhenstraße zurück, das mit dem Baby lässt ihn nicht los! »Warum sollte jemand einen Wagen in der Gersthoferstraße stehlen und dann einen Unfall bauen? Wollten die den Verdacht auf die Besitzer abwälzen?«

Schilling schüttelt den Kopf, »Wenn ich das nur wüßte!«

»Und keine Fingerabdrücke? Im Auto?«

»Nichts, Max, die Kollegen von der Spurensicherung haben nichts gefunden, weder auf dem Lenkrad, noch sonst wo, alles fein säuberlich abgewischt. Auch das spricht dafür, dass die Graf’s die Wahrheit sagen. Die hätten das sicherlich nicht getan! Wer wischt schon das Lenkrad und den Schaltknüppel seines eigenen Autos ab, wenn er grade gefahren ist?«

Max nickt zweifelnd.

»Was sind das für Leute? Kenn ich ja gar nicht, du darfst nicht vergessen…«, da wird er schon von Schilling unterbrochen, »…dass du auch aus Waidhofen bist! Ich weiß, ich weiß, eine schöne Gegend, die Stadt klein, aber fein! Hast ja genug oft davon erzählt. Also: Er hat eine Graphikwerkstatt, ein Einmannbetrieb dort bei Waidhofen. Ist etwa so um die fünfundvierzig, eher schon fünfzig, ein Zwergerl gegen Dich!«, lächelt Schilling.

»Sam, hast du was gegen große Menschen?«

»Und sie etwa gleichalt«, Schilling überhört dies geflissentlich, »vielleicht etwas älter, hat aber in der Familie die Hosen an! Und fast deine Statur. Die sagt, was sie meint! Und meint auch, was sie sagt!«

Schillings Telefon läutet. Aggressiver als sonst.

»Mordkommission Schilling!«

Eine grelle, bellende Frauenstimme fängt in rasendem Tempo zu reden an. Sofort stellt er das Telefon auf laut: »Ich bin Michaela Minich, ich war am Westbahnhof mit meinem kleinen Mädchen und wartete dort auf Bekannte, die mich abholen sollten. Da traten Leute auf mich zu und fragten mich, ob ich Michaela Minich sei. Als ich bejahte, sagten sie, draußen wäre die Polizei, die mich sprechen müsse. Ich ging mit ihnen durch die Tür zu einem Auto, in das sie mich zerrten. Es ging alles so schnell! Und fuhren mit mir weg. Mein Baby ist am Bahnhof auf einer Bank liegen geblieben, auch mein Gepäck. Ich hab so eine Angst gehabt, dass ich nichts vom Baby sagte. Ich hab befürchtet, sie könnten meinem Mädchen was antun.«

Schilling unterbricht sie, »Wo sind Sie denn momentan?«

Die Frau geht nicht darauf ein, »Bitte beschützen Sie mein Baby, es ist allein am Bahnhof in großer Gefahr! Auf der Bank, neben dem Zeitungsgeschäft. Bitte können Sie--«, da bricht die Stimme ab, zuerst noch ein gellender Schrei und dann eine keuchende Männerstimme: »Weg mit dem Telefon…«

Lautes Poltern. Aus.

»Die hat aber schnell gesprochen! War wie ein Maschinengewehr! Hat doch irgendwie ehrlich geklungen«, sagte Preinfalk. »Aber es kommen doch immer so verrückte Anrufe!«

»Weiß schon, aber diese Männerstimme und das Gepoltere, wie wenn jemand umgestoßen wird! Wie ein Niederstürzen! Oder vielleicht, wenn jemand aufs Handy draufsteigt? An die Wand wirft?«

»Sie sagte, sie heiße Minich!«

»Kann auch sein, dass es nur so ähnlich war! Wir müssen aber zum Bahnhof!«

»Fahrst du mit?«

»Natürlich!«

Gut acht bis zehn Minuten später sind sie mit dem Einsatzwagen am Bahnhof. Alles ist so, wie es immer ist. Viele Menschen, gehend, laufend, herumstehend, angelehnt an das Geländer. Ein dreijähriges Kind weint, einige alte Männer sitzen auf einer Bank, still vor sich hin starrend.

Neben dem Zeitungsladen, auf der langen Bank für die Wartenden, ist ein Mann in ein Taschenbuch vertieft, roter Umschlag, wie oft bei Krimis. Daneben auf dem Fußboden ein Aktenköfferchen. Der Mann ist gut gekleidet, trotz der bleiern in der Luft hängenden Hitze. Unter dem Bürstenhaarschnitt ist auch diese Stirne feucht. Wie bei all den anderen Menschen hier.

»Die Luft ist zum Schneiden«, sagt Schilling, und dann sieht er es. Auf dem Sitz knapp daneben, ein typisches Baby-Trage-Liegegestell und ein Gepäckstrolley, so nahe, wie wenn dies alles zu dem Mann gehöre.

Schilling stürzt sofort hin: Das Baby schläft ruhig und selig. Die nackten Füßchen strampeln ein wenig im Schlaf.

Fassungslos stößt Max Preinfalk ein »I werd’ narrisch!« aus. Wie zur Salzsäule erstarrt glotzt er das Kind an.

Schilling läuft zum Zeitungsgeschäft, die Frau dort hat nichts gesehen, hatte zu viel zu tun. Max Preinfalk stürzt zu dem danebensitzenden Mann. Laut und aufgebracht schleudert er die Frage: »Lag das Baby schon dort, als Sie sich hierher gesetzt haben?«, ihm direkt ins Gesicht.

Eingeschüchtert antwortet der Mann, »Nein, ich glaube, es war nur eine Frau da…Halt…ja, so war es. Das Baby und eine Frau waren da. Das Kleine in der Trageliege oder wie man das halt nennt. Hab nur kurz hingeschaut und dann in meinem Buch weitergelesen. Der Krimi ist gerade so spannend.«

»Wissen Sie, wann die Frau weggegangen ist?«

»Nein, darauf hab’ ich wirklich nicht geachtet!«

Preinfalk, durch seine Statur wirkt er schon maßgebend, ruft laut, »Einen Augenblick, meine Herrschaften, bitte horcht einmal her!«

Einige der Menschen wenden sich zu dem beeindruckenden Mann, »Dies ist Kommissar Doktor Schilling, er hat ein paar Fragen an Euch!«

Schilling ruft laut, um sich im Trubel bemerkbar zu machen, »Wir müssen die Mutter dieses Baby finden! Weiß jemand, wo sie ist? Hat sie jemand gesehen?«

Kurz wurde es still. Die Menschen schauen sich an und beginnen dann leise miteinander zu flüstern.

Eine nicht nur um die Hüften sehr starke Frau, die in Begleitung zweier anderer Damen ist, hebt ihre rechte Hand. Sie deutet mit dem mit ihrer rechten Hand gehaltenen, nicht unbeträchtlichen Rest eines Frankfurter Würstchen direkt auf Schilling. Den kleinen, nun leeren Pappkarton hält sie in der Linken. »Ich hab sie gesehen!«, sagt sie laut und jedes Wort betonend. Dann steckt sie das ganze Wurstende in den Mund. Genüsslich kaut sie darauf herum.

Schilling dreht sich zu ihr, »Wie lange ist dies her?«

»Vielleicht zehn, fünfzehn Minuten«, und schluckt hinunter.

Sie stapft Ehrfurcht gebietend die paar Schritte zum Abfallkübel hin. Sie entsorgt den verschmierten, noch einen Rest Senf aufweisenden Pappteller. Dann wendet sie sich wieder Schilling zu.

»Können Sie die Frau beschreiben?«

»Na, so um die Fünfundzwanzig ist sie.«

Sie kramt umständlich in ihrer Handtasche. Endlich findet sie die Papiertaschentüchern. Ein triumphierendes Lächeln überzieht ihr Gesicht. Etwas patschert zieht sie eines aus der Packung heraus und tupft sich die Lippen langsam, ja übersorgfältig, ab.

»Sicher keine Dreißig! Berta, du hast sie doch auch gesehen?«

Hinter ihr steht eine zarte Dame. Berta schüttelt nur den Kopf. Die Dritte wartet etwas seitlich, groß und hager. Auffallend missbilligend blickt sie drein. Sie kann es nicht verstehen, dass sich ihre Freundin überhaupt gemeldet hat.

»Sie trug eine hellbraune Jacke, ja etwas dunkler als flachsfarbiges Leinen, den passenden Rock, eine hellrosa Bluse. Eine hübsche Frau! An die gelblichen Handschuhe erinnere ich mich besonders! Eher so ganz hell braun-gelblich waren die Handschuhe. Feines Wildleder!«

»War sie blond, braunhaarig, schwarzhaarig?«

»Blond, bin ich mir sicher!«

»Wie heißen Sie?«, fragte Dr.Preinfalk.

»Eva Marchalek.«

»Wie lange sind Sie schon hier?«

»Na, vielleicht eine halbe Stunde, viel mehr nicht.«

Schilling versucht noch, die anderen Leute auszufragen, aber niemand sah etwas. Frau Eva Marchalek bleibt die Einzige. Sie gibt noch Schilling ihre Adresse und die Handynummer. Dann drehte sich das ungleiche Damentrio um und schreitet Richtung Bahnsteig.

Max, mit einem maliziösen Lächeln auf den Lippen, sagte zu Schilling, »Ja, mein Freund, es sieht so aus, als ob das Baby nun uns bleibt!«

Schilling wirft ein: »Und einen Fall von Kindesweglegung. Und noch Menschenraub dazu!«

Er ruft nun die Einsatzzentrale an. Sollen sich doch die Kollegen weiter befassen.

Zu den noch herumgaffenden Menschen sagt er mit ruhiger Stimme, »Wenn ihr die Frau nicht gesehen habt, könnt ihr uns auch nicht weiterhelfen!«

Das Baby schläft ruhig und friedlich in seiner Liege. Da hat sich doch eine Fliege frech auf den großen Zeh gesetzt, der nackt unter der Decke mit den Elefanten vorlaut hervorblickt. Und Preinfalk beschäftigt sich intensiv damit, dies unnütze Flugungetier vom kleinen Babyzeh zu verscheuchen.

Inspektor Stahl, der Erste, der eintrifft, ein übermäßig stark beleibter Mann, ist begleitet von einer zarten Polizistin, die neben ihm keinesfalls zur Geltung kommen kann. Sie verhält sich so, als wollte sie sich hinter ihm, der den starken Mann markiert, verstecken. Stahl schwitzt übers ganze Gesicht, der Schweiß fließt über den feisten Hals bis in den Hemdkragen. Es ist, wie wenn er schmelze. Schilling informiert sie rasch und sagt nun zu Max Preinfalk, »Wir haben ein Baby bekommen!«

»Wir?«

Dann mutmaßt er, »Max, glaubst du nicht, deine Frau würde sich freuen, das Kindchen vorübergehend aufzunehmen?«

Max Preinfalk, der Staatsanwalt, wurde plötzlich weich. »Ich frag sie. Wie ich sie kenne, nimmt sie mit Freuden das kleine Würmchen!«

Er informiert die eingetroffenen Kollegen, »Wir nehmen das Kind zu uns. Da ist es doch sicher besser aufgehoben als bei der Fürsorge!«

»Gehen wir, Schilling, ich ruf daheim an.«

2

Preinfalks Haus ist eine Zufluchtsstätte an den Abhängen in Neuwaldegg, am Rande der Stadt in den Wienerwald hinein. Das alte Haus strahlt Ruhe, Zufriedenheit aus. Als ehemaliges Landhaus aus der Monarchie muss es über eine mit Weinranken bewachsene Holzveranda verfügen, die einen kühlen Ruheplatz nach der Hitze der Stadt verspricht. Das geht doch gar nicht anders. Aus den wild wuchernden Ranken und umgebenden, Schatten spendenden hohen Bäumen strömt eine kühle Feuchtigkeit.

Die Hausfrau, Maria, ihrem Mann in Größe und Freundlichkeit kaum nachstehend, hat gelernt, das Leben von der philosophischen Seite zu nehmen und nur die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu beachten. Eine Welle von Ruhe und Tüchtigkeit geht von dieser Frau aus.

Wie sie ankommen, wacht das Kind auf. Und wird sofort von der Mütterlichkeit der Maria in Beschlag genommen. Sie nimmt die Kleine mit der Trage hoch und verschwindet mit ihr im Haus.

»Soll ich dir helfen«, ruft ihr Mann.

»Nein, nein, ich komme schon zurecht. Sie ist nur hungrig, die Kleine!«

»Ja ja, du schaffst es schon!«

Er grinst etwas hilflos, entspannt. Er weiss, was es für seine Frau bedeutet, ein Kindchen zu versorgen, zu umhätscheln! Wie viele Jahre hatte er, hatten sie beide auf so einen Augenblick der Freude gewartet, des Glücks, ein Kind hier bei sich zu haben. Er weiß, wie es seiner Frau jetzt zumute ist, was sie fühlt.

Schilling zieht seine Jacke aus, wie auch Max getan hatte. Schon Jahre sind sie befreundet. Er, der etliches über die Fünfzig hinausgehende Staatsanwalt, mit dem gut zwanzig Jahre Jüngeren. Und seit zu dieser Freundschaft noch Fritzi, Schillings ›Verlobte‹, wie er zu sagen pflegt, dazu gestoßen ist, sind sie noch enger verbunden. Preinfalk, fast noch mehr seine Frau, sind ein wenig zu Ersatzeltern geworden.

Schilling hat sich, seit er in der Beziehung mit Fritzi lebt, völlig gewandelt. Die junge Polizistin, nebenbei eine strebsame Studentin der BWL, hat den immer auf höchsten Touren laufenden Kommissar umgemodelt. Zum Glück, das er mit ihr gefunden hat, kam die Entspannung. Die Ruhe, die Schilling nun verbreitet, ist in Fritzi, seiner Fritzi, begründet.

Beide, der Ältere und der Jüngere, sitzen auf der Veranda dieses heimeligen Hauses. Max hat Sam eine leichte Zigarre angeboten, wortlos rauchen beide. Nach einer Weile stößt Maria zu ihnen, ihre Augen strahlen die Männer liebevoll an.

Maria Preinfalk ist keine Frau, die mit allen Tricks ihr Alter verbergen will. Keinen Beautysalon hatte sie je von innen gesehen, trotzdem ist sie, oder gerade deswegen, schön. Eine große, kräftige Frau, die Freundlichkeit, die Liebe verbreitet. Sie freut sich ihres Lebens, das sie an der Seite ihres Mannes verbringt. Das Schicksal hat sie hart auf die Probe gestellt, das ersehnte Kind war ihnen versagt geblieben. Sie haben auch dies überwunden. Überwinden müssen!

Schilling, und nun auch Fritzi, fühlen sich immer sehr wohl, wenn sie bei Preinfalks zu Gast sind. Sie wacht über ihn, nun auch über Fritzi, mit einer behutsamen Besorgtheit. Jedoch mit genügend Takt, um ihre Nase nicht in deren Angelegenheiten zu stecken.

Sie setzt sich wie selbstverständlich auf die Armlehne seines breit ausladenden Lehnstuhles. Max fragt sie, »Maria, konntest Du etwas herausfinden?«

»Die Mutter des Kindes muss sehr gewissenhaft sein! In der Tasche unter der Kinderliege war eine Broschüre über Kinderernährung und Pflege. Dann ein Päckchen mit Kindermilch, ein Fläschchen, passende Nahrung, ein kleiner Löffel, ja sogar der Mutter-Kind-Pass ist dabei.«

»Das klingt ja, wie wenn alles vorbereitet worden wäre!«, wirft Schilling ein.

»Und der Trolley, den wir dir gegeben haben?«

»Da habe ich nicht hineingesehen. Ich dachte, es wäre besser, wenn Sam dabei wäre. Du, mein Herr und Gebieter, kannst ja sitzen bleiben und weiter dem Laster des Rauchens frönen«, vermeldet sie mit einem Lachen im Gesicht.

»Sam, da siehst du wieder einmal, wie ich unterdrückt und geknebelt werde. Madame will mich nicht dabei haben, wenn es ums Eingemachte geht«, grinst Max hinterlistig.

Sam Schilling steht vermeintlich gehorsam auf und folgt der Freundin. Jetzt wäre es gut, Fritzi hier zu haben, geht ihm durch den Kopf. Der Polizeipräsident hatte Fritzi bis zum Uni-Abschluss freigestellt, und die paar Wochen noch, wird er schon aushalten ohne sie. Auch wenn es sehr schwerfällt.

Es dauert keine fünfzehn Minuten und er kommt auf die Veranda zurück. Mit einigen Papieren fächelt er sich Luft zu, und fragt zu Max gewandt: »Kannst du eine Überraschung vertragen?«

»Was ist den los?«

»Die Mutter ist wirklich Minichs Frau! Und das Kind ist seine vier Monate alte Tochter Ruth!«

»Also doch Franz Minichs Frau«, ruft Max erstaunt aus.

»Jawohl, ich hab es am Telefon richtig verstanden, Minichs Frau Michaela!«

»Aber-, aber ich stellte sie mir als eine junge, hübsche Frau vor!«

»Das ist sie auch! Im Trolley fand sich ein Hochzeitsfoto. Auch die Hochzeitsurkunde!«

»Wann haben sie denn geheiratet? Und wo?«

»Die Urkunde ist in München ausgestellt. Auch das Foto zeigt das bekannte Rathaus im Hintergrund. Und die Hochzeit war vor sechzehn Monaten! Schau es dir an!«

»Wow, ein schönes Paar! Der Minich kann aber sein Alter nicht verbergen, würde ihn so um die Fünfzig, sicher noch keine Sechzig schätzen. Und hat schon einen Schlaganfall erlitten! Schrecklich! Als frischgebackener Vater!«

»Das war aber kein professioneller Fotograf, der das Foto gemacht hat«, sagt Schilling abfällig. »Schau doch, nicht einmal richtig scharf ist es!«

Der Portier im Maria Theresien-Schlössel im 19. Bezirk schickt die zwei Ankömmlinge auf die Bettenstation hinauf. Schilling bittet ihn noch, den Professor zu verständigen.

Als sie im zweiten Stock ankommen, treffen sie schon auf Prof. Hans Bandon. Wie wenn er sie erwartet hätte!

»Kommissar! Wie nennst du dich? Schilling, Doktor, Kommissar? Hab dich schon lange nicht mehr gesehen!«

»Grüß dich, ist ja schon fast ein Jahr her, als wir uns zum letzten Mal getroffen haben! War das nicht in einem Konzert?«

»Im Musikverein. Solistenkonzert. Und der Florez hat gesungen!«

Schilling hat ihn immer schon bewundert, wie er sich alles so merken kann. Muss ja wohl! Neurologe!

»Nun aber zu dem Herrn Minich. Ich muss dir leider mitteilen, er ist vor einer guten Stunde verstorben! Der zweite Anfall war zu viel für ihn. Und,« zu Preinfalk blickend, »darf ich überhaupt dies vor Ihnen sagen?«

»Ich habe mich nicht vorgestellt: Staatsanwalt Dr. Preinfalk.«

»Gut, grüß Gott. Der erste Anfall vor gut einer Woche war schon arg gewesen! Er ist viel zu spät zu uns gebracht worden. Die ersten Stunden sind ausschlaggebend! Nach vier, fünf Stunden sind irreparable Schäden zu erwarten. Außerdem war er schwer herzleidend, die Herzkranzgefäße waren massiv verkalkt.«

»Hat er noch etwas sagen können, bevor er verstarb?«

»Klang so, wie die Schwester berichtete, als müsse er die Polizei sprechen. ›Polizei - Schilling’ hat er gemurmelt.«

»Und dann?«

»Schwester Barbara meint, auch noch ›Schlüssel‹ verstanden zu haben. Dann ist er eingeschlafen, für immer.«

»Herr Professor«, sagt Staatsanwalt Preinfalk, »wir brauchen noch alle Daten von ihm. Wo er wohnte, wo er gefunden worden war, nächste Verwandte und so!«

»Schwester Barbara!«

Professor Bandon dreht sich zur Stationsschwester um. »Gibt es Schlüssel, Papiere oder andere Wertsachen?«

Wortlos holt sie diese aus einem Fach des immer abgeschlossenen Kastens.

»Können wir einen Blick auf den Verstorbenen machen?«, drängt Schilling.

Die den Vorfall am Bahnhof untersuchenden Polizeibeamten, Inspektor Stahl und seine Kollegin, melden, ja, dass sie eigentlich nichts zu melden hätten! Auch vor dem Bahnhof bemerkte niemand etwas Ungewöhnliches. Alle Taxler wurden befragt. Nichts, absolut nichts von Interesse.

»Max«, stellt Schilling fest, als sie ins Auto einsteigen, »es ist ein Mysterium! Diese Sache mit dem Kind und der vermeintlichen oder wahren Entführung!«

3

Es ist kaum kühler geworden. Bewegungslos brütet die heiße Luft auf der weiten Ebene. Kein auch nur zaghaftes Lüftchen regt sich.

Das einfache Haus steht hier. Ein kleiner, bescheidener Unterschlupf nur, einer von vielen in dieser nichtssagenden Siedlung im Marchfeld. Im Osten Wiens.

##»Etwas heruntergekommen«, meinte Schilling.

»Ja, sag’s ruhig, was du dir denkst: eine Bruchbude!«

»Und der hat eine junge hübsche Frau geheiratet?«

»Denk doch an das Hochzeitsfoto! In einem dunklen Anzug, mit passender Krawatte, da sieht er doch recht gut aus! Ob er da als Schwarm für hübsche, knusprige Frauen durchgehen mag, wollen wir mal dahingestellt lassen«, schmunzelt Schilling.

Nur schlecht und recht ist die Haustür mit Kette und Vorhängeschloß gesichert. Kein Einbrecher würde freiwillig hier einsteigen, denkt Max. Sie gehen durch den verwilderten, verdorrten Garten, da kommt schon der direkte Nachbar auf sie zu. Der ältere Herr schaut neugierig, aber doch etwas zweifelnd über den brüchigen Gartenzaun. Nachdem Schilling sich ausgewiesen hatte, kennt seine Geschwätzigkeit aber keine Grenzen mehr.

»Der Minich ist schon eine, eher sogar zwei Wochen nicht mehr hier gewesen«, berichtet er, »wie ich das letzte Mal ihn gesehen habe, bat er mich, ein wenig aufs Haus ein Aug zu haben. Vorige Woche hab ich dann bemerkt, dass die Türe nicht abgesperrt ist. Hineingehen wollte ich aber doch nicht. Hab nur geöffnet, der Blick hinein hat mir schon genügt!«

»Warum«, meint Preinfalk?

»Naja, schauen Sie selbst nach. Die Tür war ja offen, ich habe dann ein Schloß angebracht, warten Sie bitte, ich hole gleich den Schlüssel! Bevor ich es vergesse, gestern abends war seine Schwester da und hat sich von mir öffnen lassen. Sie haben dann noch etwas auf ihn gewartet, wie sie sagte.«

»Seine Schwester? War da wer mit ihr?«

»Ja, ihr Mann, wie er sagte. Ich nehme es zumindest an. Sie ist aber eine ausgesprochen unangenehme Person!«

Schilling stößt die Türe auf. Ein kurzer, düsterer Gang empfängt sie. Links eine weit offenstehende Klosetttüre, der gegenüber ein paar Kleiderhaken an der nackten Mauer angebracht sind. Zwei abgetragene Jacken harren voll Staub und Schmutz ihrer entgültigen Entsorgung. Preinfalk findet den Lichtschalter. Eine von der niederen Decke herunterhängende einfache Lampe flammt auf und verbreitet trübes Licht.

Zwei weitere Türen werden nun sichtbar. Und ein sehr schmaler Stiegenaufgang. In Waidhofen würden sie es als ›Hendlsteigen‹ einordnen, meint Max. Die verglaste Tür geradeaus führt sie in eine Art Wohnküche, die auch als Bad dient. Ein Tisch, drei Sessel, seitlich ein Herd, elektrisch, aber kaum mehr vertrauenerweckend. Ein vierter Sessel, nur mehr mit drei Beinen ausgestattet, lehnt verlassen, aber genauso verdreckt, an der Mauer.

Schilling deutet auf den E-Herd, »Was meinst, Max, was geschieht, wenn ich den einschalte. Dann ist ganz Wien Stunden ohne Strom! So ein durchgerostetes Ding hab ich schon lang nicht mehr gesehen!«

»Sichtlich hat dies auch der Minich gewußt, da steht daneben noch so eine Gasflamme.«

Max macht den redseligen, sonst aber freundlichen Nachbarn aufmerksam, das es sich sich um eine polizeiliche Untersuchung handle. Er müsse daher draußen bleiben.

»War ja immer offen gewesen. Wenn es mich interessierte, hätt’ ich schon Hundertemale hereingehen können«, brummelt er vor sich hin und verlässt etwas widerwillig das Haus,

In dem einzigen, halb offen stehenden Schrank im Zimmer sind Reste von Lebensmittel. Ein steinhartes Brot, das auch den hartnäckigsten Insekten Paroli geboten hat, »und Termiten gibt es bei uns nicht«, sagt Max, »das Brot da hat sogar der Schimmel verweigert«!

Noch ein Marmeladeglas, dessen Deckel achtlos danebenliegt und ein schludrig aufgerissener Zuckersack. Eine Dose Kondensmilch, deren verkrustete Löcher oben, wie auch bei Zucker und Marmelade, die Endpunkte rege beanspruchter Ameisenstraßen darstellen. Ein paar Töpfe noch und einige angeschlagene Teller runden den Schrankinhalt ab.

Die verschmutzte Pfanne, deren Reste auch einen gewiegten Forensiker auf Granit beißen ließe, steht neben der Gasflamme. Viel mehr ist hier nicht. Ja, noch der Kühlschrank! Innen wie außen von einer grünweißlich gefleckten Patina heimgesucht, deren künstlerische Aussage es ohne weiteres mit so manchen Graffitis an Hauswänden aufnehmen kann. Vom verschimmelten Obst, einem Salatkopf, der vor Wochen schon seine besten Zeiten erlebt hatte und von der gläsernen Butterdose, deren Inhalt…, reden wir nicht davon.

Max öffnet die zweite Tür, nur eine kleine Kammer. Ein angerostetes, eisernes Rohrbettgestell, das einstmals weiß gewesen sein könnte, steht an die Wand gerückt. Bedeckt von einer undefinierbaren Matratze, einem Leintuch, das irgendwie an das Turiner Grabtuch Erinnerungen weckt. Eine Decke liegt halb am Boden, daneben der fleckige, dekorativ mit Staub angezuckerte Polster. Unter dem Bett, nur wenig hervorlugend, ein elend verschmutzter Teppichläufer. Max’s sarkastischer Kommentar: »Das einzige, was hier läuft, sind Käfer und Ameisen!«

Sam stößt die andere Türe auf.

Gegenüber dieser hängt ein Regal mit einigen Hemden, Pullovers, Unterwäsche an der Wand. Und Hosen. Auch darüber sollte geschwiegen werden.

In einer Ecke des kleinen Raumes liegt ein altmodischer Koffer flach am Boden, und auf diesem ein drittklassiger Reisekoffer aus Pappe mit Imitationslederecken. Des Weiteren steht hier eine große Packkiste. Die nach Anbringen von Scharnieren zur Truhe mutiert ist. Dann noch ein versperrter, früher so allgegenwärtiger, mannshoher Überseekoffer. Alles knapp nebeneinander aufgereiht. Ja, noch zwei kleine Fenster, die jeweils nur wenig Licht in den Raum einlassen. Ob diese jemals einer Reinigung unterzogen worden waren, wird allzeit ein ungelöstes Geheimnis bleiben.

Außer der übermäßigen Hitze, die in der stickigen Luft steht, ist hier sonst nichts mehr. Und die Hitze ist bestialisch. Wie in einem Backofen! Schilling versucht, die zwei Fenster zu öffnen, was ihm nur unter Einsatz beträchtlicher Kräfte gelingt. Nun aber verliert die Sonne den Kampf gegen die dichten Webgeflechte, die außen und auch innen fleißige Spinnen in mühseliger Arbeit aufgebaut und nun durch das Aufdrücken der Fensterflügel einen Teil ihrer Pracht einbüßt haben.

Aber, eine ›normale‹ Unordnung einberechnet: Nichts war durchwühlt, auch die Koffer sind nicht bewegt worden. Der allgegenwärtige Staub stellt dies unter Beweis.

Die Stufen hinauf führen in einen einzigen Raum. Vom Herrn Minich wohl als Abstellkammer benützt.

Max, ganz und gar Staatsanwalt, »Wir müssen aufhören, hier herumzustöbern! Herr Minich ist eines natürlichen Todes, an einer Krankheit gestorben. Es liegt kein Verbrechen vor! Das ist Sache der Erben, nicht unsere!«

»Aber seine Frau ist verschwunden, ja ich könnte davon ausgehen, dass sie entführt worden ist! Denk an den Anruf bei mir, denk an das Kind, das deine Frau unter ihre Fittiche genommen hat!«

»Hast schon recht! Das Kind muss doch zur Mutter zurück!« Auf irgendeine Weise leuchten die Gesichtszüge des großen Mannes. Mit voller Wucht hat ihn der Gedanke getroffen: Was wäre, wenn die Mutter nicht mehr auftauchte? Wenn sie das Kindchen behalten könnten! Für immer?

»Die Kindsmutter ist doch die Erbin. Den Heiratsschein haben wir ja gesehen. Und die ist nun verschwunden. Ob ein Verbrechen vorliegt, ist noch nicht geklärt. Aber doch anzunehmen! Das Telefonat, denk dran! Wir müssen die Sachen des Ehemannes durchsuchen. Vielleicht ergibt sich daraus ein Anhaltspunkt, wo die Frau und Kindesmutter ist?«

Max stimmt zu, »Ich kann es dir ja ansehen, wie sehr es dich juckt, hier in den Sachen zu wühlen! Ich ordne es als von Rechts wegen an! Okay?«

Was in Schillings Ohren wie ein Startschuss gellt! Der im Spital ihm von der Stationsschwester ausgehändigte Schlüsselbund findet hier ein passendes Gegenstück. Das Schloß des voluminösen Überseekoffers lässt sich anstandslos öffnen.

»Mein Gott, da ist der Hochzeitsanzug! Ein weiterer Anzug, Hosen und Sakkos, makellos zusammengelegte Hemden, Unterwäsche in bestem Zustand! Und Sockenfetischist muss er auch gewesen sein.«

Nach dem, was sie bisher im Haus sahen, ist die Überraschung groß! Schilling kommt aus dem Staunen nicht heraus: Unter den Kleidungsstücken waren offene, saubere Konservenbüchsen versteckt.

»Max, Max, das musst du dir anschauen! Konservenbüchsen voll Geld! Nichts als Scheine! Lauter Hunderter und Zweihunderter! Auch eine Büchse vollgestopft mit Fünfhunderter. Ein Vermögen liegt hier!«

»Jetzt müssen wir doch die Kollegen von der Spurensicherung herbitten! Das riecht hier direkt nach Schwarzgeld! Geldwäsche!« Schilling hat das Telefon schon am Ohr und gibt an die Kollegen in der Polizeidirektion alles durch.

»Das schlägt dem Faß den Boden aus! Das Haus eine wahre Bruchbude, und dann Bargeld wie Heu! Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen! Da ist etwas faul an der Geschichte!«

»Das wird einen netten Streit um die Erbschaft geben«, lässt Schilling verlauten, »seine Schwester ist doch in diese Fahrerfluchtgeschichte verwickelt! Die Frau Graf aus Waidhofen, deren Auto gestohlen worden ist. Max, du bist doch Jurist: Es ist doch der Fahrer und nicht der Fahrzeughalter verantwortlich? Oder kann da auch eine Mitschuld des Fahrzeugbesitzers konstruiert werden?«

»Wenn sie beweisen können, dass das Auto gestohlen worden war, sind sie sicher aus dem Schneider!«

»Die weißen Overalls sehen«, sagt Max mit einem maliziösen Lächler auf den Lippen, als er die Leute von der Spurensicherung beobachtet, »wenn man es ehrlich betrachtet, zu putzig aus! Warum sind die nicht schwarz, oder gestreift, so rot-weiß-rot! Wäre doch zu überlegen«, lachte Max nun laut. »Die integrierten Kapuzen sind ›tres chic‹! Unsere Innenministerin sollte doch mal mit Karl Lagerfeld reden, sie selbst ist ja auch immer so elegant gekleidet.«

Fachgerecht, trotz der lästernden Worte des Staatsanwaltes, nehmen sie das Haus unter die Lupe. »Kollegen, wenn ihr sichtbare Fingerabdrücke im Staub findet, dann sind die von uns«, ruft Schilling laut durchs Haus.

Viel Bargeld finden sie in diesem vergammelten Haus!

Etwas müde stehen sie, für die Forensikern eher hinderlich, herum, als eine helle Frauenstimme erklingt. Im Gefolge der eingetroffenen Beamten kam, Schilling hatte es schon fast erwartet, Susi Palmer. Sue, wie man sie land-auf - land-ab nennt, ist ein ungemein fröhlicher Typ, trotz, oder grad wegen ihrer Profession: Starreporterin beim Tagblatt! Sue hatte schon des Öftern mit Schilling zusammengearbeitet. Und immer zur Freude beider.

»Hallo! Den zwei Doktoren Gott zum Gruß! Vor euch steht ein Mädchen auf der Suche nach Liebe«, zu Schilling blickend, »naja, korrigiere mich, mehr doch nach Neuigkeiten!« Ja ja, Sue hat den Film ›Notting Hill‹ verinnerlicht. Mehrmals! Vor Jahren einmal sogar mit Schilling. Und eine Ähnlichkeit mit Julia Roberts ist ihr ganz gewiss nicht abzusprechen. Zumindest kann sie ebenso einladend lachen. Und auch weinen, wie Schilling aus leidvoller Erinnerung noch weiß.

Schilling und Preinfalk begrüßen sie herzlich. Beiden ist die agile, nicht mehr so ganz blutjunge Reporterin sympathisch. Bei Schilling soll es auch schon einmal mehr gewesen sein. Sagt man. Und wenn sie ihre Freude gar nicht mehr zähmen kann, streckt sie sich in die Höhe, balanciert fast auf den Zehenspitzen, bis sie den beiden ein Begrüßungsküsschen auf die Wange zaubern kann.

»Hätte dich gerade anrufen wollen! Du musst für uns was kundmachen«, sagt Schilling bewundernd. An ihrer Figur fand er immer Gefallen.

»Vor den anderen Zeitungen? Immer. Sehr gerne!«

»Wer hat dir den Tip gegeben, hierherzukommen?«

»Ach, es zwitschert so heftig im Netz, wenn Preinfalk und Schilling gemeinsam auf Verbrecherjagd sind! Was geht hier ab? Und das Baby am Bahnhof? Ganz Wien spricht schon davon! Schilling, mein lieber Doktor Schilling, du bist mir noch einen verwertbaren Hinweis schuldig! Du erinnerst dich doch!«

»Jaja, ich vergeß es nicht. Du bist aber auch immer früher als die restliche Medienmeute da!«