Mira - Wo bist Du - A.K. Schmidt - E-Book

Mira - Wo bist Du E-Book

A.K. Schmidt

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Beschreibung

Rücksichtlos drehten sich die Zeiger auf der großen Bahnhofsuhr weiter und ließen Colin wie einen Narren tanzen, ganz gleich was er auch tat, sie würden sich nicht aufhalten lassen. Als Colin vor Mira stand, musste er mit ansehen, wie er sie einfach mit sich riss. Er konnte nichts tun, außer zuzuschauen. Juri hatte fünf Jahre auf diesen Tag gewartet. Seine Leiden, seine Schmerzen waren endlich gestillt. Er schloss Mira fest in seine Arme und war eher bereit zu sterben, als sie noch einmal aufzugeben. Egal wie weit Colin auch gehen würde, egal wer an seiner Seite kämpfte, Juri war ihm immer einen Schritt voraus und ließ ihn weiter tanzen, wie einen Narren. Hagen war ein junger Ermittler, war brillant in dem was er tat, doch an dem Tag als Mira verschwand und er den Fall übertragen bekam, konnte er nicht ahnen, welche Lawine da auf ihn zurollte. Es gab keine Zeugen, keine Beweise, keinen Anhaltspunkt, nur einen verzweifelten Mann voller Geheimnisse. Hagen wollte die Wahrheit finden, das Mädchen, doch stattdessen verlor er den Glauben, an dem, was er tat. Nach "Mira - Wer bist du?" und "Mira - Schatten" folgt nun "Mira - Wo bist Du?". Ein spannender Krimi, der dich verzweifeln aber auch hoffen lässt.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Es war einmal…

Kapitel 2: Mittwoch, der 24. September 1997

Kapitel 3: Die Zeit läuft ab

Kapitel 4: Der Aufruf

Kapitel 5: 18 Stunden

Kapitel 6: Vater

Kapitel 7: Schonungslos

Kapitel 8: 48 Stunden

Kapitel 9: Aufgetaucht

Kapitel 10: Und wenn Schatten bleiben

Kapitel 11: Tage der Ungewissheit

Kapitel 12: Lebendig oder tot

Kapitel 13: Das Rabenkind

Kapitel 14: Der letzte Ruf

Kapitel 15: Lauf

Kapitel 16: Ein nicht enden wollender Albtraum

Kapitel 17: Ein Neuanfang für jeden Einzelnen

Kapitel 18: Lähmende Wahrheit

Kapitel 19: Familienidylle

Kapitel 20: Finde dein zu Hause

Kapitel 21: Stimmen, die stärker werden

Kapitel 22: Das letzte Geleit

Kapitel 23: Einsame Sehnsucht

Kapitel 24: Erste Geschenke

Kapitel 25: Falsche Fährte

Kapitel 26: Aufrappeln

Kapitel 27: Der Feind in mir

Kapitel 28: Blinder Hinweis

Kapitel 29: Wie du mir, so ich dir

Kapitel 30: Zeiten ändern sich

Kapitel 31: Neue Familie

Kapitel 32: Schlaf gut

Nachwort

1

Es war einmal…

Juri war erst zwölf Jahre alt und ein ungeliebtes Kind. Seine Mutter war tot und sein Vater ein Schläger. Jeden Tag spürte Juri seine Wut, einen Grund gab es selten, nur blinder Hass, der über ihn einprasselte.

Doch heute wird es hier enden! Juri ließ sich dieses Mal nicht in den Schuppen treiben, um sich misshandeln zu lassen, er war bereits freiwillig hier und wartete. Er blieb ganz ruhig und saß auf einem Baumstumpf, als sein Vater nach Hause kam. Es war schon spät, halb zehn. Wie jeden Tag konnte er vor Suff kaum reden und stolperte über die Holzscheite zur Tür hinein. Schäumend vor Rage fluchte er über Himmel und Hölle und sah Juri hasserfüllt an.

„Du scheiß Kerl! Du hast gefälligst an der Tür zu stehen, wenn ich komme! Warum bist du nicht im Haus und hast mir Essen zubereitet, wie ich es dir aufgetragen habe? Du Taugenichts! Früher hätte man dich vergast! Warum bestraft mich Gott mit dir? Was glotzt du so blöd. Ich hau dir gleich eine in die Fresse. Vielleicht antwortest du mal! Was treibst du hier im Schuppen? ..."

Es waren die letzten Worte seines Vaters. Juri stand auf, behielt zögerlich die Hände hinter dem Rücken, holte dann aus und traf ihn mit der Axt mitten ins Herz. Der erste Schlag sollte eigentlich sein Gesicht treffen, doch Juri wollte seine überraschten Augen sehen. Ungläubig ging der Alte zu Boden, Blut lief ihm aus Nase und Mund. Er röchelte und japste, griff noch nach ihm, da traf ihn der zweite Schlag am Hals und brachte ihn zu Boden. Der Abend endete im Blutrausch. All die Jahre der Demütigungen, des Hasses brachen über den alten Mann herein und zerlegten ihn in Einzelteile. Er sollte jeden Moment fühlen und Juri gab sich erst zufrieden, als er ihn komplett vernichtet hatte. An diesem Tag endete Juris Kindheit und übrig blieb ein verwaistes Kind, das keine Angst mehr hatte.

Noch in jener Nacht floh er von diesem grausigen Ort und irrte wochenlang durch die Wälder nahe der Küste. Er lebte von Äpfeln und Resten aus der Mülltonne, gaunerte sich so durch, bis er durch Zufall ein neues zu Hause fand. Tief im Wald, fernab, gab ihm ein altes verlassenes Militärkrankenhaus aus Kriegstagen Unterschlupf. Hier war er der Hausherr und ein König. Niemand vermochte ihn zu maßregeln und so dienten ihm die verlassenen Gemäuer als treue Untertanen. Juri genoss die Einsamkeit. Tagsüber spielte er in alten OP-Sälen und Kellergewölben, des Nachts legte er sich auf die Lauer und verteidigte seine Burg vor unerwünschten Besuchern. Endlich war er frei und machte das, wonach ihm war. Nie wieder Tränen oder Angst, nie wieder Schläge oder Verletzungen, es war vorbei und keiner sollte ihn je wieder verletzen dürfen.

Den ganzen Sommer über bekam ihn keine Menschenseele zu Gesicht, doch der eisige Winter vertrieb die gute Laune und lehrte schmerzhaft Hunger und Kälte. Schweren Herzens verstand Juri, dass er hier nicht bleiben konnte und so machte er sich auf den Weg in die Stadt.

Danzig war keine riesige Metropole, doch groß genug, um in der Masse zu verschwinden. Es dauerte nicht lange und Juri fand Anschluss bei den Jugendlichen in seinem Alter. Schließlich war er groß geraten, wirkte älter als die meisten und machte durch waghalsige Aktionen von sich reden. Seine eisblauen Augen schüchterten viele ein. Juri war zwar zu der Zeit noch hager, dennoch wusste er schon damals, wie er sein Willen bekam. Er schlief mal hier, mal da, verdiente sein Geld durch krumme Geschäfte und gewann an Ansehen im Untergrund.

Die Jahre zogen ins Land und aus dem blassen Jungen wurde ein stattlicher Mann. Er trainierte sich ein dickes Fell an. Sein zu Hause wurde der Trainingsraum, der Expander definierte seine Kapuzenmuskeln, der Sandsack schleifte die Fäuste und die Gewichte stemmten seine harte Brust. Schon bald lehrte er jedem Furcht, der ihn früher noch verhöhnte. Er gefiel sich in der Rolle des kalten Kriegers. Sein Spiegelbild ließ den traurigen Jungen verschwinden, nichts erinnerte mehr an das schwache Kind. Juri war der Hilflosigkeit entwachsen und bereit für mehr. Sein Traum war es irgendwann einen Mercedes zu fahren, er wollte unzählige Frauen um sich scharen und Geld, so viel man haben konnte. Doch für diese Träume war die Stadt zu klein. Schon bald erhörte jemand seinen Wunsch und verführte mit großen Versprechungen.

Bohdan, ein Mann, der ihn in einem Nachtclub kennenlernte, spürte Juris Sehnsucht nach mehr. Er war Juri in Statur und Einfluss ähnlich, daher war es für ihn ein leichtes sein Vertrauen zu gewinnen. Bo wusste, dass er der Richtige für den Job war und legte die perfekte Spur nach Kiew. Wochenlang lag er ihm in den Ohren, dass er an einer großen Sache dran wäre, man nur dort Geld wie Heu verdienen könne und das, ohne auch nur einen Finger zu rühren! Wen hätte das nicht gelockt? Und so packte Juri seine Koffer und begleitete ihn, ohne eine Ahnung zu haben, um was es eigentlich ging.

Fast 15 Stunden waren sie unterwegs. Die Autofahrt fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Bohdan redete ununterbrochen, fuhr wie ein Waschweib und ließ sich nicht hetzen. Es war schon spät abends, als sie die Millionenstadt erreicht hatten.

Und da stand Juri nun verlassen auf dem Parkplatz, wartete vor einer alten Villa auf Bohdan und verfolgte unzählige Frauen, die aufreizend das Haus verließen. Die Müdigkeit hing ihm bereits wie Blei in den Knochen und sein sehnlichster Wunsch war es eigentlich nur noch sich aufs Ohr zu hauen, als sich plötzlich die schwere Tür wieder öffnete.

„Komm rein!“, winkte ihm Bo zu und führte ihn durch den riesigen Eingang direkt in ein Foyer. Mehrere Schlösser klackten hinter seinem Rücken und Juri sah sich irritiert um. Ein Dreikäsehoch, kaum größer als ein Sandsack, stand in seiner Bomberjacke aufgeplustert vor ihm, strich sich über die Glatze und schob die Sonnenbrille über den Nasenrücken.

„Das ist Juri, Artem! Und was sagst du?“

Arrogant inspizierte Artem den neuen Mann und grübelte.

„Ja, der macht was her ... Aber ich bin mir nicht sicher!“

Angenervt formten sich Juris Augen zu engen Schlitzen. Bedrohlich senkte er seinen Kopf und ließ die Kaumuskeln spielen.

„Entweder du sprichst mit mir direkt oder ich gehe. Ich bin müde, du Penner und Bo ist nicht meine Mutter!“

„Genau deshalb Bo! Der Typ ist fast zwei Köpfe größer, als ich. Warum soll ich mir jemanden ins Geschäft holen, der mir gefährlich werden kann?“

Alles schien unter Kontrolle, Juri grinste noch, doch dann griff er blitzschnell zu und packte Artem mit einer Hand am Kragen.

„Ich lass mich nicht verarschen und mir meine Zeit stehlen. Also, welchen Job hast du für mich?“

Die Reaktion war die gefürchtete! Artem schluckte zähneknirschend und schob die Faust von sich weg. Er kaute auf der Zunge und lief dann zur Küche. Schweigend folgten Juri und Bo, setzten sich zu ihm an den Tisch und nahmen sich jeweils eine Zigarette aus dem Päckchen.

„Es ist ganz einfach ... wir finden die Mädchen, geben ihnen ein zuhause, im Austausch dafür müssen sie für uns arbeiten. Sie bekommen für lau Drogen, Klamotten oder Suff, um ihre Fröhlichkeit zu behalten!“, er lächelte verachtend, „... und wenn sie das Geld nicht erwirtschaften, sperren wir sie in den Keller. Wir brauchen Männer, die sie rund um die Uhr im Auge behalten.“

Artem holte aus der Tasche ein kleines Tütchen und schniefte das weiße Pulver.

„Auch was davon?“

„Ich nehme keine Drogen!“, antwortete Juri knapp und blickte sich um. Einige der Mädchen kamen zur Tür hinein. Sie waren in einem erbärmlichen Zustand, verwahrlost, schienen wie weggetreten. Juri war öfter im Puff, doch von denen sah keine der Frauen so schlecht aus. Die Mädchen wirkten kaum älter als 14, doch hatten Augenringe, als wären sie Ende 50.

„Vielleicht solltest du ihnen statt Drogen Essen geben!“, kommentierte Juri ihre Anwesenheit und entzündete seine Zigarette.

„Mit vollem Magen lässt es sich nur schwer arbeiten. Aber gut, lassen wir das. Du wirst schon noch verstehen, warum. … Also, besprechen wir den wichtigen Teil. Das zahle ich dir die Woche!“

Artem riss ein Stück von der Zeitung ab und notierte eine Zahl, dabei verengten sich Juris Pupillen. Das, was da stand, verdiente er manchmal nicht im ganzen Monat. Ohne mit der Wimper zu zucken, nickte er gleichgültig und stand auf. Die beiden Mädchen kicherten noch verlegen und lächelten ihn an, als er an ihnen vorbei ging. Sie hatten nur noch verfaulte Stumpfe im Mund und Juri hätte kotzen können. ‚Wer will sowas ficken‘, dachte er noch bei sich und holte seine Tasche.

In den darauf folgenden Wochen kapierte er langsam, was hier vor sich ging. Der Typ veranstaltete Menschenhandel abartigster Sorte. Sie verschleppten ahnungslose Straßenkinder, setzten sie unter Drogen, misshandelten sie und ließen sie für sich anschaffen. Das Geld behielten sie und lebten wie die Made im Speck. Juri war es egal. Ihm taten die Kinder leid, doch so war es eben, fressen oder gefressen werden! Gleichgültig machte er einfach nur seinen Job und fuhr die Mädchen zum Anschaffen auf die Straße, wachte über sie und setzte sie des Abends wieder ab. Wenn sich die anderen Männer an den Kindern vergingen, sah er weg und zog sich auf sein Zimmer zurück. Es war eben nur ein Job und mit allem Anderen wollte er nichts zu tun haben.

Drei Monate in dieser Hölle hatten Juri abgestumpft. Er glich sich immer mehr an, sah die Mädchen nur noch als Ware, ihr Leiden berührte ihn nicht länger. Grimmig achtete er nur auf sein Geld und phantasierte über Goldketten und große Autos, als plötzlich, eines Nachts unerwartet, ein Kopf auf seinen Schoß sackte. Das Mädchen saß auf der Rücktour neben ihm und war vor Erschöpfung an seiner Seite eingeschlafen. Angewidert blickte Juri an sich hinunter, wollte schon nach ihrem Nacken greifen, da fühlte das Mädchen nach seinem weichen Pullover, lächelte im Schlaf und kuschelte sich auf seinen Schoß ein. Ihre blonden Haare purzelten in breiten Strähnen über ihren Kopf und ihr zarter Hals entblößte die nackte Haut. Wohlig klammerte sie sich an ihm fest, seufzte und schlief tief und fest. Juri spürte ihren Atem, wie dieser zufrieden ihren Brustkorb hob. Ihr lieblicher Geruch durchströmte seinen Körper. Es war, wie eine Droge, die blitzartig seine Venen infizierte. Noch nie hatte Juri so etwas gefühlt. Nur eine Berührung, dachte er, es ist doch nur ein Moment, wollte er glauben und doch veränderte es alles.

Als der Wagen hielt, hätte er sein Geld dafür gegeben, um diesen Moment andauern zu lassen. Stattdessen rissen sie sie aus seinem Schoß und nahmen sie mit sich. Von diesem Tag an wusste er, sie ist es, obwohl er nicht mal ihren Namen kannte!

Wie im Taumel erlebte Juri die folgende Nacht. Schlaftrunken wälzte er sich hin und her, fand kaum Ruhe bis zum Morgengrauen. Erschrocken über sich selbst und verzehrend nach diesem Gefühl, stand er mit der Zigarette am Fenster und war das erste Mal ratlos. Wenn man jemand verachtet, verletzt man ihn oder räumt ihn aus dem Weg, doch was macht man, wenn man sich verliebt? Juri kannte alle Formen von negativen Empfindungen, aber diese war neu. Kopfschüttelnd ging er unter die Dusche und sehnte schon jetzt die nächste Begegnung herbei.

Als sich die Mädchen am Abend im Gang versammelten, stockte ihm der Atem. Wieso war sie ihm vorher noch nie aufgefallen? Lieblich schlenderte sie über den weiten Flur. Sie war bildschön: ihre kleine Nase, die hohen Wangenknochen, der süße Mund. Was hätte er für ein Wort gegeben, stattdessen fuhr er sich nur aufgeregt über den Kopf und folgte ihr im Vorbeigehen. Der Moment war fast magisch, wenn dieser Artem nicht gewesen wäre. Wie ein Sklavenhändler schrie er, trieb die Herde mit sich und lotste sie zum Wagen. Genervt lief Juri hinterher und ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Sein Herz raste, sein Atem brannte. Immer in seinem Kopf die Frage, wann er ihr wieder nahe sein könnte.

Und so rannte er der Gruppe voraus und öffnete die Wagentür, half den Mädchen den Kleinbus zu besteigen und griff erlösend auch nach ihrer Hand. Sie war so weich und zart. Wie gern hätte er sie festgehalten, also zögerte er nachdenklich und so schaute sie irritiert auf. Ihre Blicke trafen sich und Juri schluckte. Die grünen Augen bohrten sich tief in sein Herz und machten es noch schwerer, als es zuvor schon war. Erschrocken ließ er ihre Hand los und sah verlegen weg. Gleichgültig schritt sie an ihm vorbei und setzte sich zwei Plätze weiter. Die ganze Fahrt über ruhte sein Blick auf ihr, immer mit dem Gedanke daran, sie auf der Rückfahrt wieder an seiner Seite zu haben.

Die nächsten Stunden waren eine Qual. Angespannt blickte Juri auf die verwaiste Straße und sein wartendes Mädchen. Tief im inneren hoffte er, niemand käme, um sie zu holen, doch da hielt schon der erste Wagen und seine Seele brannte. Am liebsten wäre er fluchend aus dem Wagen gesprungen, hätte dem Freier sonst was angetan, so verführerisch der Gedanke auch war, stattdessen blieb er ruhig auf dem Beifahrersitz sitzen und presste versteinernd seine Kaumuskeln aufeinander.

Um fünf Uhr morgens war der Albtraum dann endlich vorbei. Als sie nach getaner Arbeit den Bus bestieg und neben ihm Platz nahm, machte Juris Herz einen Sprung. Es dauerte keine Minute. Er legte die Hand über ihre Schulter und ließ sie sanft auf seinen Schoß sinken. Ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und war die Belohnung für sein Warten. In einem unbeobachteten Moment ließ er sich sogar dazu hinreißen über ihre Wange zu streicheln und hätte verzückter nicht sein können. Dieses kleine Mädchen war sein Frieden und schon jetzt wusste er, es müssten wieder 24 Stunden vergehen, um bei ihr zu sein.

Als der Wagen hielt, sein Mädchen schlaftrunken mit den anderen auf ihr Zimmer verschwand, sah er, wie einer der Männer ihnen folgte. So langsam dämmerte ihm, das das kein Freundschaftsbesuch werden würde und hörte noch, wie er mit ihnen diskutierte.

„... Eure Schicht ist noch nicht zu Ende. Jetzt bin ich dran!“, die Tür knallte.

Uneins mit sich selbst, lief Juri fluchend über die Gänge und hätte alles kurz und klein schlagen können. Was sollte er tun? Rein laufen und den Penner verprügeln? Nein, das war keine Option! Er zog an seiner Zigarette bis die Glut den Filter fraß und vergraulte jeden im Haus, der seinen Weg kreuzte. Letztlich stellte sich ihm Artem entgegen und rümpfte die Nase.

„Was ist? Was hast du für ein Problem?“

Furchteinflößend inhalierte Juri den Qualm und stieß ihn wie ein Teufel aus beiden Nasenlöchern hervor.

„Wenn ich mir eine aussuche ...“, dabei schlug er sich mit der Hand einschüchternd auf die Brust, „... dann kann nicht einer, deiner aufgeblasenen Idioten kommen und sich mein Mädchen nehmen, als wäre es ein Basar!“

„Es ist ein Basar!“, lachte Artem auf und fiel ihm ins Wort, „Hast du es ihm vorher gesagt?“

Juris Augen glühten.

„Sie hat im Wagen neben mir gesessen, ich hatte meinen Arm um sie gelegt, muss ich da noch etwas besprechen?“

Angespannt winkte Artem ab und rieb sich gereizt die Glatze.

„Ach, die kleine Polin meinst du?“

Juris Herz fing sofort wieder Feuer. Sie kam auch aus Polen, wie er? Welch ein Zufall! Wieder begann das Flattern im Magen, obwohl er zugleich versuchte sich seine Freude nicht anmerken zu lassen.

„... Ich glaube, sie heißt Mira, arbeitet noch nicht allzu lange bei uns. Wir haben sie von der Straße gelesen. Sie ist ein richtiges Zugpferd, die Kunden lieben sie.“, provozierte Artem grinsend und Juri wünschte sich sein Beil herbei. Da spürte Artem, dass Witz hier heute keinen Platz hatte und während er noch grübelte, was zu tun ist, beschworen ihn Juris Augen eindringlich.

„Schon gut, jetzt schau nicht so angepisst. Ich besorge sie dir. Wir wollen doch in unser Wohngemeinschaft nicht streiten, wegen so etwas!“

Dabei lachte Artem lauthals und lief zu dem Zimmer. Ohne ein Wort betrat er den Raum, griff nach Mira, die gerade von seinem Kollegen begrabscht wurde und führte sie mit sich. Rücksichtslos schliff er sie halbnackt den Gang entlang und präsentierte sie Juri wie ein Stück Ware.

„Hier! Ist sie das?“

Juri nickte, versuchte seine Freude, so gut es ging zu verbergen, nahm hastig ihre Hand, warf die Zigarette achtlos zu Boden und schleppte sie auf seine Etage.

Wenig später betraten sie Juris kleinen Raum, statt einem ‘Hallo‘ oder einem ‘Wer bist du? ‘, machte Mira teilnahmslos da weiter, wo sie bei dem anderen Mann aufgehört hatte. Die Drogen lenkten sie wie einen Roboter, der einfach nur stur seinem Algorithmus folgte. Doch so sollte das nicht sein, schüttelte Juri den Kopf, stieß sie bei Seite und nahm sein T-Shirt.

„Hier, zieh das an!“, befahl er auf Russisch und setzte sich von ihr weg auf einen Stuhl. Mira nahm das Shirt, zog es über und schaute ihn dabei nicht einmal an. Wieder spulte sie zu dem vorherigen Punkt zurück, setzte sich auf, folgte Juri zu seinem Stuhl und begann erneut. Ihre Hände zitterten während sie über sein Hosenbein glitt, ihre Augen waren so müde, dass sich der Kopf leicht hin und her wiegte. Sie war so erschöpft, so zerbrechlich, wen hätte das nicht berührt? Als sie sich bis zu seinem Hosenbund vorgearbeitet hatte, spürte Juri die Kälte ihrer Haut auf seinem Bauch. So gern er das auch genießen wollte, er konnte es einfach nicht.

„Hör auf!“, stieß er leise hervor. Nahm ihre Hände in seine und flüsterte auf Polnisch in ihr Ohr.

„Du musst schlafen!“, mit angestrengtem Blick sah sie ins Leere und hätte vereinnahmender nicht sein können. Selbst jetzt waren ihre grünen Augen mit den dunklen Schatten noch wunderschön. Als Juris Worte sie letztlich erreicht hatten, löste sich die Anspannung auf ihren Lippen und nur Sekunden später fiel sie wie ein Sack in sich zusammen, schloss ihre bezaubernden Augen und ließ sich mit einer Selbstverständlichkeit sachte auf seinen Schoß fallen. Es war scheinbar der einzige Ort, wo sie gedankenlos ruhen konnte. Überglücklich, fast ein wenig stolz, streichelte Juri ihren Kopf und zog sie an ihren Armen zu sich hinauf. Ihre Locken kitzelten auf seiner Brust. Sie war so dünn, dass er sie in seiner Umarmung fast verlor. Noch einmal sog er ihren Duft ein, dann hob er sie hoch und legte sie auf seine Matratze, ließ sie behutsam auf sein Kissen nieder und deckte sie liebevoll zu.

„Du bist mein Mädchen!“, lächelte er und ergänzte leise, „Mira, ich glaube, ich liebe dich!“

Das Auszusprechen fühlte sich so befreiend an. Grinsend nahm er sich eine Zigarette und genoss den Zug. Wie benebelt schmunzelte er vor sich her und beobachtete dieses wunderbare Wesen an seiner Seite.

‚Was hast du nur mit mir gemacht?‘, fragte er still in sich hinein. Zwei Tage, nur eine Berührung, kein Wort, kein Lächeln, einzig allein der Moment verwandelten diesen kalten Kerl in einen verliebten Jungen.

Abermals vergingen Wochen, die Verhaltensweisen der Männer im Umgang mit den Mädels wurden immer rauer. Artem empfand großes Vergnügen, die Mädchen zu quälen. Er ergötze sich daran, sie zu bestrafen und mit aufgescheuchten Hunden zu hetzen. Er spritze den Kindern Drogen und machte aus ihnen gefügige Marionetten. Juri spürte, dass es an der Zeit war, dieses sinkende Schiff zu verlassen, doch die rechte Gelegenheit dafür, bot sich ihm einfach nicht. Und so sehr er sich auch mühte, seine Gefühle zu Mira zu verbergen, hatte Artem bereits vernommen, dass da mehr zwischen beiden lief, als Juri zugeben wollte: diese ständigen Übernachtungen in seinem Zimmer, die Autofahrten, Seite an Seite, das versteckte Essen. Juri war ein zuverlässiger Schläger, Schwerkrimineller, doch kein guter Lügner. Diese Entwicklung war Artem ein Dorn im Auge und duldete keine weitere Akzeptanz.

Eines Abends, sie hatten die Mädchen gerade zurück ins Haus gebracht, ließ Artem Mira zu sich schicken. Als sie in die Küche trat, war er sehr charmant und lief lächelnd auf sie zu.

„Wie hübsch du bist, wie süß du da stehst!“

Man konnte fühlen, dass es nicht in seiner Natur lag, Frauen Komplimente zu machen und so wuchs in Mira das Unbehagen.

„... Wie geht es dir so? Was hältst du von dem neuen Mädchen? Ich finde sie ziemlich lahm, was denkst du? Du bist sicher ziemlich durch! War echt schlechtes Wetter heute! Nicht wahr? Kaum was verdient! Keine von euch ... Tja, kein guter Tag für mein Geschäft! Aber naja ...“

Die Müdigkeit wog schwer in Miras Gliedern und so ließ sie sich lediglich ein zögerliches Lächeln abringen, als plötzlich unerwartet und ohne Vorwarnung die Stimmung umschlug.

„Ich weiß, dass ich dich langweile. Du wärst sicher gern viel lieber bei ihm, richtig?“

„Was?“

Alles geschah so schnell, dass Mira gar nicht folgen konnte.

„Ich bin nicht so dumm, wie du denkst, ich habe Augen im Kopf!“

Unangenehm nah kam er auf sie zu, Mira roch noch sein widerliches Aftershave, als im gleichen Moment ein leichter Schmerz ihren Innenarm durchzuckte.

„Wirklich schade um dich!“

Seinen Satz hörte sie nur noch dumpf in der Ferne, eine wohlige Wärme durchströmte ihren Körper und machte die Luft in ihren Lungen ganz leicht. Die Spannung in den Muskeln ließ nach und ihre Beine begannen zu schweben.

Gehässig beobachte Artem wie Mira zu Boden ging. Die Spritze steckte immer noch in ihrer Vene und füllte sich langsam mit Blut.

„... Niemand verarscht mich in meinem Haus, selbst wenn es mein bestes Mädchen ist. Sorry Kleine, aber du hast es nicht besser verdient. Und dein Juri wird mich auch noch kennenlernen!“

Dann packte er Mira achtlos an ihren Beinen und schleifte sie hinüber in die Abstellkammer. Wie ein nutzloser Sack wurde sie in eine Ecke abgestellt, wohlwissend, dass sie keine Chance gegen die Überdosis Heroin haben würde. Die Tür schloss sich und Artem ging weiter seiner Arbeit nach, als wäre nie etwas gewesen.

Es dauerte nicht lange und Juri hatte Miras Verschwinden bemerkt. Von Angst getrieben, suchte er alle Räume nach ihr ab, die Panik schnürte ihm die Kehle zu. Er ahnte schlimmes und sollte nicht enttäuscht werden.

Regungslos lag sie in der Abstellkammer auf dem Boden und atmete kaum noch. Entsetzt fiel Juri vor ihr auf die Knie, versuchte noch durch Ohrfeigen sie wachzurütteln, schrie und verstand da erst schmerzlich, dass es nie den rechten Zeitpunkt gegeben hätte.

Als die Ärzte im Krankenhaus über Miras zierlichen Körper hingen, sie beatmeten, aufgeregt alles für ihr Überleben taten, zerriss es Juri. Er kannte nur ihren Namen, ihren Duft, das Land woher sie kam, sonst nichts! Sie hatten sich nie unterhalten, nie zusammen gelacht. Da war so viel, was es noch zu erleben galt und er hatte die Chance darauf vertan. Der Gedanke machte sein Herz schwer! Ein Tag ohne sie, wäre nicht länger lebenswert. Sie war seine einzige Liebe! Und diese Arschlöcher hätten sie ihm fast genommen. Das alles war seine Schuld und die Gewissheit machte ihn krank. Doch er würde es wieder gut machen!

Mira schlief tief und Juri wachte an ihrem Krankenbett. Erst als ihm die Ärzte nach drei Tagen überzeugend versicherten, dass sie wirklich außer Lebensgefahr sei, erlaubte er sich endlich etwas Ruhe. Es war die berüchtigte Ruhe vor dem Sturm. Denn er brauchte Kraft - Kraft, um diesem Elend endlich ein Ende zu setzen.

Um drei Uhr morgens hallte das Pendel der alten Kaminuhr durch den Flur. Artem saß nichts ahnend mit seinen Männern in der Küche. Gut gelaunt lachten sie über ein paar versaute Witze aus der Tageszeitung, als plötzlich Juri unerwartet in der Tür stand.

„Juri? ... Du traust dich noch einmal hier her? Nicht nett, dass du einer meiner Mädchen entführt hast! Ich habe in der Stadt schon nach dir suchen lassen. Du hattest Glück, dass man dich nicht finden konnte!“

Zwischen seinen starken Männern empfand sich Artem überlegen und wusste, dass ihm Juri nichts antun würde. Dennoch unbeeindruckt trat Juri ein und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich aufgefordert zu haben, einzutreten!“, fauchte Artem empört und drückte seine Zigarette auf dem Holztisch aus. Einer seiner Männer zuckte schon, da wies ihn Artem mit einer Geste zurück, wartend auf das Anliegen, was Juri hervor bringen würde, obwohl er wusste, dass diese Begegnung nicht diplomatisch ausgehen würde. Doch statt unterwürfiger Haltung, legte Juri nur kindlich seinen Kopf zur Seite und blitzte fröhlich mit seinen kühlen Augen.

„Das war nicht schlau, Artem! Mira ist mein Mädchen, was hattest du daran nicht verstanden?“

Angespannt lehnte sich Artem zurück und antwortete genervt: „Das Problem ist, es gibt hier nichts, was dein ist. Du kannst hier nicht reinkommen und dir nehmen, was du willst! Es sei denn, du zahlst dafür!“

„Wieso? Wir sind doch auf dem Basar! Deine Worte!“

„Du hast den Kodex verletzt ...“, schnaufte Artem hämisch, „... und bist raus. Das Mädchen hole ich mir wieder. Sie wird jeden verdammten Tag abarbeiten, den sie versäumt hat. Ich habe genug Geld durch euer Affentheater verloren!“

Juri lächelte nur zynisch, dabei formte sich sein Gesicht zu einer bedrohlichen Fratze. Nachdenklich hob er das Kinn und rieb sich das Grübchen.

„Gut, du hast Recht. Ich will bezahlen. Was bekommst du?“

Erhaben beugte sich Artem über mehrere Bündel Geld und schob diese bei Seite.

„Alles! Alles, was du hier je verdient hast!“

Zu aller Überraschung nickte Juri nur und senkte den Blick.

„Das ist viel!“

„Nicht genug, aber ein Freundschaftspreis für dieses Flittchen!“

Stille! Juri verharrte einen Moment, die Luft war zum Schneiden. Als er sich zurück setzte, richteten sich die Männer reflexartig auf. Sie waren auf alles gefasst und warteten nur auf seinen Zorn. Beschwichtigend streckte Juri die leeren Hände nach oben, grinste und drückte sich dann aus dem Stuhl. Unverkrampft lief er zur Tür.

„Beruhigt euch Jungs. Ihr seid zu sechs und ich bin allein. Rechnen kann ich auch! Also entspannt euch. ... Ich werde jetzt das Geld holen und dann verschwinde ich. Die Möglichkeit werde ich ja wohl noch haben?“ Artem nickte zustimmend und griff nach seiner Packung Zigaretten.

„Gut, dann gehe ich jetzt, aber schön hier warten, ok!“

„Folge ihm!“, befahl Artem einem der Männer und war verblüfft, dass Juri schon wieder in der Tür stand. „Da bin ich wieder!“, verkündete Juri mit hoher Stimme und einem Sack in der Hand.

„So viele Geldscheine sind schwer, wisst ihr!“

Dann ging alles ganz schnell. Er ließ den Sack fallen und eine glänzend polierte Axt kam zum Vorschein. Juri verzichtete auf weitere Worte und machte es kurz. Er ließ das Beil fliegen und enthauptete Artem vor den Augen seiner Männer. Sein Kopf rollte über den Tisch zu den Geldscheinen, das Blut lief an der Kante über und tropfte in dicken Klecksen auf den Boden. Schockiert sprangen die Männer auf.

„Jeder bleibt da, wo er jetzt sitzt! Ihr alle wisst, dass der Typ hier ein Schwein war! Nehmt euch euer Geld und verpisst euch. Lasst die Kinder frei und vielleicht wird sich Gott eurer erbarmen. Falls einer von euch nur daran denkt, mir aufzulauern oder mich zu bedrohen, dem Gnade der Teufel. Ich reiße euch in Stücke, zerlege euch in Einzelteile. Lasst euch eines gesagt sein: einem Killer nimmt man nicht das Mädchen!“

Dann drückte Juri Artems Leichnam gleichgültig vom Stuhl. Der Knall ließ die Männer zurückweichen und schaudern. Als er dann in der Tür verschwand, sah ihm keiner nach, sie ließen ihn einfach ohne ein Wort gehen. Niemand wollte mehr folgen. Es war vorbei und Juri hatte den rechten Preis dafür bezahlt.

„Doktor! Das Mädchen ist weg! Sie hat einen Zettel hinterlassen, darauf stand, dass sie weiter muss und bedankt sich für die Hilfe! Was sollen wir tun?“

Der Arzt zuckte mit den Achseln.

„Was wohl? Wir werden dem Jugendamt wieder absagen müssen. Die Straßenkinder sind eben schwer festzuhalten.“

„Aber sie ist doch auf Entzug!“, erwiderte die Schwester besorgt.

„Naja, dann haben sie ja jetzt die Antwort, warum sie wieder weiter musste!“

Der Mediziner setzte seine Arbeit fort und dachte nicht weiter über das Mädchen nach.

Der Winter war kalt, es herrschten Minusgrade und dennoch hatte Mira einen feuchten Schweißfilm auf der Stirn. Ihr Gang war wacklig, Juri stützte sie zwar so gut er konnte und legte seinen Mantel um ihre Schultern, doch das Klappern der Zähne wollte einfach nicht verstummen.

„Bitte bring mich nicht zurück!“, flehte sie mit größter Anstrengung und Juri drückte sie ganz fest an sich.

Nach wenigen Metern hatten sie ihr Ziel erreicht. Eine Tür öffnete sich und zwei Treppen weiter schloss Juri eine Wohnung auf. Fast schüchtern sprach er leise auf Polnisch: „Hier würden wir erst einmal wohnen. Es ist einfach, nur für den Anfang, bis ich was Neues gefunden habe!“

Überrascht sah Mira zu ihm auf: „Du sprichst Polnisch?“

Mit einem kindlichen Lächeln sperrte Juri die Tür hinter sich zu.

„Ja, ist meine Muttersprache.“ Mira hätte gern noch mehr gefragt, doch diese Bauchkrämpfe ließen sie nicht länger ruhen.

Der Entzug dauerte fast 10 Tage. Das Gift folterte ihre matten Glieder und quälte sie pausenlos. Juri wich nicht von ihrer Seite. Er hielt ihr den Kopf, wenn sie sich übergab, versuchte mit Wadenwickel ihr Fieber zu senken, päppelte sie mit Dosensuppen wieder auf und wenn sie fror, kuschelte er sich an sie und genoss ihre sanften Berührungen. Juri ließ keinen Moment verstreichen um bei ihr zu sein. Sie war sein Ein und Alles und es gab nichts, was wichtiger war. So langsam erweckte er Mira wieder zum Leben und hoffte an jedem Tag, dass sie irgendwann genauso fühlen würde, wie er.

Viel Zeit verging und dennoch tat sich Mira schwer, diesen großen starken Mann, mit seinen eisblauen Augen zu lieben.

Ihre Kälte quälte ihn und lehrte, dass man Zuneigung nicht kaufen konnte, man muss nun mal hart dafür arbeiten und das tat er! Pausenlos!

Der Februar war hart und ließ die Scheiben sogar von innen gefrieren. Miras Husten war kaum zu kurieren und zu allem Übel wurde auch noch der Strom abgestellt. Verzweifelt raufte sich Juri den Kopf und versuchte seine Mutlosigkeit vor Mira zu verbergen.

„Sag mir doch, was los ist?“, fragte sie schüchtern und kletterte dabei übers Bett zu ihm heran.

„Es ist nichts.“, antwortete er beschämt und stellte sich an das Fenster. Es hatte etwas Kindliches, wie er mit den vergilbten Vorhängen spielte und sich nicht traute, zu Mira zurück zu sehen. Man konnte fühlen, dass Juri haderte und Angst hatte, das auszusprechen, was eh schon offensichtlich war. Und gerade in diesem Moment, als er am verletzlichsten schien, begann in Mira etwas zu keimen, was sie nicht mehr gehofft hatte zu fühlen: tiefe Zuneigung. Es passierte einfach so und ließ Mira nicht länger zögern. Sie stellte sich zu Juri ans Fenster und suchte mit ihren Händen nach seinem Körper. Fast ungläubig verfolgte Juri ihre Arme, wie sie liebevoll von hinten seinen Bauch umschlossen und hätte glücklicher nicht sein können.

„Sag mir doch einfach was du hast?“

Vertraut stützte sie ihren Kopf an seinen Rücken und kuschelte sich an seine weiche Haut. Wärme durchströmte Juris Körper, er hielt Miras Hände ganz fest, schloss die Augen und genoss den Moment. Selbst jetzt, ohne Strom, schien die Welt nicht mehr ganz so hoffnungslos.

„Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst!“, flüsterte er fast ängstlich und blickte sehnsüchtig zu ihr zurück. Ein Moment der Stille verging und plötzlich fühlte sich alles so einfach an. Liebevoll nahm er ihren Kopf in seine Hände. Miras Herz pochte, sie wusste nicht was sie fühlen oder denken sollte. Seine Hände ließen ihre Kälte endlich schmelzen und zogen sie enger an sich. Erst wich sie schüchtern zurück, doch dann wollte sie es auch. Seine Lippen auf ihren. Ganz vorsichtig ertaste er ihren Mund, ihr Gesicht, immer in Angst, sie würde ihn abweisen, doch umso mehr er sich an sie schmiegte, so intensiver erwiderte sie dieses Verlangen. So viele Stunden, in denen er davon geträumt hatte und endlich wurde es wahr: sein Mädchen ganz fest in seinen Armen. In jener Nacht ließ er ungehemmt seinen Emotionen freien Lauf, hob sie nach oben und drehte sich mit ihr langsam durch das Zimmer. Ungehalten küsste sie ihn weiter und machte Juri zum glücklichsten Menschen. So viele Probleme, die sie umgaben, doch im Jetzt und Hier schien alles perfekt. An diesem Abend schliefen sie das erste Mal miteinander. Es war der entscheidende Abend, der alles veränderte.

Eingekuschelt lagen sie noch lange wach. Alles fühlte sich an wie ein Traum, bis die Gegenwart sie wieder ein hatte.

„Sagst du mir jetzt, was du vorhin hattest?“

Da war es wieder, dieses Stechen in der Brust. Juri atmete schwer und spielte dabei mit ihren Fingern.

„Ich bin kein guter Lügner, also gut. Die haben mir den Strom abgestellt und die Miete bin ich seit zwei Wochen schuldig. Wenn ich das Geld nicht bald auftreibe, schmeißt uns der Vermieter aus der Wohnung und das Schlimmste ist, bis jetzt ist kein Job in Aussicht.“

Mira schluckte: „Was kann ich tun?“

Juri schüttelte den Kopf: „Ist schon ok. Ich werde mir etwas einfallen lassen!“

Ängstlich richtete sich Mira auf.

„Und wenn wir wieder ...“, Juri vervollständigte ihren Satz: „... in das Haus zurück? Niemals!“

Erleichtert atmete Mira auf und zog Juri zu sich heran.

„Wie hast du es geschafft, dass dieser Artem mich hat gehen lassen?“

Etwas aufgeregt kratzte sich Juri die Schläfe.

„Ich habe alles auf eine Karte gesetzt und dich beim Pokern gewonnen. Artem hätte dich nie gehen lassen!“

„Ich weiß ...“, hakte Mira mit ängstlicher Stimme ein, „... er hat mir gedroht und gesagt, wenn ich jemals abhaue, wird er mich töten! Wird er das Juri?“

Ihre Augen schauten traurig auf, doch sein selbstsicherer Blick beruhigte sie.

„Glaube mir, er wird nie wieder nach dir suchen, das ist sicher.“

Eine Weile der Stille verging, dann richtete sich Mira entschlossen auf.

„Ich werde wieder auf die Straße gehen!“

Juris Augen fingen Feuer.

„Was? Nein! Ausgeschlossen! Niemals werde ich dich wieder teilen!“

Naiv und süß zugleich rollte sie sich auf seinen Bauch und drückte seinen starken Oberkörper zurück ins Kissen.

„Hör mir doch zu! Es ist nur solange, bis wir wieder flüssig sind. Dann suchen wir uns normale Jobs und führen ein Spießerleben!“

Nun lächelte Juri verschmitzt und Mira senkte ihren Kopf.

„... Dann wirst du Busfahrer und ich warte mit unseren drei Kindern nach Feierabend auf dich. Wenn du möchtest, mit Lockenwicklern im Haar und bunter Schürze! Sind das keine tollen Aussichten?“

Mira kicherte vergnügt und wirkte das erste Mal fröhlich. Wieder verliebte sich Juri in sie. Sie war eben sein Mädchen und nur sie hatte die Gabe ihn glücklich zu machen. Es war die einzige Hoffnung und so geschah es.

Wieder stellte sich Mira auf den Strich. Die Situation war für Juri kaum zu ertragen, sie stritten und diskutierten darüber, doch das Geld zahlte ihre Rechnungen und enteiste die eingefrorenen Wasserleitungen. Welche Alternative blieb? Juri versuchte sich als Türsteher und Boxer, doch schon längst hatte sein Ruf die Runde gemacht. Der rollende Schädel hatte Eindruck hinterlassen. Kaum knüpfte er die ersten Kontakte, wendete man sich auch schon wieder von ihm ab. Was blieb, war sein Mädchen auf dem Straßenstrich und ihr Geld, was ihn versorgte. Wie eine Prinzessin trug er sie auf Händen, tat alles, um das es ihr damit gut ging. Und auch, wenn der Umstand schwer zu akzeptieren war, lebten beide von Monat zu Monat besser. Schon bald konnte sich Mira die Freier aussuchen, brauchte sie nicht länger in ihrer heimischen Wohnung zu befriedigen, während Juri im Treppenhaus wartete. Still und leise wuchs sie zu einer vornehmen Dame heran, wurde in Hotels eingeladen, Restaurants und verstand es, sich zwischen dem neuen Klientel zu bewegen. Und immer im Schlepptau Juri, der sie nie aus den Augen ließ.

„Na, mein Junge, was treibt dich in diese Stadt?“, Juri setzte seine Flasche Bier irritiert ab und blickte am Tresen der Hotelbar neugierig am Barkeeper vorbei.

„Das geht dich nichts an!“

Der Mann grinste. Auch wenn der harsche Satz keine Einladung war, schob sich der Mann dennoch vom Tresen weg und ging auf Juri zu. Er war fett, unangenehm und auf den ersten Blick nicht mehr, als ein besoffener Spinner. Dennoch hatte Juri bei dem Herrn kein gutes Gefühl und wollte schon den Platz wechseln, als ein anderer Mann hinter ihm, ihn zum Sitzen zwang. Angestrengt setzte sich der Alte neben ihn und kramte nach seiner Zigarettenschachtel.

„Auch eine?“

Juri schüttelte den Kopf und starrte den anderen Mann hasserfüllt an.

„... Also ich stelle mich kurz vor. Mein Name ist Lukasch und mir gehört diese Stadt und alle Mädchen, die für sie anschaffen gehen!“

Leicht eingeschüchtert schluckte Juri und kaute geladen auf seiner Unterlippe.

„Schön für dich!“

Dunkler Rauch verließ Lukaschs Lippen.

„Ich will hier nicht für schlechte Stimmung sorgen ... ich habe dich gesucht. Vielleicht erinnerst du dich an die Villa am Stadtrand. Ich muss dir Recht geben, dieser Artem war ein Nichtsnutz, ein Junkie.“, er klopfte Juri anerkennend auf die Schulter, „Endlich ein Mann mit Eiern, der nicht lange fackelt. Du hast diesen Penner wirklich einen Kopf kürzer gemacht…“.

Ohrenbetäubend hallte Lukaschs kratziges Lachen durch die Hotellobby. Ertappt und verwirrt sprang Juri auf und wollte schon gehen, da schob ihn Lukasch zurück und fuhr fort: „Denkst du, du würdest noch leben, wenn ich es nicht gewollt hätte? ... Mein Junge, eine Waffe schießt schneller als jede Axt. Hast du dich nie gefragt, warum dieser Bo gerade dich nach Kiew geschleppt hat, soweit weg von zu Hause?“

Man spürte, wie Lukasch Gefallen daran fand, Juri Stück für Stück die Wahrheit vor die Füße zu knallen. Kein Zweifel, er hatte keine Ahnung und so sprach er vergnügt weiter: „Das war alles kein Zufall! ... Artem bekam von mir die Anweisung dich bis aufs Blut zu reizen. Gut, du hast, wie ich finde, etwas überreagiert, aber naja ...“

Noch immer verschlug es Juri die Sprache.

„... Ich sehe dir an, du verstehst nicht! Juri, der Job, für den dich Bo ausgewählt hat, war nicht Artem, sondern ich. Die Leute, die für mich arbeiten, suche ich mir aus und dabei gehe ich sehr behutsam vor! Ich wollte wissen, wie du bist, welche Gewohnheiten du hast, wie du pisst, wie du frisst. Ich kenne dich besser, als du dich! Und ich weiß, wonach du trachtest!“

Juri schluckte und sprach ungewohnt kleinlaut. „Ach ja, wonach denn?“

Geschmeichelt nahm Lukasch die Kippe in den Mund und gab seinem Mann ein Zeichen. Sekunden später klackten zwei Schlösser. Der Koffer war bis an den Rand mit Scheinen gefüllt und blendete Juris Sichtfeld.

„Geld, Juri! Einfach nur Geld! Und was soll ich sagen, du hast es verdient! Du bist dir für nichts zu schade, du kämpfst, bist pünktlich, korrekt und genau das brauche ich!“

Ablehnend schob Juri den Koffer von sich und rollte nur mit den Augen.

„Was soll das?“

Man konnte förmlich fühlen, wie der Anblick ihn bereits verführt hatte.

„Es gehört dir!“

Fragend blickte Juri ihn an.

„Ich verstehe nicht?“

„Artem war gefährlich, er wusste zu viel! Er war mal ein guter Junge, doch die Drogen haben ihn einfältig werden lassen. Ein Auftragskiller hätte die gleiche Summe bekommen. Nun zahle ich sie dir. Also nimm es.“

Abwehrend schüttelte Juri den Kopf.

„So ein Quatsch.“

Doch das ließ Lukasch kalt, er schloss den Koffer und schob ihn zu Juri hinüber.

„Ich will, dass du für mich arbeitest. Ich mach aus dir einen einflussreichen Mann. Sieh das Geld als Investition! ... Man, du brauchst Klasse und musst was her machen. Meine Männer leben in keiner Bruchbude, gehen zu Fuß oder lassen ihr Mädchen in Second Hand Läden shoppen.“

Noch immer ganz aufgeregt schüttelte Juri den Kopf.

„Nein, ich lass mich von dir nicht verarschen. Nichts ist für umsonst!“

Überrascht nickte Lukasch und stand auf.

„Da hast du Recht, mein Junge. Du kannst das Geld behalten, so oder so. Falls du dich entscheiden solltest, für mich zu arbeiten, ist das hier nur der Anfang. Lächerlich, im Vergleich was du erreichen könntest. Das Einzige, was ich im Gegenzug verlange, ist Loyalität und Treue ein Leben lang! Das solltest du bedenken!“, Lukasch nahm einen tiefen Zug und legte fast väterlich die Hand auf Juris Schulter: „Du musst für diesen Schritt mutig sein! Nimm das Geld und geh! Geh entweder zurück in deine Heimat oder lass uns morgen wieder hier zur gleichen Zeit treffen. Ich bin ein Mann, der sein Wort hält und auf den du dich verlassen kannst. Nun liegt es bei dir!“

Dann lächelte er siegessicher, winkte den anderen Mann zu sich und verließ die Bar. Zurück blieb ein ratloser Juri, der plötzlich einen Koffer voller Geld hatte.

Als die Männer gingen, kreuzten sie Miras Weg. Noch immer ganz durcheinander lief Juri wie ertappt auf sie zu und küsste sie überschwänglich.

„Hey, was ist los?“, lachte Mira überrascht und ließ sich unerwartet durch die Luft wirbeln. Juri antwortete nur spärlich: „Du musst dir nie wieder Sorgen machen! Der Freier heute, war dein Letzer, das schwöre ich! Nie wieder wird dich ein anderer Mann bekommen!“

„Wenn Sie morgen nicht das Geld haben, fliegen Sie aus der Wohnung!“, hatte der Vermieter noch wenige Wochen zuvor gedroht. Als Lukasch sich zu Juri an die Bar gesetzt hatte und ihm diesen Koffer überreichte, gab es keine andere Wahl, als ihn zu nehmen. Doch Juri hätte gehen können, hätte irgendwo anders mit Mira ein neues Leben beginnen können. Wenn diese Chance nicht so verführerisch gewesen wäre. Lukasch Worte fühlten sich wie Butter auf seiner kranken Seele an. Niemand zuvor hatte sich mit ihm solch eine Mühe gegeben. Er war geschmeichelt und lächelte in sein Spiegelbild. Man fürchtete ihn, schaute zu ihm auf und das schmeckte so viel besser, als die Idee von Geld. Lukasch hatte Eindruck auf ihn gemacht und war in Vorkasse gegangen. Wo dieser Koffer herkam, war sicher noch mehr und so saß er wieder, wie erwartet, am nächsten Tag an dieser Bar und hatte keine Idee davon, welchen Weg er damit einschlagen würde.

Der erste Tag als Lukaschs Schläger, war einfach. Er trieb das Geld ein, was Kneipen oder Nachtclubs nicht zahlen wollten, der zweite Tag schundete seine rechte Faust, die er gegen zwei Türsteher schleuderte, doch der Dritte führte ihn an seine wahren Aufgaben. Das Auslöschen von Menschenleben! Er bekam als Arbeitsausrüstung eine neun Millimeter. Eigentlich mochte er solche Dinger nicht, doch es war so einfach - einfach nur entsichern und den Abzug ziehen. Es brauchte nur zwei Blechdosen, um das Prinzip zu verstehen und Juri avancierte zu einem der meist gefürchtetsten Killer der Stadt. Das Ziel war immer das Gleiche, Wisser und Mitwisser töten, leise und gnadenlos dabei vorgehen, ohne Fragen, ohne ein Wort. Er kam des Nachts zur Tür hinein und ging mit dem Laut seiner Waffe. Die Jobs dauerten oft nicht mal eine Minute. Gern erschoss er sie von hinten, dann gab es kein Rumgeheule oder irgendwelches Betteln, danach ging er noch was essen und im Anschluss schnellstmöglich nach Hause. Als dann die Tür ins Schloss fiel, kroch er glücklich zu Mira unter die Bettdecke, ihr Duft ließ die letzten Stunden vergessen und machte seinen Schlaf zufrieden. Das Geld, was sein Beruf mit sich brachte, ermöglichte eine extravagante Wohnung, ein Auto, die besten Boutiquen und den schönsten Schmuck. Mira gefiel sich in der Rolle, der feinen Dame und fragte nicht weiter nach wo all der Wohlstand herkam, doch eines Abends änderte sich alles.

Noch schien der Auftrag, wie jeder andere zu sein. Ein Typ sollte umgelegt werden, er hatte Lukasch gedroht, seine Machenschaften anzuzeigen. Juri drang in sein Haus ein, schlich durch das Wohnzimmer und richtete seine Waffe aus. Da drehte sich der Mann um, duckte sich und rannte nach oben. Blitzschnell folgte Juri ihm, als plötzlich seine Kinder im Flur standen, die Mutter aufgescheucht schrie und ihn flehend ansah.

„Bitte ... bitte ... lassen Sie meinen Mann leben! Bitte!“, da hallte ein Schuss durch das Haus und streckte den Mann nieder. Er sackte auf die Knie, nahm sein kleines Mädchen in den Arm und drehte sich zu Juri. Blut lief ihm aus Nase und Mund, dabei sprach er fast lautlos.

„Lukasch wird auch dich vernichten!“, dann küsste er sein Kind auf die Stirn und schloss die Augen. Stille breitete sich aus. Juri drehte sich um und ging. Er lief zur Tür hinaus, setzte sich wie ferngesteuert in den Wagen und fuhr langsam davon. Sein Blick war starr geradeaus, sein Atem schwer, nur seine Hände verrieten wirklich, wie es in ihm aussah. Sie zitterten - sie zitterten so markerschütternd, dass er sie auch mit einer Zigarette kaum beruhigen konnte. Das Zittern wollte seine Glieder einfach nicht mehr verlassen und machte sich über seinen ganzen Körper her. Juri versuchte es zu ignorieren, ging, wie üblich essen und stieg danach zu Mira ins Bett, doch seinem Verhalten zum Trotze ließ sich sein Körper nicht täuschen, rüttelte sein Bewusstsein und das unentwegt, in jeder einzelnen Sekunde, in jedem Moment. Auch der Sex mit Mira konnte daran nichts ändern. In Gedanken versunken, blickte er ins Leere und Mira spürte, dass etwas in ihm rumorte.

„Was hast du?“, fragte sie zaghaft, doch ihre Frage erstickte der Raum. Wortlos stand er auf, zog sich an und verließ sie wieder. Erst im Morgengrauen kehrte er zu ihr zurück. Betrunken kuschelte er sich an sie und glaubte endlich schlafen zu können, doch der Moment hatte sich tief in seine Träume gefressen und sein ängstliches, verstecktes Kind in ihm wieder zum Vorschein kommen lassen.

Auch wenn Juri es nicht wahrhaben wollte, dieser Mord lenkte sein Leben in eine völlig falsche Richtung, als hätte sein Opfer mit Gott einen Pakt geschlossen. Wie ein Parasit labte er sich an seiner Gedanken- und Traumwelt, kehrte Nacht für Nacht zu ihm zurück und stellte alles in Frage. Juri war kurz davor den Verstand zu verlieren. Nur der Alkohol gab ihm ab und an Frieden, obwohl er ihm einen hohen Preis abverlangte - seine Art wurde rauer, seine Ängste quälender und seine Liebe dadurch fast erstickt.

Hinter der starken Fassade begann es zu bröckeln und Juri hatte nicht bemerkt, wie der Adler schon über ihm kreiste.

„Was ist los mit dir?“, das Glas klirrte auf der Holzlehne von Lukaschs Sessel und Juri schweifte durch den Raum.

„Was meinst du?“

Neugierig ließ Lukasch seinen Zahnstocher über die Zunge drehen und grinste.

„Ärger mit deiner Süßen?“

Schweigend nickte Juri und fuhr sich energisch über den Kopf. Für Lukasch war Juri wie ein Spielball und so lehnte er sich bezirzend zu ihm rüber und redete eindringlich auf ihn ein.

„Du liebst sie, bist ihr bedingungslos verfallen, sie ist alles, was du hast und das weiß sie. Sie macht dich verletzlich, macht dich schwach. Sie nimmt dir die Wut, den Hass, sie verkörpert deine intimsten Träume und dieser Mord hat dich das erste Mal schuldig gemacht.

„Woher ...?“

Juri sah ihn verblüfft an.

„Ich habe dich bewusst zu diesem Journalisten geschickt, um zu wissen, wie du moralisch damit fertig wirst.“

Juris Kehlkopf drückte den Wodka den Schlund hinunter.

„... Ach Juri, deshalb schätze ich dich so, auch wenn du nichts sagst, weiß ich, wie es in dir aussieht. Du bist fast perfekt, nur sie ist dein Fehler. Du solltest sie loswerden!“

Ungläubig schüttelte Juri den Kopf, doch Lukasch ließ sich nicht beirren und drückte seine Schulter.

„Juri, du hättest vorher hunderte dieser Familienväter getötet, ohne mit der Wimper zu zucken, das weiß ich, das fühle ich! Verdammt nochmal du hast vorher Kinder zum Ficken auf die Straße geschickt! Hast du dich da schuldig gefühlt? ... Nein, natürlich nicht, weil es dir egal war! Erst seit dem sie da ist, verweichlichst du zusehends. Juri, mein Freund, ich gebe dir einen Rat! Diese kleine Pussy sitzt zu Hause und wartet jeden Tag, bis du nach Hause kommst, sie hat keine Aufgabe, keine Wertschätzung, was meinst du, wie lange sie das mitmacht? Sie ist eine Fickmaschine, sie weiß wie es funktioniert. Du solltest sie beschäftigen, unter Kontrolle bringen, so dass jemand ein Auge auf sie hat.“

Juri hing an Lukaschs Lippen und nahm seufzend einen Schluck.

„Was soll ich tun? Wir leben allein, wer soll da auf sie Acht geben?“

Amüsiert ließ sich Lukasch in den Sessel fallen.

„Ihr zieht bei mir ein. Mein Bordell hat genug Zimmer.“

„Mira würde das nie zulassen! Unsere Wohnung bedeutet ihr alles.“

Lukasch schrilles Lachen hallte durch die Bar.

„Gott, was bist du für ein Weichei. Wenn meine Frauen nicht parierten, habe ich ihnen meine Regeln eingeprügelt. Vielleicht solltest du das auch versuchen. Juri, sei doch nicht so naiv! Zuckerbrot und Peitsche! Erzähl ihr irgendetwas: man hat dich abgezockt oder du bist Teilhaber. Gerade in schlechten Zeiten hängen die Weiber dank Sozi-Komplex einem immer an den Eiern.“

Lukasch lachte einfach weiter, stand auf und bevor er ging sah er ihn noch einmal scharf an.

„Sie ist deine Schwäche, lass sie nicht zur Bedrohung werden!“

Dann ging er und ließ Juri mit einem mulmigen Gefühl zurück.

Einige Wochen später zogen Mira und Juri zu Lukasch ins Bordell. Lügen war zwar nicht gerade Juris Stärke, aber der Umstand machte ihn besser. Mira schluckte die Geschichte von Spielschulden und Verbindlichkeiten, sie war zu naiv, um hinter die Fassade zu blicken. Wie in einer Sekte ließ sich Juri von Lukasch manipulieren und leiten. Er legte sich eine neue Persönlichkeit zu und das liebevolle Wesen in ihm ab. Er spielte mit Mira, schwärmte von Familie und Hoffnung und benutzte ihre Träume gegen sie, missbrauchte ihre Gutmütigkeit und erniedrigte sie immer öfter. Er gefiel sich in seiner Machtstellung, genoss alles unter Kontrolle zu haben, dachte, er stünde über allem, bis Mira die Angst in ihm zurück brachte.

Eines Abends, er kehrte angetrunken auf ihr Zimmer, da waren die Kommoden ausgeräumt und der Koffer unter dem Bett verschwunden. Plötzlich war nur noch ein Rauschen in seinem Kopf! Orientierungslos lief Juri durch das Haus, der Schweiß brannte in seinen Augen. Wo war sie nur? Was war passiert? Sein Herz zerbrach und die Hilflosigkeit erstickte seine Stimme. Wie von Panik getrieben, stürmte er aus dem Bordell, sprang in seinen Wagen, fuhr die Straßen ab und stoppte an jeder Bar. Sie kann ihn nicht verlassen, sie darf nicht! Tränen erklommen seine trockene Kehle. Niemals hätte er erwartet, dass ihn irgendetwas so treffen könnte. Seine Hände waren vor Nervosität ganz nass. Aufgeregt konnte er kaum das Lenkrad fassen und sein Kopf schwirrte. Sie war bereits seit mehreren Stunden verschwunden und es gab nicht einen Hinweis, wo sie noch hätte sein können. Ihr Vorsprung war schon zu groß und diese Gewissheit war für Juri unerträglich.

Als er die nächste Kreuzung passierte, leuchtete ein Schild auf. Es kündigte den Hauptbahnhof in 500 Metern an und brachte einen kleinen Hoffnungsschimmer. Von eine Sekunde auf die andere stieg Juri auf die Bremsen, überfuhr achtlos die Ampel und bog ab. Nur einen Wimpernschlag später erreichte er das Haupthaus, parkte gleichgültig vorm Eingang und sprang aus dem Wagen.

Mit einem dicken Knoten im Magen schleppte er sich durch die riesige Empfangshalle und war von der Vielzahl der Gleise fast erschlagen. Wo würde sie bloß hinwollen, welche Züge fahren jetzt noch? Kaum eine Menschenseele war zu sehen. Letztlich ließ er sich von seinem Gefühl leiten und wählte den Bahnsteig mit dem Ziel Warschau.

Ungeduldig zerrte er sich am kühlen Geländer empor und blickte erwartungsvoll nach allen Richtungen. Es war nachts um drei und außer gähnender Leere war nichts zu sehen! Er wollte schon kehrt machen, da ließ er erneut den Blick schweifen und atmete dankbar auf. Endlich, da war sie! Fast hätte er sie übersehen, doch ihre blonden Locken verrieten sie, in dieser eiskalten Winternacht. Wie ein gefallener Engel saß sie zusammen gekauert auf einer Bank und hatte die Arme wärmend um ihre Schultern geschlungen. Ruhig und bedacht lief Juri auf sie zu und hörte sie leise wimmern. Schon das Geräusch allein ließ sein Herz zerspringen. Nach wenigen Schritten spürte er, wie Mira seine Anwesenheit fühlte. Mit geröteten Augen blickte sie auf und sah dann ins Leere zurück. Juri wusste, dass es ernst war. Flehend kniete er sich vor sie, nahm ihre Hände in seine und war dankbar für ihre Gegenwart. Er hoffte auf ein Wort von ihr, eine Erklärung, doch er fühlte nur ihr Zittern und heiße Tränen auf seiner Hand. Minuten dehnten den Raum und gerade als er nach einer passenden Frage suchte, platzte es aus Mira heraus.

„Wo hast du uns nur hingebracht?“, verzweifelt schüttelte sie den Kopf, „Dieser Lukasch ist kein Mensch ... er ... ich habe sowas etwas noch nie gesehen ... Soviel Leid, soviel Angst ... er macht mit den Frauen, was er will ... Ich dachte, die Villa war schon das Schlimmste, aber er ist so ... Er ritzt die Mädchen mit Scherben, leckt ihr Blut und misshandelt sie. Umso mehr sie leiden, umso aufgegeilter ist er ... Heute hat er die Neue ...“, Mira japste und presste den Mund leidvoll zusammen, „mit Stacheldraht ausgepeitscht.

Ich habe Hautfetzen durch die Luft fliegen sehen, Juri! Hautfetzen!“, Das Salz ihrer Tränen brannte auf ihrer Wange, „... Sie flogen direkt an mir vorbei. Sie blutete, ich dachte sie stirbt ... zwei Männer hielten sie fest, sie hat so ... so geschrien ... und dann hat sie ihre Augen verdreht und nichts mehr gesagt ... Lukasch hat nur gelacht, sie auf sein Zimmer bringen lassen und sich in ihrem Blut gesuhlt. Als er später wieder zurück zu uns an die Bar kam, war sein Gesicht und Hemd noch voll davon. Er war so beschwingt und glücklich, dass er den Gästen das Ficken gratis angeboten hat! ... Da bin ich einfach abgehauen! ... Was hast du uns nur angetan, Juri? Wir hätten es geschafft, wir wären auch alleine klar gekommen, nur ...“ Juri nahm Miras Kopf in seine Hände und versuchte sie an seine Wange zu pressen, doch Mira schüttelte sich energisch und stieß ihn von sich, dabei sprang sie wütend auf und ging einige Meter. Ungläubig stemmte sie die Hände in die Hüfte und schnappte verzweifelt nach Luft.

„... Ich erkenne dich nicht mehr wieder ... seitdem du diesem Lukasch verfallen bist, behandelst du mich wie Luft ...“

„Es tut mir leid!“, raunte Juri erschöpft.

„Du hast dich verändert, Juri ... und ... und ich dachte, ich würde dich ein wenig kennen, aber nachdem das mit Lukasch passiert ist, haben sie über dich geredet ...“

„Wer?“, wollte Juri energisch wissen.

„Was spielt das für eine Rolle, Juri?“, ihre Stimme wurde ganz leise und hatte diesen klagenden Ton, der Juris Gewissen zerfraß.

„Willst du nicht eher wissen, was sie erzählt haben?“

Kurz wurde es still, dann machte Juri einige Schritte auf Mira zu.

„Stopp!“, schrie sie lautstark. Beeindruckt verharrte Juri in seiner Bewegung und folgte verzehrend ihren Worten. Mit glasigen Augen setzte Mira ihren Satz fort und war kaum noch zu hören, lediglich ihre Lippen flüsterten noch leise.

„Sie nennen dich den Holzfäller ...“, vor Tränen erstickt zog Mira die Nase hoch und reckte ihre Stirn in die Höhe, „... als ich dich damals fragte, was in der Villa geschehen sei, sagtest du, du hättest mich auf einer Toilette gefunden und mich später bei einem Pokerspiel gewonnen ... doch die Wahrheit ist wohl eine andere!...“, verzweifelt holte Mira Luft, „Sie sagten, Artem wollte mich töten, um dich zu ärgern und dann hast du ihm mit einer Axt den Kopf abgeschlagen ... was du getan hast, verübel ich dir nicht einmal, er hatte es nicht besser verdient, doch die eigentlich grausige Geschichte dahinter ist, sie meinten, dass Lukasch das alles inszeniert hätte, um dich zu testen, ob du etwas als Killer taugst!“, wieder füllten sich Miras Augen mit Tränen, „... sie sagten, du wusstest davon seit eurer ersten Begegnung und da frage ich mich, wie kannst du mit so jemanden gemeinsame Sachen machen und uns sogar noch hier her bringen?“

Von Fakten erschlagen schüttelte Juri den Kopf.

„... sie sagten, du wärst Lukasch bester Schlachter ...“, dann versagte Miras Stimme und wurde durch die dicken Tränen erstickt. Juri konnte nicht länger an sich halten und stürzte auf Mira zu. Seine Arme waren wie riesige Flügel, die sie umhüllten und sie an sich pressten. Wie gern hätte er ihr die Wahrheit erzählt, seine Seele vor ihr reingewaschen, doch es ging einfach nicht. Das Letzte, was er wollte, war sie in Gefahr zu bringen. Also musste eine neue Geschichte erzählt werden. Noch fester legte er seine Arme um ihre Schultern und küsste ihren Schopf.

„Du bist das Allerwichtigste für mich. Ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen. Es tut mir leid, dass du das mit Lukasch ansehen musstest. Ich hatte keine Ahnung. Ich habe von den Gerüchten gehört, darauf aber nichts gegeben. So war es nicht! Du kennst die Wahrheit. Mira, sie wollen uns auseinander bringen! Das lasse ich nicht zu!“

Verheult stemmte sich Mira gegen seine Brust.

„Ist es wahr, dass du auch mit den anderen Frauen im Bordell schläfst?“

Ertappt starrte Juri sie an. Seine Augen schauten in ihre, doch dieses Mal waren sie leer und voller Anklage.

„Es ist also wahr!“, enttäuscht schupste sie Juri zurück und wandte sich aus seinen Armen. Dann legte sie beschämt die Hände vors Gesicht und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Tut mir leid, dass ich noch da bin. Respekt Juri, es waren einige Mädchen, die mir diese Geschichten erzählt haben, scheinst ja genug Zuspruch in anderen Betten zu erfahren!“

Mira war verletzt und plötzlich machte alles Sinn. Es waren keine besorgten Gespräche um ihre Person, sondern nur die Absicht, Juri ihr auszuspannen. Fassungslos rannten die Tränen über Miras Gesicht. Dieser Anblick war für Juri kaum auszuhalten, aber was sollte er sagen? Wie kann man so etwas erklären? Er liebte sie, ohne Zweifel! Nie wollte er sie verletzen oder betrügen. Der Umstand hat ihn leichtsinnig werden lassen, die schlaflosen Nächte, der Alkohol! Sie waren Schuld, nicht er! Die Treffen mit den Frauen entstanden doch nur aus der Not heraus, vielleicht als Zeitvertreib, um die Gesichter der Leichen aus dem Kopf zu bekommen. Wenn er fickte, entspannte er, er wollte nicht lieben, nicht begehren, er wollte einfach nur abgelenkt sein und so wollte er das mit Mira nicht. Sie war doch schließlich seine Liebe, sein Mädchen, warum sollte er sie so behandeln? Entschuldigend breitete Juri seine Arme aus.

„Mira, ich liebe nur dich. Auch wenn ich so tue, ich hasse es, wenn du mit den anderen Männern mitgehst!“

„Und dann fickst du ne Andere?“, herrschte sie ihn an.

„Das ist es nicht!“

Mira ignorierte seine Antwort und fluchte weiter.

„... während ich deine Spielschulden abarbeite, vergnügst du dich in anderen Betten? So ist es nämlich! Langeweile und der Suff scheinen dir zu Kopf gestiegen zu sein ...“

Mira wollte gerade mit der Hand zur Ohrfeige ausholen, da griff Juri nach ihrem Handgelenk und sah sie durchdringend an.

„Warum bist du nicht abgehauen? Du hattest genug Zeit!“

Juri sah in Miras Augen, wie diese Frage ihre Wut in Luft auflöste und sie im Kern traf. Ihr Mund antwortete fast so leise, dass er es kaum hören konnte.

„Wo soll ich denn hin? Ich kenne doch nur dich!“

Diese Gewissheit traf Mira wie ein Schlag und machte ihr einmal mehr bewusst: er war ihr zu Hause, ihre Familie und das Einzige, was sie besaß.

Glücklich über ihre Antwort umfasste Juri Miras Hand und zog sie an ihren zarten Fingern zu sich heran.