Miss Bly und die Wette gegen Jules Verne - Eva-Maria Bast - E-Book

Miss Bly und die Wette gegen Jules Verne E-Book

Eva-Maria Bast

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Beschreibung

1889. Von New York um den gesamten Globus – und das schneller als in Jules Vernes Roman »In 80 Tagen um die Welt«! Reporterin Nellie Bly zeigt, was sie kann.

Als Journalistin mit einem Hang für waghalsige Reportagen hält die junge Nellie Bly das New Yorker Lesepublikum in Atem. Doch als ihr Chefredakteur sie zur Berichterstattung von »Frauenthemen« drängen will, muss zügig eine neue spektakuläre Story her. Nellie will eine Weltumrundung wagen, ohne Begleitung oder schweres Gepäck. Und sie möchte dabei schneller sein als Phileas Fogg, der berühmte Protagonist aus Jules Vernes Roman »In 80 Tagen um die Welt«! Als Nellie am 14. November 1889 den Dampfer nach England besteigt, ahnt sie nicht, dass diese Wettfahrt das wohl größte Abenteuer ihres Lebens sein wird – und dass sie dabei auch ihrer großen Liebe begegnet.

Inspiriert von der beeindruckenden Lebensgeschichte der amerikanischen Journalistin Nellie Bly.

Sie interessieren sich für spannende Lebensgeschichten? Dann lesen Sie auch:
»Fräulein Stinnes und die Reise um die Welt« von Lina Jansen
»Monsieur Jammet und der Traum vom Grand Hotel« von Ines Thorn

Alle Romane sind eigenständige Geschichten und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 463

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Buch

Als Journalistin mit einem Hang für waghalsige Reportagen hält die junge Nellie Bly das New Yorker Lesepublikum in Atem. Doch als ihr Chefredakteur sie zur Berichterstattung von »Frauenthemen« drängen will, muss zügig eine neue spektakuläre Story her. Nellie will eine Weltumrundung wagen, ohne Begleitung oder schweres Gepäck. Und sie möchte dabei schneller sein als Phileas Fogg, der berühmte Protagonist aus Jules Vernes Roman »In 80 Tagen um die Welt«! Als Nellie am 14. November 1889 den Dampfer nach England besteigt, ahnt sie nicht, dass diese Wettfahrt das wohl größte Abenteuer ihres Lebens sein wird – und dass sie dabei auch ihrer großen Liebe begegnet.

Autorin

Eva-Maria Bast ist Journalistin, Leiterin der Bast Medien GmbH und Autorin von mehreren Sachbüchern, Krimis und zeitgeschichtlichen Romanen. Für ihre Arbeiten erhielt sie diverse Auszeichnungen, darunter den Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Kategorie Geschichte. Seit einigen Jahren schreibt sie sehr erfolgreich historische Familiensagas und eroberte schon mehrfach die SPIEGEL-Bestsellerliste – unter anderem unter den Pseudonymen Charlotte Jacobi und Romy Herold (gemeinsam mit Jørn Precht). Die Autorin lebt am Bodensee.

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EVA-MARIA BAST

Miss Bly und die Wette gegen Jules Verne

Roman

Das Zitat von Matthew Goodman auf S. 394 stammt aus »Die schnellsten Frauen der Welt: Wie sich zwei Reporterinnen im 19. Jahrhundert ein einmaliges Wettrennen lieferten«, übersetzt von Almuth Carstens und Leon Mengden, btb Verlag, München 2017.

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Copyright © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Andrey Kuzmin, Amy Walters, Netfalls, Aleksey Stemmer, akamaraqu) und akg-images / ClassicStock / AMERICANSTOCK

DK · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-6412-9260-7V001

www.blanvalet.de

Prolog

New York, USA, September 1887

Die Rastlosigkeit dieser Stadt passte zu ihr. Dieses ewige Getrommel der Pferdehufe, die auf das Pflaster klackten, das Geratter der Räder von Kutschen, Omnibussen und Karren, das Gequietsche der Hochbahn – all das entsprach ihrem Wesen, ihrem Drang, niemals zu ruhen, immer Neues zu entdecken. Es war ihre Rastlosigkeit, die sie von Pittsburgh nach New York getrieben hatte. Ihre Rastlosigkeit – und der Wunsch, hier einen ihrer vier Träume zu erfüllen: für eine New Yorker Zeitung zu schreiben. Für die anderen drei Träume – sich zu verlieben, einen Millionär zu heiraten und die Welt zu verbessern – war noch Zeit. Schließlich war sie, Elizabeth Cochrane, genannt Nellie Bly, erst 23 Jahre alt. Und sie platzte fast vor Energie, manchmal schien es ihr, als habe sie mehr davon, als in ihren relativ kleinen und zierlichen Körper hineinpasste und als stünde sie, wie auch diese Stadt, über der ein riesiges Netz von Stromleitungen verlief, im wahrsten Sinne des Wortes ständig unter Spannung. Heute rührte ihre Spannung aber noch von einem anderen Grund her, und der war nicht, wie sonst, erfreulich, sondern im Gegenteil äußerst unangenehm: Ihre Geldbörse mitsamt all ihrem Ersparten war ihr gestohlen worden. Sie hatte nichts mehr, gar nichts, und deshalb blieben ihr nur zwei Möglichkeiten: Entweder nach Pittsburgh zurückkehren und sich und allen anderen eingestehen, dass sie in New York gescheitert war, oder sich eine Stelle besorgen, und zwar sofort. Zwar hatte sie das schon seit ihrer Ankunft im Frühjahr vergeblich versucht, aber andererseits war Aufgeben noch nie eine Option gewesen. Und Nellie wusste trotz ihrer jungen Jahre: Richtig und zielstrebig eingesetzte Energie machte alles möglich! Kurz entschlossen hatte sie sich von ihrer Vermieterin ein paar Cent geliehen und war in die Dampfbahn gestiegen, um die halbstündige Fahrt in Richtung Zeitungsviertel im Süden Manhattans anzutreten.

Ihr kleines, möbliertes Zimmer lag in der West 96th Street und damit so weit außerhalb von Downtown, dass der Weg, der zu ihrem Haus führte, nicht einmal mehr gepflastert war, sondern nur aus festgetretenem Schlamm bestand. Mehr konnte sie sich nicht leisten, und in dem Viertel gab es sogar noch frei laufende Ziegen. Doch nun war sie in der Park Row mit ihren Türmen und ihren hohen, imposanten Gebäuden aus Sandstein, Marmor und Granit angekommen. Sie hatte das Gefühl, dass ein Herausgeber den anderen mit der Größe und Pracht seines Gebäudes übertrumpfen wollte. Und dann stand sie vor dem Zeitungshaus der New York World, das mit seinen 17 Stockwerken einfach nur unglaublich beeindruckend war. Es war brandneu, erst vor einigen Jahren hatte Joseph Pulitzers kleiner Sohn den Grundstein legen dürfen. Bevor sie hineinging, blieb Nellie für einen Moment stehen und bestaunte das imposante Bauwerk. Es war aus Ziegel und Sandstein errichtet, was der Fassade einen interessanten Kontrast verlieh. Die Kuppel aus vergoldetem Kupfer hatte sie schon aus einiger Entfernung ausmachen können, und ihr Herz hatte bei diesem Anblick ein wenig schneller geschlagen. Wie es wohl sein musste, für eine Zeitung zu schreiben, deren goldene Kuppel alles überstrahlte und selbst an grauen Tagen schimmerte?

Sie war schon einmal hier gewesen, vor einigen Wochen, kurz nachdem sie in New York eingetroffen war und enttäuscht hatte feststellen müssen, dass es gar nicht so einfach war, bei einer New Yorker Zeitung auch nur vorgelassen zu werden! Doch Nellie hatte nicht aufgegeben: Da sie noch dann und wann für den Pittsburgh Dispatch schrieb, bat sie New Yorks Chefredakteure als Korrespondentin um ein Interview zum Thema »Weiblichkeit im New Yorker Journalismus«. Und auf einmal standen ihr alle Türen offen. Sie sprach mit Charles Dana von der Sun, dem Herausgeber des Herald, Reverend Dr. Hepworth und Charles Ransom Miller von der New York Times. Die Männer waren entweder der Ansicht, Frauen seien zwar sicher durchaus gute Journalistinnen, hätten aber keine Ausbildung. Oder aber sie meinten, man könne den Damen nicht zumuten, sie im Notfall nachts aus dem Bett zu klingeln, geschweige denn ihnen Berichterstattungen über Skandale anzuvertrauen. Schließlich gelte es ja immer noch, die Regeln der Höflichkeit zu beachten. Auch mit dem Chef der World, John Cockerill, hatte sie gesprochen, der ihr erklärt hatte, dass Frauen, wenn überhaupt, im Bereich Mode und Gesellschaft arbeiten sollten, diese Sparten waren jedoch nicht so gefragt. Allerdings seien bei der World durchaus zwei Frauen tätig, woran Nellie erkennen könne, dass man nichts gegen Journalistinnen habe. Nellie hatte zumindest das Gespräch mit Cockerill einigermaßen ermutigend gefunden – Aufträge hatte er jedoch nicht für sie gehabt. Und schon gar nicht hatte er sie einstellen wollen. Doch nun hatte sie keine Wahl mehr. Sie musste ihn einfach überzeugen. Und das würde ihr auch gelingen.

Mit dem Aufzug – fast alle Gebäude im hoch technisierten New York besaßen einen – fuhr sie nach oben und fand sich in dem riesigen Raum wieder, in dem sie schon einmal gewesen war und der mit seiner hektischen Betriebsamkeit auch heute wieder eine unbeschreibliche Faszination auf sie ausübte. Es war unfassbar laut, die Redakteure riefen sich Nachrichten zu und eilten mit gerunzelter Stirn und wichtig aussehenden Papieren durch die Gänge zwischen den unzähligen Schreibtischen, an denen weitere Männer saßen. Sie alle waren im Begriff, kluge Artikel zu verfassen, die am nächsten Tag ganz New York lesen sollte. Über alldem lag ein blauer Schleier aus Rauch, da fast jeder der Redakteure nicht nur einen Stift in der Hand hielt, sondern auch eine Zigarette oder eine Zigarre im Mundwinkel hängen hatte. Weil es an diesem Septembertag so heiß war, hatten viele ihre Jacketts ausgezogen und achtlos über die Stuhllehnen geworfen. Von den Frauen, die Cockerill erwähnt hatte, war nichts zu sehen, was Nellie ärgerte.

Niemand schenkte ihr Beachtung, doch von ihrem letzten Besuch wusste sie noch, wo sich das Büro des Chefredakteurs befand, und so steuerte sie entschlossenen Schrittes darauf zu. Bevor sie klopfte, berührte sie noch einmal den kleinen goldenen Ring, den sie am Daumen trug. Er war ihr Glücksbringer, seit ihr Vater ihn sich kurz vor seinem Tod vom Finger gezogen – bei ihm war es der kleine gewesen – und ihr gesagt hatte: »Trag ihn, Nellie. So bin ich immer bei dir. Und werde dich immer beschützen, wohin du auch gehst.«

Die Tür, die vom Vorzimmer Cockerills zu seinem Büro führte, wurde von einem hochnäsigen jungen Mann verteidigt, der ihr mit eisiger Miene mitteilte: »Der Chefredakteur darf nicht gestört werden!«

»Bitte«, flehte Nellie, »es ist wichtig.«

Der Hochnäsige musterte sie über den Rand seiner goldgeränderten Brille hinweg, und sein gepflegter Schnauzer – Nellie hatte beobachtet, dass die jüngeren Herren in New York Schnauzer und die älteren Bart trugen – zuckte empört, als er sagte: »Wenn Sie wüssten, wie oft ich am Tag diese Worte zu hören bekomme.«

Nellie dachte, dass der Mann doch eigentlich froh sein musste, wenn die Menschen mit wichtigen Dingen zu ihm kamen, schließlich lebte die Zeitung von Nachrichten. Verzweifelt sah sie auf die Tür, hinter der ihre Zukunft lag, liegen musste.

»Ich warte. Irgendwann muss er ja rauskommen«, teilte sie dem Sekretär mit, der sich inzwischen demonstrativ und mit wichtiger Miene dem Stapel Papiere, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, zugewandt hatte. Als Nellie tatsächlich auf der schmalen Besucherbank Platz nahm, die, wie sie dachte, wohl mit voller Absicht unbequem gehalten war, erbebten die Schnurrbartspitzen des jungen Mannes vor Empörung erneut ob dieser Frechheit. Doch Nellie sah ihn mit ihren eisgrauen Augen – man sagte, sie habe einen stechenden Blick, wenn sie wollte – nur ruhig an.

Der Schnurrbärtige wurde rot, und während er zurückstarrte, bemerkte Nellie, dass die Brillengläser seine Augen unnatürlich vergrößerten. »Wie Sie meinen«, schnappte er dann und strafte sie fortan mit eisiger Verachtung.

Während Nellie immer wieder ungeduldig den kleinen goldenen Ring an ihrem linken Daumen drehte, wurden im Stockwerk unter ihr Manuskriptseiten der New York World von Hunderten Schriftsetzern in Spalten aus Blei übertragen. Seite um Seite wurde gedruckt, verpackt und zur Abholung auf einer Laderampe bereitgestellt.

Die Minuten verflogen, und Nellie beobachtete durch das Fenster, wie immer wieder Boten mit wichtig aussehenden Schriftstücken an ihr vorbeieilten, darin vermutlich Depeschen von den Korrespondenten aus aller Welt für die Zeitung. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen, doch heute musste sie beweisen, dass sie auch dazu fähig war. Als aus den Minuten Stunden wurden, hielt Nellie es jedoch nicht länger aus.

»Verzeihen Sie bitte«, wandte sie sich erneut an den Sekretär, »entweder Sie lassen mich nun zu Mr. Cockerill durch, oder ich bin gezwungen, meine Story einer anderen Zeitung anzubieten.«

»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, empörte sich der junge Mann und bekam rote Flecken auf dem Gesicht.

»Ich bin Nellie Bly«, erwiderte sie ruhig, während sie sich erhob. »Und ich werde nun zur Times gehen, um mit Mr. Miller zu sprechen.« Ohne den jungen Mann noch mal eines Blickes zu würdigen, wandte sie ihm den Rücken zu und marschierte in Richtung der Aufzugstüren.

»Warten Sie!«, rief der Sekretär ihr nach und erhob sich rasch hinter seinem Schreibtisch. Sein Widerstand war offenbar gebrochen. »Bitte nehmen Sie noch mal Platz, ich gebe Mr. Cockerill Bescheid.«

Mit einem triumphierenden Lächeln kehrte Nellie um. Nur wenige Minuten später fand sie sich im Büro des Chefredakteurs wieder.

Die Augen von Colonel Cockerill, wie er allgemein genannt wurde, musterten Nellie Bly aufmerksam. Der Chefredakteur war ein großer Mann, auf dessen imposanter Statur ein großer, eckiger Kopf saß. Sein schwarzes Haar war von ersten weißen Strähnen durchzogen, seinem Alter entsprechend trug er einen buschigen schwarz-weißen Bart, und auch in seinem Mundwinkel klebte eine Zigarre, die schrecklich stank.

Offenbar machte sich der Chefredakteur selten die Mühe, die Asche in dem dafür vorgesehenen Behälter abzustreifen, denn in diesem befanden sich nur wenige Flocken, während auf der Tischplatte vor ihm ein Ascheberg ruhte – neben wichtigen Schriftstücken und einem teuer aussehenden Füllfederhalter. Als er nun Nellie aufforderte, Platz zu nehmen, bewegte sich sein Walrossschnauzer auf und ab, und die Asche seiner Zigarre rieselte dabei auf seine Weste.

Nellie hatte gehört, dass Cockerill nicht nur gerne fluchte und herumbrüllte, sondern einen Kritiker seines Blattes eines Tages einfach erschossen hatte, was zur Empörung der Leser nicht zu einer Verurteilung geführt hatte. Der Herausgeber Pulitzer hatte seinen Chefredakteur zwar daraufhin entlassen, ihn aber später, als etwas Gras über die Sache gewachsen war, wieder eingestellt.

Nellies Hand umklammerte den Glücksring, was Cockerills stechendem Blick nicht verborgen blieb, als sie nun hervorstieß: »Ich möchte nach Europa und wieder zurück reisen. Ich buche Plätze in der dritten Klasse und berichte den Lesern von den Strapazen einer solchen Überfahrt.«

Atemlos wartete sie auf seine Reaktion.

Cockerill musterte die junge Frau aufmerksam, etwas an ihr schien ihm zu gefallen und ihn zu überzeugen, dann nickte er anerkennend – und sagte: »Ich werde das mit Joseph Pulitzer besprechen. Ich möchte Sie nächste Woche um dieselbe Zeit wieder in meinem Büro sehen.«

»In Ordnung«, sagte Nellie, bemüht, nicht zu zeigen, wie sehr sie sich freute.

»Hören Sie zu, Bly, sie gehen damit zu keiner anderen Zeitung«, forderte Cockerill.

»Einverstanden«, erwiderte Nellie. »Nur …«

»Sie erhalten selbstverständlich einen finanziellen Ausgleich für die Wartezeit«, fiel ihr Cockerill barsch ins Wort und schob ihr 25 Dollar über den Schreibtisch – ein Viertel ihres gestohlenen Ersparten, einfach so! Nellie konnte es kaum glauben, bedankte sich hastig und steckte das Geld ein.

Als sie eine Woche später wie verabredet zurückkehrte, winkte der schnurrbärtige Vorzimmermann sie sofort durch, und Cockerill rang sich zur Begrüßung sogar ein Lächeln ab. Er hatte eine gute und eine schlechte Nachricht für sie. Die schlechte: Sie würde nicht nach Europa reisen. Die gute: Pulitzer wollte sie, aber nicht für die Sparte Gesellschaft und Mode. Sie sollte in New York recherchieren – und Missstände aufdecken.

Nellie strahlte. Auch wenn sie nun keine Reise antreten würde: Sie war am Ziel! Einen ihrer vier Träume hatte sie erreicht, nein, eigentlich zwei. Für eine New Yorker Zeitung zu arbeiten. Und wenn es ihr wirklich gelänge, durch ihre Arbeit Ungerechtigkeiten aufzuzeigen, dann würde die Welt durch sie ein klein wenig besser werden. Das Leben war wunderbar!

1. Kapitel

New York, USA, Montag, 11. November 1889

Draußen herrschte ein trübes, nasses Grau. Nellie saß an ihrem kleinen, hölzernen und immer ein wenig wackelnden Schreibtisch unter dem Fenster und sah den Regentropfen zu, die die Scheibe hinabrannen und sich dabei mit anderen Regentropfen verbanden. Sie bildeten Spuren und Schlieren, zeichneten ein Bild. Ein Regenbild, und Nellie überlegte, ob die Regenbilder dieser Welt sich wohl sehr voneinander unterschieden. Wie anders musste ein solches Werk vor einem strahlend blauen Himmel wirken, wenn sich die Sonnenstrahlen in den Tropfen brachen, sie zum Leuchten und zum Funkeln brachten? Hier in New York jedoch schien es die November-Tristesse noch zu verstärken, aus dem trüben Grau wurde nun eben ein nasses Grau. Nellie lauschte dem leisen Trommeln des Regens und begann, auf ihrem Stuhl hin- und herzuschaukeln. Bei einer bestimmten Bewegung ächzte dieser nämlich eigentümlich, als wäre er ein alter Mann und wolle damit sagen: Ich habe mein Tagwerk getan, mein Lebenswerk neigt sich dem Ende zu. Nun habe ich ein wenig Ruhe verdient. Doch Nellie gönnte dem Stuhl keine Ruhe, und langsam ergab sich ein Rhythmus, ein Lied. Trommel, trommel, knarz. Trommel, trommel, knarz. Trommel, trommel, knarz. Klopf.

Verwirrt fuhr Nellie herum. Etwas hatte den gerade gefundenen Rhythmus gestört. Wieder klopfte es. Jemand war an der Tür. Verwundert stand sie auf. Wer konnte das sein? Wer sie in ihrem eintönigen Regenallerlei stören? Da ihre Mutter nicht da war – sie traf sich mit ihrer besten Freundin Cora Linn Daniels, einer Frauenrechtlerin, stand Nellie auf, strich sich ihren eleganten Rock zurecht, zu dem sie eine modische weiße Bluse mit hohem Kragen trug, die vorne am Hals mit einer Brosche zusammengehalten wurde, ging in den winzigen Flur und öffnete die Tür. Draußen stand ein Bote, nass bis auf die Haut, 16 Jahre alt mochte er höchstens sein, auf seinem dumpfen braunen Haar saß eine karierte Mütze. Nellie bedauerte den Jungen, der sich offenbar keine bessere Kleidung zum Schutz gegen Wind und Wetter leisten konnte. Der Bote reichte ihr einen Umschlag, der in seinem Grau wunderbar zum Novemberwetter passte, tippte sich einmal an die karierte Mütze und war verschwunden.

Nellie schlug die Tür hinter ihm zu und eilte an den Schreibtisch zurück. Sie nahm sich jedoch keine Zeit, sich auf den alten, knarrenden Stuhl zu setzen, geschweige denn, den Brieföffner herauszuholen, sondern schlitzte den Umschlag sogleich mithilfe ihres kleinen Fingers auf. Das Papier, das darin steckte, enthielt nur wenige Worte.

Erwarte Sie umgehend in der Redaktion. John Cockerill.

Nellie verzog das Gesicht. Der Gedanke, in dieses Unwetter hinauszumüssen, behagte ihr gar nicht. Doch sie war auch beunruhigt: Wenn der Chefredakteur sie so spät am Nachmittag noch mal in die Redaktion rief, dann musste es wichtig sein. Dass man sie herbeieilen ließ, um über einen Unfall oder einen Stromausfall zu berichten, war ausgeschlossen: Nellie Bly wurde nicht zu Katastropheneinsätzen geschickt. Und das nicht, weil sie eine Frau, sondern weil sie zu wichtig war: In den zwei Jahren, in denen sie nun schon für die World arbeitete, war sie zur Berühmtheit geworden – und das gleich mit ihrer ersten Geschichte, als sie mit einer Reportage die Missstände im Irrenhaus der Stadt aufgedeckt hatte. Es folgten weitere: eine Story über eine Agentur, die Babys verkaufte, eine weitere über eine Klebstofffabrik, die ihre Arbeiterinnen unter unzumutbaren Bedingungen schuften ließ, eine dritte über einen Mann, der regelmäßig im Central Park über Frauen herfiel – sie war seiner Masche auf die Schliche gekommen und hatte sich ihm selbst als Opfer dargeboten. Nellie Bly wurde zur Kultfigur, stand selbst im Mittelpunkt ihrer Geschichten und fand ihren Namen auch oft in der Schlagzeile wieder, wenn die World zum Beispiel titelte: »Nellie Bly auf der Spur des Verbrechens«. Selbst Pulitzer lobte sie in aller Öffentlichkeit und sagte ihr eine große Zukunft voraus. Nur die Reise um die Welt, die hatte er sie immer noch nicht machen lassen. Nach ihrem Vorschlag vor zwei Jahren, die Reise nach Europa auf dem Zwischendeck der großen Kreuzfahrtschiffe anzutreten und über die Zustände dort zu berichten, hatte sie der Chefredaktion vor einem Jahr einen weiteren Vorschlag präsentiert: Sie wollte Phileas Fogg, den literarischen Helden aus Jules Vernes Roman Reise um die Erde in 80 Tagen, herausfordern und die Reise in kürzerer Zeit bewerkstelligen. Sie war bereits beim Bowling Green gewesen, wo die meisten Reedereien beheimatet waren, und hatte Schiffs- und Eisenbahnlinien studiert. Und sie war zu dem Schluss gekommen, dass es durchaus möglich war, die Welt schneller als Phileas Fogg zu umrunden. Sie kannte und liebte dieses Gefühl, das sie durchzuckte, als sie die Gewissheit hatte und das sich ihrer immer dann bemächtigte, wenn sie einer wirklich guten Geschichte auf der Spur war. Umso größer fiel ihre Enttäuschung aus, als Cockerill abgewinkt hatte. Als Frau brauche sie einen Beschützer, die World könne es nicht verantworten, sie ganz allein um die Welt reisen zu lassen. Im Irrenhaus sei es viel gefährlicher gewesen, hatte Nellie aufbegehrt, doch dieses Mal hatte Cockerill sich nicht erweichen lassen und das nächste Argument aus der Schublade gezogen: Als Frau sei sie außerstande, das Umsteigen zu bewältigen. Schließlich sei allgemein bekannt, dass Damen schon für kurze Reisen mehrere Schrankkoffer benötigten, und auch Nellie lege ja, wie man sehen könne, Wert auf Garderobe. Wie sie diese Aussage geärgert hatte! Ja, sie kleidete sich gern gut. Das konnte sie sich schließlich leisten, und zwar nicht nur finanziell, sondern auch, weil sie eine Figur hatte, die sich sehen lassen konnte! Und weil sie fand, dass Frauen ihr Aussehen durchaus einsetzen durften – nicht nur, um Männern zu gefallen, sondern auch, um allgemein einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sie war Stammkundin in den angesagtesten Salons New Yorks und wählte treffsicher elegante Gewänder aus edelsten Stoffen, die ihrem braunen Haar, das sie inzwischen aufgesteckt trug, und ihren grauen Augen schmeichelten. Aber das bedeutete doch nicht, dass sie nicht imstande war, auf ihre Garderobe zu verzichten, während sie auf Weltreise war! Doch Cockerills Nein war deutlich gewesen, und es hatte ihn auch nicht erweichen können, als sie gedroht hatte, mit dieser Idee bei einer anderen Zeitung vorstellig zu werden. Immerhin hatte er jedoch eingewilligt, dass die World, sollte sie jemals für ihre Leser eine Reise um die Welt erwägen, Nellie schicken würde.

Während sie dieserart in ihre Gedanken versunken war, hatte Nellie den East River in Richtung Manhattan überquert und war dann mit der Pferdebahn durch die Lafayette Street gefahren. Jetzt tauchte auch schon die goldene Kuppel des Zeitungsgebäudes in ihrem Blickfeld auf. Zum Glück war der Weg in die Redaktion nicht mehr so weit wie früher: In der Zwischenzeit verdiente Nellie so gut, dass sie in die 74th Street, Kreuzung Broadway und Amsterdam Avenue umgezogen war und ihre Mutter zu sich geholt hatte. Wie immer zog sie der Anblick der Kuppel in ihren Bann. Kaum zu glauben, dass sie inzwischen wirklich für diese Zeitung schrieb, die das höchste Gebäude New Yorks gebaut hatte. Wieder grübelte Nellie, was so wichtig sein konnte. Ein neuer Auftrag? Eigentlich waren die Themen doch heute Morgen in der Montagskonferenz vergeben worden, und sie hatte wieder so viele bekommen, dass sie gar nicht wusste, wann sie alle schreiben sollte. Ohnehin kam sie kaum einmal zum Luftholen, so sehr wurde sie regelrecht mit Arbeit überschüttet. Sie war ja dankbar dafür, dankbar, dass man so schätzte, was sie tat. Aber immer öfter und auch jetzt reagierte sie mit heftigen Kopfschmerzen auf die Dauerbelastung. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass die Redaktion sie allein deshalb so mit Arbeit eindeckte, dass sie ihre Drohung nicht wahr machen konnte, ihre Reise um die Welt für eine andere Zeitung anzutreten. Denn sie hatte schlicht keine Zeit, irgendetwas vorzubereiten.

Kurz darauf hatte Nellie den großen Redaktionsraum erreicht. Sie nickte ihren Kollegen zu und öffnete die Tür zu Cockerills Vorzimmer. Joe, wie der bebrillte Mittzwanziger mit dem zuckenden Schnauzer hieß, der sie bei ihrem ersten Gespräch mit dem Chefredakteur abzuwimmeln versucht hatte, grinste ihr zu, als sie eintrat. Sie hatten längst Freundschaft geschlossen.

»Er wartet schon.«

Cockerill schenkte ihr jedoch, nachdem sie eingetreten war, zunächst keine Beachtung, sondern las seelenruhig den Artikel weiter, der vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch lag. Dann und wann rieselten einige Flöckchen Asche von seiner Zigarre auf das Papier.

Nellie hatte inzwischen Platz genommen und rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie spürte, dass Ärger in ihr aufstieg. Da zitierte der Chefredakteur sie eilends her, und dann ignorierte er sie.

»Nun«, sagte sie schließlich. »Ich sollte sofort kommen. Was war denn so eilig?«

Cockerill sah auf, als bemerkte er ihre Anwesenheit erst jetzt, und fragte dann in so gelangweiltem Ton, als handle es sich um eine Beiläufigkeit:

»Können Sie übermorgen zu Ihrer Weltumrundung aufbrechen?«

»Zu meiner …« Nellie sprang auf und ließ sich dann entgeistert wieder auf ihren Stuhl sinken. In ihrem Kopf tobten die widerstreitendsten Gefühle. Sie wollte jubeln! Endlich und so unerwartet war sie am Ziel! Sie durfte los! Ihr Wettlauf gegen Jules Vernes Figur Phileas Fogg konnte beginnen. Zugleich aber spürte sie Unwillen in sich aufsteigen. Sie hatte den Vorschlag vor einem Jahr gemacht! Und nun sollte sie nur zwei Tage Zeit für die Vorbereitung haben? Das ergab keinen Sinn! Unter gesenkten Lidern beobachtete sie John Cockerill, dessen Miene jedoch nichts erkennen ließ. Stellte er sie etwa vor eine besonders schwere Herausforderung, um ihr Scheitern wahrscheinlicher zu machen? Damit er am Ende triumphieren und sagen könnte, er habe es ja von Anfang an gewusst? Eine Frau wäre den Strapazen niemals gewachsen und sie, Nellie Bly, ja schon vor Antritt der Reise krachend gescheitert. War das vielleicht sogar ein Trick, um am Ende doch noch einen Mann schicken zu können?

Beruhige dich, Nellie, befahl sie sich.

Sie streckte sich, hob den Kopf und sah ihrem Chef in die Augen.

»Natürlich kann ich das«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Ich kann noch in dieser Minute aufbrechen.«

Cockerill nickte zufrieden. »Wir wissen, die Zeit ist knapp, daher werden Sie aus der Redaktion jede Unterstützung für die Vorbereitungen erhalten.«

»Danke«, sagte Nellie und rang sich dann zu der Frage durch, die ihr so sehr auf der Seele brannte: »Warum muss es denn auf einmal so schnell gehen?«

Cockerill seufzte. »Das sage ich Ihnen jetzt ganz im Vertrauen, Nellie Bly«, setzte er an. »Zum einen hatten Sie den richtigen Riecher, wie so oft.« Er lächelte. »Seit Ihrem Vorpreschen haben wir zwei weitere Vorschläge bekommen, die Welt zu umrunden – einmal von einem Redakteur, einmal von einem Leser. Wir denken, dass Mr. Vernes Roman eine Art Sehnsucht ausgelöst hat. Und wir denken: Wenn wir Sie nun nicht ziehen lassen, wird eine andere Zeitung recht schnell ebenfalls auf die Idee kommen, jemanden um die Welt zu schicken.«

Nellie nickte. »Und zum anderen?«, fragte sie.

Cockerill kramte in seiner Schreibtischschublade, zog ein leicht zerknittertes Blatt Papier hervor und schob es ihr zu. Schnell überflog Nellie die Zeilen, die eine Ansprache von Lord Salisbury, dem Premierminister des Vereinigten Königreichs, wiedergaben, in denen er überlegte, »wie der Telegraf, diese merkwürdige und faszinierende Erfindung, die gesamte Menschheit auf einer einzigen großen Fläche versammelt habe, von der aus sie all das sehen kann, was getan, und hören kann, was gesagt wird, und sie jedes politische Ereignis im gleichen Augenblick beurteilen kann, in dem es stattfindet.«

»Ich verstehe«, erwiderte Nellie. »Ich kann während meiner Reise mithilfe der Telegrafie den Leser direkt an meinem Wettlauf teilhaben lassen.« Das leuchtete ein, und insgeheim bat sie Mr. Cockerill wegen ihres Verdachts um Verzeihung.

»Der dritte Grund ist, dass die Auflagenzahlen zurückgehen«, sagte Cockerill leise, und Nellie wusste, was es für ein Vertrauensbeweis war, dass er ihr diese Information gab. »Was?«, fragte sie. »Aber es lief doch gerade so gut!« Pulitzer selbst hatte ihr berichtet, dass das Blatt in den sechs Jahren, seit er es übernommen hatte, seine Auflage von 15.000 auf mehr als 150.000 gesteigert und sich damit verzehnfacht hatte.

»Bis vor Kurzem war das auch so«, pflichtete Cockerill ihr bei. »Aber jetzt stagnieren die Zahlen und gehen sogar leicht zurück. Pulitzer will sofort gegensteuern. Sie haben Glück. Denn ich glaube nach wie vor nicht, dass Sie es schaffen werden.«

Nellie grinste. »Aber ich«, sagte sie. »Und zwar ganz ohne Schrankkoffer.«

Für einen Moment zog der äußerst seltene Anblick eines Lächelns über John Cockerills Gesicht, gleich darauf hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Sie können übermorgen auf der City of Paris in Richtung Southampton fahren. Das hätte den Vorteil, dass Sie den Postzug von London ins italienische Brindisi ganz sicher erreichen. Ich bin aber der Ansicht, das lässt Ihnen zu wenig Vorbereitungszeit. Daher würde ich Sie lieber auf die Augusta Victoria buchen, die am Donnerstagmorgen ablegt.«

»Wie groß ist die Gefahr, dass ich den Postzug verpasse, wenn ich die Augusta Victoria nehme?«, fragte sie.

»Gering«, erwiderte Cockerill. »Wenn das Schiff allerdings in einen Sturm gerät …«

»Ich werde mich beeilen«, fiel ihm Nellie ins Wort. »Wenn ich es schaffe, nehme ich das frühere Schiff. Ich gehe gleich zum Hafen und erkundige mich, ob es für beide noch Schiffspassagen gibt. Dann entscheide ich mich.«

»Die gibt es«, sagte Cockerill. »Das haben wir schon in Erfahrung gebracht.«

»Dann erkundige ich mich, ob es eine Möglichkeit gibt, diese kurzfristig in Anspruch zu nehmen – oder auch nicht.«

»Einverstanden.« Dann erhob er sich zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Nellie tat es ihm gleich.

»Edward wird Ihnen bei der Vorbereitung behilflich sein und auch den Auftaktbericht anlässlich Ihrer Abreise schreiben.«

Edward Van Zile war ein Kollege von Nellie.

Nellie sah erschrocken auf, ihr war etwas eingefallen. »Ich habe keinen Pass«, ächzte sie.

Die Gesichtszüge des John Cockerill entglitten kurz, gleich darauf hatte er sich aber wieder im Griff. »Dann wird jemand anderer sich um den Auftaktbericht kümmern. Edward muss unverzüglich nach Washington reisen und Ihnen einen provisorischen Pass besorgen.«

»Aber geht das denn so schnell?«, fragte Nellie bang.

»Wenn das jemand schafft, dann ist es Van Zile«, knurrte Cockerill. »Er hat die besten Beziehungen zu Außenminister James G. Blaine. Wir können nur hoffen.«

2. Kapitel

New York, USA, Montag, 11. November 1889

Nellie war völlig außer Atem, als sie am Hafen ankam. Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass in den Niederlassungen der verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften noch Licht brannte. Sie beschleunigte ihre Schritte, und ihr war plötzlich ein wenig unheimlich zumute.

Auf einer großen Kiste saßen drei Männer und riefen hinter ihr her.

»So allein, schönes Fräulein«, schrie der eine. »Sollen wir dir Gesellschaft leisten?«

Die beiden anderen stießen ein keckerndes Gelächter aus, und Nellies Unbehagen wuchs. Der Hafen bei Dunkelheit war sicherlich kein Ort für eine Frau, um sich dort ganz alleine aufzuhalten. Sie spürte, dass ihre Angst immer größer wurde. Reiß dich zusammen, schalt sie sich. Wenn du jetzt schon Angst verspürst, dann hat John Cockerill am Ende noch recht, und als Frau bist du nicht in der Lage, diese Reise anzutreten. Trotzig hob sie das Kinn und beschleunigte ihre Schritte.

»Nicht so hastig«, sagte da eine schmierige Stimme hinter ihr. Gleich darauf wurde sie an der Schulter gepackt und in eine dunkle Gasse gezogen. Entsetzt schrie Nellie auf. Doch der Kerl, ein schmutziger Hafenarbeiter, der nach Alkohol und Schweiß stank, presste gierig seine Lippen auf die ihren.

»Lassen Sie mich sofort los!«, schrie Nellie und wehrte sich aus Leibeskräften, doch der Mann ließ nicht von ihr ab.

Plötzlich wiederholte eine kultivierte männliche Stimme ihre Aufforderung. »Lassen Sie sie sofort los!«

Schemenhaft konnte Nellie einen großen blonden Mann in Kapitänsuniform erkennen. Er packte den Arbeiter am Kragen und schleuderte ihn mit einer fast beiläufigen Bewegung aus der Gasse heraus. Der Mann, der in Gegensatz zu dem großen Retter regelrecht schmächtig erschien, strauchelte, rutschte aus, landete in einer Pfütze und rappelte sich so schnell er konnte auf, offenbar voller Angst vor dem Mann in Kapitänsuniform.

»Hau ab!«, rief der ihm hinterher. »Ich merk mir dein Gesicht. Und wenn du dir noch mal was zu Schulden kommen lässt, dann gnade dir Gott.« Dann wandte er sich zu Nellie um. »Geht es Ihnen gut?«, fragte er. »Hat er Ihnen etwas getan?«

Nellie starrte in sein Gesicht und dachte, dass sie, auch wenn sie es nur schemenhaft erkennen konnte, noch nie einen derart schönen Mann gesehen hatte. Wobei es ihr selbst eigenartig erschien, einen Herrn als schön zu bezeichnen. Das tat man doch eigentlich nur bei Frauen! Aber es stimmte. Dieser Mann hatte ein wunderschönes Gesicht, es war zugleich aber nicht weich, sondern außerordentlich markant. Die Farbe seiner Augen konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen, sie vermutete aber wegen seiner blonden Haare, dass sie blau waren. Blau wie der Ozean.

»Nein«, sagte sie auf seine Frage hin. »Nein, es geht mir gut.«

»Darf ich Sie auf den Schreck auf ein heißes Getränk einladen? Und sie anschließend begleiten? Es ist hier nicht gerade sicher, wie Sie bemerkt haben.«

Nellie schüttelte den Kopf und fühlte ein überwältigendes Bedauern in sich aufsteigen, als sie ablehnte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie. »Aber ich habe überhaupt keine Zeit. Ich muss noch in die Niederlassungen von Inman Line und der HAPAG.

»Dann schlage ich vor, Sie gehen zuerst ins Kontor der HAPAG«, sagte er. »Das wird nämlich bald schließen.«

»Hat das Kontor der Inman Line denn länger auf?«, fragte Nellie erstaunt.

»Nein«, erwiderte der Mann. »Wenn Sie gestatten? William Smith mein Name. Ich bin Kapitän der City of Paris und kann Ihnen sicherlich behilflich sein – auch wenn das Kontor geschlossen hat.«

»Das gibt es ja nicht!«, rief Nellie. »Sie habe ich gesucht!«

»Mich?« Nun war es an Smith, überrascht zu sein.

»Ja«, sprudelte Nellie hervor. »Wann legt Ihr Schiff denn ab?«

»Die Abreise ist für ein Uhr mittags am Mittwoch vorgesehen«, gab er erstaunt zurück.

»Und wie lange zuvor müssen die Passagiere an Bord sein?«

»In der Regel zwei Stunden vorher«, erklärte er bereitwillig.

»Aber …« Das wäre elf Uhr morgens! Das würde knapp werden, dachte Nellie. Es sei denn, Edward kehrte wirklich sehr schnell mit dem vorläufigen Pass zurück …

Während sie überlegte, eilte sie neben dem Kapitän in Richtung der Kontorräume der Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, kurz HAPAG.

»Würden Sie bei mir eine Ausnahme machen?«, fragte sie den Kapitän. »Wenn ich erst eine Minute vor Ablegen an Bord kommen würde – würden sie mich mitnehmen?«

»Das würde ich«, sagte er, und sie konnte seiner Stimme anhören, dass er zu lächeln schien. »Aber wäre es nicht an der Zeit, mich nun einmal aufzuklären, was Sie vorhaben?«

Da sie das Kontor der HAPAG bereits erreicht hatten, setzte sie den freundlichen Kapitän hastig über ihr Vorhaben in Kenntnis.

»Donnerwetter«, sagte der beeindruckt. »Sie wollen wirklich die Welt umrunden?«

»Es muss nur alles furchtbar schnell gehen«, erklärte Nellie. »Ich habe es soeben erst erfahren. Mein Kollege ist auf dem Weg nach Washington, um zu versuchen, mir einen Pass zu besorgen.«

»Es wäre mir eine Ehre, der erste Kapitän auf Ihrer Reise zu sein«, sagte er feierlich. »Ich nehme Sie auch in letzter Minute mit an Bord, und Sie müssen in meinem Kontor keine Schiffspassage mehr kaufen. Wenn Sie es schaffen, sind Sie mein persönlicher Gast.«

»Aber … das …«, sagte Nellie und hoffte mit einem Mal noch mehr, dass sie rechtzeitig an Bord sein würde. Sie bemerkte, dass auch der Kapitän sie wie gebannt anstarrte. »Ich werde alles daransetzen, um es zu schaffen«, versicherte sie. »Aber leider liegt das nicht allein in meiner Macht.«

»Ich weiß«, erwiderte er. »Lassen wir das Schicksal entscheiden.«

Dann löste sie sich aus seinem Blick, räusperte sich und sagte: »Sollen wir nun hineingehen?«

Er nickte. »Da ich sozusagen von der Konkurrenz bin, wird mein Auftreten zwar für einige Verwirrung sorgen, aber ich werde dennoch versuchen, ein gutes Wort für Sie einzulegen.«

»Inwiefern?«, fragte Nellie.

»Das werden Sie gleich sehen.« Er stieß die Tür auf und bedeutete ihr mit einer Geste, vor ihr einzutreten.

Am Tisch saß ein mürrisch dreinblickender Herr und sah kaum auf, als sie hereinkamen.

»Wir haben eigentlich schon geschlossen«, brummte er.

»Wir wollen Sie auch gar nicht behelligen«, versicherte Smith. »Aber ich muss in einer dringenden Angelegenheit Kapitän Albers sprechen. Wo finde ich ihn?«

Der graue Mann an seinem grauen Tisch – beide passten perfekt zu dem grauen Tag, der durch die unverhofften Ereignisse nun aber so viel Farbe bekommen hatte – blickte nun endlich auf und nahm Haltung an, als er bemerkte, dass er einen Kapitän vor sich hatte.

»Ich werde sofort nachsehen, Kapitän«, sagte er. »Nehmen Sie in der Zwischenzeit doch bitte Platz.«

Er verschwand durch eine Tür, die hinter seinem Schreibtisch lag, und Smith rückte Nellie einen Stuhl zurecht. Er hatte gerade ihr gegenüber Platz genommen, als das graue Männlein in Begleitung seines Kapitäns zurückkam. Dessen Miene hellte sich auf, als er seinen Kollegen am Tisch erblickte. »William Smith!«, rief er erfreut und klopfte Nellies Retter, der sich ebenfalls erhoben hatte, begeistert auf den Rücken. »Ich freue mich, dass wir uns vor deiner Abreise noch einmal sehen.«

»Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, versicherte Smith und deutete dann auf Nellie. »Darf ich dir jemanden vorstellen? Diese junge Dame will sich für die New York World auf Weltreise begeben. Ich nehme an, du kennst Jules Vernes berühmten Roman?«

»Willst du mich beleidigen?«, rief Albers. »Es gibt wohl kaum einen Kapitän, auf dessen Nachttisch sich dieses Werk nicht wiederfindet.«

»Da magst du recht haben, mein Freund.«

»Jedenfalls will ich Phileas Fogg, den Helden aus Mr. Vernes Roman, schlagen und die Weltumrundung in fünfundsiebzig Tagen schaffen«, mischte sich nun Nellie ins Gespräch.

Beeindruckt sah Albers sie an. »Das ist ein hochinteressantes Unterfangen«, kommentierte er.

»Nun, ich dachte, du könntest Miss Bly dabei behilflich sein«, sagte Smith.

»Und wie, wenn ich fragen darf?«

»Ich muss den Postzug in London am 21. November erreichen«, erklärte Nellie. »Da die City of Paris einen Tag vor der Augusta Victoria ausläuft, würde ich natürlich lieber dieses Schiff nehmen. Allerdings habe ich noch keinen Pass. Ein Kollege von mir ist gerade auf dem Weg nach Washington und versucht, ihn mir zu besorgen. Und ich muss auch noch einige Vorbereitungen treffen.«

»Sie haben keinen Pass?«, fragte der Kapitän der Augusta Victoria verblüfft.

»Nein«, gestand Nellie und kam sich mit einem Mal lächerlich vor. Was mussten die Männer von ihr denken? Da konnte sie sich noch nicht einmal ausweisen und wollte die Welt umrunden? Plötzlich war die Angst wieder zurück, die sie empfunden hatte, als ihr die Sache mit dem Pass eingefallen war. Würde am Ende alles an einem Fetzen Papier scheitern? Aber nicht nur John Cockerill, sondern auch Edward Van Zile war mehr als optimistisch gewesen, dass die Sache mit dem Pass kein großes Problem darstellen würde. Der Außenminister schulde ihm noch einen Gefallen, hatte Van Zile augenzwinkernd erklärt.

»Mein Kollege wird das hinbekommen«, sagte Nellie nun selbstbewusst. »Aber je nachdem wie lange das dauert, werde ich es nicht bis zum Auslaufen der City of Paris schaffen.«

»Und dann müsste sie mit euch fahren«, mischte sich nun wieder Nellies Retter ins Gespräch. »Sie würde gerne eine Schiffspassage buchen.«

»Die Sie vielleicht überhaupt nicht brauchen?« Der Kapitän winkte ab. »Das kommt nicht infrage. Wir haben genügend freie Kabinen an Bord. Niemals verkaufen wir alle bis zur Abfahrt. Wenn Sie mit uns reisen, wird es mir eine Ehre sein. Und wenn nicht, haben wir kein Geld verloren.«

»Danke«, sagte Nellie erleichtert. »Sie sind wirklich zu freundlich.«

»Nun«, erwiderte der Kapitän der Augusta Victoria und wirkte unendlich gütig. »Einer muss es ja sein. Denn wie es scheint, legt Ihre Redaktion diese Freundlichkeit nicht an den Tag. Sonst hätte man Ihnen mehr Vorbereitungszeit gegeben.«

3. Kapitel

New York, USA, Dienstag, 12. November 1889

Nellie hatte schlecht geschlafen. In Gedanken hatte sie Packlisten erstellt und wieder verworfen. Sie musste damit rechnen, unterwegs nicht viel Zeit zum Umsteigen zu haben. Sie konnte sich unmöglich mit Gepäck belasten, das sie im Gepäckwagen transportieren musste und bei dem sie auf die Hilfe anderer angewiesen war. Das würde sie nur unnötig aufhalten. Also musste sie sich eine große Tasche besorgen, in der sie all ihre Kleidung unterbringen, die sie dabei aber auch noch gut tragen konnte. Ob sie unterwegs die Gelegenheit hatte, Wäsche zu waschen? Würde ein Kleid genügen? Wahrscheinlich nicht, denn sie brauchte ja eines für kalte Tage und ein weiteres für die tropische Hitze, die sie erwartete, schließlich würde sie in den kommenden zweieinhalb Monaten durch die unterschiedlichsten Länder reisen. Im Geiste ging Nellie die Kleider durch, die sie im Schrank hatte – kein einziges eignete sich für die Strapazen, denen es ausgesetzt sein würde. Sie konnte nicht riskieren, dass es unterwegs kaputtging. Plötzlich hatte Nellie einen Geistesblitz und setzte sich jäh im Bett auf. Sie würde ein Reisekleid anfertigen lassen, das besonders viele Taschen hatte. Und dann würde sie ein sehr dünnes Sommerkleid kaufen, was – abgesehen von der Unterwäsche – ausreichen musste. Allerdings setzte das voraus, dass sie unterwegs die Gelegenheit hatte zu waschen. Sie musste unbedingt noch einmal ins Kontor gehen und sich nach den Waschmöglichkeiten auf der Reise erkundigen.

Um sechs Uhr morgens erlaubte sie sich endlich aufzustehen. Für ihre Verhältnisse war das mitten in der Nacht, denn eigentlich hasste Nellie nichts so sehr, wie morgens früh aus dem Bett zu müssen. Sie brachte die Morgentoilette so schnell wie möglich hinter sich, zog sich an und machte sich auf den Weg zum Schifffahrtsbüro, um noch einmal die Routen zu überprüfen und sich außerdem zu erkundigen, wie die Wäsche auf einer Überfahrt zu waschen sei. Ihr Weg führte durch den City Hall Park zum Broadway 261, wo Thomas Cook & Son seine New Yorker Dependance hatte. Zu ihrer Freude traf sie auf einen sehr eifrigen jungen Mann, der von der World bereits informiert worden war und sich vor Stolz und Eifer darüber, dass er Teil dieses Plans sein sollte, beinahe überschlug. Er hatte Nellie schon alle Routen herausgesucht, und nun hatte sie es noch einmal schwarz auf weiß: An welchem der beiden Schiffe sie auch immer an Bord gehen würde, es würde sie in Southampton abliefern. Von dort aus würde sie den Nachtzug nach London nehmen, dann in die Eisenbahn nach Brindisi steigen und in der italienischen Hafenstadt nach Südostasien übersetzen. Von Ceylon würde es dann nach Hongkong und von dort aus nach Japan gehen, bevor sie ihre Rückreise in die Staaten antrat.

»Das klingt sehr gut«, freute sich Nellie.

»Das finde ich auch«, sagte der junge Mann und strahlte sie an. »Sie werden das schaffen, Miss Bly.«

»Wie sieht es denn mit der Möglichkeit aus, unterwegs Wäsche zu waschen?«, fragte sie. »Mir ist klar, dass das in der Eisenbahn nicht möglich sein wird. Aber mit der Bahn bin ich ja auch nicht so lange unterwegs.«

»Leider gibt es auf den Atlantikdampfern keinen Wäschedienst«, bedauerte der Mitarbeiter. »Aber auf den Oriental-Dampfern der P&O-Flotte können Sie diesen Service jeden Tag in Anspruch nehmen.« Er strahlte sie an, als sei das sein persönliches Verdienst. »Und an den Häfen, die Sie anlaufen, werden Sie ebenfalls ganz hervorragende Fachkräfte finden, die sich Ihrer Wäsche gerne annehmen werden.«

»Danke«, sagte Nellie. »Sie waren sehr hilfreich.«

»Es war mir ein Vergnügen, Miss Bly«, versicherte der junge Mann und erhob sich zum Abschied.

Als Nellie sich auf dem Weg zum Schneider machte, stellte sie im Kopf ihre Packliste neu zusammen. Sie würde zehn Paar Unterwäsche mitnehmen und diese neu kaufen. Denn dann konnte sie identische Stücke besorgen, die sich sicherlich platzsparender zusammenlegen ließen, als wenn es sich um ein Sammelsurium handelte.

Kurz darauf stand Nellie im mondänen Modeatelier William Ghormley Robes et Manteaux in der 19th Street östlich der 5th Avenue, das in einem der exklusivsten Geschäftsviertel New Yorks lag. Zwar war das Geschäft voller Verkäuferinnen, aber keine schenkte Nellie Beachtung, was sicherlich auch daran liegen mochte, dass das beliebte Atelier mehr als voll war und alle verfügbaren Damen, wie sie sich eingestehen musste, beschäftigt waren. Ungeduldig sah sie sich um – und entdeckte zu ihrer Begeisterung William Ghormley, der mit affektiertem Gesichtsausdruck durch den Laden schwebte. Sie eilte ihm entgegen. »Mr. Ghormley«, stieß sie hervor.

Der Meister zog die Augenbrauen hoch, weil sie es gewagt hatte, ihn einfach so anzusprechen. Andererseits war sie aber auch Kundin, und er wollte sie natürlich nicht vergraulen. »Sie wünschen?«

»Ein Kleid!«, stieß Nellie hervor. »Ein ganz besonderes Kleid. Und ich benötige es spätestens bis morgen.«

Ghormley stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Bis morgen?« Er machte eine weit ausholende Bewegung. »Sie sehen doch, was hier los ist. Ganz New York will meine Kleider tragen. Nein, meine Liebe, Sie werden sich schon eine Weile gedulden müssen. Drei, vier Wochen mindestens. Die Wartelisten sind lang.«

»Drei, vier Wochen«, schnaubte Nellie empört. »Ich reise doch aber bereits morgen ab.«

»Es tut mir leid«, sagte Ghormley, der zwar nach wie vor höflich blieb, dem aber eine gewisse Ungeduld deutlich anzumerken war. »Es ist ausgeschlossen.«

»Aber Sie würden berühmt werden!«, gab Nellie nicht auf.

Ghormley winkte schnaubend ab. »Mein liebes Kind, falls es Ihnen entgangen sein sollte: Ich bin bereits berühmt«, ließ er sie wissen.

Nellie blickte ihn streng an. »Sie wissen es noch nicht, oder?«, fragte sie.

»Was?«, wollte der Modeschöpfer wissen. »Was weiß ich noch nicht?«

»Ich bin Nellie Bly«, sagte sie. »Journalistin bei der New York World.«

In Ghormleys Miene stand ein gewisses Misstrauen. »Wenn mich nicht alles täuscht«, erklärte er, »behaupten viele junge Damen von sich, Nellie Bly zu sein, nur um dann auf die New York World anschreiben zu lassen. Und die Schneider bleiben dann auf ihren Rechnungen sitzen.«

»Ich kenne das Problem, Mr. Ghormley«, sagte Nellie ungeduldig. In der Tat hatte sie zahlreiche Nachahmerinnen im ganzen Land, ein Problem ihrer Berühmtheit. »Und ich habe ja in einem Artikel geschrieben, dass ich niemals anschreiben lasse. Auch jetzt werde ich selbstverständlich bar bezahlen.«

»Gut«, sagte der Schneider. »Aber Sie dürfen keine Sonderbehandlung erwarten, nur weil Sie Nellie Bly sind. Ich habe ausschließlich wichtige Kunden. Die Crème de la Crème der New Yorker Gesellschaft kauft bei mir.«

»Das weiß ich«, sagte Nellie lächelnd. »Deshalb will ich ja auch Sie und keinen anderen mit diesem außergewöhnlichen Anliegen betrauen. Ich bin der Ansicht, dass Sie der einzige Schneider in New York sind, der diese schwierige Aufgabe erfüllen kann.«

Mr. Ghormley ließ seine ablehnende Haltung langsam fallen und sah sie mit unverhohlener Neugierde und offensichtlich sehr geschmeichelt an. »Ich höre?«

»Nun«, erläuterte Nellie. »Ich werde morgen eine Reise um die Welt antreten und diese in fünfundsiebzig Tagen beenden. Es ist ein Wettlauf gegen Jules Vernes Romanfigur Phileas Fogg.«

»Sie?«, staunte der Schneider. »Aber Sie sind doch eine Frau.«

Nellie spürte die altvertraute Wut in sich aufsteigen. Wie sie derartige Äußerungen hasste! Doch für Wut und Grundsatzdiskussionen war jetzt keine Zeit. Daher schluckte sie ihren Zorn herunter, lächelte den Schneider an und sagte: »Ganz genau, Mr. Ghormley. Und hier kommen Sie ins Spiel. Ich werde natürlich nicht in der Lage sein, viel Gepäck mit mir zu führen. Daher müssen Sie mir ein Kleid mit sehr vielen Taschen nähen, in denen ich meine Utensilien verstauen kann.«

»Sie wollen ihre Utensilien in einem Kleid verstauen?«

Mr. Ghormley kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

»Nicht alles«, beeilte sich Nellie hinzuzufügen. »Aber doch einiges. Mr. Ghormley, durch dieses Kleid werden Sie noch berühmter«, wurde sie nicht müde, auf den Schneider einzureden. »Die New York World wird im großen Stil über meine Reise berichten. Es wird Gewinnspiele und Wetten geben, und …«

»… und in diesen Artikeln wird auch mein Kleid Erwähnung finden?«

»Selbstredend«, versprach Nellie.

»Hm«, machte Mr. Ghormley. »Und werden Sie es schaffen? Ich will nicht das Kleid einer Verliererin nähen.«

Ruhig sah sie ihn an. »Natürlich werde ich gewinnen. Aber nur, wenn Sie mir nun helfen. Morgen um 13 Uhr legt das Schiff ab. Ich bräuchte mein Kleid also bis heute Abend.«

»Heute Abend«, erwiderte Mr. Ghormley erschrocken. »Das schaffe ich nicht. Vorhin sagten Sie bis morgen, was ja auch schon denkbar knapp ist.«

»Natürlich schaffen Sie das«, erklärte Nellie ruhig und verschwieg bewusst, dass es für den Folgetag noch eine weitere Option gab. »Wenn Sie sagen, Sie schaffen es nicht, werden Sie es auch nicht schaffen. Wenn Sie aber sagen, Sie schaffen es, und daran glauben, dann wird Ihnen das auch gelingen.«

Verblüfft sah der Schneider sie an. »Sie sind eine erstaunliche Frau.«

»Ich weiß«, sagte sie selbstbewusst. »Deshalb schickt man mich ja auch auf diese Reise. Also, sind Sie dabei?«

In diesem Moment ging ein regelrechter Ruck durch den elegant wirkenden Mann, und erstmals, seit Nellie das Geschäft betreten hatte, lächelte er. »Natürlich bin ich dabei«, sagte er. »Ich werde mich persönlich darum kümmern. Dann sollten wir nun wirklich keine Zeit mehr verlieren, sondern Stoffe aussuchen. Wie Sie sich denken können, haben wir da eine große Auswahl.«

Doch Nellie winkte ab. »Dafür bleibt keine Zeit. Zeigen Sie mir den, den Sie am geeignetsten finden, schließlich sind Sie vom Fach.«

Mr. Ghormley nickte. »Kommen Sie.« Er führte sie durch die bei seinem Anblick vor Ehrfurcht beinah erstarrende Menge aus Kunden und Verkäuferinnen in einen Nebenraum zu einem Regal, zog zwei Ballen heraus, rollte sie ein Stück ab und warf sie in großen Falten über den Tisch. »Ich empfehle dieses einfache Breitgewebe und diesen schlichten, karierten Kamelhaarstoff.«

Nellie nickte ungeduldig. »Gut. Dann nehmen wir die.«

Die Stoffe waren zwar nicht besonders schön, aber darum ging es heute nicht.

»Wie lange brauchen Sie?«

»Ich setze jede verfügbare Schneiderin sofort dran«, versprach er ihr. »Wobei diese alle an anderen Kleidern arbeiten. Aber ich sehe, was ich tun kann. Eine meiner Damen wird das Kleid direkt an Ihnen abstecken, wenn Sie warten, geht es schneller. Und wenn Sie jederzeit zur Anprobe zur Verfügung stehen, sind wir noch ein wenig schneller.«

Nellie zögerte. Sie hatte eigentlich geplant, die Zwischenzeit für ihre anderen Besorgungen zu nutzen.

Der Schneider deutete ihr Zögern richtig. »In einer halben Stunde können Sie los.«

»Gut.« Sie nickte.

4. Kapitel

New York, USA, Dienstag, 12. November 1889

Das Kaufhaus Macy’s lag in der 18th Street an der Ecke Broadway und war nur wenige Gehminuten von Ghormleys Laden entfernt. Als Nellie darauf zusteuerte, sah sie schon den großen roten Stern an den Glastüren leuchten, die die Angestellten den Ankommenden willfährig aufhielten. Das Markenzeichen von Macy’s ging auf eine Tätowierung seines Gründers zurück, das sich Rowland Macy während seiner Zeit als Seefahrer hatte stechen lassen. Der ehemalige Walfänger hatte bereits im Oktober 1858 die R. H. Macy & Company gegründet, und als er im Jahr 1877 starb, war aus dem kleinen Laden schon ein Gigant geworden, der bereits mehr als elf Filialen umspannte. Nach dem Tod des Gründers hatten die Brüder Straus das Macy’s übernommen, und schon bald war der Umzug von der Ecke 6th Avenue/14th Street an die 18th Street / Ecke Broadway erfolgt.

Die Abteilung für Damenbekleidung befand sich im ersten Stock. Zwar verfügte das Kaufhaus über neumodische Paternoster, doch Nellie nahm die Treppen, immer zwei Stufen auf einmal. Eine Verkäuferin lächelte ihr freundlich entgegen. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein, gnädiges Fräulein?«

Nellie erklärte kurz und bündig, was sie benötigte. »Zehn Mal Wechselunterwäsche, ein Nachtgewand, ein leichtes Sommerkleid, das sich möglichst sehr klein zusammenlegen lässt, einen Mantel und eine geräumige Tasche. Ich habe nicht viel Zeit«, fügte sie hinzu.

Die Verkäuferin, ein hübsches Mädchen mit langem blonden Haar und ausdrucksvollen Augen, begriff sofort. »Warten Sie hier«, sagte sie und deutete auf einen bequem aussehenden Sessel. Nellie nickte, blieb aber stehen. Sie war viel zu aufgeregt, um sich zu setzen.

Wenige Minuten später kehrte die Verkäuferin zurück. Über ihrem Arm trug sie ein zartes roséfarbenes Kleid aus einem dünnen Seidenstoff.

»Es lässt sich sehr klein zusammenfalten. Möchten Sie es anprobieren?«

»Nein, dazu fehlt mir die Zeit«, sagte Nellie. »Ich bin aber sicher, dass es passt.«

»Da bin ich auch sicher«, bestätigte die junge Verkäuferin. »Und es wird Ihnen hervorragend stehen.« Sie zeigte Nellie die Unterwäsche in ihrer anderen Hand, und die Journalistin nickte ungeduldig. »Die nehme ich«, sagte sie. »Nun brauche ich noch einen Mantel. Keinen feinen Mantel. Er soll schwer sein und wärmen. Und ich muss kleine Dinge darin verstauen können.« Nellie merkte der Verkäuferin an, dass sie sich zunehmend über das Benehmen ihrer exzentrischen Kundin zu wundern schien, aber natürlich nicht nachfragte.

»Ich würde Ihnen einen Ulster empfehlen«, ließ sich die Blonde stattdessen vernehmen.

»Einen Ulster?«

Die Verkäuferin nickte. »Eigentlich handelt es sich dabei um einen klassischen Herrenmantel«, erklärte sie. »Wir haben aber auch einige Modelle für Damen. Diese Mäntel sind sehr warm und sehr robust.«

Während sie sprach, hatte sich die Verkäuferin in Bewegung gesetzt und war vor einigen ausgestellten Mänteln stehen geblieben. »Diesen hier würde ich Ihnen empfehlen.« Sie zog einen karierten, gefütterten Mantel mit einer zweireihigen Knopfleiste heraus, der bis zu den Knöcheln reichte. »Der hält Sie warm«, prophezeite sie und hielt Nellie den Mantel so hin, dass diese bequem hineinschlüpfen konnte. Der Mantel legte sich wie eine schützende Hülle um sie. Nellie strahlte. »Der ist wunderbar«, sagte sie. »Ich nehme ihn. Nun brauche ich noch einen dünnen Mantel, der mich gegen den Regen schützt und den ich über dem Arm tragen kann. Und eine Kappe.«

»Da kann ich diesen hier empfehlen«, sagte die Verkäuferin und zauberte ein roséfarbenes Gebilde hervor. »Er lässt sich auch wunderbar mit dem leichten Sommerkleid kombinieren, für das Sie sich entschieden haben, und Sie können beides an kühleren Tagen als Ensemble tragen.«

»Ich nehme ihn.«

»Wunderbar«, freute sich die Verkäuferin. »Dann würde ich Sie noch zur Taschenabteilung begleiten«, sagte sie, nachdem sie Nellie auch noch eine Mütze präsentiert hatte. »Dort müsste dann meine Kollegin übernehmen.«

»Gut«, freute sich Nellie und lächelte die andere freundlich an. »Danke, dass Sie mich so gut beraten haben.«

»Es war mir eine Freude«, beteuerte die Verkäuferin. »Und wie ich vorhin schon sagte: Ich bin überzeugt, dass Sie es schaffen werden.«

Sie klärte ihre Kollegin, eine hübsche Schwarzhaarige, kurz darüber auf, was Nellie wünschte, und verabschiedete sich dann mit den Worten, dass sie Nellies ausgewählte Kleidungsstücke an der Kasse deponieren werde. Die zweite Verkäuferin erwies sich als ebenso freundlich wie die erste, und Nellie hatte ihr perfektes Gepäckstück binnen kürzester Zeit gefunden: Die Tasche war groß und geräumig, hatte aber auch mehrere Nebentaschen, sodass sie Unterlagen und Kosmetika getrennt voneinander aufbewahren konnte. In der Taschenabteilung entdeckte Nellie einen kleinen Beutel aus Chamoisleder, den sie für ihre Barschaft nutzen und unter dem Kleid um den Hals tragen wollte. In der Drogerie kaufte sie noch eine Zahnbürste und Zahncreme, eine winzige Haarbürste sowie einen Tiegel Cold Cream, damit ihre Gesichtshaut bei den vielfältigen bevorstehenden Wetterlagen nicht rissig würde.

Nellie verstaute alles inklusive ihrer neuen Garderobe in der Tasche und machte sich auf den Weg zu Mr. Ghormleys Atelier, wo es immer noch wuselig wie zuvor zuging. Der Schneider war wirklich gut im Geschäft. Sie fragte eine Verkäuferin nach ihm, und kurz darauf stand er vor ihr und sah sie erschrocken an. »Ah, Miss Bly«, begrüßte er sie. »Sind Sie schon zurück?«

Nellie spürte Nervosität in sich aufsteigen. »Was heißt schon?«, fragte sie. »Es ist bereits fünf Uhr nachmittags.«

Erschrocken sah der Schneider sie an. »Fünf Uhr? Wie die Zeit verfliegt, wirklich. Meine Schneiderinnen haben ununterbrochen gearbeitet, selbst ich habe Hand angelegt. Aber ich konnte nicht so viele für das Projekt freistellen, wie ich erhofft hatte. Wir haben noch andere wichtige Kunden.« Er musterte sie ein wenig strafend.

Nellie machte ein bekümmertes Gesicht, aber sie konnte dem Mann keine Vorwürfe machen. »Wie lange werden Sie noch brauchen?«

»Drei Stunden«, sagte er betrübt. »Mindestens. Es tut mir wirklich sehr leid, Miss Bly.«

»Schon gut«, seufzte sie. »Dann komme ich morgen früh um neun Uhr wieder.«

»Bis dahin wird es fertig sein. Aber Sie sollten es noch einmal anprobieren.«

Eine Assistentin eilte herbei, um Nellie in die Anprobe zu führen und ihr in das noch voller Nadeln steckende Kleidungsstück zu helfen – und sie war glücklich. Es saß jetzt schon wie angegossen, und der Schneider hatte auch tatsächlich zahlreiche Taschen eingearbeitet – und zwar so, dass sie kaum auffielen und vor allem: nicht auftrugen. »Sie sind ein Zauberer«, rief sie.

Der Modeschöpfer lächelte. »Ich weiß«, sagte er selbstbewusst.

Als Nellie am frühen Abend heimkehrte, tobte in ihr eine Mischung aus Aufregung, Erschöpfung, Vorfreude und Traurigkeit. Bis auf ihr Kleid und ihren Pass hatte sie alles beisammen. In der Redaktion war ihr Kollege John gerade dabei gewesen, den Artikel zu Nellies Wettlauf fertigzustellen, der nicht nur in New York, sondern auch in den europäischen Zeitungen des Verlags erscheinen sollte.

Sie hatten sich gemeinsam noch einmal die Reiserouten angesehen, Unklarheiten beseitigt und besprochen, dass Nellie so viele Telegramme wie möglich schicken solle, damit die Redaktion dann daraus Berichte schreiben konnte. Zu guter Letzt hatte sie sich von Mr. Pulitzer persönlich noch ihre Reisekasse überreichen lassen. Nun trug sie 200 Pfund in englischen Goldmünzen und Scheinen der Bank of England bei sich. Am nächsten Morgen wurde auch Edward mit dem Pass zurückerwartet; gleich nachdem sie das Kleid abgeholt hatte, wollte sie in die Redaktion gehen und ihn in Empfang nehmen. Und wenn alles klappte, konnte sie dann tatsächlich schon mit dem ersten der beiden auslaufenden Schiffe in See stechen.

Den ganzen Tag über hatte sie keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Aber jetzt, als sie heimkehrte und die vertraute Wohnungstür aufschloss, versetzte es ihr einen Stich. Auf einmal fühlte sie sich ungemein einsam bei dem Gedanken, mutterseelenallein um die Welt zu reisen.

Im Flur kam ihr bereits ihre Mutter entgegen.

»Nellie!«, rief sie aufgeregt. »Hat alles geklappt? Hast du alles bekommen?«

Nellies Mutter war eine zierliche Brünette. Sie zog ihre Tochter in die Küche, wo sie schon das Abendessen vorbereitet hatte. Es gab Kartoffelsuppe mit Würstchen, und als ihr der köstliche Duft in die Nase stieg, bemerkte Nellie augenblicklich, was für einen riesigen Hunger sie hatte. Sie überlegte kurz, konnte sich aber nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas zu sich genommen hatte.

»Nicht ganz«, sagte sie mit knurrendem Magen. »Das Kleid fehlt noch. Und der Pass, aber Edward ist sich sicher, dass er es schaffen kann.«

Ernst sah ihre Mutter sie an. »Ich finde, du solltest nicht morgen schon fahren, Nellie«, sagte sie. »Das wird zu knapp. Wie soll das denn gehen? Wenn du doch erst noch das Kleid abholen musst und außerdem den Pass noch gar nicht hast.«