Miss Lillian's Geheimnis - Stewart McCole - E-Book

Miss Lillian's Geheimnis E-Book

Stewart McCole

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

England, 1934: Lillian Burrows ist der letzte Spross ihrer einst bedeutenden Familie. Seit dem Tod ihres Vaters bewohnt sie alleine mit ihren Angestellten das viel zu große, in die Jahre gekommene Anwesen und ist bemüht, ihre immer größer werdende Geldnot vor der feinen Gesellschaft geheim zu halten. Da tritt der junge Geschäftsmann Simon Duchesne, der gerne das Anwesen aufkaufen würde, in ihr Leben. Lillian zeigt ihm zunächst die kalte Schulter, fasziniert ihn jedoch mit ihrem eigenwilligen Charakter. Bis er schließlich doch ihr Herz erweicht und Seiten an ihr kennenlernt, die sie zuvor stets zu verstecken vermochte  … 

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Stewart McCole

Miss Lillian’s Geheimnis

Gewidmet mit Dank an Casey und Michelle.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

eins

Das Jahr ging erschreckend schnell vorüber. Wie im Flug schien sich die Zeit immer schneller zu drehen. Kaum erst schien das Neujahrsfest vorüber, stand nun auch schon der Sommer vor der Türe. Und bald darauf würde dann wieder der Herbst ins Land ziehen, ehe der Winter den Kreislauf schloss. Unaufhaltsam schnell. Vielleicht übertrieb Lillian Burrows mit dieser Bestandsaufnahme ein bisschen, zumindest aber fühlte es sich in ihren Augen so an. Dabei war sie erst 22, wie würde sich dies erst im Alter anfühlen? Wahrscheinlich wäre sie bis dahin längst eine schrullige Wachtel geworden, die fernab der Realität allein in ihrem verfallenen Anwesen leben würde. Zusammen mit etlichen Katzen, wie man es manchmal bei alleinstehenden Damen hörte. Immerhin, der Sitz der Burrows bot mehr als genug Platz für sie und vierbeinige Fellquasten. Eigentlich sogar viel zu viel Platz. Vaters Erbe neigte sich langsam dem Ende zu. Ein Großteil des Personals wurde mittlerweile schon entlassen, nur das Hausmädchen, ein Butler und der Gärtner waren übrig. Nur mochte hierbei natürlicher ein relativer Begriff sein, schließlich waren schon diese Verhältnisse für 99 Prozent der Bevölkerung ein unvorstellbarer, nie erreichbarer Luxus. Doch wenn man um die frühere Pracht des Anwesens und der Familie wusste, musste man Lillian Burrows wohl bemitleiden. Es würde sicherlich nicht mehr lange dauern, ehe sie Teile des Besitzes oder gar das gesamte Herrenhaus verpachten müsste. Vielleicht als Mädchenschule, als Eliteinternat oder als Waisenheim. Viele Anwesen einst angesehener Dynastien teilten dieses Schicksal miteinander, wenn sie nicht gar abgerissen und durch seelenlose Neubauten ersetzt wurden. Ein jahrhundertealter Lebensstil, der langsam aber sicher ausstarb. Genauso wie die großen Familienpatriarchen, deren Namen nun verblasst und vergessen auf alten Grabmalen standen. Lillian war noch jung, aber dennoch bereits ein Relikt. Die Letzte ihrer Art, ihrer Familie. Wie ein Dinosaurier, der wie durch ein Wunder noch am Leben war. Apropos Relikt, der alte Rolls-Royce im Schuppen gab mittlerweile auch eher ein trauriges Bild ab und trug den Namen Silver Ghost inzwischen wohl zurecht. Ein Geist der vergangenen, goldenen Zeit. Nur verkaufen konnte sie ihn nicht, schließlich war er der ganze Stolz ihres Vaters. Noch immer sah sie ihn hinter dem hölzernen Steuer sitzen. Einen Chauffeur wollte er nie, dazu liebte er das Fahren zu sehr. Wie ewig es nun schon her zu sein schien. Dabei lag Vaters Tod erst drei Jahre zurück. Die große Wirtschaftskrise brach ihm das Genick, er verfiel in Depressionen und ertrank eben selbe im Alkohol. Bis schließlich auch sein Körper langsam zerfiel. Sein Tod ereilte ihn 1931 mit nur 59 Jahren im Schlaf. Herzversagen. Nun fuhr niemand mehr das stattliche Automobil. Lillian konnte und traute sich nicht, und ein Chauffeur war schon rein finanziell absolut ausgeschlossen. Die drei übrigen Angestellten kamen sie schon teuer genug zu stehen.

 

»Miss?«

Lillian schreckte auf. Sie versank immer viel zu sehr in ihrer Gedankenwelt, wenn sie aus dem Fenster ihres Schlafzimmers auf die große Gartenanlage blickte.

»Das Abendbrot wäre fertig!«, sprach die Haushälterin mit sanfter Stimme. Sie war etwa vierzig und seit über zwanzig Jahren die treue Seele des Hauses. Nur der Butler war noch länger für die Familie Burrows tätig, aber eher für seine Distanz und Unterkühltheit bekannt und daher längst nicht so beliebt, auch wenn er im Grunde kein übler Kerl zu sein schien. Er sprach viel zu selten über sich und sein Leben, um dies wirklich beurteilen zu können. Trotzdem war auch er quasi ein Teil der Familie. Nur der Gärtner kam erst letzten Sommer dazu, nachdem sein altgedienter Vorgänger urplötzlich tot ins Rosenbeet gefallen war. Schlaganfall. Es war ein trauriger Tag, Lillian mochte die Rosen sehr. Wie lange es dauerte, bis das Beet wieder so schön und gleichmäßig wie vorher nachgewachsen war! Ja, manchmal hasste sie ihren bösartigen Humor. Aber irgendwie auch nicht.

Der neue Gärtner machte seine Aufgabe jedenfalls ganz gut. Ein noch recht junger Bursche, vielleicht Ende zwanzig. Kräftig, aber optisch ansonsten nicht besonders bemerkenswert und in seinem Benehmen absolut fernab jeglicher Manieren. Ein von Intelligenz befreiter Geist, der nur für eine – aber auch wirklich nur eine – Sache zu gebrauchen war: körperliche Arbeit. Und das war in Ordnung so. Von einem Lastesel erwartete man schließlich auch nicht, dass er promoviert hatte oder einen intellektuellen Dialog führen konnte. Für solche Dinge hatte Lillian andere Kontakte, die dafür aber eben auch nicht einen Baumstumpf aus dem Boden reißen konnten. Jedem sein Talent. Insgesamt konnte sie mit ihrem Leben eigentlich also zufrieden sein. Wäre da nur nicht das liebe Geld. Oder besser gesagt: Es war eben nicht mehr. Hunger leiden würde sie nie müssen, da war sich Lillian sicher. Eine Verpachtung oder ein Verkauf des Anwesens könnte ihr einen halbwegs angenehmen Lebensstandard bis ins Alter sichern.

 

»Hast du schon diesen neuen Tonfilm mit Clark Gable gesehen? Er ist doch so ein schöner und galanter Mann, nicht wahr? Ich gehe viel lieber ins Kino, seit man die Leute in den Filmen auch hören kann, du etwa nicht?«

Lillian musterte ihre Freundin Annie kritisch. Vielleicht war es doch nicht die beste Idee gewesen, sie seit nunmehr einem Jahr jeden Freitag zum Abendessen einzuladen. Sie benahm sich manchmal sehr aufgedreht und trotz ihres Alters von nunmehr 21 Jahren noch immer wie ein richtiger Backfisch. Aber so ganz alleine an diesem langen Tisch im durch seine dunkle Holzvertäfelung so düster wirkenden Speisezimmer zu sitzen war schon an den restlichen sechs Tagen der Woche deprimierend genug. Ein wenig Zerstreuung musste einfach sein. Und eigentlich mochte sie Annie trotz allem sehr.

»Du weißt doch, Tonfilme sind nicht so meins! Ich bin weiterhin für Stummfilme, das Schauspiel lebt meiner Meinung nach nicht von Worten, sondern von der Mimik des Darstellers. Geredet wird sowieso viel zu viel in unserer Welt, da brauche ich doch nicht auch noch ins Kino gehen, um mir noch mehr Gelaber anzuhören! Große Mimen wie Miss Pickford oder Miss Gish brauchten auch nie Worte, um ihre Gefühle auf der Leinwand zu zeigen! Und was diesen Mann betrifft, von dem du so schwärmst: Trägt er einen Bart? Ich mag Männer mit Bärten nicht, das kitzelt mir zu sehr!«

»Du meinst beim Küssen?«, fragte Annie albern kichernd. Lillian lächelte süffisant.

»Auch!«

»Wo denn noch?«

Lillian zwinkerte ihrer ahnungslosen Freundin zu, ohne zu antworten. Nicht, dass sie in dieser Hinsicht mit einem einzigen Ausrutscher als Ausnahme selbst weitreichende Erfahrungen hätte. Aber durch den Kopf gingen ihr durchaus häufiger manch verbotene Sachen.

»Es kann übrigens sein, dass du demnächst Besuch bekommst!«, erwähnte Annie nach einer Weile ganz nebenbei, während sie ihre Suppe gierig in sich schaufelte. Sie lebte mit ihrer Familie doch selbst in einem recht herrschaftlichen Haus, bekam sie da etwa nichts zu Essen? Oder dachte sie, dass sie in Gegenwart ihrer besten Freundin schlicht auf jegliche Manieren verzichten konnte?

»Was für Besuch? Ich will keinen Besuch!«

Annie lachte amüsiert über die fast schon panische Reaktion ihrer Freundin.

»Du wirst in dieser Hinsicht immer sonderbarer! Kapsel dich nicht so von der Welt da draußen ab! Und der Besuch, den ich meine ist ein Gentleman, der gestern in den Ort kam. Er kauft wohl Immobilien auf und zeigt Interesse an deinem Anwesen. Stell dir vor, er war sogar bei meinem Vater vorstellig und fragte, ob er sich nicht auch einen Verkauf unseres Wohnsitzes vorstellen könnte! Natürlich hat mein Vater ihn zum Teufel gejagt! Und das wirst du ja sicher auch tun, falls er kommt. So ein unverschämter Kerl!«

Lillian nickte, während ihr Herz zu rasen und ihr Puls zu steigen begann. So ein unangenehmes Thema! Annie wusste nicht, wie schlecht es wirklich um Lillians Finanzen stand. Sie hielt – wie wohl alle im Ort – das Erbe von Henry Burrows für weitaus größer, als es in Wirklichkeit war. Doch 1930 ging als Folge des großen Crashs im Vorjahr nicht nur das Familienunternehmen in die Insolvenz, auch das Privatvermögen der Familie Burrows litt enorm durch falsche Investitionen in Aktien, die nichts mehr wert waren. Das restliche Vermögen reichte Lillian zum Überleben, zum Erhalt ihres Lebensstandards und des Anwesens. Aber eben nicht mehr lange.

»Wieso genau interessiert sich dieser Herr denn für die Anwesen hier im Ort?«, fragte Lillian mit betont gelangweilter Stimme, um ihre Neugier ein wenig zu verdecken.

»Er sucht wohl für einen Klienten ein passendes Gebäude für eine neue Privatschule, die irgendwo in der Gegend eröffnen will. Und scheinbar erhofft er, diese Immobilie hier im Ort finden zu können. Bevorzugt ein altes Herrenhaus, da es laut seiner Aussage repräsentativer wirken und der Einrichtung so eine gewisse Noblesse verleihen würde! Er meinte, er würde gut zahlen. Aber damit konnte er meinen Vater nicht locken, schließlich verkauft man doch nicht einfach so seinen alten Familiensitz, oder?«

Wieder nickte Lillian, deren Lächeln sich mittlerweile in eine gequält wirkende Maske verwandelt hatte. Annie konnte leicht darüber reden, ihr Vater war nie in der Finanzwelt oder als Unternehmer tätig. Er betrieb ein großes Gestüt, welches sich ein Stück außerhalb des Ortes befand. Vornehme Leute aus dem ganzen Königreich und sogar vom europäischen Festland kamen zu ihm, um entweder ein edles Pferd zu erwerben oder ihre Stute von einem der unsagbar teuren Hengste decken zu lassen. Alleine das brachte Annies Familie ein recht beachtliches Vermögen ein. Ihr Anwesen mochte nicht so groß wie das von Lillian sein, aber wenigstens würden sie es halten können! War es vielleicht gar ein Wink des Schicksals, dass dieser seltsame Kerl ausgerechnet jetzt hier auftaucht? War der befürchtete Tag nun etwa schon bald gekommen, an dem sie ihren Familiensitz aufgeben müsste? Andererseits würde ihr Erbe noch etwa ein Jahr lang ausreichen, um das Herrenhaus zu halten. Vielleicht würde ihr in der Zwischenzeit ja eine bessere Lösung für ihre Finanzprobleme einfallen. Der Traum vom Altwerden im Familiensitz war noch nicht aufgegeben. Untätig gewesen ist sie jedenfalls schon die letzten drei Jahre nicht: Das Waldgrundstück der Burrows wurde von ihr längst an einen befreundeten Lord für Jagdgesellschaften verkauft, und den von Lillian ohnehin kaum noch genutzten Ballsaal des Hauses konnte man seit geraumer Zeit für Veranstaltungen anmieten. Dennoch erschienen all diese zusätzlichen Einnahmen nur wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zumal ihr das Bauwerk ständig durch notwendige Reparaturarbeiten auf der Tasche lag und eigentlich auch eine schon längst überfällige Totalsanierung anstand. Aber noch war nichts verloren, also wieso jetzt schon alles einfach aufgeben? Den Teufel würde sie tun!

»Sag, darf ich dich etwas fragen? Etwas Persönliches?«

Annie wirkte nervös, als würde sie sich für die nun kommende Frage schämen. Wieder nickte Lillian nur als Antwort.

»Nun, wie du weißt, habe ich ja vor geraumer Zeit eine gute Partie für mich gefunden. Und wir wollen demnächst ja auch heiraten, sobald er sein Studium abgeschlossen hat und im Unternehmen seines Vaters einsteigt. Na ja … worauf ich eigentlich hinaus will: Willst du denn ewig so ganz alleine bleiben? Du bist doch eine wunderschöne, kluge und wohlhabende Frau aus gutem Hause. Wieso suchst du dir niemanden?«

Lillian legte ihren Esslöffel beiseite, schob den Teller vor sich weg und faltete ihre Hände auf dem Tisch, als würde sie gleich ein Gebet sprechen. Auf ihrem Gesicht lag ein fast schon mütterlich erscheinendes Lächeln.

»Oh Annie, sei bitte nicht so altmodisch! Man sucht doch nicht nach seinem Ehepartner so wie nach einem neuen Kleid oder ein neues Paar Schuhe! Außerdem kann ich mir im Moment eben keine Ehe vorstellen. Ich habe andere Probleme, als mich auch noch um einen faulen Ehegatten zu kümmern! Ach, und übrigens: Deinen zukünftigen Mann hast nicht DU gefunden, sondern dein Vater! Weil er Geld hat und eines Tages das Familienunternehmen seines alten Herrn erben wird!«

Annie lehnte sich mit enttäuschter Miene zurück und schien fast schon etwas beleidigt.

»Gemein, ganz gemein war das! Und du bist total unromantisch!«

Lillian nahm ihre Tasse Tee entgegen, die ihr der Butler soeben mit versteinertem Gesichtsausdruck gereicht hatte. Sie nahm einen genüsslichen Schluck, ehe sie den Kopf schüttelte.

»Nein, liebe Annie. Ich bin nur realistisch!«

 

Lillian setzte wie immer ihr Lächeln auf, als sie Annie nach dem Essen verabschiedete. Ihre freundliche Maske für den Alltag, die von ihren Sorgen ablenken sollte. Und es bisher auch hervorragend tat.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, inzwischen hatte sie sich umgezogen und trug nun ihr Nachthemd, während sie erneut aus dem Fenster starrte. Verdammte Annie, ihr einfach solche Gedanken in den Kopf zu setzen! Nicht etwa die Sache mit dem Immobilienkerl, oh nein. Mit dem würde sie schon fertig werden, falls er hier aufkreuzte. Aber die Bemerkung über ihre Einsamkeit tat ein bisschen weh und traf ihren wunden Punkt. Natürlich war sie allein, oft melancholisch und nachdenklich. Trotzdem würde sie ganz sicher keine Beziehung mit dem nächstbesten Mann erzwingen. Natürlich könnte sie problemlos jemanden finden, schon ihr Familienname würde als Aushängeschild sämtliche Junggesellen der Gegend zu ihr locken. Aber wie viele dieser Männer würden wohl ihr Interesse aufrechterhalten, wenn sie die finanzielle Lage ihrer neuen Flamme dargelegt bekämen? Generell war es auch nicht die Ehe oder gar die Gründung einer Familie, nach der es Lillian manchmal dürstete. Das Gebären eines Stammhalters war ihr ziemlich egal, der Name Burrows würde so oder so mit ihr aussterben. Vor allem, da sie aufgrund ihrer folgenlosen, ersten und bislang auch letzten intimen Begegnung mit einem Mann ohnehin befürchtete, unfruchtbar zu sein. Mutter selbst hatte schließlich auch insgesamt drei Fehlgeburten, ehe sie Lillians ältere, früh verstorbene Schwester zur Welt brachte. Also eher schlechte Aussichten auf eigenen Nachwuchs. Es war ihr eigentlich aber ganz recht so, sie wäre sicherlich keine vorbildliche Mutter geworden. Eine Sache, eine gewisse Kleinigkeit, fehlte ihr allerdings sehr wohl. Wobei Fehlen sicher nicht die richtige Umschreibung war. Sie hatte es in ihrem Leben schließlich erst einmal getan, vor mehr als drei Jahren. Vater lebte damals noch, war aber bereits krank und ständig am Trinken. Sie ging zu dieser Zeit auch Abends häufig noch raus, da sie es in seiner Gegenwart nicht mehr ertrug. Meistens war das Gestüt von Annies Familie ihr Ziel, dort war sie immer willkommen und hatte sogar einen Schlüssel für die Stallungen. Schließlich stand dort auch ihr früheres Pferd, das sie nach der Beerdigung ihres Vaters als erste Sparmaßnahme an Annies Vater verkauft hatte. Sie hatte sich das Recht vorbehalten, Rolling Thunder jederzeit besuchen zu können. Ein stolzes Tier, und scheinbar auch ein exzellenter Zuchthengst. Wahrscheinlich fand sie es damals törichterweise wohl reizvoll oder gar erotisch, eine Liebelei mit einem der Stallburschen zu beginnen. Der Reiz des Verbotenen, wie in einem ihrer schlechten Groschenromane. Wie dumm sie damals war, sich seiner Liebe hinzugeben. Schließlich hätte sie ja vielleicht doch schwanger werden können. Lillian Burrows als Mutter eines Bastards, die Leute im Ort wären empört gewesen. Und sie hätten es erfahren. Selbst, wenn sie einen Engelmacher aufgesucht oder das Kind nach der Geburt direkt zur Adoption abgegeben hätte. Ein Glück, dass nichts dergleichen geschah. Annie und ihre Familie erfuhren nie davon, der Stallbursche hielt den Mund und verließ wenig später ohnehin die Gegend. Man konnte nicht gerade von einem romantischen Treffen sprechen, eigentlich war es eher hektisch und für eine Frau ihres Standes recht stillos. Aber das Gefühl selbst war aufregend. Vielleicht, weil sie bei dem Stallburschen wusste, dass dieser keinen Hintergedanken pflegte. Sie wussten beide, dass sie sich nach diesem Zusammentreffen nicht mehr sehen würden. An sich fand Lillian den Gedanken reizvoll, noch so ein Aufeinandertreffen zu haben. Vielleicht diesmal mit einem Mann, mit dem sie sich auch ein gemeinsames Leben vorstellen könnte. Aber die Realistin in ihr wusste, dass dies ohnehin nicht geschah. Was sagte Annie vorhin? Dass sie wunderschön wäre? Lillian blickte sich im Zimmer um, als ob sie irgendjemand beobachten könnte. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und zog ihr Nachthemd aus, um ihren Körper zu betrachten. Ihr Gesicht war recht hübsch, das konnte sie ganz uneitel unterschreiben. Aber der Rest? Ihre Beine waren zwar schön lang, aber für ihren Geschmack gemessen am restlichen Körper zu schlank. Mit ihrem Busen war sie relativ zufrieden, er hätte allerdings ein wenig größer sein können. Im Gegensatz zu ihrem Hintern, der in letzter Zeit ein Stück zugelegt hatte. Hinzu kam mittlerweile auch ein wenig Speck am Bauch und an der Hüfte, den sie abgrundtief hasste und eigentlich abtrainieren wollte, wenn Sport nicht so verdammt anstrengend wäre. Dennoch erschien Lillian den meisten Leuten insgesamt wie eine zerbrechliche, viel zu zarte Blume. Eine Porzellanpuppe, die man nicht anfassen durfte. Genauso äußerte sich die Art und Weise, in der die meisten Männer mit ihr sprachen: Sie behandelten sie wie eine unmündige Prinzessin, die außerhalb ihrer kleinen Welt absolut aufgeschmissen und hilflos wäre. Dinge wie Intelligenz oder Selbstbestimmtheit schien man ihr völlig abzusprechen. Mehrfach schon fragte der Dorfpfarrer seit dem Tod ihres Vaters, ob sie nicht Unterstützung im Alltag benötigte oder noch irgendwo lebende Verwandtschaft hätte, die ihr helfen könne. Der Bürgermeister und mehrere Bewohner im Ort genauso. Und bedauerlicherweise hatte sie bislang auch noch nicht wirklich viel getan, um diesen Eindruck zu ändern. Sie lebte vom Erbe des Vaters vor sich hin, ging in letzter Zeit nur ungern unter Leute. Der Verkauf des Forst oder die Vermietung des Ballsaals im Haus blieb quasi unbemerkt, zudem sich Annies Vater damit aufspielte, die Idee dazu gehabt zu haben. Dem war auch so, dennoch führte sie die Verwaltung hierüber vollkommen alleine! Lillian schüttelte beim Gedanken über die Ignoranz dieser Leute den Kopf und betrachtete weiter ihren nackten Körper im Spiegel. Na ja, so schlecht sah sie jetzt nicht aus, das musste sie zugeben. Aber wunderschön war in ihren Augen ein übertriebener und offen gesagt auch recht ausgelutschter Begriff. Selbst wenn sie es war: Wieso war das beliebteste Kompliment bei einer Frau überhaupt, dass sie hübsch sei? Wieso lobte nie ein Mann zuerst die Intelligenz einer Frau? Ihren Charakter, ihre Talente? Ganz einfach, weil die meisten Kerle sie in Gedanken bereits auszogen und aufs Bett warfen, während sie ihr galant sagten, wie wunderschön sie doch war! Lillian wollte sich gerade wieder anziehen, als sie einen lauten Knall aus dem Garten hörte. Ihr Herz raste, als sie an das Fenster eilte, um zu sehen, was soeben geschehen war. In der Dunkelheit konnte sie lediglich die Umrisse eines Fahrzeugs entdecken, welches wohl gegen den hohen Eisenzaun gefahren war und diesen durchbrochen hatte. Einer der Scheinwerfer des Wagens leuchtete noch und erhellte einen Teil der Gartenanlage.

»Miss!«

Lillian schreckte beim Rufen ihres Hausmädchens erneut auf und wollte sie gerade anhalten, nicht in ihr Zimmer zu kommen, als diese bereits die Türe ausriss.

»Miss, da draußen ist … Miss? Oh! Verzeihung, Sie … sind ja nackt!«

Die Haushälterin hielt sich erschrocken die Hände vor ihr Gesicht, als hätte sie nie zuvor in ihrem Leben einen nackten Körper gesehen. Dabei war sie sogar einmal verheiratet, ihr Mann fiel bedauerlicherweise im großen Krieg gegen die Deutschen.

»Ach, wirklich? Ich hatte mich schon gewundert, wieso es da unten so zieht!«, entgegnete Lillian genervt. »Sehen Sie lieber nach, ob es den Insassen dieses Wagens gut geht! Holen Sie zur Not auch Jonathan und diesen komischen Gärtner, falls die zwei nicht schon vor Ort sind! Ich komme gleich nach. Angezogen!«

Die leicht eingeschüchtert wirkende Frau machte einen Knicks und eilte dann wieder aus dem Zimmer, während Lillian zu ihrem Kleiderschrank lief und sich so schnell es ging irgendein Kleid anzog. Sie konnte schließlich nicht im Nachthemd durch den Garten laufen! Eigentlich hätte sie sich dafür schämen müssen, partout nicht den Namen des jungen Gärtners zu wissen. War es William? Oder Will? Vielleicht auch Bill? Der Butler Jonathan war aber im Gegensatz zu ihm auch schon ihr ganzes Leben hier, die Haushälterin Magdalena genauso! Ihre Eltern stammten aus Bulgarien und waren unendlich glücklich darüber, dass ihre Tochter damals eine für ihre Verhältnisse so gute Stelle in einem reichen Haushalt bekam. Kurze Zeit später heiratete sie diesen unglücklichen Kerl namens Lawrence. Nicht etwa unglücklich, weil er Magdalena heiratete, sondern weil ihn im Krieg eine Granate zerfetzte. Früher spielte sie mit der kleinen Lillian, kümmerte sich nach Mutters frühen Tod liebevoll um sie. Manchmal stimmte es Lillian traurig, dass sie es bis heute nicht übers Herz brachte, den typischen Angestellten-Ton abzulegen und mehr wie eine alte Freundin mit ihr zu sprechen. Aber mittlerweile war ihr das Hauspersonals-Dasein wohl in Fleisch und Blut übergegangen. Außerdem hätte Jonathan sicherlich alle Versuche dieser Art missbilligt. Er war früher sowas wie der Chef der Angestellten, der Oberbutler sozusagen. Er kommandierte alle herum, führte den Haushalt mit harter Hand. Und hatte so immerhin zur Blütezeit der Familie Burrows ein Dutzend Angestellter unter seiner Fittiche. Diese Zeit war zwar längst vorbei, aber so ganz schien er das noch nicht einsehen zu wollen.

 

William – oder Will oder Bill – war gerade dabei, einen verletzten Mann aus dem Wagen zu hieven, als Miss Lillian außer Atem angelaufen kam. Durch die kurze Strecke wurde ihr klar, wie lange sie schon nicht mehr gerannt war oder sich allgemein größerer Anstrengung ausgesetzt hatte. Wie konnte es sein, dass sie noch immer so verhältnismäßig schlank war? Mit Ausnahme des verdammten Speckmantels wohlgemerkt!

»Wie geht es ihm? Ist er tot?«, fragte Lillian ungewollt zynisch. Fast schien es so, als hätte sie mittlerweile keine Kontrolle mehr über ihre oft viel zu spitze Zunge.

»Gott sei Dank nicht, er ist ansprechbar!«, entgegnete Magdalena aufgebracht. Jonathan ging dem Gärtner zur Hand, gab aber selbst hierbei leise keifend Befehle an seinen vermeintlich Untergebenen. Der Mann war tatsächlich bei Bewusstsein, schien aber benommen und musste beim Stehen und Laufen gestützt werden. Sein Wagen, ein dunkelgrüner, offener Bentley, war zwar sichtlich ramponiert, für die scheinbare Wucht des Unfalls aber noch immer erstaunlich gut in Schuss. Seine Größe und die lange Motorhaube hatten den Fahrer wohl vor schlimmeren Verletzungen oder gar dem Tod bewahrt. Lillians Herz schmerzte beim Anblick des zerstörten Eisenzauns, in dem nun ein großes Loch klaffte. Der Kerl konnte von Glück reden, nicht von einer der dicken Eisenstangen durchbohrt worden zu sein!

»Wir sollten den Arzt rufen, Miss!«, schlug Jonathan erstaunlich aufgeregt und emotional vor.

»Dann gehen Sie ins Haus und rufen den Arzt im Ort an!«, befahl Lillian ein bisschen unverständlich über die Tatsache, dass man sie selbst bei solch simplen Dingen um Erlaubnis fragte.

»Aber Miss, Dr. Wills hat keinen Telefonapparat! Er ist doch schon etwas älter und ein wenig verschroben, was Technik angeht!«, entgegnete der Butler aufgelöst. Lillian verdrehte die Augen.

»Gott, diese seltsamen Landleute! In Ordnung, Sie fahren mit ihrer mickrigen Kiste in den Ort und holen den Arzt! Ich bringe in der Zwischenzeit mit Magdalena und Will, ähm, Bill, ähm … dem Gärtner den Verletzten ins Haus!«

Jonathan nickte und eilte zum Herrenhaus zurück. Seit geraumer Zeit fuhr er einen kleinen Austin, von dem nach solch einem schweren Unfall sicher kaum noch etwas übrig geblieben wäre. Er konnte ihn sich von einem Erbe leisten, welches er kürzlich ausgezahlt bekam. Was für Verhältnisse: Der Butler hatte ein Auto, die Dienstherrin nicht!

»Ein fremder Mann im Haus? Aber Miss, wir kennen ihn doch gar nicht!«, flüsterte ihr Magdalena so laut zu, dass es selbst ein Schwerhöriger problemlos verstanden hätte.

»Na und? Er braucht Hilfe! Außerdem, wie viele Herumtreiber und Taugenichtse fahren einen Bentley? Reißen Sie sich zusammen, Magdalena!«

Das Hausmädchen nickte erschrocken und half schließlich dem Gärtner beim Abstützen des Mannes.

»8 Litre!«

Lillian sah den Mann erstaunt an. Er blutete am Kopf, seine Augen waren nur halb geöffnet.

»Pardon? Was sagten Sie?«

»Mein 8 Litre!«, wiederholte der Mann gequält. Lillian zuckte mit den Schultern.

»Er redet wirr, bringen Sie ihn ins Haus!«

»Miss, 8 Litre heißt das Auto! Der Bentley!«, warf der Gärtner erstaunlich gebildet in die Runde.

»Oh, Sie können sprechen?«, entgegnete Lillian stirnrunzelnd. »Er soll sich erstmal ausruhen, seine acht Liter werden ihm schon nicht davonlaufen!«

Der Gärtner nickte und wandte sich dann wieder dem Verletzten zu. Lillian drehte sich noch einmal um und blickte das beschädigte Auto an. Das Licht brannte noch immer, auch der Motor röchelte noch vor sich hin. Vorsichtig näherte sie sich dem Wagen, als wäre er ein gefährlicher Drache, ehe sie die Fahrertüre öffnete und einstieg. Es kostete sie einige Überwindung, den Motor auszumachen und den Schlüssel abzuziehen. Lillians Blick ging in Richtung des Herrenhauses, die beiden Angestellten verschwanden soeben mit dem Fremden im Hauseingang. Ihre Hände umklammerten vorsichtig das Lenkrad des Wagens, welches sie danach nach links und rechts drehte. So schwer konnte das Fahren vielleicht ja doch nicht sein, wenn es sogar der alte Jonathan schaffte! Lillian ertappte sich dabei, während dieses Gedankengangs zu grinsen. Nein, kam gar nicht infrage! Sie wollte gerade wieder aufstehen, als sie eine Mappe mit Dokumenten auf dem Beifahrersitz bemerkte. Vielleicht wichtige Papiere? PRIVATE Papiere? Lillians Hand griff nach der Mappe und schlug sie auf. Es geschah quasi von alleine, sie konnte nichts dafür! Es waren leere Kaufverträge, Karten von der Gegend und … ein Grundplan ihres Hauses? Lillians Herz begann zu rasen, ihr Puls stieg merklich an. Es hatte sie schon gewundert, dass sie den Mann nicht direkt erkannte. Normalerweise war ihr jede Person höheren Ranges in der Gegend hier vertraut. Nicht aber findige Immobilienhaie aus der Stadt! Dieser Parvenü! Es genügte ihm nicht, ihr Anwesen kaufen zu wollen! Nein, er raste mit seinem Wagen direkt hinein! Lillians Hand ergriff den Grundplan des Burrows-Anwesens und knüllte ihn wütend zusammen.

»Ich bringe ihn um!«