Lucille - Stewart McCole - E-Book

Lucille E-Book

Stewart McCole

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Beschreibung

Lucille hat alles, was sich eine Dame der feinen Gesellschaft im England des Jahres 1930 nur erhoffen kann. Alles, außer Freiheit. Beengt von den gesellschaftlichen Normen und den hohen Erwartungen an die einzige Tochter eines alleinstehenden Fabrikanten droht sie langsam an ihrem Leben zu zerbrechen. Bis sie eines Tages beschließt, aus diesem goldenen Käfig zu entkommen. Ihren eigenen Weg zu gehen und das persönliche Glück in der Ferne zu finden. Doch noch ahnt Lucille nicht, welche Abgründe und Tragödien sich bald in ihrer kleinen Welt auftun werden. Ereignisse, die sie und ihr Leben für immer verändern ...

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Stewart McCole

Lucille

Für Luna, deren Liebe wie ein Stern auf ewig leuchtet. Danke an Michelle, Veronika und Krista für die Inspiration und Unterstützung, die ihr mir täglich beim Schreiben gabt.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1

Lucille warf einen Blick in den strahlend blauen Himmel. Ein Vogelschwarm zog dort vorbei, in die Ferne fliegend. Ein sanftes Lächeln glitt über ihre Lippen. Frei sein, einfach aufbrechen und das Ziel noch nicht kennen. Wie das wohl war? Sie wusste es nicht. Und sie würde es auch nie wissen, so lange sie lebte. Dieser Sommertag 1930 war wunderschön, warm und freundlich strahlte die Sonne auf das Anwesen hinab, welches Lucille schon seit ihrer Geburt ihr Zuhause nannte. Von ihrem Balkon aus konnte sie das gesamte Gebiet überblicken. Die prachtvolle Parkanlage, den Pavillon mit der großen Terasse, weiter hinten die gutseigenen Felder und dahinter das Waldstück, welches ihr Großvater vor mehr als 40 Jahren in seinen Besitz brachte, um dort Fortwirtschaft und Treibjagden durchführen zu lassen. Die armen Tierchen.

Das alles war ihre Heimat, ihre umzäunte Welt. Auf den ersten Blick groß, doch nach all den Jahren vertraut und fast schon winzig klein. Umgeben von Luxus. Nur einen Luxus, den würde sie sich nie leisten können: Freiheit.

 

„Bist du soweit?“ fragte eine vertraute Stimme im sanften Ton hinter ihr. Lucille atmete tief durch, verdrängte ihre Traurigkeit und setzte ein Lächeln auf, ehe sie sich zu ihrem Vater umdrehte, der im feinen Smoking an der Türe stand.

„Du siehst großartig aus, meine Prinzessin! Wie deine Mutter, als ich sie damals kennenlernte!“ sprach er in einer Mischung aus Freude und Melancholie. Lucille nickte, auch wenn ihr nicht nach Smalltalk war. Und erst recht nicht, wenn das Thema wie auch sonst immer zu ihrer Mutter führte. Vergleiche, Anekdoten. Irgendwie schaffte es Vater immer, seine verstorbene Frau in jedes Gespräch einzubinden.

Lucille lächelte erneut, konnte aber ihre schlechte Laune nicht wirklich verstecken.

„Du auch!“ antwortete sie knapp. Es war nicht irgendein Tag, nicht irgendeine Veranstaltung. Es war ihr alljährlicher Geburtstagsball. 24 Jahre war sie nun bereits auf dieser Welt. Und bis auf Besuche zu benachbarten Anwesen und gesellschaftlichen Veranstaltungen war sie schon seit 24 Jahren in diesem Haus. Ihrem Mikrokosmos. Ihrem goldenen Käfig.

„Heute Abend werden eine Menge Gäste da sein, um mein kleines Spätzchen zu feiern!“ sprach ihr Vater mehr zu sich selbst als zu seiner Tochter. „24 Jahre, wie doch die Zeit vergeht! Ich hoffe jedenfalls, dass du einen wunderschönen Abend haben wirst!“

Lucille atmete tief durch, während der Wind durch ihr Haar wehte. Sie überblickte noch einmal kurz die Landschaft, ehe sie zu ihrem Vater ging und lächelte.

„Natürlich wird es das! Du schaffst das jedes Jahr!“

Thomas Renshaw gluckste, als seine Tochter ihn umarmte und ihren Kopf an seinen Körper drückte. Er wusste, dass es immer schwerer werden würde, sie hier zu halten. Und dennoch wollte, nein, musste er es versuchen. Die Wunden waren noch tief. 17 Jahre war der Tod seiner geliebten Frau nun schon her. Ein so vermeidbarer, schrecklicher Tod. Lucille würde das nicht passieren, niemals. Nie im Leben würde er sie im Stich lassen, sie hinaus in diese grausame Welt schicken. Doch für diesen Abend gab es erst einmal eine andere wichtige Aufgabe.

„Treffen wir uns um 17 Uhr im Treppenhaus, dort findet der Gästeempfang statt!“ merkte Renshaw mit Blick auf seine Taschenuhr an. Er hatte eigentlich seit geraumer Zeit auch eine dieser neumodischeren Uhren für das Handgelenk, wie sie Offiziere beim Militär trugen. Aber das war nichts für ihn. Eher was für die Damen, an deren zierlichen Handgelenken sah das vielleicht noch gut aus und hatte mehr Sinn als ein simpler Armreif. Generell mochte er wohl eher altmodische Dinge, die Zeit war für ihn schon vor Jahren zum Stillstand gekommen. An jenem Tag, an dem er zum Witwer wurde.

„Ich werde da sein!“ flüsterte Lucille mit einem Augenzwinkern, das ihr Vater erwiderte, ehe er wieder ins Haus ging. Sie blickte noch eine Weile in seine Richtung, ehe sie in ihr Zimmer ging und sich dort an den großen Spiegeltisch setzte, an dem sie sich täglich für die Aufgaben richtete, die eine junge Dame ihres Standes zu erfüllen hatte. Ihre großen Augen blickten sie an. Was sie ihr wohl sagten? Sie wusste es selbst nicht genau. Ihre Laune schwankte zwischen glücklich über ganz okay bis hin zu melancholisch und tief traurig. Jahrelang hatte sie sich hier geborgen gefühlt. Sie hatte alles, wurde geliebt. Doch in den letzten Jahren kamen immer mehr Zweifel, immer mehr Sorgen. Sie konnte hier schließlich nicht für immer bleiben. Ihr ganzes Leben lang befreundete Familien auf ihren Anwesen besuchen und Gartenpartys veranstalten. Oder Vater und die anderen Gentlemen beim Brunch nach der Jagd begleiten. Auch wenn genau daraus wohl der gesamte Lebensinhalt mancher Damen bestand. Schon als Kind hatte sie kaum Freunde, spielte mit den Kindermädchen oder ab und an mit den Kindern der umliegenden Anwesen. Eines ihrer Kindermädchen, Lillian, kam sowas wie einer besten Freundin wohl am nächsten. Sie selbst war erst 15, als sie hier anfing. Wie viele Stunden sie miteinander verbrachten, spielten und lachten. Oder auch einfach nur über alles sprachen, was ihnen auf dem Herzen lag. Doch eines Tages wurde Lillian mit einem Hausdiener in der Speisekammer erwischt, beide sah sie danach nie wieder. Lucille betrachtete sie sich noch eine Weile im Spiegel, dann griff sie wie automatisiert zu ihren Schminkutensilien und richtete sich für den Abend. Was wohl die Zukunft bringen würde? Irgendwann würde sie heiraten, ob sie es wollte oder nicht. Schon jetzt fragten viele von Vaters Freunden ständig, warum sie in ihrem Alter noch keinen passenden Gatten gefunden oder einen Nachkommen gezeugt hätte. Tatsächlich waren die gleichaltrigen Frauen, die sie auf den Veranstaltungen ihres Vaters kennengelernt hatte, alle schon vergeben und oftmals auch schon Mütter. Die Geburt eines Stammeshalters war den alten Herrschaften der feinen Gesellschaft immer noch unglaublich wichtig, auch wenn sie das wohl nicht mehr so offen zugaben. Aber noch immer gab es bei Schwangerschaften so Sprüche wie „Möge das Erstgeborene ein Junge sein“ und all dieser Mist. Fast so, als wären Mädchen nicht gleichwertig. Wie sollten denn die Herren der Schöpfung ihre Dynastien am Leben erhalten, wenn jedes Kind nur noch männlich wäre? Ob Lucille wohl nach ihrer Geburt von ihrem Vater auch mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck begrüßt wurde? Vielleicht gar mit einem zynischen Spruch? Sie wusste es nicht, und das war wohl auch gut so. Zwei Jahre nach ihrer Geburt im Jahr 1906 kam ein zweites Kind, der ersehnte männliche Erbe, zur Welt. Er hieß ebenfalls Thomas, was Lucille mittlerweile eher abstoßend fand. Was sollte dieses Getue von Vätern, die ihren Söhnen denselben Namen gaben? So, als würden sie ihnen die eigene Existenz absprechen und in die Rolle des Nachfolgers pressen. Ein Thomas Renshaw „junior“ würde immer nur der Sohn des „alten“ Renshaw bleiben, selbst wenn dieser schon lange tot war. Doch es kam nie dazu. Der junge Thomas starb am plötzlichen Kindstod. Der erste von noch vielen Rückschlägen, die Vater einstecken musste. Und ihn zu dem Mann machten, der er heute war. Ein Schatten, im Vergleich zu früher.

„Reiß dich zusammen!“ murmelte Lucille ihrem Spiegelbild zu, während sie sich richtete. Es war ihr Geburtstag, und trotz aller Sorgen wollte sie zumindest an diesem Abend fröhlich sein. Es kamen vielen Gäste, befreundete Familien. Viele Leute mochte Lucille nicht besonders, aber auf einige der Besucher freute sie sich. Außerdem gab es gutes Essen, viel zu Trinken, eine Band spielte und um Mitternacht wollte Vater ein kleines Feuerwerk zünden. Seine Idee war das nicht, er konnte es eigentlich gar nicht ausstehen. Aber nachdem die Collinwoods ihrer Tochter zu ihrem Geburtstag ein Feuerwerk spendierten war klar, dass die Renshaws ebenfalls solch ein Spektakel organisieren würden. Nur noch viel größer. Noch eine Sache, die Lucille nie verstand, dieses ewige Vergleichen und Überbieten. Aber das war nun auch egal, denn bei dieser Feier wollte sie einmal nur an sich selbst denken. Und versuchen, glücklich und unbeschwert wie in Kindertagen zu sein. Auch wenn sie in ihrem Herzen wusste, dass ihr dies nie gelingen würde.

 

Lucille betrachtete die illustren Gäste im Erdgeschoss des Hauses, während sie elegant und wie eine Königin langsam die Treppe hinab stolzierte. Vater und ganz früher auch Mutter brachten ihr schon von Kindesbeinen an bei, wie man sich als Dame von Stand zu benehmen hatte. Hierzu gehörten ganz offensichtliche Sachen, aber auch Kleinigkeiten, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht groß auffielen. Aber bei Missachtung trotzdem einen großen Unterschied machten. Zum Beispiel die Körperhaltung, oder eben die Art und Weise, sich elegant zu bewegen. Was für einen Eindruck würde es auf die Gäste machen, wenn man als Tochter des Hausherren wie ein Sack Kartoffeln durch das Haus schlurfte? Den Blick immer geradeaus, nie auf den Boden gerichtet. Diese Demutshaltung war etwas für das einfache Personal, die Mägde und Diener. Ja, Vater hatte auch in dieser Hinsicht ein sehr konservatives Weltbild. Lucille kannte einige Freunde ihres Vaters, die wesentlich offener und moderner dachten. Die Carters zum Beispiel, ihr Anwesen lag nur wenige Meilen entfernt. Bei diesem schönen Wetter waren sie deshalb mit dem offenen Tourenwagen angereist, der für lange Strecken definitiv zu unbequem gewesen wäre. Ein De Dion-Bouton, den Vater wegen seiner französischen Herkunft bei jedem Treffen mit einem mürrischen Blick bedachte. Für ihn kamen nur englische Produkte und sowieso nur englische Fahrzeuge, die neuen Statussymbole der noblen Herren, in Frage. Für ihn grenzte es schier an Volksverrat, einen ausländischen Wagen zu fahren. Jedenfalls waren die Carters ganz anders zu ihrem Personal, das zudem viel kleiner war als bei Vater. Ein Gärtner, ein Hausmädchen, ein Koch und ein Chaffeur. Für normale Bürger war das schon absolut unerreichbarer Luxus, aber Vater bestand weiterhin auf eine ganze Schar von Bediensteten, die durch das Haus wuselten. Alleine schon Lucilles Kindermädchen, teilweise waren es drei Stück gleichzeitig. Besonders kurz nach Mutters Tod. Er hielt es wohl für eine Möglichkeit, ihr trotz dieser Tragödie irgendwie eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Aber Mädchen als Mutterersatz, die damals kaum älter als sie selbst waren? Lucille sah ihn ihnen eher Freundinnen. Aber Freundinnen, die für ihre Freundschaft bezahlt wurden. Sich innerlich wohl täglich schon darauf freuten, endlich wieder in ihre Gemächer zu dürfen. Lucille in Wahrheit vielleicht gar nicht mochten. Bei den meisten Mädchen hatte sie dieses Gefühl, egal wie freundlich sie sein mochten. Außer bei Lillian, dieser treuen Seele. Und genau nach ihr hielt Lucille nun auch Ausschau. Sie hatte Vater in den Ohren gelegen, sie zu finden und einzuladen. Erst war er entschieden dagegen. Doch Thomas Renshaw besaß trotz seiner Härte eine verwundbare Stelle: Lucille. Ein paar Tränen genügten, dass er zusagte. Wenn auch mit den Worten „Vermutlich wird man sie in einem Hurenhaus finden! Wie verkommen muss man sein, als Kindermädchen Unzucht mit einem der Angestellten zu treiben?“

Aber Lucille wusste es besser als ihr Vater. Lillian hätte nie einfach so eine Affäre mit einem Angestellten des Hauses angefangen. Nicht ohne Grund. Aber diesen Grund gab es. Liebe. Nur konnte Vater das wohl nie begreifen. Ihm fehlte die Gabe, sein Personal als vollwertige Menschen mit den selben Gefühlen und Bedürfnissen wie er sie auch selbst hatte zu sehen. Ihm fehlte die Empathie, die Nähe zu ihnen. Das war alles. Er behandelte sie ansonsten gut, bezahlte sie angemessen und hatte nie Hand angelegt oder sich unfair verhalten. Außer bei Lillian, die Lucille irgendwann nur noch Lilly nannte. Es klang schöner und irgendwie … pfiffiger. Sie wollte auch seit jeher gerne von ihrem Vater Lucy genannt werden, doch bislang sperrte er sich dagegen. „Lucille war der Name deiner Großmutter. Es ist ein schöner Name, den man nicht abkürzen oder ändern muss!“ hatte er ihr wie immer freundlich, aber bestimmt mitgeteilt. Ja, eben. Ihre Großmutter. Die war aber auch schon seit fast zwanzig Jahren tot und lebte in einer Zeit, in der Autos und elektrisches Licht noch Fiktion waren. Oder irgendwelche Rechte für Frauen, auch wenn ihr Vater die Sufragetten noch immer als „Lästige Eiterpickel der Gesellschaft“ bezeichnete. Die Generation ihrer Großmutter saß den ganzen Tag in der guten Stube am Spinnrad und plauderte mit ihren Freundinnen über den Haushalt oder die neuesten Gerüchte im Dorf. Brr!

„Guten Abend, Miss Lucy!“

Lucille drehte sich um und blickte in das sanftmütige Gesicht von Benjamin Lawrence, dem privaten Butler ihres Vaters, der jedoch viel mehr zu einem Berater für Geschäftliches geworden war. Thomas Renshaw mochte viele Talente haben, Geschäftssinn gehörte jedoch nicht wirklich dazu. Er verkaufte sich nur gut und hörte hinter verschlossenen Türen vor allem auf den Rat langjähriger Vertrauter. Neben Herrn Carter oder den höhergestellten Mitarbeitern seiner Fabrik war das eben auch Lawrence, der in Lucilles Erinnerung schon immer ein älterer, grauhaariger Gentleman war. Von schlanker Gestalt, immer höflich und so typisch britisch, dass man ihn zum Maskottchen des United Kingdom hätte ernennen können. Vor allem aber war er der einzige Mensch in diesem goldenen Käfig, der Lucille wirklich zu verstehen schien. Sie konnte mit ihm über alles reden. Auch damals, als Lillian fortgeschickt wurde. Und er war die einzige Person hier, die tatsächlich Lucy zu ihr sagte. Wenn auch nur in Abwesenheit seines Dienstherren, der sich ansonsten wegen der zu großen Vertrautheit unheimlich aufgeregt hätte.

„Mr. Lawrence! Sie sehen aber heute besonders elegant aus!“

Lawrence lachte bei Lucilles Kompliment. Ein kleines Spielchen, welches sie schon seit Jahren abzogen. Schon damals machte sie ihm gerne scherzhaft Komplimente darüber, wie elegant und schick er doch immer war. Und daraus wurde so etwas wie ein Running Gag. Aber es stimmte, denn tatsächlich hatte sie den Butler nie anders gesehen. Ihre Mutter scherzte einst darüber, dass er wohl schon im Frack und mit grauen Haaren geboren wurde.

„Danke, aber Sie übertreffen wie immer die gesamte Gesellschaft in Eleganz und Schönheit!“ antwortete Lawrence mit einem leichten Knicks und charmanter Stimme. Lucille liebte seine Stimme, früher musste er oft für sie Lieder singen, die sie bei den Veranstaltungen ihres Vaters gehört hatte. Selbst auf der Bühne stehen konnte er wohl leider nicht, auch wenn sie es gerne wollte. „Butler sind Butler, Sänger sind Sänger. Die Leute denken noch, ich wäre geizig, wenn ich meinen Butler singen lasse!“ lautete auch hier die störrische Antwort ihres Vaters.

„Sagen Sie, haben Sie schon Lillian gesehen? Vater hatte mir versprochen, nach ihr suchen zu lassen. Sie wissen doch, wie gerne ich sie sehen würde!“ fragte Lucille mit aufgeregter Stimme. Lawrence lächelte, schien jedoch betrübt über etwas zu sein.

„Bisher nicht, Miss. Vielleicht sollten Sie mit ihrem Vater sprechen. Er ist dort, bei den werten Carters! Oh, und wünschen Sie etwas zu trinken?“

Lawrence winkte einen für die Feier zusätzlich eingestellten Kellner, einen jungen Knaben, herbei, der ein Tablett mit Champagner trug. Ohne Lucilles Antwort abzuwarten griff Lawrence nach einem Glas.

„Mit Orangensaft, nehme ich an? Sie sagten bei der letzten Feierlichkeit, dass der Champagner pur zu herb schmecken würde!“

Lucille lachte, während sie dem Butler das Glas aus der Hand nahm.

„Sind Sie ein Zauberer? Wie können Sie sich all diese Dinge merken?“ fragte sie amüsiert nach. Lawrence zog seinen rechten Mundwinkel nach oben, was er schon immer tat, wenn er zu Scherzen aufgelegt war.

„Ein guter Butler muss ein Zauberer sein! Ach, Sie ahnen nicht, wie gütig ihr Vater doch noch ist im Vergleich zu meinen vorherigen Dienstherren! Apropos Dienst, bitte entschuldigen Sie mich nun, der White Cake wurde wie ich sehe noch immer nicht aus der Küche gebracht!“

Lucille lachte über die hektische Art des Butlers, für den immer alles perfekt ablaufen musste. Sie mochte ihn. Wie einen zweiten Vater, der viele Sachen besser machte und oft gütiger schien. Auch wenn sie ihren Vater Thomas liebte, trotz aller Kanten. Hinter der Schale eines harten und konservativen Geschäftsmanns steckte ein einsamer Mann, der nie über den Tod seiner Frau hinweg kam. Sein Herz starb mit ihr in dieser einsamen Gasse im Dorf. Lucille blieb noch eine Weile lang an der Treppe stehen und betrachtete ihren Vater aus der Ferne, ehe es Mr. Carter war, der sie erspähte und freudig winkte, als wäre das letzte Treffen nicht erst eine Woche her. Er kam zu Besuch, um mit ihrem Vater über die Firmenfusion eines langjährigen Partners zu sprechen. Eine „ernste Sache“ wie Lawrence es bezeichnet hatte. Lucille nahm noch einmal tief Luft, ehe sie zu der kleinen Gruppe ging. Carter war nur unwesentlich jünger als ihr Vater, wirkte jedoch viel jugendlicher. Seine Frau war wesentlich jünger, vielleicht Ende zwanzig. Eine zierliche, durchweg elegante und fast schon püppchenhaft zerbrechlich wirkende Person. Aber voller Ideen. Schon als junge Dame im Jugendalter meldete sie sich freiwillig als Helferin im Lazarettdienst während des großen Krieges. Zuerst wurde das in der feinen Gesellschaft als kritisch angesehen, nach dem positiven Echo der Bevölkerung dann aber als gute Möglichkeit angesehen, sich beim einfachen Bürgertum beliebter zu machen. Auch in der Frauenbewegung war sie aktiv, was Lucille in Betracht ihres konservativen Vaters immer wieder amüsierte. Wie sehr er sich doch Mühe gab, freundlich und charmant zu ihr zu sein. Auch wenn er sie in Wahrheit wohl nicht ausstehen konnte.

„Lucille, welche Freude!“ begrüßte Mr. Carter die junge Dame mit einem Handkuss. Dann reichte ihr Mrs. Carter die zarte Hand, die so zerbrechlich und dünn schien. Schließlich klopfte ihr Renshaw anerkennend auf ihre Schulter, als hätte sie gerade abseits der Begrüßung der Gäste irgendetwas Nennenswertes getan.

„Und unsere herzlichsten Glückwünsche! Dein Geschenk steht am Gabentisch, ich hoffe dass es dir zusagt!“ fügte Mrs. Carter hinzu. Lucille lächelte und machte einen höflichen Knicks, wie sie es damals von ihrer Mutter gelernt hatte. Sie wusste, dass Mrs. Carter immer einen guten Modegeschmack zeigte. Für ihren Vater nur oft zu modern. Wie die Outfits aus Amerika, die sie ihr zu Weihnachten schicken ließ. Die Hüte und Kleider der Flapper, wie man diese so modern wirkenden Damen gerne nannte. Noch am Heiligabend hatte ihr Vater verdeutlicht, dass er auf keinen Fall „so einen albernen Bubenhaarschnitt“ an ihr akzeptieren würde. Dafür konnte sie die Sachen behalten, was die Hauptsache war. Ihre langen Haare liebte sie sowieso viel zu sehr, um sie für eine Modeerscheinung zu opfern.

„Und wie gefällt dir die Feier, Lucille?“ fragte Mr. Carter das Geburtstagskind so, als wäre es nicht gerade erst selbst eingetroffen.

„Es sieht richtig toll aus! Mal sehen, was der Abend noch bringt!“ antwortete Lucille knapp. „Apropos: Vater, kann ich dich kurz sprechen?“

Thomas Renshaw sah seine Tochter verdutzt an, ehe er die Carters anlachte.

„Verdammt, die Chefin will mit mir reden! Bin ich etwa gefeuert, Schatz? Also, was gibt`s denn?“

Lucille lächelte. Sie liebte es, wenn ihr Vater so unbeschwert war. Selbst dann, wenn er es nur seinen Gästen und ihr vorspielte. Die albernen Sprüche und Witze, auch wenn sie in Wirklichkeit gar nicht so witzig waren. Es war ein Stück heile Welt. Ein kurzer Augenblick ihres Vaters, wie er früher mal war.

„Vielleicht können wir dafür kurz in ein anderes Zimmer? Es geht um … den Überraschungsgast!“

„Uhh, ich LIEBE Überraschungen!“ rief Mrs. Carter händeklatschend. Sie dachte vermutlich an einen Showact oder einen Sänger, der aus der Torte sprang und dann wie Fred Astaire für die Gäste auf der Bühne steppte. Nicht, dass ihr Vater solche Dinge je erlauben würde, die neumodischen Tänze empfang er als frivol und unelegant. Thomas Renshaw sah seine Tochter irritiert an. Für einen Moment wurde sein Blick ernst und nachdenklich, ehe er verstand und vor den Gästen wieder sein Lächeln aufsetzte.

„Natürlich, die Überraschung! Hehe, würden Sie uns kurz entschuldigen? Ich bin gleich wieder da. Richten Sie doch in der Zwischenzeit meine Empfehlung an Miss Cordell aus, wie ich sehe trifft sie gerade ein!“

Wie vom Blitz getroffen eilte Mrs. Carter zum Eingangsbereich und schleifte ihren Mann mit sich wie einen Schoßhund, auch wenn in ihrer Beziehung sonst ganz klar er die Hosen anhatte. Mrs. Carter und Miss Cordell kannten sich seit Jahren und waren beide gleichermaßen an Mode und Tratsch interessiert. Wenn sie sich sahen gab es kein Halten mehr, keine Kraft der Welt vermochte sie dann zu trennen. Thomas Renshaw mochte kein guter Geschäftsmann sein, aber er fand immer eine Gelegenheit, sich gut aus der Affäre zu ziehen.

Eiligen Schrittes führte Thomas seine Tochter in die Bibliothek, die er kaum noch betrat, seit seine Frau zu Tode kam. Sie liebte diesen Raum einst über alles, genau wie heutzutage es Lucille tat.

„Nicht die feine Art, vor all den Leuten! Aber na gut, es ist dein Geburtstag. Also, Schatz, von welchem Überraschungsgast sprichst du? Du hast mir viele Leute genannt, die kommen sollten!“

Lucille atmete tief durch. Sie wusste genau, dass sich ihr Vater im Moment nur ahnungslos stellte.

„Vater, ich habe dich sehr lieb, aber sei nicht so unehrlich mit mir! Ich habe nicht viele Leute genannt, das sind doch fast alles nur deine Freunde! Nein, ich habe nur eine einzige Person genannt, die ich an diesem Abend gerne hier haben wollte!“

Lucille tat ihr Vater schon in dem Moment leid, in dem sie den letzten Satz beendet hatte. Sie klang viel zu aggressiv, viel zu gemein.

„Ja, das hast du“, antwortete er nachdenklich.

„Also, was ist mit Lillian? Konnte man sie finden?“

Thomas sah seine Tochter mit traurigen Augen an, ehe er sich ohne Antwort zu dem in der Ecke stehenden Globus zuwandte, in dem sich eine Bar befand. Eine lustige, aber gleichzeitig auch dämliche Zweckentfremdung für einen so schönen Gegenstand. Wortlos schüttete er sich einen Brandy ein und setzte sich in einen der Lesesessel.

„Trink doch auch einen Schluck“, erwiderte er fast schon flüsternd. Lucille schüttelte angespannt den Kopf, ihr Herz raste. Was auch immer Vater sagen wollte, es war nicht gut. Endlich fasste er genug Kraft und antwortete seiner Tochter auf ihre Frage.

„Schatz, Lillian ist tot!“