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England, 1946: Judy Elliott tritt eine Stelle als Hausmädchen im Herrenhaus Pilgrim’s Rest an. Zunächst freut sich die junge Frau über ihr Glück. Doch schon bald merkt sie, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Der letzte Eigentümer ist tödlich verunglückt, und auch der jetzige Besitzer ist bereits Opfer von zwei Mordanschlägen geworden. Liegt ein Fluch über dem ehrwürdigen Anwesen? Miss Silver wird zu Hilfe gerufen, um den merkwürdigen Vorgängen auf dem Anwesen auf den Grund zu gehen. Kann sie das Schlimmste verhindern?
Ein spannender Krimi-Klassiker, der in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Das brennende Zimmer" erschienen ist.
Jetzt als eBook bei beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
"Wentworth schreibt die besten englischen Kriminalromane." New York Times
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Weitere Titel der Autorin:
Über dieses Buch
Über die Serie
Über die Autorin
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Miss Silver und die falsche Zeugin
Miss Silver und der Mord im Herrenhaus
Miss Silver und die Tote am Strand
Miss Silver und die vergiftete Lady
England, 1946: Judy Elliott tritt eine Stelle als Hausmädchen im Herrenhaus Pilgrim’s Rest an. Zunächst freut sich die junge Frau über ihr Glück. Doch schon bald merkt sie, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Der letzte Eigentümer ist tödlich verunglückt, und auch der jetzige Besitzer ist bereits Opfer von zwei Mordanschlägen geworden. Liegt ein Fluch über dem ehrwürdigen Anwesen? Miss Silver wird zu Hilfe gerufen, um den merkwürdigen Vorgängen auf dem Anwesen auf den Grund zu gehen. Kann sie das Schlimmste verhindern?
Was macht eine pensionierte Lehrerin, der langweilig ist? Sie wird Privatdetektivin und unterstützt Scotland Yard bei den Ermittlungen in kniffligen Fällen. Mit ihrem unauffälligen gouvernantenhaften Aussehen wird Miss Silver oftmals unterschätzt – aber man sollte sich nicht mit der reizenden alten Dame anlegen. Bewaffnet mit einer scharfen Kombinationsgabe, ihrem Strickzeug und einem Zitat ihres Lieblingsdichters Alfred Lord Tennyson auf den Lippen, bringt Miss Silver jeden Verbrecher zur Strecke …
Patricia Wentworth ist mit ihren klassischen englischen Krimis die Wiederentdeckung unter den großen Ladies of Crime. 1878 in Indien geboren, ließ sie sich nach dem Tod ihres ersten Mannes in Camberly, England, nieder. 1923 schrieb sie ihren ersten Krimi, dem im Laufe der Zeit 70 weitere folgen sollten. Ihre bekannteste Heldin ist Miss Silver, die in 31 Romanen die Hauptrolle spielt.
Patricia Wentworth
Miss Silver und der Fluch von Pilgrim′s Rest
Aus dem Englischen von Ilse Bezzenberger
beTHRILLED
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1946 by Patricia Wentworth Turnbull
Titel der britischen Originalausgabe: »Pilgrim’s Rest«
Originalverlag: Hodder and Stoughton, London
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
Copyright © der deutschen Übersetzung 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Das brennende Zimmer«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © Eric Isselee/Shutterstock, © 1000 Words/Shutterstock, © photomaster/Shutterstock, © Ola-la / shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 978-3-7325-7247-2
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Judy Elliot trat von der Rolltreppe am Picadilly Circus herunter, als sie plötzlich eine Hand unter ihrem Ellbogen spürte. Da es sich unverkennbar um eine männliche Hand handelte und sie keine Lust hatte, sich auf die Tour einsamer Soldat anmachen zu lassen, beschleunigte sie zunächst ihre Schritte, um dann, als das nichts zu nützen schien, mit ein paar eisigen Worten auf der Zunge herumzufahren.
Doch diese Worte blieben unausgesprochen. Ihre Abstand gebietende Miene schmolz zu einem freudigen Wiedererkennen. Sie reckte das Kinn und blickte zu einem hochgewachsenen jungen Mann in dunkelblauem Anzug mit dezenter Krawatte auf. »Frank!«, rief sie.
Detective Sergeant Abbott gelang nur eine armselige Imitation seines gewöhnlich recht zynischen Lächelns. Tatsächlich stellte das Verhalten seines Herzens ein erhebliches Handicap dar, ein vollkommen gesundes Organ, das auf diese Situation mit einer höchst unwillkommenen Gefühlsaufwallung reagierte. Wenn man ein Mädchen seit einem Jahr nicht mehr gesehen, wenn sie einem auf keinen Brief geantwortet und wenn man sich endlich mühsam eingeredet hat, jegliches Interesse, das man vielleicht einmal verspürt hätte, gehöre längst der Vergangenheit an, dann ist die Feststellung, dass man sich wie ein verliebter Pennäler benimmt, einigermaßen peinlich. Er war nicht einmal sicher, ob ihm nicht die Röte ins Gesicht geschossen war. Und das Schlimmste aller Symptome: Ihm wurde sehr schnell klar, dass jetzt, da Judy wieder da war, nichts anderes mehr zählte.
Er hörte nicht auf zu lächeln, und sie hörte nicht auf, das Kinn zu recken, was sich wegen ihres Größenunterschieds als notwendig erwies. Ihr Kinn war übrigens energisch und das Gesicht, zu dem es gehörte, eher angenehm als hübsch, der Mund breit und geschwungen. Ihre Augen waren von unbestimmbarer Farbe, wenn auch sehr ausdrucksvoll, und in diesem Augenblick lag Überraschung darin. Was um alles in der Welt dachte sich Frank Abbott eigentlich dabei, dazustehen und sie anzustarren wie … Sie zupfte ihn am Arm und sagte:
»Aufwachen!«
Er fuhr zusammen. Hätte ihm je einer gesagt, er werde sich mal in aller Öffentlichkeit so gehen lassen, dann hätte er diesem Idioten ins Gesicht gelacht. Mit einer Zunge, die so gar nicht daran gewöhnt war, außer Gefecht zu sein, stammelte er: »Der Schock, verstehst du? Ich bitte um Nachsicht. Du warst der letzte Mensch auf Erden, den ich hier erwartet hätte.«
Ihr Blick wurde streng.
»Heißt das, du hast ein vollkommen fremdes Mädchen beim Ellbogen gepackt und dann erst festgestellt, dass ich es bin?«
»Nein, das heißt es nicht. Wenn ich so etwas täte, würden sie mich bei Scotland Yard bestimmt feuern. Abgesehen davon ist es ja auch nicht besonders raffiniert. Da fiele mir schon noch was Besseres ein. Judy, wo hast du gesteckt?«
»Ach, auf dem Land …, übrigens stehen wir hier mitten im Weg.«
Er nahm sie beim Arm und schob sie aus der Menge.
»Hier ist es besser. Warum hast du meine Briefe nicht beantwortet?« Er hatte das gar nicht sagen wollen, doch es platzte einfach so aus ihm heraus.
»Briefe? Ich habe keine Briefe bekommen.«
Er sagte: »Ich habe dir aber geschrieben. Wo bist du denn gewesen?«
»Ach, so hier und dort … Bei Tante Cathy, bis sie gestorben ist, und dann … Ziemlich viel unterwegs eben.«
»Wurdest du zum Dienst verpflichtet?«
»Nein. Ich habe ja Penny – die hat sonst niemanden.«
»Penny?«
»Das Kind meiner Schwester Nora. Sie und John sind bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, kurz nachdem ich dich zum letzten Mal gesehen hatte. Okay für die beiden, aber wirklich übel für Penny.«
Er sah, wie ihr Gesicht hart wurde. Sie blickte an ihm vorbei, als er sagte: »Das wusste ich nicht. Tut mir leid. Was soll man da sagen?«
»Nichts. Genügt ja, wenn ich es sage. Mach dir keine Gedanken. Und ich habe eben Penny gekriegt. Sie ist erst knapp vier, und es gibt sonst keinen einzigen Verwandten, der sie nehmen könnte, also bin ich freigestellt worden. Und was ist mit dir?«
»Die lassen mich nicht gehen.«
»Na, so ein Pech! Hör mal, ich muss mich beeilen, das Kind füttern. Wir wohnen bei Isabel March. Sie geht zum Essen aus, ich darf mich also einfach nicht verspäten. Sie hat gesagt, sie passt auf Penny auf, während ich einkaufe.«
Er hielt sie am Arm fest. »Warte einen Moment. Verschwinde nicht einfach, ohne dich mit mir zu verabreden. Gehst du mit mir essen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, Isabel geht doch aus. Dann wäre ja niemand in der Wohnung. Ich kann Penny nicht allein lassen. Und wenn du jetzt das sagst, was du gerade sagen wolltest, dann rede ich nie wieder mit dir.«
Seine hellen Augen funkelten ironisch, als er sagte:
»Ganz bestimmt ein Engel von einem Kind. Ich bete sie an!«
Judy prustete laut los.
»Bringt man euch bei Scotland Yard das Lügen nicht besser bei?«
»Das Lügen bringt man uns da überhaupt nicht bei. Wir sind dort alle äußerst moralisch. Mein Chef ist ein hoch angesehenes Mitglied der Kirche. Wenn Isabel March ausgeht, was hältst du dann davon, wenn ich mal vorbeisehe und dir helfe, Penny zu hüten?«
»Die schläft dann. Aber ich könnte ein Omelett machen – natürlich nur aus Eipulver.«
»Um wie viel Uhr?«
Unwillkürlich klang seine Stimme drängend, und Judy fragte sich, warum das so war. Sie waren befreundet gewesen, aber mehr auch nicht. Sie hatten zusammen gegessen, zusammen getanzt. Und dann hatte sie zurück zu der armen alten Tante Cathy gemusst, und er hatte weder geschrieben noch sonst etwas, obwohl er jetzt behauptete, er hätte es getan … Warum wohl, fragte sie sich. War er einer dieser ›Aus-den-Augen,-aus-dem-Sinn-Typen‹? Falls ja, dann war sie nicht die richtige Person, an der man es ausprobierte. Ein Jahr Schweigen, und jetzt diese Stimme. Das passte so gar nicht zu ihm, dieses Drängen. Sie erinnerte sich an einen eleganten jungen Mann mit einer ziemlich blasierten Art. Elegant war er immer noch – schlank und groß, mit sehr hellem, spiegelglatt geschniegeltem Haar, dazu die hellblauen Augen, mit denen er seine Mitmenschen voll amüsierter Herablassung zu betrachten pflegte, auch wenn sie im Augenblick auf ziemlich verstörende Weise auf sie gerichtet waren.
Schon bereute sie das Omelett. Denn wozu war es gut, sich verstören zu lassen? Sie würde keinerlei Zeit haben für junge Männer, jetzt, wo sie Penny hatte und gerade eine Stelle als Hausmädchen antrat. Einen Moment lang war sie versucht, ihre Einladung rückgängig zu machen, und wäre am liebsten davongerannt. In diesem Augenblick meldete sich ihr gesunder Menschenverstand zu Wort mit einem seiner heimtückischsten, trügerischsten Einwände: Ist ja schließlich nur ein einziger Abend. Was bedeutet das schon?
Sie bedachte Frank mit einem erleichterten Lächeln. »Halb acht, Raynes Court Buildings Nr. 3, Cheriton Street«, sagte sie und ging rasch davon.
Wenn man vier Jahre alt ist, dann ist das Zubettgehen eine sehr wichtige Zeremonie. Miss Penny Fossett zelebrierte sämtliche Riten. Jeder Versuch, sie zu beschleunigen oder dabei zu schludern, mündete lediglich in einem honigsüßen: »Noch mal, ja?« Judy bemühte sich zwar redlich, die Oberhand zu behalten, aber immer schaffte sie es nicht, denn die Schliche des kleinen Quälgeistes waren allzu betörend. Immer, wenn Judy sich zur Strenge aufraffte, säuselte die kindliche Sünderin prompt mit herzergreifendem Lächeln: »Penny hat ihre Judy sooo lieb«, und feuchte Ärmchen schlangen sich in würgender Umarmung um ihren Hals.
An diesem Abend zog sich das Baden besonders lange hin. Isabel hatte im Landhaus ihrer Mutter in einer Dachkammer eine uralte Gummiente aufgestöbert, die bei der Entrümpelung übersehen worden war, sehr zu Pennys Entzücken.
Als Judy sie ihr endlich entwinden konnte, war es später geworden, als ihr lieb war. Selbst wenn einem ein junger Mann ganz gleichgültig ist, möchte man doch Zeit haben, sich die Haare zurechtzumachen und auch beim Gesicht der Natur ein wenig nachzuhelfen, bevor er zum Essen kommt. Und kleine Kinder zu baden, ohne dabei selbst in Auflösung zu geraten, ist schwierig. Die Kindermädchen früherer Zeiten schafften das vielleicht, aber heutzutage ist das eine rapide aussterbende Kunst. Judy war erhitzt und feucht, als sie auf der Bettkante saß und die Arme ausstreckte.
»So, Penny, jetzt beten.«
Miss Penelope Fossett trug einen blassblauen Schlafanzug. Ihr dunkles Haar ringelte sich um ihren entzückenden Kopf. Sie hatte kleine rosa Ohren und ein fast herzförmiges Gesicht. Die Augen waren unglaublich blau, die Wimpern unglaublich lang und schwarz und die Farbe ihrer Wangen rosig und frisch. Als sie sich jetzt neben Judy hinkniete, den Kopf auf die gefalteten Hände neigte und ein langes, penetrantes »Muuuh!« von sich gab, entströmten ihr Wärme, Feuchtigkeit und der Duft nach Lavendelseife. Sobald man lachte, war man verloren.
Judy biss sich auf die Lippe, das half manchmal.
»Penny! Ich habe gesagt: Beten!«
Ein blaues Auge öffnete sich, starrte sie an und schloss sich wieder.
»Sie betet doch. Ich bin eine Muhkuh. Die beten so.«
Es dauerte etwa eine Viertelstunde, Penny zu überreden, doch wieder ein Mensch zu sein, doch selbst dann noch folgte dem abschließenden Amen ein leises, halsstarriges: »Muuuh!«
Judy stellte sich taub, verbat sich jede weitere Unterhaltung und ging ins Badezimmer, um sich in Ordnung zu bringen. Gerade als sie zu der Überzeugung gelangt war, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nicht reizloser ausgesehen hatte, klingelte es an der Wohnungstür, und sie musste gehen, um Frank Abbott hereinzulassen.
Gemeinsam bereiteten sie in Isabels winziger Küche das Omelett zu. Nichts hilft besser, das Eis zum Schmelzen zu bringen, als einträchtige gemeinsame Hausarbeit. Als er den Tisch fertig gedeckt und sie ihn ausgeschimpft hatte, weil ihm die Butterdose heruntergefallen war, hätten sie ebenso gut seit Jahren verheiratet sein können. Und beim Verspeisen des Omeletts, das sehr gut war und alle möglichen aufregenden Zutaten in sich barg, sagte Frank ihr das auch. Seine normalerweise so unverschämte Zunge gehorchte ihm inzwischen wieder, aber wenn er gehofft hatte, damit ein Erröten auszulösen, dann irrte er sich. Miss Elliot stimmte ihm seelenruhig zu.
»Ja, könnten wir – bloß nicht so langweilig.«
»Es müsste nicht langweilig sein mit dem richtigen Menschen.«
Judy reichte ihm die Tomatensoße.
»Man denkt vielleicht, dass es das nicht sein würde, bis es zu spät ist. Ich meine, wir beide mögen diese Soße, aber wenn wir sie die ganzen nächsten vierzig oder fünfzig Jahre zu jeder Mahlzeit essen müssten … Wir wären zu Tode gelangweilt!«
»Mein Kind, du machst mich schaudern! Ich kann dir versichern, dass ich mindestens dreißig verschiedene Varianten kenne, und wenn die nicht reichen, dann kann man sie immer noch mischen. Außerdem stagniert das Gehirn ja schließlich nicht total. Ich könnte noch ein paar neue erfinden. Du verstehst das alles ganz falsch. Menschen sind langweilig, wenn sie von Natur aus diese Neigung haben, sich auf Althergebrachtes zu versteifen, die Fenster fest verschlossen zu halten, damit nur keine neuen Ideen eindringen – all so was. Lass dir das eine Warnung sein!«
»Danke.« Sie klang zwar lammfromm, aber an ihren Augen sah er, dass sie sich über ihn lustig machte.
Als sie bemerkte, dass er weiterreden wollte, meinte sie mit ihrem schönsten Lächeln:
»Zu wie vielen Mädchen hast du das schon gesagt?«
»Das ist mir eben erst eingefallen. Die anderen mussten drauf verzichten.«
Irgendetwas veranlasste sie, es früher zu sagen, als sie vorgehabt hatte.
»Wir reisen morgen ab.«
»Wir?«
»Penny und ich.«
»Wohin?«
In dem Gefühl, wieder auf sicherem Boden zu stehen, atmete Judy innerlich auf. Sie lächelte erneut, wodurch ein sehr reizendes Grübchen sichtbar wurde.
»Wir werden Hausmädchen.«
»Was?«
»Hausmädchen. In einem netten sicheren Dorf, wegen Penny. Die Kriegsverluste belaufen sich dort bisher auf eine Ziege in einem abgelegenen Feld.«
»Hast du gesagt Hausmädchen?«
»Genau. Und wenn du mir jetzt sagst, ich könnte doch wohl was Besseres tun als das, was mir übrigens jeder sagt, dann hast du das noch nicht versucht. Aber ich. Wenn ich Penny nicht hätte, könnte ich dutzendweise Jobs finden. Aber wenn ich Penny nicht hätte, dann würde ich zum Dienst verpflichtet werden. Und ich habe nun mal Penny, und damit hat sich’s. Und ich behalte sie auch, und damit hat sich’s auch. Und wenn du über all das richtig nachdenkst, dann wirst du wie ich zu dem Schluss kommen, dass der einzige Job, den du mit einem Kind kriegen kannst, einer im Haushalt ist. Und auch den bekommst du nur, weil die Leute inzwischen so verzweifelt sind, dass sie alles akzeptieren. Nun überleg doch mal, wie passend das hier ist: ein Polizist und ein Hausmädchen, die zusammen zu Abend essen!«
Frank sah sie an. Er lachte nicht.
»Muss das sein?«
Judy nickte.
»Ja, es muss. Ich hab keinen roten Heller. Tante Cathy lebte von einer Leibrente, obwohl das niemand wusste. Nachdem ich alles bezahlt hatte, war nichts mehr übrig. John Fossett hatte nichts weiter als sein Gehalt, also ist für Penny nichts geblieben als eine winzige Rente, und die möchte ich sparen, damit sie später auf die Schule gehen kann.«
Frank zerkrümelte ein Stück Brot. Warum mussten denn John und Nora Fossett auch bei einem Bombenangriff umkommen und Judy mit der Fürsorge für ihr Balg zurücklassen?
»Wohin gehst du?«, fragte er verärgert.
Judy war sehr zufrieden mit sich. Sie nahm ihm das Brot weg und sagte ihm, er solle kein Essen vergeuden. Dann beantwortete sie seine Frage.
»Es klingt ziemlich nett. Penny und ich sollen mit der Familie zusammenleben, weil … Na ja, genau genommen vermute ich eigentlich, die Köchin und der Butler haben sich mit aller Macht zur Wehr gesetzt und gesagt, sie wollten uns nicht haben. Die Familie besteht aus zwei Miss Pilgrims und einem invaliden Neffen, und das Haus heißt Pilgrim’s Rest. Das Dorf heißt Holt St. Agnes, und …« Weiter kam sie nicht, denn Frank rüttelte am Tisch und sagte so laut, wie sie ihn noch nie hatte reden hören:
»Da kannst du nicht hingehen!«
Judy wurde mit einem Schlag wieder zu Miss Elliot. Auch wenn sie ihm weiterhin, nur durch den Tisch getrennt, gegenübersaß, so bedeuteten ihm ihre erhobenen Brauen und der Ausdruck ihrer Augen unmissverständlich, dass sie eine beträchtliche Distanz zwischen ihnen beiden geschaffen hatte.
»Und warum nicht?«, fragte sie mit entsprechender Kühle.
Frank war alles andere als kühl. Die unbeteiligte, gleichgültige Art, mit der er sich normalerweise wappnete, bot ihm nun keinen Schutz mehr. Er sah zutiefst entsetzt aus.
»Judy, tu das nicht. Bitte, sieh mich nicht so an. Du kannst da nicht hingehen!«, sagte er.
»Warum kann ich nicht? Stimmt irgendetwas nicht mit den Miss Pilgrims? Eine von ihnen ist in die Stadt gekommen, um mit mir zu reden, und ich fand sie sehr nett. Kennst du sie?«
Er nickte.
»Das wird Miss Columba gewesen sein. Sie ist ganz in Ordnung, jedenfalls nehme ich das an.« Er fuhr sich mit der Hand übers Haar und riss sich zusammen. »Hör mal, Judy, ich würde gern mit dir darüber reden. Weißt du, du hast doch immer gesagt, ich hätte mehr Vettern und Cousinen als irgendjemand sonst, den du kennst, und ich glaube, das stimmt. Also, einige von ihnen wohnen ein Stück außerhalb von Holt St. Agnes, und die Pilgrims kenne ich schon mein Leben lang. Roger und ich sind zusammen zur Schule gegangen.«
»Das war ja wohl kaum seine Schuld«, meinte sie spitz.
»Sei nicht albern! Ich meine es ernst. Und ich möchte, dass du mir zuhörst. Roger ist gerade aus dem Mittleren Osten zurückgekehrt. Er wurde von den Italienern gefangen genommen, konnte fliehen, verbrachte einige Zeit im Lazarett und ist immer noch auf Genesungsurlaub. Ich habe gerade selbst ein paar Tage Urlaub nach einer Grippe bei meinen Verwandten in Holt St. Agnes verbracht und habe Roger häufig gesehen.« Er hielt inne und sah sie durchdringend an. »Du kannst doch den Mund halten, oder? Was ich dir jetzt erzähle, das weiß zwar mehr oder weniger jeder im Dorf, aber ich möchte nicht, dass Roger denkt, ich posaune es überall aus. Er ist ein netter Kerl, aber nicht besonders helle, und im Moment hat er eine Heidenangst. Ich würde sonst mit niemandem darüber sprechen, aber du solltest wirklich nicht dort hingehen.«
Judy saß ihm gegenüber, die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände gestützt. Mit geröteten Wangen betrachtete sie ihn abwägend.
»Warum?«, fragte sie.
Er zögerte. Das war so ungewöhnlich für ihn, dass er sich einen Augenblick lang darüber ärgerte. Die kühle Selbstsicherheit, an die er so gewöhnt war, hatte ihn plötzlich im Stich gelassen. Es war, als käme man in ein Haus und stellte fest, dass das Mobiliar weg war. Es machte ihn wütend.
»Da passieren immer solche Dinge«, sagte er.
»Was für Dinge?«
Es war wie verhext. Die Kluft zwischen dem, was er in Worte fassen konnte und was nicht, war einfach zu groß. Und hinter alledem nagte der entsetzliche Gedanke, dass diese Kluft erst entstanden war, als er erfahren hatte, dass es ausgerechnet Judy war, die nach Pilgrim’s Rest ging. Wäre es sonst jemand gewesen, hätte er sich nicht weiter den Kopf zerbrochen.
Judy wiederholte ihre Frage.
»Was für Dinge?«
»Unfälle eben … Oder vielleicht auch keine Unfälle … Roger meint, es seien keine. Die Decke in seinem Zimmer stürzte herab. Wenn er nicht unten über einem Buch eingeschlafen wäre, hätte sie ihn erschlagen. Ein anderes Zimmer brannte aus, während er darin war. Die Tür war abgeschlossen, und um ein Haar wäre er nicht rechtzeitig herausgekommen.«
Judy wandte den Blick nicht von seinem Gesicht.
»Wem gehört das Anwesen?«
»Ihm.«
»Ist er der invalide Neffe?«
»Nein, das ist Jerome, sein Vetter, der ein ganzes Stück älter als Roger ist. Total kaputtgeschossen bei Dünkirchen. Kein Geld. Sie haben ihn aufgenommen und eine Pflegerin für ihn angestellt. Hält eben sehr zusammen, die Familie.«
»Ist er oder ist Roger … na ja, ein neurotischer Typ? Könnte einer von den beiden krumme Dinger drehen?«
»Ich weiß es nicht. Im normalen Zustand sähe es keinem von beiden ähnlich. Und beide Vorkommnisse könnten ja auch wirklich Unfälle gewesen sein. Im ersten Fall hat jemand einen Wasserhahn laufen lassen, und das Spülbecken darunter war übergelaufen. Das hat die Zimmerdecke zum Einsturz gebracht. Im zweiten Fall ist Roger vor dem Kaminfeuer eingeschlafen, und das ganze Zimmer war mit Papieren übersät, die er aussortiert hatte. Vielleicht ist ein Funke aus dem Kaminfeuer übergesprungen.«
»Ist das alles?«, fragte Judy.
Ein leiser Zorn lag in ihrer Stimme. Das verletzte ihn zutiefst, und er sagte mehr, als er vorgehabt hatte.
»Roger glaubt auch nicht, dass der Tod seines Vaters ein Unfall war.«
»Wie kommt er denn darauf?«
Frank zuckte mit den Schultern.
»Der alte Pilgrim unternahm einen Ausritt und kam nicht wieder zurück. Man fand ihn mit gebrochenem Genick. Die alte Stute kam schweißgebadet nach Hause, und der alte Stallmeister sagt, da wäre ein Dorn unter ihrem Sattel gewesen. Aber da sie in ein Brombeergestrüpp gestürzt sind, wäre das eine völlig glaubhafte Erklärung dafür. Nur … insgesamt gibt es da doch ziemlich viele erklärungsbedürftige Sachen, meinst du nicht? Ich will nicht, dass du dort hingehst!«
Er sah, dass sie die Stirn runzelte, aber in ihren Augen war kein Zorn.
»Das ist nicht so einfach, weißt du. Jeder behauptet, es gäbe Jobs haufenweise, aber das stimmt einfach nicht – nicht mit Penny. Sogar jetzt wollen die Leute kein Kind im Haus haben. Das ist, als ob du bittest, dass du einen Tiger mitbringen darfst. Außerdem scheinen viele von ihnen zu denken, ich würde ja wohl Penny nicht bei mir haben, wenn sie nicht mein eigenes Kind wäre. Wenn ich ihnen von Nora und John erzähle, dann sehen sie mich immer so an, als wollten sie sagen: ›Ach ja, die Geschichte kennt man ja!‹ Ich war schon so weit, mit Noras Heiratsurkunde und Pennys Geburtsschein loszuziehen, aber selbst dann hätten sie wohl weiterhin das Schlimmste geglaubt. Aber da habe ich Miss Pilgrims Anzeige gelesen und darauf geantwortet. Und ich mochte sie sofort. Außerdem ist es ein schönes, sicheres Dorf. Davon abgesehen könnte ich es auch nicht in letzter Minute rückgängig machen. Nein, wir fahren morgen dorthin. Es hat keinen Zweck, Frank.«
Notgedrungen musste Frank das akzeptieren, obwohl es seiner Seele eine Last aufbürdete.
Judy schob ihren Stuhl zurück und stand auf.
»Nett von dir, dass du dir Sorgen machst.« Ihr Ton, wieder ganz beiläufig, signalisierte ihm, dass das Thema damit beendet war.
Als sie gemeinsam abräumten und das Geschirr spülten, war die Spannung wieder verflogen. Sie fragte ihn nach den Menschen in Holt St. Agnes, nach seinen Vettern, und er bot an, ihnen zu schreiben, dass sie nach Pilgrim’s Rest käme.
»Lesley Freyne wird dir gefallen. Sie wohnt mitten im Dorf, nur einen Steinwurf von den Pilgrims entfernt. Beide Häuser liegen direkt an der Dorfstraße. Sie ist eine großartige Frau«, fügte er hinzu.
»Wer ist sie? Eine von deinen Cousinen?«
»Nein, so was wie die Erbin vom Dienst. Ziemlich menschenscheu, nicht mehr ganz jung. Haufenweise Geld und ein großes Haus. Hat an die zwanzig Evakuierte aus London bei sich aufgenommen. Sie wollte mal einen Vetter der Pilgrims heiraten, aber es kam nie so weit …«
Um ein Haar hätte er ihr auch noch von Henry Clayton erzählt, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig bremsen. Sie hätte sonst bestimmt gedacht, er wolle noch eins draufsetzen. Außerdem war die Sache ja wirklich völlig irrelevant. Abrupt wechselte er das Thema.
»Sollte dort zufällig eine Miss Silver auftauchen, entweder im Haus oder im Dorf, dann solltest du wissen, dass sie eine ganz besondere Freundin von mir ist.«
Judy bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln.
»Wie reizend! Erzähl mir mehr über sie. Wer ist sie?«
Frank schien wieder ganz er selbst. Seine Augen glitzerten geheimnisvoll, und seine Stimme klang betont beiläufig, als er erwiderte:
»Sie ist mein Ein und Alles! Ich sitze zu ihren Füßen und bewundere sie. Und ich nehme an, das wirst du auch tun.«
Judy hielt das für äußerst unwahrscheinlich, lächelte jedoch weiterhin interessiert, während Frank mit seiner Lobeshymne fortfuhr:
»Ihr Name ist Maud – genauso wie in Tennysons Gedichten, die sie abgöttisch liebt. Solltest du jemals auf die Idee kommen, an ihren Namen ein ›e‹ anzufügen, wird sie dir zwar eines Tages vergeben, weil sie ein großes Herz und sehr hochgesteckte Prinzipien hat, aber es wird dich einige Mühe kosten.«
»Wovon redest du eigentlich?«
»Von Maudie. Ich liebe sie leidenschaftlich. Früher war sie Lehrerin, aber jetzt ist sie Privatdetektivin. Streng genommen kann sie zwar keine Zeitgenossin von Lord Tennyson sein, aber sie schafft es, diesen Eindruck zu erwecken. Ich habe Roger geraten, sie aufzusuchen, also wäre es möglich, dass sie dort auftaucht. Und wenn sie es täte, dann würde ich mich wesentlich wohler fühlen. Aber du weißt von nichts, ja? Vergiss das nicht. Möglicherweise tritt sie als normale Reisende auf, die im Dorf Ferien macht oder so. Also bitte zu keiner Seele ein Wort! Aber wenn sie da ist, dann hast du jemanden, an den du dich halten kannst.«
Judy ließ geräuschvoll Wasser ins Spülbecken laufen und reckte das Kinn in die Luft.
Miss Silver neigte dazu, in Belanglosigkeiten einen Fingerzeig des Schicksals zu sehen. Zum ersten Mal kam sie mit dem Fall Pilgrim in Berührung, als sie die Ausarbeitung eines neuen, komplizierten Strickmusters für den Pullover abgeschlossen hatte, den sie ihrer Nichte Ethel zum Geburtstag schenken wollte. Sie betrachtete das als schicksalhaft, denn obwohl ihr Strickzeug ihr ein stetiger Begleiter durch die Labyrinthe von Mordfällen gewesen war, fand sie es diesmal schwierig, sich gleichzeitig auf das wirklich komplizierte neue Muster zu konzentrieren. Ethels alljährlicher Pullover allein verlangte wirklich schon genügend Konzentration und musste nicht auch noch mit einem Kriminalfall konkurrieren.
Und was für ein Glücksfall es gewesen war, diese großartige Vorkriegswolle zu ergattern! So weich, so ein zauberhaftes Blau! Und auch noch ganz ohne Textilcoupons, weil Miss Sophy Fell sie in einem Karton auf dem Dachboden des Pfarrhauses aufgestöbert und ihr förmlich aufgedrängt hatte, jawohl, regelrecht aufgedrängt! Und so sorgfältig war sie mit Kampfer verpackt gewesen, dass sie noch ebenso gut war wie an dem längst vergangenen Tag, an dem sie gesponnen worden war.
Sie hatte all ihre Maschen auf der Nadel und das Muster im Kopf, als es an der Wohnungstür klingelte und Emma Meadows einen Major Pilgrim meldete. Sie erblickte einen schmächtigen, dunkelhaarigen jungen Mann mit fahler Gesichtsfarbe und gequältem Ausdruck.
Roger Pilgrim seinerseits fühlte sich sofort an seine Tanten erinnert. Nicht, dass Miss Silver einer von ihnen persönlich ähnelte, aber sie und das Ambiente, das sie umgab, schienen in etwa der gleichen Epoche anzugehören. Seine Tante Millicent, die streng genommen seine Großtante war, besaß ebenfalls diese gemaserten Nussbaumstühle, haargenau wie die, die Miss Silvers Wohnung zierten: geschwungene Taille, Säbelbeine und stramme Polsterung. Der einzige Unterschied bestand darin, dass der Stoff von Tante Millys Stühlen einmal grün gewesen war, während Miss Silvers in einem ziemlich hellen Blau frisch bezogen waren. Bei beiden Damen war jeder Quadratzentimeter Kaminsims oder Tischaufsatz, Miss Silvers Schreibtisch ausgenommen, mit Fotografien in altertümlichen Silberrahmen voll gestellt. Seine Tante Tina hatte für ähnliche Blumentapeten geschwärmt und besaß ihrerseits mindestens zwei der Bilder, die ihm gleich beim Eintreten ins Auge gesprungen waren: Seifenblasen und Der Schwarze Braunschweiger. Aber bei Tante Tina waren die Rahmen braun, während diese hier aus schimmerndem hellem Ahorn waren, wie sie im Viktorianischen Zeitalter so beliebt gewesen waren.
Miss Silver selbst rundete den altmodisch-heimeligen Eindruck vollends ab. Auch seine alte Cousine Connie trug einen Ringellöckchenpony, wie er Ende des vorigen Jahrhunderts durch Queen Alexandra in Mode gekommen war. Und Tante Collies Strümpfe waren ganz ähnlich und bestanden ebenfalls aus gerippter schwarzer Wolle. Was den Rest betraf, so war Miss Silver ganz sie selbst: Eine etwas gouvernantenhafte Person mit klaren Gesichtszügen und einer Fülle graubraunen Haars, das von einem Netz streng gebändigt wurde. Da es drei Uhr nachmittags war, trug sie ein Vorkriegskleid aus olivgrüner Kaschmirwolle mit einem kleinen Spitzenjabot, das sehr frisch und sauber wirkte. Eine feine Goldkette mit einem Pincenez daran war zur Schlaufe hochgenommen und mit einer Perlenspange links daran befestigt. Außerdem trug sie eine Kette aus fein geschnitzten Sumpfeichenperlen und aus demselben Material eine große Brosche in Gestalt einer Rose mit einer weißen Zuchtperle in der Mitte. Unvorstellbar, dass es sich hier um einen Termin bei einer Privatdetektivin handelte!
Miss Silver gab ihm die Hand, bot ihm einen Stuhl an und bedachte ihn mit dem freundlich unpersönlichen Lächeln, mit dem sie in früheren Tagen wohl einen neuen und nervösen Schüler begrüßt hätte. Zwanzig Jahre Lehrerinnendasein hatten ihre Spuren hinterlassen. Selbst in dieser abgelegenen Umgebung beschwor sie etwas von der sicheren, nüchternen Atmosphäre eines Klassenzimmers herauf, und ihre Stimme hatte sich die sanfte, niemals infrage gestellte Autorität von damals bewahrt.
»Was kann ich für Sie tun, Major Pilgrim?«, fragte sie.
Er stand dem Licht zugewandt. Gut geschnittener Anzug statt Uniform, nicht zu neu. Er trug eine Brille mit großen runden Gläsern und Schildpattfassung. In seinen dunklen Augen lag ein gequälter Ausdruck. Ihr Blick wanderte zu seinen Händen. Rastlos fuhren sie über die schimmernden Nussbaumknaufe an den Enden der gepolsterten Armlehnen des viktorianischen Sessels.
Sie musste ihre Frage wiederholen, denn er saß einfach nur da, befingerte das glatte Holz und betrachtete stirnrunzelnd das Muster des hellblauen Teppichs, der seine Farben über die Jahre so gut bewahrt hatte. Zufrieden bemerkte sie, dass er immer noch so gut wie neu aussah.
»Wollen Sie mir nicht sagen, was ich für Sie tun kann?«, fragte sie.
Sie sah, wie er zusammenfuhr, sie kurz anblickte, um dann den Blick wieder abzuwenden. Mögen die Menschen Worte dazu benutzen, ihre Gedanken zu vermitteln oder zu verbergen, etwas gibt es, das dem Auge eines geübten Beobachters kaum entgeht. Und dieses Etwas hatte Miss Silver in jenem flüchtigen Blick genau erkannt. Es war der Ausdruck, wie man ihn im Auge eines Pferdes sehen kann, kurz bevor es durchgeht. Dieser junge Mann, so kam es ihr vor, scheute noch davor zurück, den Dingen ins Auge zu blicken, die ihn hergeführt hatten. Er war nicht der Erste. Sehr viele Leute hatten schon ihre Ängste, ihre Fehler, ihre Torheiten hier in dieses Zimmer geschleppt, ohne recht zu wissen, worauf sie eigentlich hofften. Und dann saßen sie da, nervös und stumm, bis sie ihnen aus der Verklemmung heraushalf. Sie lächelte Roger Pilgrim ermutigend an, bevor sie mit ihm redete, als sei er zehn Jahre alt.
»Irgendetwas bedrückt Sie doch. Sie fühlen sich bestimmt besser, wenn Sie mir gesagt haben, was es ist. Vielleicht fangen Sie damit an, dass Sie mir erzählen, wer Ihnen meine Adresse gegeben hat?«
Diese Worte erleichterten ihn sichtlich. Er löste seinen Blick von den vielfarbigen Rosen, Päonien und Akanthusblättern, die den Teppich zierten, und sagte:
»Oh, das war Frank, Frank Abbott.«
Miss Silvers Lächeln wurde wärmer und etwas weniger unpersönlich.
»Sergeant Abbott ist ein guter Freund von mir. Kennen Sie ihn schon lange?«
»Also, Tatsache ist, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er ist etwas älter als ich, aber unsere Familien waren miteinander bekannt. Er kommt öfters und besucht seine Verwandten. Genau genommen war er gerade letztes Wochenende da, weil er nach einer Grippe ein paar Tage Urlaub genommen hatte. Und da habe ich mich mit ihm unterhalten. Frank ist ein grundsolider Kerl …, obwohl man das gar nicht denken würde, wenn man ihn so sieht, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er lachte nervös. »Ist schon rasend komisch. Da ist man mit jemandem zur Schule gegangen, der jetzt Polizist ist! Detective Sergeant Abbott! Wissen Sie, in der Schule haben wir ihn ›Stinkie‹ genannt, weil er sich immer massenhaft Brillantine ins Haar geschmiert hatte. Ich weiß noch, dass er eine Sorte benutzt hat, die stank penetrant nach Rosen, und der Mathelehrer ging herum und schnupperte an uns, bis er rausgefunden hatte, wer es war. Und dann hat er ›Stinkie‹ rausgeschickt, damit er sich den Kopf wäscht.«
Während er diese Anekdote erzählte, sah er ein bisschen vergnügter aus, aber der gequälte Ausdruck kehrte sofort zurück, als er geendet hatte.
»Er hat mir geraten, ich solle doch mit Ihnen reden. Er sagte, dass Sie Wunder vollbringen könnten. Aber ich weiß nicht, was hier überhaupt jemand tun könnte. Denn es gibt keinerlei Beweise, wissen Sie, das fand auch Frank. Er sagte, es gäbe nichts, woran sich die Polizei halten könne. Wissen Sie, ich habe es ihm erzählt, weil er doch bei Scotland Yard ist. Aber er sagte, sie hätten keinen Anlass einzuschreiten, und er riet mir, mich an Sie zu wenden. Obwohl ich fürchte, dass auch das überhaupt keinen Sinn hat.«
Miss Silvers Nadeln klapperten emsig. Sie beherrschte das neue Muster bestens. Sie hüstelte und sagte:
»Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich darauf antworte, oder? Wenn Sie mir jetzt erzählen, was Sie Sergeant Abbott erzählt haben, dann kann ich meine Meinung dazu äußern. Bitte fangen Sie an.«
Und Roger Pilgrim fing an, denn hier sprach die Stimme der Autorität. »Ich glaube, jemand will mich ermorden«, sprudelte es aus ihm heraus, und sofort dachte er, wie unglaublich dämlich das doch klang.
»Du meine Güte!«, sagte Miss Silver. »Wieso glauben Sie das?«
Er starrte sie an. Da saß sie, das Abbild einer sanften alten Jungfer, und blickte ihn über ihr Strickzeug hinweg an. Ebenso gut hätte er erzählen können, er fürchte, es werde regnen. Er hätte sich ohrfeigen können, dass er überhaupt gekommen war. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen neurotischen Trottel. Vielleicht war er das ja auch. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den Teppich.
»Hat doch gar keinen Sinn, wenn ich’s Ihnen erzähle. Wenn ich es in Worte fasse, klingt es idiotisch!«, sagte er.
Miss Silver hüstelte.
»Was immer es ist, es beunruhigt Sie ja ganz augenscheinlich. Und wenn es keine Ursache für Ihre Beunruhigung gibt, dann wären Sie doch wahrscheinlich froh, wenn man Ihnen das beweisen würde, oder? Wenn es aber andererseits doch eine Ursache gibt, dann ist es von großer Wichtigkeit, diese Ursache zu beseitigen. Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass jemand versucht, Sie zu ermorden?«
Mit neu erwachtem Interesse blickte er auf.
»Na ja, ich denke eben, sie legen es darauf an.«
Miss Silver hüstelte erneut und unterbrach ihn mit inquisitorischem Tonfall: »Sie?« Sie strickte sehr schnell, auf die altmodische Art, die Hände beinahe auf dem Schoß und den Blick auf ihren Besucher geheftet.
»Na ja, wie man das eben so sagt. Ich habe keine Ahnung, wer es sein könnte.«
»Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie mir mal erzählen, was passiert ist. Irgendetwas muss doch passiert sein.«
Er nickte heftig.
»Sie sagen es! Diese Dinge sind sehr wohl passiert, das lässt sich nicht leugnen. Der Deckenputz ist ja schließlich keine Einbildung, ebenso wenig wie ein Haufen verbrannter Asche, was früher einmal Papiere und ein Teppich gewesen sind.«
»Du meine Güte!«, sagte Miss Silver. »Erzählen Sie mir doch alles über diese Vorfälle, wenn ich bitten darf.«
Er hatte sich in seinem Sessel vorgebeugt und blickte sie angestrengt an.
»Das Dumme ist, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.«
Miss Silver hüstelte wieder.
»Am Anfang, Major Pilgrim.«
Die Augen hinter den Brillengläsern blickten unglücklich drein.
»Ja, das ist es ja gerade, was mich so irritiert … Ich weiß nicht, wo es eigentlich angefangen hat. Wissen Sie, es geht ja nicht nur um mich, sondern auch um meinen Vater. Ich war an der Front im Mittleren Osten, als mein Vater starb. Ich bin noch nicht lange wieder zu Hause. Und natürlich gibt es, wie Frank sagt, keinerlei Beweise. Aber ich frage Sie, warum sollte ein ruhiges Tier, das er die letzten zehn Jahre täglich geritten hat, plötzlich durchgehen und ihn abwerfen wollen? So etwas hat sie noch nie in ihrem Leben gemacht. Als die Stute zurückkam, völlig verschwitzt, sind sie losgezogen, um ihn zu suchen, und sie haben ihn mit gebrochenem Genick gefunden. Der alte Stallmeister sagt, sie hätte einen Dorn unter dem Sattel gehabt und dass jemand ihn dort hingetan haben muss. Das Dumme ist nur, es war nicht der Einzige. Sie hatte ihn ja nicht abgeworfen, sondern sie waren gemeinsam zu Fall gekommen, und das genau in einem Gestrüpp aus Heckenrosen und Brombeeren. Aber was William gesagt hat, und was auch ich sage: Was hat sie dazu gebracht, plötzlich zu scheuen? Und wir kamen beide zu derselben Antwort. Bloß, es gibt keinen Beweis.«
»Welchen Grund hätte jemand haben können, den Tod ihres Vaters herbeizuwünschen?«
»Da muss ich passen. Es gab keinen Grund, keinen einzigen Grund!«
Das heftig betonte Wort verlangte nach einer Nachfrage, die Miss Silver nun stellte.
»Sie reden, als gäbe es da noch etwas, was nicht direkt ein Grund war?«
»Na ja, jedenfalls so etwas in der Art. Nicht, dass ich an solche Sachen glaube, aber wenn Sie William fragen –, das ist der Stallmeister, von dem ich gesprochen habe – oder sonst jemanden von den alten Leuten im Dorf, die würden Ihnen sagen, dass es davon kommt, weil er das Anwesen verkaufen wollte.«
»Es herrscht also irgendein Aberglaube bezüglich einer solchen Kontingenz?«
Das Wort schien ihn zu verwirren. Er runzelte die Stirn, doch dann begriff er.
»Oh ja – ich verstehe, was Sie meinen. Ja, das stimmt tatsächlich. Das Anwesen ist nämlich seit Urzeiten in Familienbesitz. Ich persönlich messe solchen Dingen nicht allzu viel Bedeutung bei … reichlich antiquiert, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es hat doch keinen Sinn, in der Vergangenheit zu leben und sich an all die Dinge zu klammern, die unsere Vorfahren zusammengerafft haben, finden Sie nicht auch? Ich meine, wozu soll das gut sein? Wir haben nun mal kein Geld. Und selbst wenn ich mich an eine reiche Erbin heranmachte, würde die sich wahrscheinlich sowieso nicht für mich interessieren. Als mein Vater mir also schrieb, dass er vorhätte zu verkaufen, da antwortete ich ihm, dass er das von mir aus ruhig machen könne. Tatsache ist bloß, dass er diesen Brief niemals bekommen hat. Aber die Leute im Dorf, die sind sehr abergläubisch.«
»In welcher Form äußert sich dieser Aberglaube, Major Pilgrim?«
»Also, genau genommen geht es um einen Vers. Irgendein Trottel hat ihn in den Steinsims über dem Kamin in der Halle meißeln lassen, sodass er ständig präsent ist … jeder stößt mit der Nase drauf, sozusagen.«
»Wie lautet er?«
»Ist natürlich alles Quatsch – zusammengereimt auf unseren Namen und den Namen des Hauses. Wir heißen Pilgrim, das Haus Pilgrim’s Rest, und der Vers geht so:
Ein Pilgrim, der der Pilgrims Lebensbahn,der Pilgrim’s Rest den Rücken kehrt,er findet weder Rast noch Herd.Drum Pilgrim, bleib in deiner Ruh,sonst wird von vorn dir Unglück nah’n.Der Tod dräut hinter dir im Nu.«
Er lachte nervös.
»Ein Haufen Unsinn natürlich, aber ich glaube, jeder im Dorf ist überzeugt, dass das der Grund ist, weshalb die Stute gescheut und mein Vater sich das Genick gebrochen hat.«
Miss Silver setzte ihre Strickarbeit fort.
»Aberglaube ist ungeheuer zählebig. Major Pilgrim, wurden nach dem Tod Ihres Vaters die Verkaufsverhandlungen fortgeführt?«
»Genau genommen, nein. Sehen Sie, gerade zu dem Zeitpunkt gelang es mir, mich gefangen nehmen zu lassen. Ich war in einem Gefangenenlager in Italien, und weiter passierte zunächst nichts. Und dann, als Mussolini abgesetzt und verhaftet wurde, konnte ich fliehen. Ich war eine Weile im Lazarett, und dann kam ich nach Hause. Der Typ, der das Anwesen hatte kaufen wollen, tauchte wieder auf, und ich wollte mich darauf einlassen. Und genau da fiel mir die Decke auf den Kopf.«
Miss Silver hüstelte wieder.
»Im buchstäblichen oder im übertragenen Sinne?«
Sie bemerkte seine leichte Begriffsstutzigkeit und erläuterte ihre Frage.
»Meinen Sie, die Decke kam tatsächlich herunter?«
Wieder ein heftiges Nicken.
»Und ob sie das tat! Und zwar ein mächtiges Stück der Stuckdecke: Nymphen, Girlanden, all so was. Es ist nicht einmal das beste Schlafzimmer, das liegt nebenan, aber der Typ aus dem achtzehnten Jahrhundert, der die Stuckdecke dort eingebaut hat, ließ sie bis in sein Ankleidezimmer erweitern. Er hat sie in irgendeinem italienischen Palazzo abgekupfert, es ist eine von denen, wegen der die Leute kommen, um sie zu bewundern. Na ja, vor etwa einem Monat jedenfalls kam unsere spezielle Sehenswürdigkeit genau dort herab, wo mein Bett stand. Und ich hätte wohl auch darin gelegen, wenn ich nicht unten im Studierzimmer über einem entsetzlich langweiligen Buch eingeschlafen wäre.«
»Du meine Güte! Und weshalb fiel sie herunter?«
»Weil es an einer Wasserleitung ein Leck gegeben hatte, und die Nymphen und das ganze Zeug waren klitschnass geworden. Sie waren ja an sich schon schwer genug, und das Wasser ließ sie dann runterprasseln wie eine Wagenladung Ziegelsteine. Wenn ich in dem Bett gelegen hätte, wäre ich tot gewesen, daran besteht kein Zweifel.«
»Eine sehr glückliche Fügung des Schicksals. Aber erwähnten Sie nicht noch einen weiteren Unfall?«
Er nickte.
»Vor einer Woche. Es gibt da ein kleines Zimmer, in dem mein Vater seine Papiere zu verwahren pflegte. Ziemlich eigenartiges Kabuff. Fächerregale bis zur Decke, alle mit Papieren vollgestopft. Na ja, ich war dabei, mich durch den Wust zu arbeiten, jedes Mal ein bisschen weiter, und letzten Dienstagnachmittag, da hatte ich den Kram bis oben hin satt. Deshalb ließ ich mir so gegen halb sieben einen Drink servieren, und dann fiel mir plötzlich auf, dass ich die Augen nicht mehr offen halten konnte. Ich setzte mich in einen Sessel am Kamin und schlief ein. Ich muss total abgetaucht gewesen sein, denn ich wachte erst auf, als das ganze Zimmer in Flammen stand. Keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Es könnte ein Funke aus dem Kaminfeuer gewesen sein … vom Holz versprüht … und da lag ja jede Menge Papier herum, eins davon hat vielleicht Feuer gefangen. Aber wieso habe ich derartig tief geschlafen, und warum bin ich nicht aufgewacht? Ich habe nämlich sonst einen sehr leichten Schlaf, müssen Sie wissen.«
»Was vermuten Sie denn?«, fragte Miss SilverEr blickte sie mit zusammengezogenen Brauen an.
»Ich glaube, jemand hat mich betäubt und das Papier angezündet«, sagte Roger Pilgrim.
Miss Silver legte ihr Strickzeug beiseite und balancierte es sorgfältig auf der Lehne ihres Sessels aus. Danach stand sie auf, ging hinüber an ihren Schreibtisch und setzte sich – alles ohne jede Hast. Als sie eine Schublade geöffnet und ein Notizbuch mit hellgrünem Umschlag herausgenommen hatte, wandte sie sich an Roger Pilgrim.
»Vielleicht kommen Sie lieber hier herüber, das ist bequemer. Ich möchte mir ein paar Notizen machen.«
Sie wartete geduldig, das aufgeschlagene Notizbuch vor sich, einen sorgfältig gespitzten Bleistift in der Hand, bis er sich ihr gegenüber am Schreibtisch auf einen steifen Stuhl gesetzt hatte. Ihr Gebaren war zwar durchaus freundlich, doch gleichzeitig nüchtern und geschäftsmäßig, als sie fortfuhr:
»Wenn diese beiden Zwischenfälle vorsätzliche Anschläge auf Ihr Leben waren, dann brauchen Sie allerdings Rat und Hilfe. Aber ich möchte gern noch ein bisschen mehr wissen. Sie erwähnten ein Leck in der Wasserleitung. Ich vermute, Sie haben das untersuchen lassen? Gab es irgendwelche Anzeichen, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hat?«
Er blickte sie irritiert an.
»Also, genau genommen … Es war keine Wasserleitung, sondern ein Wasserhahn.«
Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu.
»Genauigkeit ist von größter Wichtigkeit, Major Pilgrim.«
Er nahm seine Brille ab und begann sie mit einem dunkelblauen Taschentuch zu putzen. Er vermied es, sie anzusehen.
»Ja, das ist es ja gerade. Wir dachten, es müsse eine Leitung sein, aber mit den Leitungen war alles in Ordnung. Tatsache ist, es gab früher da oben kein fließendes Wasser, bis mein Vater es legen ließ, also sind die Leitungen relativ modern. Im Dachgeschoss wurde damals ein Ankleidezimmer zu einem Badezimmer umgebaut, und davon teilte man für die Hausmädchen eine Anrichte mit einem Spülbecken ab. Als meine Zimmerdecke herabgestürzt war, entdeckte man, dass der Wasserhahn über dem Spülbecken lief. Jemand hatte den Stöpsel dringelassen, also war es natürlich übergelaufen. Das Problem ist nur, ich glaube nicht, dass das die Ursache für das Abstürzen meiner Zimmerdecke war. Erstens steht die Anrichte nämlich nicht direkt darüber, und außerdem glaube ich auch nicht, dass genügend Wasser ausgelaufen ist. Ich habe sehr lange darüber nachgegrübelt. In dem Zimmer über meinem befindet sich ein loses Dielenbrett. Dieser Raum ist seit Jahren nicht benutzt worden. Mal angenommen, jemand stöpselt das Spülbecken zu und lässt das Wasser laufen, damit es so aussieht, als käme das Wasser von dort, und dann hilft er ein wenig nach und gießt ein paar Eimer Wasser unter dieses Dielenbrett … Das hätte dann sehr wohl die Decke zum Einsturz gebracht. Was halten Sie davon?«
Miss Silver nickte bedächtig.
»Wie groß ist die Entfernung vom Spülbecken bis zum Beginn Ihrer Zimmerdecke?«
»Etwa zweieinhalb bis drei Meter.«
»Und war in dem Bereich überall Wasser?«
»Na, das ist es ja gerade. Etwas nass war es schon überall, wissen Sie, aber nicht übermäßig. Die Flurdecke darunter ist ja auch nicht heruntergefallen. Natürlich kann die Decke, die abstürzte, eine Menge Wasser aufgesogen haben, bei all den schweren Stuckornamenten, Nymphen und so …«
»Ja, gewiss. Wer gehört alles zum Personal in Pilgrim’s Rest?«
»Na ja, eigentlich wohnen nur Robbins und seine Frau im Haus. Die sind schon da, so lange ich denken kann. Dann haben wir noch ein Mädchen aus dem Dorf. Sie ist etwa fünfzehn Jahre alt und kommt während des Tages. Sie könnte den Wasserhahn aufgelassen haben. Aber sie geht abends um sechs, und Mrs Robbins sagt, sie selbst habe noch um zehn Uhr Wasser geholt, als sie und Robbins nach oben ins Bett gingen. Und sie behauptet, sie habe noch nie in ihrem Leben einen Wasserhahn laufen lassen, da wäre es doch wohl unwahrscheinlich, dass sie jetzt damit anfinge.«
Miss Silver machte eine Notiz: Robbins um zehn Uhr zu Bett.
»Um welche Zeit ist die Decke abgestürzt?«, fragte sie dann.
»Gegen ein Uhr. Es war ein endloses Gepolter. Hat mich aufgeweckt.«
»Eine sehr glückliche Fügung des Schicksals«, wiederholte Miss Silver. »Sie glauben also, dass jemand es auf Ihr Leben abgesehen hat. Und ich sehe ja, dass es Ihnen sehr ernst ist mit dieser Vermutung. Darf ich Sie fragen, wen Sie im Verdacht haben?«
Er setzte seine Brille wieder auf und blickte ihr direkt ins Gesicht.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Haben Sie irgendwelche Feinde?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Und welches Motiv vermuten Sie?«
Er blickte wieder zur Seite.
»Na ja, da ist ja immer noch diese Sache mit dem Verkauf des Hauses: Da leitet mein Vater den Handel ein, und eine behäbige alte Stute, die er seit Jahren geritten hat, geht mit ihm durch und bricht ihm das Genick. Ich nehme die Verhandlungen wieder auf, und eine Zimmerdecke, die seit hundertsechzig Jahren oder länger an Ort und Stelle ist, stürzt direkt über meinem Bett herunter, und ein Zimmer, in dem ich Papiere aussortiere, brennt aus, während ich so tief schlafe, dass ich nicht reagieren kann.«
Miss Silver blickte ihn ernst an. »Sie haben wirklich Glück gehabt, dass Sie noch mal davongekommen sind. Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie Ihnen das gelungen ist.«
»Na ja, genau genommen durch mein Hosenbein, das Feuer fing. Ich war vorher von draußen hereingekommen, und meine alte Regenjacke hing über einer Stuhllehne. Ich habe sie mir über den Kopf gezogen und bin so zur Tür gelangt. Man konnte vor Qualm nichts sehen, sämtliche hölzernen Regalfächer standen in Flammen. Und als ich zur Tür gelangte, da konnte ich sie nicht aufmachen. Wissen Sie, ich habe das Gefühl, dass sie abgeschlossen war. Der Schlüssel steckte nämlich immer griffbereit von außen, damit ich jedes Mal, wenn ich fertig war, die Papiere liegen lassen und wieder abschließen konnte.«
»Du meine Güte! Und was haben Sie dann gemacht?«
»Ich habe das Fenster eingeschlagen, und so bin ich rausgekommen. Dann habe ich William und seinen Enkelsohn aus dem Stall geholt, und wir haben das Feuer gelöscht. Der Großteil der Papiere war verbrannt, ein Jammer, aber es hätte schlimmer sein können. Das Zimmer liegt im ältesten Teil des Hauses, und die Wände hinter den Fächerregalen sind aus solidem Stein, so konnte sich das Feuer nicht weiter ausbreiten.«
»Ein sehr glücklicher Umstand. Major Pilgrim, Sie sagen, Ihrer Meinung nach sei die Tür verschlossen gewesen. Ich nehme an, Sie haben das überprüft.«
»Na ja, Tatsache ist, nachdem das Feuer endlich aus war, da war sie es nicht mehr. Das ist es ja gerade: Ich habe sie nicht aufbekommen, als ich es versucht habe, und letztendlich weiß ich nicht, wer sie dann geöffnet hat, denn zu der Zeit liefen ja alle im Hause wild durcheinander. Jeder hätte sie aufschließen können, aber niemand erinnert sich, es getan zu haben oder nicht.«
»Richtig, also kann jeder im Haus sie abgeschlossen und jeder sie wieder aufgeschlossen haben? Oder war sie womöglich überhaupt nicht abgeschlossen?«
Roger Pilgrim blickte auf seine Füße.
»Da liegt das Problem«, sagte er. »Aber warum ließ sie sich nicht öffnen, können Sie mir das sagen?«
Miss Silver wechselte das Thema.
»Nun, Major Pilgrim, würden Sie mir jetzt die Namen sämtlicher Personen nennen, die während dieser beiden Vorfälle im Haus waren? Die Namen bitte und eine kurze Beschreibung von ihnen.«
Er hatte einen Bogen Schreibpapier vom Tisch genommen und faltete und knickte ihn unentwegt, wobei seine Finger so angespannt waren, als ginge es um Leben und Tod. Er starrte auf das zerknickte Papier, aber Miss Silver bezweifelte, dass er es überhaupt sah. Mit schleppender Stimme begann er.
»Ach … Ich weiß nicht so recht, wissen Sie …«
Miss Silver hüstelte und klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch.
»Sie sind nicht verheiratet?«
»Oh, nein.«
»Verlobt?«
»Also, genau gesagt … Nein, ich bin nicht verlobt.«
Er erntete ein warmes Lächeln.
»Ich verstehe, ich war voreilig. Aber es gibt da jemanden? War die Dame während eines dieser Zwischenfälle im Hause?«
»Oh, nein.«
»In der Nähe?«
»Oh, nein.«
»Dann lassen Sie uns zu denen zurückkehren, die im Hause waren. Würden Sie mir die Namen sagen?«
»Also gut. Da waren meine Tanten, die Schwestern meines Vaters, die aber ein ganzes Stück älter sind. Mein Großvater war nämlich zweimal verheiratet, und sie stammen aus der ersten Ehe. Sie waren zu viert, alles Mädchen. Diese beiden haben nicht geheiratet, sie haben immer in Pilgrims Rest gelebt.«
»Ihre Namen?«
»Tante Collie – Abkürzung für Columba. Und Tante Netta – Abkürzung für Janetta.«
Miss Silver schrieb in ihr Notizbuch: Miss Columba Pilgrim, Miss Janetta Pilgrim.
»Und nun eine kleine Beschreibung.«
»Also, Tante Collie ist groß und Tante Netta klein. Tante Collie ist eine besessene Gärtnerin. Ich wüsste nicht, was wir ohne sie machen sollten, denn man bekommt ja keine Arbeitskräfte mehr. Sie und der alte Pell halten die Dinge irgendwie am Laufen. Tante Netta tut nichts außer Sticken. Sie stickt neue Bezüge für sämtliche Stühle. Daran sitzt sie schon seit dreißig Jahren oder so. Eine entsetzliche Zeitverschwendung, aber sie ist, nebenbei bemerkt, leicht kränklich, also ist es wohl gut für sie, dass sie etwas zu tun hat.«
Miss Silver schrieb wieder etwas in ihr Notizbuch. Als sie fertig war, blickte sie auf. »Bitte, fahren Sie fort«, sagte sie.
»Tja, dann ist da noch mein Vetter, Jerome Pilgrim. Den haben sie fürchterlich zugerichtet bei Dünkirchen. Er braucht eine ständige Pflegerin. Wir können von Glück sagen, dass wir sie behalten konnten. Sie sorgt sehr gut für ihn, und außerdem kümmert sie sich auch um Tante Netta.«
»Ihr Name?«
»Oh, Day … Miss Lona Day.«
Miss Silver notierte: Jerome Pilgrim – Lona Day. Dann stellte sie die nächste Frage.
»Wie alt ist Ihr Vetter?«
»Jerome? Oh, etwa achtunddreißig, neununddreißig. Captain Pilgrim, wenn Sie das notieren wollen. Er war vor dem Krieg Anwalt … jedenfalls mehr oder weniger, wenn Sie wissen, was ich meine. Und er schrieb Kriminalromane, gar nicht mal so schlechte. Aber seit Dünkirchen hat er nichts mehr gemacht. Zu kaputt, der arme Kerl.«
»Ist er ans Bett gefesselt?«
Er blickte sie fassungslos an.
»Jerome? Oh, nein. Er kommt ganz gut zurecht, außer wenn er eine schlechte Phase hat. Es ist vor allem sein Kopf. Es hieß immer, er würde wieder ganz in Ordnung kommen, aber irgendwie klappt das nicht, wissen Sie.«
Miss Silver hüstelte.
»Major Pilgrim, ich muss Sie jetzt fragen: Ist Ihr Vetter irgendwie geistesgestört?«
Wieder der fassungslose Blick.
»Jerome? Oh, gütiger Gott, nein! Ich meine, nein, das ist er natürlich nicht, der arme Kerl.«