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Anonyme Drohbriefe, brennende Vorhänge und schließlich ein Stoß von der Klippe
Whincliff Edge, 1938. Die reiche Erbin Rachel Treherne ist verzweifelt: Irgendjemand scheint ihr nach dem Leben zu trachten. Zuerst eine anonyme Todesdrohung, kurz darauf brennen die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer, und nur knapp entgeht sie einem Mordanschlag durch vergiftete Pralinen. Hat es einer ihrer Verwandten auf ihr Geld abgesehen und will sie deshalb aus dem Weg schaffen? In ihrer Not wendet sie sich an Miss Silver, die sich als Gouvernante getarnt, Zugang zu Rachels Familie verschafft ...
Ein spannender Cosy Krimi-Klassiker, der in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Der Stoß von der Klippe" erschienen ist.
Zur Serie: Was macht eine pensionierte Lehrerin, der langweilig ist? Sie wird Privatdetektivin und unterstützt Scotland Yard bei den Ermittlungen in kniffligen Fällen. Mit ihrem unauffälligen gouvernantenhaften Aussehen wird Miss Silver oftmals unterschätzt - aber man sollte sich nicht mit der reizenden alten Dame anlegen. Bewaffnet mit einer scharfen Kombinationsgabe, ihrem Strickzeug und einem Zitat ihres Lieblingsdichters Alfred Lord Tennyson auf den Lippen, bringt Miss Silver jeden Verbrecher zur Strecke ...
Jetzt als eBook bei beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
"Patricia Wentworth gelingt es immer wieder, die merkwürdigsten Vorgänge auf unterhaltsame Weise glaubhaft zu machen. Ihre Miss-Silver-Romane gehören zum Besten, was der englische Landhauskrimi vorzuweisen hat." Alfred Hitchcock Magazine
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Weitere Titel der Autorin:
Über dieses Buch
Über die Serie
Über die Autorin
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Miss Silver und die falsche Zeugin
Miss Silver und die Tote am Strand
Miss Silver und der Fluch von Pilgrim’s Rest
Miss Silver und die vergiftete Lady
Whincliff Edge, 1938. Die reiche Erbin Rachel Treherne ist verzweifelt: Irgendjemand scheint ihr nach dem Leben zu trachten. Zuerst eine anonyme Todesdrohung, kurz darauf brennen die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer, und nur knapp entgeht sie einem Mordanschlag durch vergiftete Pralinen. Hat es einer ihrer Verwandten auf ihr Geld abgesehen und will sie deshalb aus dem Weg schaffen? In ihrer Not wendet sie sich an Miss Silver, die sich als Gouvernante getarnt, Zugang zu Rachels Familie verschafft …
Was macht eine pensionierte Lehrerin, der langweilig ist? Sie wird Privatdetektivin und unterstützt Scotland Yard bei den Ermittlungen in kniffligen Fällen. Mit ihrem unauffälligen gouvernantenhaften Aussehen wird Miss Silver oftmals unterschätzt – aber man sollte sich nicht mit der reizenden alten Dame anlegen. Bewaffnet mit einer scharfen Kombinationsgabe, ihrem Strickzeug und einem Zitat ihres Lieblingsdichters Alfred Lord Tennyson auf den Lippen, bringt Miss Silver jeden Verbrecher zur Strecke …
Patricia Wentworth ist mit ihren klassischen englischen Krimis die Wiederentdeckung unter den großen Ladies of Crime. 1878 in Indien geboren, ließ sie sich nach dem Tod ihres ersten Mannes in Camberly, England, nieder. 1923 schrieb sie ihren ersten Krimi, dem im Laufe der Zeit 70 weitere folgen sollten. Ihre bekannteste Heldin ist Miss Silver, die in 31 Romanen die Hauptrolle spielt.
Patricia Wentworth
Miss Silver und der Mord im Herrenhaus
Aus dem Englischen von Elfi Hartenstein
beTHRILLED
Digitale Erstausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1939 by Patricia Wentworth
Titel der britischen Originalausgabe: »Lonesome Road«
Originalverlag: Hodder and Stoughton, London
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
Copyright © der deutschen Übersetzung 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Der Stoß von der Klippe«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © Evgeny Karandaev/Shutterstock, © Felicity.S/Shutterstock, © molaruso/Shutterstock, © Vitaly Ilyasov/Shutterstock, © Essl/Shutterstock, © Katflare/Shutterstock, © Stephen Rees/Shutterstock, © isitsharp/iStockphoto, © Ihnatovich Maryia/Shutterstock, © Ola-la/Shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 978-3-7325-7245-8
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Rachel Treherne kletterte aus dem Erste-Klasse-Wagon, in dem sie nach London gefahren war, gab ihre Fahrkarte an der Sperre ab und ging auf den Ausgang zu. Nach ein paar Schritten hielt sie an und warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Es war erst elf. Noch genug Zeit für eine Tasse Tee. Oder vielleicht lieber Kaffee. Bei Bahnhofsbüfetts konnte man nie wissen, was von beiden weniger scheußlich schmeckte.
Kaffee, beschloss sie, als sie den Raum betrat. Kaffee mochte sie ohnehin nicht so gern wie Tee, und deshalb war es auch egal, ob er gut oder schlecht war. Heiß würde er auf jeden Fall sein. Denn trotz des warmen Kostüms und des Pelzmantels fror sie. Es hatte geschneit, als sie zu Hause abfuhr. Hier schneite es zwar nicht, aber es roch nach Schnee und der düstere Himmel versprach dicken Nebel. Rachel Treherne fröstelte, als sie die Tasse mit dem süßen heißen Kaffee an den Mund setzte. Als sie sie leer getrunken hatte, war es ihr tatsächlich ein wenig wärmer. Ihre Armbanduhr zeigte zehn Minuten nach elf. Sie war auf halb zwölf bestellt.
Vor dem Bahnhof hielt sie ein Taxi an. Sie nannte die Adresse:
»Montague Mansions, West Leaham Street, S. W.«, drückte sich, als der Wagen anfuhr, auf dem Rücksitz ganz fest in die Ecke und schloss die Augen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Als sie brieflich um diesen Termin nachgesucht hatte, hatte sie sich beruhigt: »Ich muss ja nicht hingehen. Ich kann ja ohne Weiteres schreiben, dass sich die Sache erledigt hat.« Aber sie hatte nicht abgesagt. Miss Maud Silver hatte geantwortet, sie freue sich, Miss Treherne am 3. November um elf Uhr dreißig empfangen zu dürfen, und jetzt war Rachel Treherne auf dem Weg zu ihr.
Noch im Zug hatte sie sich die ganze Zeit gesagt: »Ich muss nicht zu ihr hingehen. Ich kann einfach anrufen und sagen, ich hätte es mir anders überlegt. Dann gehe ich bummeln und nachmittags ins Kino und dann fahre ich wieder nach Hause.« Aber das war unmöglich. Um einfach wieder heimzufahren, hatte sie zu viel durchgemacht. Länger konnte sie das nicht mehr aushalten. Irgendetwas musste geschehen. Und genau deshalb musste sie jetzt zu Miss Silver. Nicht, weil sie ihr unbedingt alles erzählen wollte, aber da sie nun schon einmal diesen Termin vereinbart hatten, musste sie ihn auch einhalten. Falls Miss Silver ihr nicht zusagte, konnte sie immer noch einen Rückzieher machen und sagen, sie brauche noch etwas Zeit, um alles zu überdenken. Und dann die Sache einschlafen lassen ... Aber so richtig wohl war ihr nicht bei diesem Gedanken. »Es hilft mir doch nichts«, sagte sie sich, »es wird nicht besser, wenn ich nicht mit jemandem darüber rede. Allein halte ich es einfach nicht mehr aus.«
Sie öffnete die Augen und setzte sich zurecht. Es war ihr eiskalt ums Herz, aber nun hatte sie sich entschieden. Hatte sie bisher mehr oder weniger nur mit der Idee gespielt, jemanden ins Vertrauen zu ziehen, um sich von dieser entsetzlichen Angst zu befreien, so war sie jetzt fest entschlossen, erst wieder nach Hause zu fahren, wenn sie sich diese Last von der Seele geredet hatte. Gleichgültig, was sie damit in Gang setzte.
Das Taxi hielt an. Sie bezahlte den Fahrer und stieg das halbe Dutzend Stufen zu dem eher bescheidenen Eingangsportal von Montague Mansions hinauf. Allem Anschein nach eine Anlage mit Eigentumswohnungen. Einen Pförtner gab es nicht, nur eine nach oben führende Steintreppe und einen dieser kleinen Fahrstühle mit Selbstbedienung. Rachel Treherne hatte einen Heidenrespekt vor diesen Dingern. Vor zwanzig Jahren hatte sich einmal ihr Kleid im Eisengitter eines Liftschachtes verfangen und sie war wirklich nur knapp mit dem Leben davongekommen. Damals, sie, als Neunzehnjährige in Venedig, und dann dieser Amerikaner, der mit seinen großen kräftigen Händen so lange an ihrem Musselinkleid gezerrt hatte, bis er sie frei bekam. Wie merkwürdig: An sein Gesicht konnte sie sich nicht mehr erinnern, und seinen Namen hatte sie ohnehin nie erfahren, aber diese Hände, die ihr das Leben gerettet hatten, sah sie immer noch deutlich vor sich. Seit damals hatte sie bei dieser Art Fahrstühlen immer ein ungutes Gefühl, aber sie wusste natürlich, wie dumm das war.
Tatsächlich erwies sich der Aufzug als vollkommen unproblematisch, und nun stand sie vor der Tür mit der Nummer 15 und einem über der Klingel angebrachten kleinen Messingschild: »Miss Silver. Privatdetektivin«. Schnell drückte sie auf die Klingel und atmete erleichtert auf – sie war zu gut erzogen, um wie ein Schuljunge nur zum Spaß an einer fremden Türe zu klingeln und sich dann aus dem Staub zu machen.
Eine stämmige, etwas altmodisch wirkende Frau öffnete. Sie trug eine große weiße Schürze über einem dunkel gemusterten Kleid und sah aus wie eine dieser behäbigen Köchinnen, die man in einer Londoner Wohnung eigentlich nicht erwartete. Sie lächelte freundlich und sagte:
»Kommen Sie rasch herein, es ist ja so kalt. Es zieht entsetzlich hier in diesem Gemäuer, und dann steht auch noch immer die Haustür offen. Miss Treherne? Bitte, Miss Silver erwartet Sie.«
Sie öffnete eine zweite Tür und Rachel Treherne betrat einen Raum, der eher an ein viktorianisches Empfangszimmer erinnerte als an ein Büro. Ein bunt geblümter Brüsseler Teppich, freundliche pfauenblaue Plüschvorhänge, ein dicker schwarzer Woll-Läufer vor einem offenen Kaminfeuer. Merkwürdige kleine viktorianische Stühle mit gebogenen Beinen, gepolsterten Sitzen und taillierten Rückenlehnen. Auf dem Kaminsims Fotografien in Silberrahmen und darüber ein Stahlstich von Millais’ »Rettung«. Gegenüber an der Wand »Das Tal der Stille« und »Herbstlaub«. Die Tapete mit den vielen Veilchensträußen versetzte einen vollends um vierzig Jahre zurück.
Mitten auf dem Brüsseler Teppich stand ein Schreibtisch aus geschnitztem gelblichen Walnussholz, und an diesem Tisch saß eine kleine Frau in einem gelbbraunen Kleid. Sie hatte ziemlich dickes mausgraues Haar, das hinten zu einem strengen Knoten aufgesteckt war und sich auf der Stirn in üppigen Locken kringelte, die an die verstorbene Königin Alexandra denken ließen, das Ganze gebändigt von einem Netz. Darunter ein eher unscheinbares, weiches Gesicht mit grauen Augen, das wie die ganze Miss Silver ein wenig nichts sagend wirkte. Aber sie hatte schöne, faltenlose Haut. Als Rachel Treherne das Zimmer betrat, war sie gerade dabei, einen Briefumschlag zu beschriften. Sie schrieb die Adresse, drückte sorgfältig Löschpapier darauf, schob den Brief beiseite und richtete den Blick aufmerksam prüfend auf ihre Besucherin.
»Miss Treherne? Ich hoffe, die Fahrt war nicht allzu kalt. Setzen Sie sich doch bitte.« Sie nickte ihr aufmunternd zu.
Auf der anderen Seite des Tisches stand ein Stuhl bereit. Miss Treherne setzte sich und war sich bewusst, dass sie, wenn auch nur kurz, so doch sehr genau taxiert wurde. Danach wandten sich Miss Silvers prüfende Augen dem Strickzeug zu, das sie von ihrem Schoß aufnahm und das nun ihre ganze Aufmerksamkeit zu erfordern schien. Offenbar strickte sie an einem Babyjäckchen – einem dieser unzähligen zartrosa Jäckchen, mit denen werdende Mütter von allen Seiten bedacht werden. Zum Schutz für die Wolle hatte Miss Silver ein großes weißes Seidentaschentuch über ihr gelbbraunes Kleid gebreitet.
Was ihre grauen Augen wahrgenommen hatten, war eine hoch gewachsene schlanke Frau zwischen Mitte dreißig und Anfang vierzig – gute Körperhaltung, gute Haut, gute Augen, gutes Haar. Kräftiges dunkles Haar, das jedoch wie von einer Art Frost überzogen wirkte. Die Lippen fest geschlossen. Die Augen wanderten hierhin und dorthin wie die eines aufgeschreckten Pferdes. Die Hände ineinander verschränkt. Das war der erste Eindruck.
Miss Silver hob die Augen von ihrem Strickzeug und maß ihre Besucherin mit einem zweiten Blick, lange genug, um die ganze Erscheinung genauestens zu registrieren – beigebraunes Wollkostüm, dicke Seidenstrümpfe und exquisite dunkelbraune Lederschuhe mit niedrigen Absätzen; sehr guter Pelzmantel; die Halskette, echte Perlen, einreihig; das braune Filzhütchen. Kein Zweifel, diese Frau hatte Geschmack. Und sie hatte Geld und sie lebte auf dem Land.
Ganz ohne Zweifel aber auch, dass sie Angst hatte. Denn während Miss Treherne antwortete, es sei wirklich für November schon sehr kalt, bemerkte Miss Silver, wie sich ihre Hände dabei nervös ineinander verkrampften. Sie strickte erst ihre Nadel zu Ende, bevor sie zu sprechen begann.
»Sie sind sehr pünktlich. Ich schätze Pünktlichkeit. Erzählen Sie mir nun bitte, was Sie zu mir führt?«
Rachel Treherne beugte sich vor.
»Ich glaube, ich hätte gar nicht kommen sollen, Miss Silver. Ich habe Sie zwar um diesen Termin gebeten, aber eigentlich bin ich jetzt nur gekommen, um mich zu entschuldigen und Ihnen zu sagen –«
»Was man als Zweites denkt, ist nicht immer das Beste«, sagte Miss Silver spröde. »Sie sind sehr nervös. Sie haben mir geschrieben, weil Sie Angst hatten und weil Sie das Gefühl hatten, mit jemandem über das, was Ihnen Angst macht, sprechen zu müssen. Das hat Sie etwas beruhigt, und daraufhin haben Sie sich eingeredet, Sie hätten sich dumm verhalten –«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Rachel Treherne erregt.
Maud Silver nickte.
»Es gehört zu meinem Beruf, bestimmte Dinge zu wissen. Und es stimmt doch, oder? Darf ich erfahren, wer mich Ihnen empfohlen hat?«
»Niemand.« Miss Treherne lehnte sich wieder zurück. »Hilary Cunningham – sie – ich meine, ich habe die Cunninghams bei einem alten Bekannten kennengelernt. Und Hilary sprach von Ihnen. Das ist schon Monate her. Doch als ich dann dieses Gefühl hatte, ich könnte es nicht mehr aushalten, da ist mir Ihr Name wieder eingefallen und ich habe im Telefonbuch von London nachgesehen. Aber, Miss Silver, ich möchte nicht, dass irgendwer erfährt, dass ich –«
Miss Silver nickte noch einmal.
»Selbstverständlich, Miss Treherne. Meine Arbeit ist streng vertraulich. Ich halte es mit Lord Tennyson, der so schön sagte: ›Vertrauen Sie mir ganz – oder gar nicht.‹ Ein Spruch, den ich meinen Klienten gern mit auf den Weg gebe. Übrigens ein großer Dichter, der leider heute in Vergessenheit geraten ist. Außerdem stimmt das, was er sagt, denn Sie können nicht von mir erwarten, dass ich Ihnen helfe, wenn Sie mir nicht verraten, wie ich es tun soll.«
»Mir kann niemand helfen«, sagte Rachel Treherne.
Die Stricknadeln von Miss Silver klapperten heftig.
»Das halte ich für Unfug«, sagte sie, »und« – sie hüstelte – »und auch für ein wenig respektlos. Niemand wird Ihnen helfen, wenn Sie es sich nicht zugestehen, dass Ihnen geholfen werden kann. Ich schlage vor, Sie erzählen mir jetzt einmal, was Sie beunruhigt, und dann wollen wir sehen, was sich dagegen tun lässt.«
Rachel Treherne fühlte sich wie in ihre Schulzeit zurückversetzt. Die liebe Miss Barker damals hatte genau dieselbe fröhliche Tüchtigkeit ausgestrahlt, wenn es darum ging, den Problemen bei »Nathan dem Weisen« oder den Ungereimtheiten einer arithmetischen Gleichung auf die Spur zu kommen. Da war etwas in ihr, was auf das Klappern der Stricknadeln ansprach. Sie schaute mit großen Augen zu Miss Silver hinüber und sagte:
»Ich glaube, jemand versucht mich umzubringen.«
Miss Silver sagte: »Du lieber Gott!« Die Stricknadeln klapperten beruhigend. Sie schaute kurz auf und fragte:
»Wie kommen Sie darauf?«
Rachel Treherne atmete tief ein.
»Ich bin hierhergekommen, um es Ihnen zu sagen, aber trotzdem wollte ich es eigentlich nicht aussprechen. Weil es einem ohnehin niemand glaubt, und jetzt, da ich es tatsächlich ausgesprochen habe, klingt es noch schlimmer, als es war, solange ich nur daran dachte, dass ich es sagen wollte. Ich war mir sicher, dass Sie mir nicht glauben würden.«
»Das erzählen mir viele Leute«, sagte Miss Silver sanft. »Weil das, was ihnen Angst macht, oft so unglaublich erscheint. Aber sie haben natürlich glücklicherweise alle keine Erfahrung mit Verbrechen. Ich dagegen habe sie, und zwar reichlich. Und ich versichere Ihnen, Miss Treherne, es gibt nur sehr wenig, was ich mir nicht vorstellen kann. Am besten erzählen Sie mir jetzt alles der Reihe nach. Erstens: Gibt es einen Grund, warum jemand Sie umbringen möchte? Zweitens: Ist vielleicht bereits ein Mordanschlag auf Sie verübt worden, und wenn ja, wie war das? Und drittens: Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«
Sie hatte, während sie redete, ihr Strickzeug sinken lassen. Nun holte sie aus der rechten Schreibtischschublade ein glänzendes rotes Notizbuch hervor, klappte es auf, zückte einen Füller und beschriftete die Seite sorgfältig.
Dieser Vorgang wirkte in seiner routinemäßigen Abgeklärtheit seltsam beruhigend auf Miss Treherne. Was auch immer sie nun erzählte, würde in diesem Büchlein vermerkt und festgehalten werden. Es war wirklich ein wenig wie damals in der Schule. In genau so ein Buch hatte sie einmal klassische Sätze und Aussprüche notiert wie: »Herr Graf, die Pferde sind gesattelt – Ab durch die Mitte!« Als Miss Silver den Kopf wieder hob, war Rachel Treherne bereit zu sagen, was sie zu sagen hatte.
»Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden oder nicht. Ich weiß ja selbst nicht so richtig, was ich glauben soll. Sie kennen mich nicht, aber wenn Sie mit Menschen reden würden, die mich kennen, so würde man Ihnen sagen, dass ich nicht von Natur aus misstrauisch oder hysterisch bin. Ich hatte immer sehr viel zu tun. Ich hatte nie viel Zeit, um mir große Gedanken über meine Person zu machen. Ich hatte andere Interessen.«
»Wirklich?«, fragte Miss Silver. »Welche Interessen sind das, Miss Treherne?«
»Sagt Ihnen der Name Rollo Treherne etwas?«
»Doch«, sagte Miss Silver, »ich habe von den Rollo Treherne Heimen gehört. Haben Sie irgendwie damit zu tun?«
»Ich bin die Tochter von Rollo Treherne. Er hat, wie Sie vielleicht wissen, in Amerika ein enorm großes Vermögen gemacht und mich nach seinem Tod als Vermögensverwalterin eingesetzt. Er ist vor siebzehn Jahren gestorben. Ich habe seither wirklich jede Menge zu tun.«
»Die Heime waren Ihre Idee?«
Rachel Treherne zögerte.
»In gewissem Sinne ja. Ich hatte eine alte Erzieherin, die wir alle sehr mochten, und sie hat in mir das Gefühl geweckt, wie unfair es eigentlich ist, dass Menschen wie sie ihr ganzes Leben lang für andere Menschen arbeiten müssen und dann im Alter trotzdem entsetzlich arm sind. Als ich mir Gedanken darüber machen musste, was ich mit all diesem Geld anstellen sollte, dachte ich an Miss Barker, und das brachte mich auf die Idee mit den Treherne Heimen.«
»Haben Sie das gesamte Vermögen Ihres Vaters in diese Heime investiert?«
»Nein – das wollte ich damit nicht gesagt haben. Es gab einen bestimmten Betrag, über den ich frei verfügen konnte, aber der Hauptanteil des Kapitals war festgelegt – auf eine sehr merkwürdige Art und Weise.« Sie stockte, und als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme verändert. »Das heißt, ich könnte es zwar weitervererben, aber ich könnte es nicht verschenken. Es ist etwas schwierig zu erklären. Rechtlich gesehen habe ich die Verfügungsgewalt darüber, aber tatsächlich bin ich an den Wunsch meines Vaters gebunden. Das war der Grund, warum er das ganze Geld mir hinterlassen hat – er wusste, er würde sich darauf verlassen können, dass ich mich nicht über seinen Willen hinwegsetzte.«
Miss Silver hob die Augen wieder von ihrem Strickzeug und betrachtete einen Augenblick lang Rollo Trehernes Tochter. Starke Augenbrauen unter dem dunklen Haar; weit auseinanderstehende Augen; sehr empfindsam wirkende Nasenflügel; die Lippen fest geschlossen, kontrolliert, aber nicht dünn, nein, ein hübscher, schön geschwungener Mund, zum Lachen gemacht; ausgeprägtes Kinn. Miss Silver glaubte zu wissen, warum diese Frau mit so viel Reichtum belastet worden war: weil sie ihn als Last empfinden würde, nicht als Spielzeug. Sie sagte:
»Sie sind also Treuhänderin – moralisch zumindest. Ich verstehe.«
Miss Treherne stützte einen Ellbogen auf die Tischplatte und das Kinn in die Hand.
»Es ist wirklich sehr schwierig«, sagte sie. »Aber ich musste Ihnen das alles erzählen, als Hintergrund sozusagen, weil Sie das andere sonst nicht verstehen können. Vor ungefähr einem Vierteljahr habe ich einen anonymen Brief erhalten. Ich meine, ich habe natürlich auch schon früher anonyme Briefe bekommen, aber dieser war anders –«
»Sie haben ihn hoffentlich aufbewahrt, Miss Treherne.«
Rachel schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich habe ihn sofort zerrissen. Aber er hätte Ihnen auch nicht weitergeholfen. Es waren nur aus einer Zeitung ausgeschnittene Wörter, die auf ganz einfaches weißes Papier aufgeklebt worden waren. Weder Anrede noch Unterschrift. Was da stand, war nur: ›Sie hatten das Geld jetzt lange genug. Jetzt sind andere an der Reihe‹.«
»Kam der Brief mit der Post?«
»Ja. Mit Londoner Poststempel. Das war am 26. August. Eine Woche später kam wieder einer, ein ganz kurzer. In dem stand: ›Ihre Zeit ist abgelaufen.‹ Und wieder eine Woche später ein dritter: ›Sie werden sterben‹.«
Miss Silver sagte: »Mein Gott! Und Sie haben keinen dieser Briefe aufbewahrt? Wirklich schade. Wie waren sie denn adressiert?«
Rachel Treherne bewegte sich, rutschte in ihrem Stuhl zurück und sagte:
»Das ist das Seltsame. Die Adresse war jeweils von einem anderen Brief, den ich erhalten hatte, ausgeschnitten worden.«
»Heißt das, es waren alte Umschläge?«
»Nein, die Umschläge waren nicht alt. Es waren neue Umschläge, auf die eine Art Adressaufkleber, ausgeschnitten aus einem anderen Kuvert, aufgeklebt worden war.«
»Von was für Briefen stammten sie?«
»Beim ersten Mal von einem Brief meiner Schwester Mabel, Mrs Wadlow, dann von einem Brief meiner Kusine, Miss Ella Comperton, und beim dritten Mal von einer anderen Kusine, einem jungen Mädchen, Caroline Ponsoby. Aber mit denen hatte es selbstverständlich nichts zu tun. Ihre Briefe hatte ich erhalten und gelesen und die Umschläge weggeworfen.«
»Verstehe«, sagte Miss Silver und griff wieder nach ihrem Strickzeug. Als sie meinte, sie hätten lange genug geschwiegen, sagte sie: »Es wäre mir lieb, wenn ich erst die ganze Geschichte hören könnte, bevor wir über Einzelheiten reden. Vermutlich sind Sie ja nicht nur wegen dieser Briefe hierhergekommen. Es muss doch noch etwas anderes vorgefallen sein –« Sie schwiegen wieder. Miss Silver strickte.
Es dauerte, bis Rachel Treherne zwei Worte über die Lippen brachte:
»Ja – etwas –«
»Dann erzählen Sie es doch bitte.«
Miss Treherne hatte die Hand vor die Augen gelegt, als wolle sie sie schützen. Ihre Stimme klang eintönig und leise, als sie wieder zu sprechen begann.
»Einen oder zwei Tage, nachdem ich den dritten Brief erhalten hatte, bin ich nur knapp davor bewahrt worden, die Treppe hinunterzufallen. Ich hatte gerade meinen Hund gewaschen und trug ihn im Arm. Ich ging sehr schnell, weil ich verhindern wollte, dass er sich schüttelte, bevor ich ihn unten hatte. Und in dem Moment, als ich den Fuß auf die oberste Stufe setzte, packte mich mein Mädchen, Louisa Barnet, am Arm. ›Miss Rachel‹, rief sie und riss mich zurück. Wir kennen uns, seit wir Kinder waren, und sie hängt sehr an mir. Sie war ganz blass und zitterte. Sie hielt mich fest und sagte: ›Sie hätten sich zu Tode gestürzt, Miss Rachel. Ich konnte mich schon beim Heraufgehen kaum halten, aber Sie, runterwärts, und mit Neusel auf den Armen, so dass Sie nicht einmal eine Hand frei haben, um sich abzufangen – es wäre aus gewesen mit Ihnen!‹ – ›Wovon redest du denn, Louie?‹, habe ich gefragt, und sie sagte nur: ›Sehen Sie doch nur, Miss Rachel, sehen Sie sich das doch nur an!‹«
»Und was haben Sie gesehen?«, fragte Miss Silver interessiert.
»Es ist eine gerade lange Treppe mit einem Treppenabsatz in der Mitte. Eichenholz, kein Teppich. Ich war auf dem Absatz, als Louisa mich anhielt. Ich lasse diese Treppe bewusst nicht zu stark bohnern, aber als ich sie mir jetzt ansah, waren die ersten drei Stufen spiegelglatt. Louisa war gerade heraufgekommen. Sie meinte, ihre Füße seien weggerutscht, als stünde sie auf blankem Eis. Sie sei auf alle viere gefallen und habe sich nur retten können, indem sie sich mit einer Hand an eine Geländerverstrebung klammerte. Mit dem Hund im Arm wäre ich geliefert gewesen. Ich hätte es zwar wohl überlebt, mich aber ganz sicher schwer verletzt bei dem Sturz. Unser Hausmädchen, ein stämmiges, nicht besonders intelligentes junges Mädchen aus der Umgebung, sagte, sie habe die Treppe nicht anders geputzt als sonst auch.« Rachel Treherne versuchte ein Lächeln. »Ich hatte noch nie Grund, mich darüber aufzuregen, dass sie irgendetwas zu viel oder zu blank geputzt hätte.«
»Und wann sind Sie selbst die Treppe hinaufgegangen? Oder ist irgendwann jemand anderer hinauf- oder hinuntergegangen?«
»Soweit ich weiß, nicht, den ganzen Nachmittag niemand. Aber ich wollte das Ganze nicht hochspielen und viel nachfragen. Es waren so viele Leute da. Ich war oben in meinem Zimmer und habe Briefe geschrieben. Meine Schwester hatte sich hingelegt. Die Mädchen waren draußen im Garten. Alle anderen waren fort. Es war halb fünf, als ich Neusel fertig gewaschen hatte, und ich glaube, seit drei Uhr war niemand mehr die Treppe hinauf- oder hinuntergegangen.«
»Zeit genug, um drei Stufen blank zu wienern«, stellte Miss Silver fest.
Rachel Treherne ging nicht darauf ein, fuhr aber fort:
»Wenn die Briefe nicht gewesen wären, hätte ich mir wahrscheinlich nicht weiter den Kopf darüber zerbrochen. Ich wollte der Sache keine Bedeutung beimessen, aber sie ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Sie müssen wissen, dass die Treppe eigentlich vor dem Frühstück geputzt wird, und wenn die Stufen da schon so glatt gewesen wären, wäre lange vor halb fünf jemand darauf ausgerutscht. Aber wenn sie nachmittags, als niemand da war, gewienert worden sind, dann ist das absichtlich getan worden, um jemanden zu Fall zu bringen. Und nach diesen Briefen musste ich einfach glauben, dass ich derjenige sein sollte. Ich wurde den Gedanken einfach nicht mehr los.«
»Wissen Sie, was zum Putzen verwendet worden ist?«
»Ja, natürlich. Es war ein neues Mittel, das die Haushälterin zum Ausprobieren bekommen hatte, es heißt Glasso, aber ich wollte nicht, dass es für die Böden genommen wird, weil sie damit so rutschig werden.«
Es entstand eine neue Pause. Miss Silver legte ihr Strickzeug beiseite und machte sich in ihrem Heft Notizen. Dann sagte sie:
»War das alles?«, und Rachel Treherne nahm die Hand von den Augen und fing an zu weinen.
»Nein – nein, das war nicht alles.«
Miss Silver hüstelte.
»Es wird leichter für Sie, wenn Sie einfach weitererzählen. Was ist noch passiert?«
»Ungefähr eine Woche lang erst einmal nichts. Aber dann entdeckte Louisa Barnet, dass die Vorhänge in meinem Zimmer in Flammen standen. Es ist ihr gelungen, das Feuer zu ersticken, ohne dass es großen Schaden anrichten konnte, aber – ein unglücklicher Zufall kann es nicht gewesen sein. Ich meine, es war kein offenes Feuer im Zimmer, es war nichts, woran die Vorhänge sich hätten entzünden können. Es bestand sicher keine echte Gefahr für mich, doch nach allem, was vorher passiert ist, war es nicht sonderlich angenehm.«
Miss Silver klapperte mit den Stricknadeln.
»Feuer ist nie angenehm«, sagte sie.
Miss Treherne lehnte sich zurück.
»Am schlimmsten war das, was vor vier Tagen geschah. Deswegen bin ich eigentlich hier, aber ich habe mich gefragt, ob ich Ihnen das wirklich erzählen kann. Es ist so abscheulich –« Sie sagte das ganz langsam und es klang, als sei sie selbst verwundert.
Miss Silver griff nach dem rosaroten Wollknäuel und wickelte eine Hand voll Garn ab.
»Es wäre wirklich besser, wenn Sie sich nicht immer selbst unterbrechen würden«, befand sie. »Erzählen Sie bitte weiter.«
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Miss Treherne diese Bemerkung wahrscheinlich zum Lachen gebracht. Sogar jetzt wirkte sie amüsiert, als sie fortfuhr.
»Ich weiß ja. Ich erzähle es Ihnen ja auch so schnell ich kann. Letzten Samstag war ich zum Einkaufen in Ledlington. Unter anderem habe ich auch eine Schachtel Pralinen gekauft. Weil ich zu Hause die Einzige bin, die gern Pralinen mit flüssiger Füllung mag, habe ich zwar Pralinen mit fester Füllung genommen, aber gebeten, dass man mir ein paar davon austauscht, also einige Pralinen herausnimmt und dafür welche von der Sorte, die ich selbst gern esse, hineintut. Die Pralinen waren eingewickelt, und auf dem Papier stand, womit sie gefüllt waren. Man konnte also sehen, welche man nahm. Nach dem Essen habe ich die Schachtel herumgehen lassen. Alle fanden die Pralinen gut. Mir haben die beiden mit der flüssigen Füllung, die ich gegessen habe, auch geschmeckt. Hinterher nahm ich die Schachtel mit nach oben, weil Louisa auch gern Pralinen isst. Auch sie mag die mit der flüssigen Füllung lieber. Wir waren zusammen beim Einkaufen, und weil ich wusste, dass sie darauf wartete, ihren Anteil abzubekommen, sagte ich ihr, sie solle sich bedienen. Sie nahm sich eine, steckte sie in den Mund und stürzte auf der Stelle ins Badezimmer, um sie wieder auszuspucken. Nachdem sie sich den Mund ausgespült hatte, kam sie wutentbrannt zurück. ›Die war gallenbitter‹, sagte sie. ›Da will Ihnen jemand etwas Böses, Miss Rachel, das ist doch sonnenklar.‹ Sie holte die Pralinenschachtel, und wir setzten uns hin und sahen uns jede einzelne Praline genau an. Die festen waren alle in Ordnung, die haben wir in die Schachtel zurückgelegt. Übrig blieb noch etwa ein Dutzend mit flüssiger Füllung. Und davon hatten drei ein kleines Löchlein an der Unterseite. Da hatte jemand etwas anderes eingefüllt. Es war sehr geschickt gemacht, aber man konnte es sehen. Ich habe an einer geleckt, und es schmeckte fürchterlich bitter. Daraufhin habe ich sie alle ins Feuer geworfen.«
»Das war dumm von Ihnen«, sagte Miss Silver streng. »Sie hätten sie analysieren lassen sollen.«
Rachel hob müde eine Hand und ließ sie resigniert wieder fallen.
»Unmöglich.«
Miss Silver wartete. Stille. Sie strickte die Nadel zu Ende, dann sagte sie:
»Das ist für das Baby von Hilary Cunningham. Hübsche Farbe, nicht? So zart –«
Rachel Trehernes Augen wanderten einen Moment zu der hellrosa Wolle. Ihre Stimme klang abwesend, als sie sagte:
»Ich wusste gar nicht, dass Hilary ein Baby hat.«
»Es kommt erst im Januar.« Miss Silver strickte weiter. »Machen wir weiter, Miss Treherne. Ich habe Sie ja gebeten, mir dreierlei zu erzählen. Erstens: Warum könnte jemand darauf aus sein, Sie umzubringen? Das haben Sie mir bisher nicht so richtig beantwortet. Sie haben nur erzählt, Sie seien die Tochter von Rollo Treherne und hätten von ihm die Verfügungsgewalt über sein nicht unbeträchtliches Vermögen erhalten. Oder ist vielleicht das allein schon die Antwort auf meine Frage?«
Ohne sie anzusehen, sagte Miss Treherne: »Es wäre möglich.«
»Zweitens habe ich Sie gefragt, ob bereits ein Mordanschlag auf Sie verübt wurde und wie oder was da passierte. Darauf sind Sie ausführlich eingegangen. Und drittens wollte ich von Ihnen noch wissen, ob Sie jemanden verdächtigen. Es ist mir wirklich sehr wichtig, dass Sie mir diese dritte Frage beantworten.«
Rachel sagte: »Das ist mir klar.« Dann verfiel sie wieder in Schweigen. Sie schaute auf ihre Hände, die sie auf dem Schoß ineinander gefaltet hielt, und hob nicht den Blick, als sie endlich wieder zu sprechen begann.
»Miss Silver, ich vertraue Ihnen wirklich. Mein Problem ist nur – mir ist klar, dass Sie mir nur helfen können, wenn ich ganz offen bin und Ihnen nichts verschweige. Aber genau das ist der Punkt. Man kann nicht alles in Worte fassen, beim besten Willen nicht. Ich sehe das Problem, ich sehe die Menschen, die um mich herum sind, und ich betrachte sie auf meine Art, aus meiner speziellen Verfassung heraus, mit meinen Ängsten und Zweifeln und vielleicht auch Verdächtigungen. Damit kann ich kein genaues Bild bekommen. Und wenn ich selbst schon nicht klarsehe, muss ich genau überlegen, was ich Ihnen erzähle, und ich muss die richtigen Worte finden, um Ihnen, einer Fremden, meine etwas wirren Eindrücke zu vermitteln. Sie können nicht überprüfen, was ich Ihnen erzähle. Sie kennen weder die Menschen noch die Umstände. Verstehen Sie nicht, dass ich Ihnen allenfalls ein unfaires Bild geben kann?«
»Was ich verstehe, ist, dass Sie sich sehr bemühen, fair zu sein. Werden Sie mir jetzt sagen, wen Sie in Verdacht haben?«
Rachel Treherne hob den Kopf.
»Niemanden.«
»Und wen hat Louisa Barnet in Verdacht?«
Rachel schreckte zusammen und starrte Miss Silver über den Tisch hinweg an.
»Niemanden, keine Menschenseele. Sie ist nur misstrauisch, weil sie Angst um mich hat. Und weil sie so misstrauisch ist, habe ich mich gezwungen gefühlt, mich an Sie zu wenden. Ich kann so nicht weiterleben, ich kann nicht ständig mit Menschen zusammen sein, die ich gernhabe und die mir am Herzen liegen, und dabei andauernd dieses Misstrauen, diesen Verdacht zwischen uns ertragen.«
»Verstehe«, sagte Miss Silver, »oder, um mit Lord Tennyson zu sprechen: ›Wir Menschen sind alle Verbrecher‹.
In seinem Gedicht ›Maud‹ heißt es auch:
›Was schwatzen sie da von gesegneten Friedenszeiten? Nichts als Unglück und Verdammnis –
Taschendiebe sind wir, die nach allem greifen, was nicht uns gehört, geldgierig und wie Kain bereit, den eigenen Bruder zu opfern.
Und das soll besser sein als der nimmer ermüdende Zank im Hause des kleinen Mannes?‹
Halte ich für sehr treffend. Diese ewige Gier des Kain, die uns über Leichen gehen lässt –«
»Kain ...«, flüsterte Rachel Treherne und Miss Silver nickte.
»Allem Anschein nach ist es ja tatsächlich einer Ihrer Angehörigen, den Louisa Barnet im Verdacht hat. Und Sie wahrscheinlich auch.«
»Miss Silver!«
»Sie sollten sich das lieber eingestehen. Wenn es bis zu einem Mordversuch geht, darf man nicht einfach die Augen zumachen. Es ist zu Ihrem eigenen Besten und zum Besten Ihrer Familie, wenn diese Sache aufgeklärt wird. Ihre Ängste können ja unbegründet sein. Der Anschlag kann auch aus einer ganz anderen Ecke kommen als Sie befürchten. Wir werden uns der Angelegenheit annehmen, vorbehaltlos und schonungslos, und dann sehen wir, was wir ausrichten können. Deshalb möchte ich jetzt von Ihnen eine genaue Beschreibung aller Familienmitglieder und aller Gäste, die sich in der besagten Zeit bei Ihnen aufgehalten haben.«
Rachel Treherne überlegte kurz. Dann begann sie ruhig und gelassen zu erklären:
»Ich habe ein Haus in Whincliff. Mein Vater hat es gebaut. Es heißt Whincliff Edge und steht, wie der Name schon sagt, oben auf einer Klippe, mit Blick über das Meer. Auf der dem Land zugewandten Seite gibt es wunderschöne Gartenanlagen. Das Ganze ist eine regelrechte Sehenswürdigkeit und das Haus so groß, dass es Platz genug gibt für viele Gäste. Aus diesem Grund brauche ich eine Menge Leute, die das Grundstück in Ordnung halten, und für das Haus habe ich eine Haushälterin und fünf Mädchen. Männer beschäftige ich im Haus nicht. Meine Haushälterin, Mrs Evans, arbeitet schon seit zwanzig Jahren für uns, sie ist eine absolut wunderbare Frau. Die Mädchen kommen alle aus der näheren Umgebung, höchstens noch aus Ledlington. Ich kenne sie und ihre Familien genau. Im Allgemeinen bleiben sie bei mir, bis sie heiraten. Es sind nette, anständige Mädchen. Keine hätte Grund, mir irgendetwas Böses zu wünschen. Meine Gäste –« sie stockte, fuhr aber gleich fort: »Ich habe oft das Haus voll. Mein Vater hat es nicht nur für sich und mich gebaut, sondern weil er es zu einem Treffpunkt für die ganze Familie machen wollte. Und so wird es auch von allen betrachtet. Ich bin also nur selten allein dort.«
»Sie haben, glaube ich, von einer Schwester gesprochen.«
»Ja – von Mabel.«
»Ist sie jünger als Sie?«
»Nein, fünf Jahre älter. Sie hat sehr jung geheiratet, und mein Vater traf damals eine Verfügung zu ihren Gunsten.«
»Das heißt, sie hat nach seinem Tod nichts mehr geerbt?«
»Nein, nichts mehr.«
»Und damit war sie einverstanden?«
Miss Treherne kaute auf ihrer Unterlippe. Dann sagte sie:
»Streit gab es keinen. Mein Vater war sich klar darüber, dass er es nicht allen recht machen würde, aber er hatte seine Gründe für seine Entscheidung.«
Miss Silver hüstelte.
»Solche Gründe treffen in der Verwandtschaft höchst selten auf Verständnis«, bemerkte sie. »Fahren Sie bitte fort, Miss Treherne. Sie sagten, Ihre Schwester sei verheiratet. Hat sie noch weitere Familienangehörige und wenn ja, waren sie zum Zeitpunkt jener Vorfälle bei Ihnen?«
»Ja. Mabel ist etwas kränklich. Sie war den ganzen August über bei mir. Ihr Mann, Ernest Wadlow, kam immer zum Wochenende. Er ist Schriftsteller – Reiseberichte, Biografien und so was. Auch ihre beiden Kinder waren an den Wochenenden bei uns draußen. Maurice ist dreiundzwanzig und studiert Jura, und Cherry ist neunzehn und damit beschäftigt, sich das Leben schön zu machen. Die anderen Gäste waren mein jüngerer Vetter Richard Treherne, ein Enkel des Bruders meines Vaters, Miss Ella Comperton, eine Kusine väterlicherseits, die eine kleine Stadtwohnung hat, aber immer ganz froh ist, wenn sie mal wieder aufs Land fahren kann, dann noch Cosmo Frith, ein Vetter mütterlicherseits, und unsere gemeinsame Kusine Caroline Ponsonby –«
»Augenblick«, unterbrach sie Miss Silver. »War irgendjemand von diesen Personen bei Ihnen, als Sie diese drei anonymen Briefe erhielten?«
»Nein«, sagte Rachel Treherne, »keiner. Nur meine Schwester Mabel. Sie war den ganzen August und September da, aber die anderen kamen immer nur am Wochenende.«
Miss Silver legte ihr Strickzeug beiseite und griff nach ihrem Federhalter.
»Sagen Sie mir bitte noch einmal die genauen Daten?«
Rachel Treherne schnurrte sie herunter, als habe sie sie auswendig gelernt:
»Der erste Brief kam am Donnerstag, den 26. August, der zweite am Donnerstag, den 2. September, und der dritte am 9. September, ebenfalls an einem Donnerstag.«
»Und wann geschah die Sache mit der Treppe?«
»Am 11. September.«
»Das war ein Samstag?«
»Ja, ein Samstag.«
Miss Silver notierte.
»Und das Feuer in Ihrem Zimmer?«
»Am Samstag darauf, am 18. September.«
»Und die Geschichte mit den Pralinen?«
»Letzten Samstag, am 30. Oktober.«
Miss Silver schrieb es auf. Sie behielt den Federhalter in der Hand, als sie zu Miss Treherne hinübersah.
»Zwischen dem 18. September und dem 30. Oktober ist nichts passiert?«
»Nein. Ich war viel außer Haus und hatte auch keinen Besuch –« Als sei ihr plötzlich klar geworden, was sie da soeben gesagt hatte, schoss ihr das Blut in die Wangen. Verwirrung und Erstaunen ließen sie wunderschön aussehen.
»Bitte, denken Sie nicht –«, setzte sie an, aber Miss Silver unterbrach sie.
»Meine liebe Miss Treherne, wir müssen beide nachdenken. Ganz ruhig und leidenschaftslos. Wir schaden damit niemandem, der es nicht verdient. Fürchten muss sich nur, wer etwas zu verbergen hat. Unschuldig kommt keiner unters Messer. Machen wir also weiter. Ich habe hier Ihre Verwandten aufgelistet, in der Reihenfolge, wie Sie sie genannt haben: Mr und Mrs Wadlow, Ihr Schwager und Ihre Schwester. Deren Kinder, Mr Maurice und Miss Cherry Wadlow. Und dann Ihre Kusinen und Vettern, Mr Richard Treherne, Miss Ella Comperton, Mr Cosmo Frith und Miss Caroline Ponsonby. Außer Mrs Wadlow war Ihren eigenen Angaben zufolge keine dieser Personen an den Tagen im Haus, an denen die anonymen Briefe geschrieben, aufgegeben und von Ihnen in Empfang genommen wurden. Können Sie mir denn sagen, wer am 11. September, dem Tag, als die Sache mit der Treppe geschah, da war?«
Miss Trehernes Gesicht war jetzt wieder blass wie zuvor. »Da waren sie alle da.«
»Und am Samstag darauf, dem 18. September, als Ihre Vorhänge Feuer fingen?«
»Da waren sie alle da.«
»Und in den nächsten sechs Wochen, als Sie keine Gäste hatten, ist nichts Verdächtiges mehr passiert?«
»Miss Silver!«
»Lassen Sie es uns ganz nüchtern betrachten. Es gab also in dieser Zeit keine besonderen Vorkommnisse. Aber am Samstag, den 30. Oktober, war der Vorfall mit den Pralinen. Wer von Ihren Verwandten war bei dieser Gelegenheit im Haus?«
Miss Treherne wiederholte, was sie bereits zweimal gesagt hatte, doch ihre Stimme war jetzt kaum hörbar:
»Da waren sie alle da.«
Miss Silver sagte: »Du liebe Zeit«, blätterte die Seite um, schrieb eine Überschrift und stellte dann laut und deutlich fest: »Jetzt brauche ich ein paar Daten zu jedem Ihrer Verwandten – nur rein faktisch: Alter, Beruf, finanzielle Lage –«
»Miss Silver – das kann ich nicht!«
Miss Silver sah sie freundlich aber bestimmt an. »Aber natürlich können Sie, meine liebe Miss Treherne. Es ist wirklich am besten, wenn wir ganz offen miteinander sprechen. Wie die Dinge stehen, sind Sie in ständiger Angst, den einen oder anderen Ihrer Angehörigen verdächtigen zu müssen. Die Situation ist ziemlich unmöglich und bedarf dringend der Aufklärung. Wenn Sie Informationen zurückhalten, kann ich Ihnen nicht helfen. Lassen Sie uns also weitermachen. Fangen wir mit Ihrer Schwester Mabel, Mrs Wadlow, an.«
Aus dem Notizheft von Miss Silver:
»– Mabel Wadlow: Alter: 44. Psychosomatisch bedingte Krankheitsschübe. Liest viel, hauptsächlich Kriminalromane. Hängt sehr an Mann und Kindern. Hat wohl das Gefühl, vom Vater in seinem Testament etwas ungerecht behandelt worden zu sein.
– Ernest Wadlow: Alter: 52. Autodidakt. Weltreisender. Schriftsteller. Verdient mit seinen Büchern nicht besonders gut. Vom Vermögen seiner Frau scheint nicht viel übrig. Miss Treherne unterstützt sie offenbar.
– Maurice Wadlow: Alter: 23. Jurastudent mit sozialistisch angehauchtem Hintergrund. Möglicherweise von den Eltern mehr geschätzt als von Miss T., die sich auffällig bemüht, ihm gegenüber fair zu sein. Vielleicht clever, etwas aufgeblasen; zu selbstgefällig, um positiv auf andere zu wirken. Letzteres reine Vermutung.
– Cherry Wadlow: Alter: 19. Hübsches Mädchen. Lässt es sich gut gehen. Ziemlich leichtsinnig. Neunzehnjährige sind oft entweder zu leichtsinnig oder zu ernst.
– Ella Comperton: Alter: 49. Tochter von Rollo Trehernes älterer Schwester Eliza. Unverheiratet, kleines Einkommen. Kleine Wohnung, kleine Geistesgaben, kleines Leben. Eventuell eifersüchtig, dass jüngere Kusine reiche Frau ist? Miss T. redet von ihr wie von jemandem, den man bemitleiden muss, aber nicht richtig lieben kann.
– Cosmo Frith: Alter: 45. Auch Autodidakt, aber anderer Typ. Vielseitig begabt, doch ohne Durchhaltevermögen. Hansdampf in allen Gassen. Unverheiratet. Verkehrt gern in besseren Kreisen, liebt schöne Frauen – Wein, Weib und Gesang. Direkter Vetter mütterlicherseits. Miss T. scheint ihm sehr zugetan. Finanzlage bedenklich.
– Caroline Ponsonby: Alter 22. Kusine zweiten Grades von Miss T., Mrs Wadlow und Cosmo Frith. Miss T. mag sie sehr gern, spricht von ihr liebevoll als »das liebe Kind«. Verfügt über kleines Vermögen.
– Richard Treherne: Alter 26. Enkel von Rollo Trehernes jüngerem Bruder Maurice, also Vetter zweiten Grades. Architekt auf der untersten Sprosse der Karriereleiter. Ehrgeizig. Miss T. hat sich sehr für ihn eingesetzt. Aus der Art, wie sie betont, dass er und Caroline nicht blutsverwandt seien, lässt sich schließen, dass sie eine Verbindung der beiden begrüßen würde. Lord T. sagt zwar: ›Im Frühling wenden sich junge Männer gern der Liebe zu‹, aber November scheint keinen abkühlenden Effekt zu haben. Miss T. ist den beiden von ganzem Herzen zugetan.«
Nachdem sie alles notiert hatte, lehnte Miss Silver sich zurück und griff wieder nach dem rosa Jäckchen.
»Das hätten wir also«, sagte sie und begann zu stricken. »Und jetzt fürchte ich, muss ich Sie fragen, welche finanziellen Interessen diese Verwandten an Ihren Tod knüpfen könnten.«
Rachel Treherne nahm diese Frage völlig gelassen auf, fast so, als habe sie sich gegen diesen Schock bereits gewappnet. Sie sagte:
»Mir war zwar klar, dass Sie das fragen würden, aber die Antwort fällt mir trotzdem nicht leicht. Die Umstände sind so außergewöhnlich. Ich habe Ihnen, glaube ich, erzählt, dass mein Vater mir sein Vermögen zur Verwaltung hinterlassen hat. Er hat nicht offiziell festgelegt, wie ich damit umzugehen habe, aber er hat mir gesagt, was er wünschte, was ich damit tun sollte, und ich versprach, seine Wünsche auszuführen. Miss Silver, ich bin mir ganz sicher, dass ich Ihnen vertrauen kann, Sie vermitteln mir dieses Gefühl, aber was ich Ihnen jetzt sagen werde, betrifft meinen Vater, und Sie dürfen mit niemandem darüber reden oder es irgendwie schriftlich festhalten, ja?«
Miss Silver sah sie an, dann sagte sie: »Ich werde nicht darüber sprechen und ich werde nichts aufschreiben.«
Rachel Treherne fuhr fort: