Miss Silver und die Tote am Strand - Patricia Wentworth - E-Book

Miss Silver und die Tote am Strand E-Book

Patricia Wentworth

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Beschreibung

Eine junge Frau, ein großes Vermögen und ein schrecklicher Verdacht

Tanfield, 1939: Lisle Jerningham hegt einen fürchterlichen Verdacht gegen ihren frisch angetrauten Ehemann Dale. Gerüchten zufolge soll er seine erste Ehefrau umgebracht haben. Hat Dale es nur auf ihr beträchtliches Vermögen abgesehen, und ist nun auch ihr Leben in Gefahr? Als am Strand vor dem Haus eine junge Frau tot aufgefunden wird, die Lisle zum Verwechseln ähnlichsieht, bittet sie Miss Silver um Hilfe ...

Ein charmanter Kimi-Klassiker von Patricia Wentworth, der in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Das alte Haus am Meer" erschienen ist.

Zur Serie: Was macht eine pensionierte Lehrerin, der langweilig ist? Sie wird Privatdetektivin und unterstützt Scotland Yard bei den Ermittlungen in kniffligen Fällen. Mit ihrem unauffälligen gouvernantenhaften Aussehen wird Miss Silver oftmals unterschätzt - aber man sollte sich nicht mit der reizenden alten Dame anlegen. Bewaffnet mit einer scharfen Kombinationsgabe, ihrem Strickzeug und einem Zitat ihres Lieblingsdichters Alfred Lord Tennyson auf den Lippen, bringt Miss Silver jeden Verbrecher zur Strecke ...

Jetzt als eBook bei beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

"Miss Silvers Spürsinn steht einem Lord Peter Wimsey oder einem Hercule Poirot in nichts nach." Manchester Evening News



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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Serie

Über die Autorin

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Leseprobe

Prolog

1. Heimkehr nach England

2. Die Sussex Downs

3. Willkommen in Mydworth

Weitere Titel der Autorin:

Miss Silver und die falsche Zeugin

Miss Silver und der Mord im Herrenhaus

Miss Silver und der Fluch von Pilgrim’s Rest

Miss Silver und die vergiftete Lady

Über dieses Buch

Tanfield, 1939: Lisle Jerningham hegt einen fürchterlichen Verdacht gegen ihren frisch angetrauten Ehemann Dale. Gerüchten zufolge soll er seine erste Ehefrau umgebracht haben. Hat Dale es nur auf ihr beträchtliches Vermögen abgesehen, und ist nun auch ihr Leben in Gefahr? Als am Strand vor dem Haus eine junge Frau tot aufgefunden wird, die Lisle zum Verwechseln ähnlichsieht, bittet sie Miss Silver um Hilfe …

Über die Serie

Was macht eine pensionierte Lehrerin, der langweilig ist? Sie wird Privatdetektivin und unterstützt Scotland Yard bei den Ermittlungen in kniffligen Fällen. Mit ihrem unauffälligen gouvernantenhaften Aussehen wird Miss Silver oftmals unterschätzt – aber man sollte sich nicht mit der reizenden alten Dame anlegen. Bewaffnet mit einer scharfen Kombinationsgabe, ihrem Strickzeug und einem Zitat ihres Lieblingsdichters Alfred Lord Tennyson auf den Lippen, bringt Miss Silver jeden Verbrecher zur Strecke …

Über die Autorin

Patricia Wentworth ist mit ihren klassischen englischen Krimis die Wiederentdeckung unter den großen Ladies of Crime. 1878 in Indien geboren, ließ sie sich nach dem Tod ihres ersten Mannes in Camberly, England, nieder. 1923 schrieb sie ihren ersten Krimi, dem im Laufe der Zeit 70 weitere folgen sollten. Ihre bekannteste Heldin ist Miss Silver, die in 31 Romanen die Hauptrolle spielt.

Patricia Wentworth

Miss Silver und die Tote am Strand

Aus dem Englischen von Andrea Zapf

beTHRILLED

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1942 by Patricia Wentworth Turnbull

Titel der britischen Originalausgabe: »Danger Point«

Originalverlag: Hodder and Stoughton, London

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Das alte Haus am Meer«

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer

Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © Michal Bellan/Shutterstock, © Ola-la/Shutterstock, © Albert Pego/Shutterstock, © Ola-la/Shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-7246-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Die in diesem Buch beschriebenen Ereignisse fanden im Spätsommer des Jahres 1939 statt.

Kapitel 1

Miss Maud Silver blickte auf den belebten Bahnsteig und war froh, in einem Kurswagen zu sitzen. Sie saß sehr bequem auf ihrem Eckplatz mit dem Rücken zur Lok, so dass sie keinen Qualm abbekam. Die Zeitschriften, die ihre Nichte für sie besorgt hatte, lagen mit der Titelseite nach unten auf dem Sitz neben ihr. Wohlwollend sah sie den vorbeieilenden Familien zu, die in ihr Blickfeld kamen und wieder daraus verschwanden.

Miss Silver, die unverbesserlich in viktorianischen Kategorien dachte, fiel ein passendes Zitat ein: »Schiffe gleiten durch die Nacht ...«. Auch wenn es natürlich nicht Nacht war, sondern zehn Uhr vormittags an einem sonnigen Julitag. Aber das war nicht so wichtig, da man Dichtung nie allzu wörtlich nehmen sollte.

»Schiffe gleiten durch die Nacht und,im Vorübergleiten, reden sie.

Nur eine Stimme und ein Ruf, dann wieder Dunkelheit und Stille.«

Symbolisch natürlich. Sie hoffte, das Gedicht richtig in Erinnerung zu haben.

Meine Güte, was für eine Menschenmenge! Alle auf dem Weg in die Ferien. Sie selbst hatte die vierzehn Tage mit Ethel und den Kindern in Whitestones sehr genossen. Nach dem überaus anstrengenden Fall mit den vergifteten Raupen war es wohltuend gewesen, sich im Schoße einer liebevollen Familie zu erholen. Sie waren von morgens bis abends am Strand gewesen. Sie hatte drei Paar Socken gestrickt und ein Jäckchen für das Baby, ein pausbäckiges, vergnügtes Kind. Der Urlaub hatte ihr gut getan. Und der Umstand, dass es am Meer keine Raupen gibt, hatte zusätzlich zu ihrer Erholung beigetragen.

Sie beobachtete, wie eine untersetzte Frau mit drei Kindern sich mit der Effizienz eines Bulldozers ihren Weg durch die Menge bahnte. Dann kam ein kleiner Junge, der etwas in einem Korb bei sich trug. Er nestelte am Verschluss, hob den Deckel etwas an, und schnell wie ein Blitz zwängte sich ein kleines schwarzes Kätzchen heraus und war verschwunden. Miss Silver sagte: »Meine Güte!«, stimmte völlig mit der Mutter überein, die dem Jungen einen kräftigen Klaps versetzte und verlor die Gruppe aus den Augen, als sie sich auf die Suche nach dem Kätzchen machte.

Fast alle Menschen schienen aus dem Zug auszusteigen. Miss Silver selbst fuhr nach London zurück. Wie angenehm es wäre, das Abteil für den Rest der Reise für sich zu haben, dachte sie – angenehm, aber unwahrscheinlich. Ein großer, hagerer Mann mit verträumtem Gesichtsausdruck ging vorüber. Er überragte die anderen um einen Kopf und ging, als wäre er allein auf einem windigen Moor. Zwei schnatternde junge Mädchen kamen vorbei. Sie trugen graue Flanellhosen und ärmellose Pullover in kräftigen Farben. Den Lippenstift hatten sie dick aufgetragen, und ihre Haare glänzten modisch gewellt. Als Nächstes kam eine Krankenschwester in gestärkter Tracht mit einem kleinen Mädchen im himmelblauen Strandkleid. Die Kleine hüpfte neben ihr her, einen neuen Blecheimer in der Hand, den Kopf voll blonder Locken, Arme und Beine sonnengebräunt.

Niemand kam in ihr Abteil. Alle gingen weiter.

Miss Silver sah auf die Uhr, die sie mit einer goldenen Brosche links auf ihrer braunen Seidenbluse festgesteckt hatte, und die ihr bestätigte, dass der Zug gleich abfahren musste. Außer der Bluse trug sie Rock und Jacke aus graubrauner Schantungseide, schwarze Schnürschuhe, und einen braunen Strohhut, dessen linke Seite ein kleines Sträußchen aus Reseda und lila Stiefmütterchen zierte. Ein Paar durchbrochener, graubrauner Baumwollhandschuhe lagen neben einer schäbigen schwarzen Tasche in ihrem Schoß. Unter dem Rand ihres Schatten spendenden Huts lugten dichte mausfarbene Haare hervor und die gleichmäßigen Gesichtszüge einer Frau mittleren Alters mit glattem, hellem Teint. Die braune Bluse war am Hals mit einer großen Kameebrosche verschlossen, deren Hochrelief den Kopf eines griechischen Kriegers darstellte. Zweimal um den Hals gewickelt trug Miss Silver eine Kette aus kunstvoll geschnitzten Holzperlen, die ihr bis zur Taille ging und leise klimperte, wenn sie die Brille berührte, die an einer feinen schwarzen Kordel hing.

Ein Pfiff ertönte, der Zug ruckte. Jemand schrie. Miss Silver blickte auf und sah, wie die Tür neben ihr aufgerissen wurde. Der Zug ruckte ein zweites Mal. Eine große, junge, grau gekleidete Frau stolperte in den Waggon. Beim dritten, noch heftigeren Ruck flog sie gegen Miss Silver, die sich jedoch in Notfällen nie aus der Fassung bringen ließ. Sie hielt die junge Frau fest, packte die pendelnde Tür und schlug sie zu. Lisle Jerningham wurde von einer Frau, die wie eine pensionierte Gouvernante aussah, auf einen Eckplatz manövriert und vernahm, wie eine Stimme, die sie sehr an die Schule erinnerte, sie darüber aufklärte, dass es äußerst gefährlich sei, in einen anfahrenden Zug einzusteigen – »und ganz und gar gegen die Vorschriften«. Die Stimme kam von weit her, von der anderen Seite des Abgrunds, der zwischen ihr und jeder anderen Menschenseele lag. Auf jener anderen Seite hatte es einmal ein Klassenzimmer gegeben und eine solche Stimme. »Knall nicht die Tür zu, wenn du ins Zimmer kommst, Lisle. Sitz gerade, Kind. Häng nicht so krumm auf deinem Stuhl. Meine Güte, Lisle, hör zu, wenn ich mit dir rede.« All das war weit weg und vor langer Zeit gewesen, auf der anderen Seite des Abgrunds.

»Höchst gefährlich«, mahnte Miss Silver nachdrücklich.

Lisle sah sie benommen an. »Nein«, antwortete sie und dann, »das ist doch nicht wichtig.« Zwar sah sie Miss Silver klar und deutlich dort in der gegenüberliegenden Ecke sitzen, ein kleiner, altmodischer Gouvernantentyp, aufrecht und korrekt mit tantenhaften Kleidern und einem Hut, der schon seit Jahren aus der Mode war, zum Anfassen nahe, und dennoch schien Miss Silver, wie auch ihre Stimme, weit entfernt. »Das ist nicht wichtig«, wiederholte sie mit flacher, erschöpfter Stimme und lehnte sich in ihre Ecke zurück.

Miss Silver antwortete nicht. Stattdessen betrachtete sie die junge Frau aufmerksam. Sie war groß, sehr schlank und grazil, mit aschblonden Haaren und einem hellen Hauttyp, den man häufiger bei Skandinavierinnen als bei Engländerinnen findet. Eine Engländerin mit solch hellblonden Haaren hätte blaue Augen, aber diese Augen, die sich jetzt auf die vorbeiziehende Landschaft richteten, waren von einem intensiven Grau mit Wimpern, die wesentlich dunkler waren als das sehr helle Haar. Die Augenbrauen waren golden, schmal und seltsam geschwungen, wie zarte goldene Flügel ausgebreitet zum Flug. Dieser Goldton war die einzige Farbe in dem Gesicht. Miss Silver glaubte, noch nie einen lebenden Menschen gesehen zu haben, der so bleich war. Der sehr helle Teint verstärkte die erschreckende Wirkung noch.

Die Frau trug ein exquisit geschnittenes graues Flanellkostüm. Alles, was sie anhatte, war völlig schlicht. Aber genau diese Schlichtheit war nicht ohne Geld zu erzielen. Der kleine graue Filzhut mit blauer Kordel saß nachlässig schräg, die graue Handtasche mit der Initiale L, edle Seidenstrümpfe, die Qualität der grauen Schuhe, all das fiel Miss Silver auf. Ihr Blick wanderte zu den unbehandschuhten Händen, sah einen Ehering aus Platin und glitt zurück in ihren eigenen graubraunen Schoß. Ihr geübter Verstand fasste das Beobachtete in drei Wörtern zusammen: Schock, Geld, verheiratet.

Sie nahm die Zeitschrift, die Ethel ihr freundlicherweise besorgt hatte, und begann zu blättern. Nachdem sie drei Seiten in rascher Folge umgeblättert hatte, hielt sie inne. Ihr Blick, anfangs konzentriert, wurde vage.

Nach einer Weile schloss sie die Zeitschrift und beugte sich vor.

»Möchten Sie gerne etwas lesen? Interessiert Sie das vielleicht?«

Die grauen Augen wandten sich zögernd ihr zu. Sie hatte den Eindruck, sie mühten sich angestrengt, sie wahrzunehmen. All die flachen grünen Felder mit den schachbrettartig angeordneten Hecken, alle von derselben Größe, die mit zunehmender Geschwindigkeit des Zugs immer schneller an ihnen vorbeiflogen, hatten sie jedenfalls nicht wahrgenommen. Sie sah auch Miss Silver nicht wirklich, aber sie bemühte sich.

Miss Silver verwarf die Zeitschrift als Lockmittel und sagte ohne Umschweife:

»Irgendetwas ist nicht in Ordnung, habe ich Recht? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Die freundliche und feste Stimme erreichte Lisle Jerningham – die Stimme, nicht die Worte. Sie vernahm natürlich die Worte, so wie sie das Rattern des Zugs vernahm, aber sie hatten ebenso wenig Bedeutung für sie. Die Stimme aber erreichte sie. Die Benommenheit wich etwas aus ihren Augen. Sie sah Miss Silver an und sagte:

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Sie stehen unter Schock.«

Das war eine Feststellung, keine Frage.

Lisle sagte: »Ja«, und dann, »woher wissen Sie das?«

»Sie hatten es sehr eilig wegzukommen.«

»Ja.« Zaudernd wiederholte sie ihre Frage. »Woher wissen Sie das?«

»Dies ist der Zug noch London. Sie würden nicht ohne Handschuhe nach London fahren, wenn sie es nicht sehr eilig gehabt hätten. Und sie sind auch nicht in ihrer Handtasche. Diese flache Art von Handtasche würde beulen, wenn sich Handschuhe darin befänden.«

Wieder war es die freundliche, bestimmte Stimme, die Lisle erreichte und beruhigte. Irgendetwas an der Stimme gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Wie ein gequältes Echo sagte sie:

»Ich hatte es sehr eilig.«

»Warum?«, erkundigte sich Miss Silver.

»Sie haben gesagt, er wolle mich umbringen«, antwortete Lisle Jerningham.

Miss Silver zeigte sich weder überrascht noch ungläubig. Sie hörte so etwas nicht zum ersten Mal. Genau genommen war es ihr Beruf, sich um solche Dinge zu kümmern.

»Du meine Güte«, sagte sie, »und wer will Sie angeblich umbringen?«

Lisle Jerningham sagte: »Mein Mann ...«

Kapitel 2

Miss Silver blickte sie fest an. Bei einem labilen Gemütszustand kam es nicht selten zu solchen Anschuldigungen. Sie hatte es schon mit Verfolgungswahn zu tun gehabt, aber sie hatte es auch mit Mord zu tun gehabt, und nicht nur mit versuchtem. Mehr als einmal war es nur ihrem Eingreifen zu verdanken gewesen, dass der Versuch vereitelt werden konnte. Sie wandte den Blick nicht von Lisle Jerningham und stufte sie als zurechnungsfähig ein, normal, aber durch den Schock vorübergehend nicht bei Sinnen. Ein Schock wirkt manchmal wie ein Narkosemittel. Man hat sich nicht mehr unter Kontrolle, die Zunge wird gelöst und die Zurückhaltung schwindet.

All dies ging ihr rasch durch den Kopf. Sie wiederholte leise ihr »du meine Güte« und fragte:

»Wie kommen Sie darauf, dass Ihr Mann Sie umbringen will?«

In Lisles Gesicht regte sich nichts. Sie hatte fast tonlos und ohne Emotion gesprochen. So fuhr sie auch fort.

»Sie haben es gesagt.«

»Ja? Und wer?«

»Ich weiß nicht. Ich stand hinter der Hecke ...« Ihre Stimme verlor sich. Ihre Augen blieben offen, aber sie sahen nicht Miss Silver, sondern die Hecke, einen langen dunklen Wall aus Eiben, mit kleinen blutroten Beeren durchsetzt. Sie war nicht mehr im Zugabteil. Sie stand dicht hinter der Hecke, die Sonne brannte ihr heiß auf den Rücken, und sie hatte den seltsamen modrigen Geruch der Eiben in der Nase. Sie betrachtete eine der leuchtend roten, blühenden Beeren, und plötzlich hörte sie Stimmen von der anderen Seite der Hecke:

»Du weißt ja, was man sich erzählt ...« Eine träge, schleppende Stimme.

»Du kannst es mir genauso gut sagen.« Das kam schneller und amüsiert.

Dann wieder die erste Stimme.

Unvermittelt sprach Lisle mit der betulichen kleinen Frau in der gegenüberliegenden Ecke. Wenn sie redete, würden die anderen Stimmen verstummen.

»Ich wusste zuerst nicht, dass sie über Dale sprachen. Ich hätte nicht lauschen sollen, aber ich konnte nicht anders.«

Miss Silver öffnete ihre Tasche und steckte die Zeitschrift weg. Geruhsam strickte sie nun am zweiten Paar grauer Strümpfe für Ethels Ältesten. Die glänzenden Metallnadeln klapperten, als sie sagte:

»Sehr verständlich. Und Dale ist Ihr Mann?«

»Ja.«

Es war eine Erleichterung, zu reden. Der Klang ihrer eigenen Stimme erstickte die Stimmen, die über Dale gesprochen hatten. Wenn sie schwieg, dann tönten sie endlos weiter in ihrem Kopf – im Kreis und im Kreis und im Kreis, wie eine Schallplatte. Gerade fingen sie wieder an, und sie roch schon wieder die Eiben in der Sonne.

»Für ihn kam der Unfall äußerst gelegen.« Ein tiefes, verhaltenes Lachen.

Und dann die andere Stimme mit sadistischem Eifer:

»Manche Leute haben einfach Glück. Dale Jerningham ist so ein Glückspilz.«

Da hatte sie begriffen, dass sie über Dale redeten. Mit schwacher Stimme fuhr sie fort:

»Ich wusste doch nicht ... bis dahin hatte ich nicht gewusst ... erst als sie das sagten.«

Miss Silver wendete den Strumpf.

»Erst als sie was sagten, Kindchen?«

Lisle fuhr fort. Ihre Gedanken waren nicht bei Miss Silver. Es war leichter zu reden, als den Stimmen zuzuhören, die sich in ihrem Kopf drehten.

»Sie sagte, Dale habe Glück gehabt, weil seine erste Frau einen Unfall hatte. Er war noch sehr jung, als er sie heiratete, erst zwanzig, wissen Sie, und sie war älter als er – ziemlich viel älter –, und sie hatte viel Geld. Darüber haben sie geredet. Sie sagten, Dale hätte Tanfield verkaufen müssen, wenn er sie nicht geheiratet hätte. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich weiß nicht, ob überhaupt etwas davon stimmt. Sie hieß Lydia. Sie sagten, er hätte sie nicht geliebt, aber sie sei ihm sehr zugetan gewesen. In ihrem Testament habe sie ihm alles vermacht, und einen Monat später sei sie beim Bergwandern in der Schweiz ums Leben gekommen. Sie sagten, Dale sei der Unfall sehr gelegen gekommen. Das Geld habe Tanfield gerettet. Ich weiß nicht, ob es stimmt.«

Miss Silver betrachtete sie ernst. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Ihre Stimme war ausdruckslos. Keine Farbe. Kein Leben. Hier ging es um mehr als den Tod – den Unfalltod – einer ihr unbekannten ersten Ehefrau vor vielen Jahren. Sie sagte:

»Ich bin eine große Bewunderin des verstorbenen Lord Tennyson. Es ist ein Jammer, dass er heute kaum noch gelesen wird, aber ich denke, die Zeit wird kommen, in der man ihm wieder gerecht wird. ›Eine Halbwahrheit ist die schlimmste aller Lügen‹, schrieb er, und daran sollten wir uns immer erinnern, wenn wir bösartigen Klatsch hören.«

Die Worte gingen durch Lisle hindurch, aber die ruhige, bestimmte Stimme beruhigte sie. In fast bittendem Tonfall sagte sie:

»Sie glauben also, dass es nicht wahr ist?«

»Ich weiß es nicht, meine Liebe.«

»Sie ist abgestürzt«, erzählte Lisle, »und dabei ums Leben gekommen ... Lydia ... ich kannte sie nicht, es ist schon lange her. Und sie sagten, Dale habe Glück gehabt ...«

Miss Silvers Nadeln stoppten.

»Ich glaube, sie haben noch mehr gesagt. Was genau haben Sie gesagt?«

Lisle legte mit einer seltsam verängstigten Geste die Hand an die Wange. Sie wollte ja weitersprechen, aber sie wollte nicht über das reden, was sie wirklich geängstigt hatte. Wenn sie sich dem auch nur in Gedanken näherte, wurde alles in ihr kalt und gefühllos. Sie spürte noch keinen Schmerz, aber der Schmerz würde kommen, wenn die gefühllose Panik nachließ, Qualen würden kommen. Reden würde es verhindern. Also redete sie weiter.

»Sie haben gesagt, dank ihres Geldes brauchte er Tanfield nicht zu verkaufen, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Das Geld ging während der Wirtschaftskrise fast vollständig verloren. Das hat Dale mir selbst erzählt. Und Sie haben gesagt, jetzt wolle er mein Geld.«

»Ich verstehe. Haben Sie denn eigenes Geld?«

Die dunkelgrauen Augen ruhten ausdruckslos auf ihr. Die weißen Lippen antworteten:

»Ja.«

»Ah ja. Und Sie haben ein Testament gemacht, in dem sie Ihrem Mann Ihr Geld vermachen?«

»Ja.«

»Wann haben Sie das getan?«

»Vor vierzehn Tagen. Wir sind erst seit sechs Monaten verheiratet.«

Miss Silver strickte. Lisle Jerningham schwieg und hörte wieder die schleppende Stimme, die sagte:

»Das Geld ist angelegt, aber ich glaube, er kann darüber verfügen, wenn ihr etwas zustößt.«

Und die andere Stimme, schnell und boshaft:

»Wird sie also auch einen Unfall haben?«

Schmerz rührte an der Betäubung um Lisles Herz. Angst packte sie. Lieber es selbst sagen, als die Stimmen zu hören. Mit zitternder Stimme brachte sie hervor:

»›Wird sie also auch einen Unfall haben?‹ Das haben sie gesagt – einen Unfall –, denn wenn er das Geld für sich hätte, könnte er Tanfield behalten. Mir gefällt es nicht besonders, wissen Sie, weil es so groß ist. Ich würde lieber im Herrenhaus wohnen, das ist eher ein Zuhause. Deshalb habe ich gesagt, wollen wir Tanfield nicht verkaufen? Es gibt einen Interessenten dafür. Aber Dale sagte, seine Familie habe immer dort gelebt, und dann haben wir uns gestritten. Aber er würde doch nicht ... nur wegen so etwas! Oh nein, es war ein Unfall!«

»Was für ein Unfall?«, erkundigte sich Miss Silver.

»Wir waren schwimmen. Ich bin keine besonders gute Schwimmerin. Ich kam nicht mehr ans Ufer. Er und Rafe und Alicia lachten und spritzten sich gegenseitig nass. Sie hörten mich nicht rufen. Ich wäre fast ertrunken. Es war ein Unfall. Aber genau das haben sie gesagt ...«

Wie ein Schwall brachten die Stimmen in ihren Ohren ihre eigene zum Verstummen.

»Wird sie also auch einen Unfall haben?«

Und dann die andere.

»Du lieber Himmel, sie hatte ja gerade einen. Wie eine ertrunkene Katze hat man sie aus dem Meer gefischt. Dale zum zweiten Mal der untröstliche Witwer. Übung macht den Meister, aber diesmal war es ein bisschen verfrüht. Sie hat überlebt, und er ist ohne Geld – noch.«

»Und er war so taktlos, sie zu retten?«

Die schleppende Stimme sagte: »Nicht Dale.«

Lisles Hand fiel in ihren Schoß. Es hatte keinen Sinn. Sie musste zuhören.

Miss Silvers Stimme drang zu ihr durch, sie fragte ruhig:

»Aber Sie sind nicht ertrunken. Wer hat Sie gerettet?«

»Nicht Dale«, sagte Lisle Jerningham.

Kapitel 3

Vor der Kurve bei Cranfield Halt verlangsamte der Zug seine Fahrt. Manchmal hielt er dort an, manchmal nicht. Heute hielt er. Ein halbes Dutzend Fahrgäste warteten auf dem offenen Bahnsteig, und vier von ihnen waren drauf und dran, sich in das Abteil zu setzen, in dem Miss Silver gerne ihr hochinteressantes Gespräch fortgesetzt hätte. Sie drängten sich zwischen sie und die blasse Frau, die gerade so Erschreckendes erzählt hatte. Eine handfeste, nette Mutter und drei Kinder zwischen sechs und sechzehn, die in die Stadt fuhren, um dort Verwandte zu besuchen. Ihre Stimmen füllten das Abteil, ihre Ansichten, Urteile, Befürchtungen. Sie redeten alle gleichzeitig.

Lisle Jerningham lehnte sich in ihre Ecke zurück und schloss die Augen. Warum war sie bloß nach Mountsford gefahren? Die Cranes waren doch gar nicht ihre Freunde. Sie kannte sie kaum. Sie waren Dales Freunde. Und dann hatte Dale auch noch abgesagt und sie alleine hingeschickt. Geschäfte in Birmingham – Lydias Geld. Es war nicht mehr viel davon übrig, das wusste sie. Lydias Geld ... Sie versuchte, nicht mehr an Lydia zu denken. Mr Crane war nett, sie mochte ihn – stattlich, gut gelaunt und freundlich. Mrs Crane gab einem immer das Gefühl, als hätte man eine Rotznase. Sie mochte Dale, wie die meisten Frauen, war aber beleidigt, weil er geheiratet hatte. Sie zog es vor, wenn Männer unverheiratet und ihr ergeben waren. Das Flirten lag ihr. Auch wenn sie ihrem Mann sehr zugetan war, so sollten doch andere Männer ihr zugeneigt sein. Dale aber war abtrünnig geworden und hatte Lisle geheiratet. Also mochte sie Lisle nicht.

Dale hätte sie nicht alleine nach Mountsford schicken dürfen. Sie hätte sich weigern sollen, dann wäre nichts von all dem geschehen. Sie hätte nicht mit der Sonne im Rücken dagestanden, die Eibenhecke gerochen und die Stimmen sagen hören: »Für ihn kam der Unfall äußerst gelegen.«

Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Gestern um diese Zeit hatte sie sich gerade von Dale verabschiedet. Dann einkaufen und Lunch mit Hilda. Und am späten Nachmittag dann die heiße Zugfahrt nach Mountsford. Sie war so spät wie möglich gefahren. Sie hatte sogar eigentlich zu lange gewartet und musste sich in aller Eile ankleiden. Sie sah sich in dem silbernen Kleid mit dem Smaragd, der ihrer Mutter gehört hatte. Bei manchen hätte der grüne Stein auch die Augen grünlich schimmern lassen, aber ihre waren immer nur grau. Sie veränderten sich nicht. Auch in ihr selbst war etwas, das sich nie veränderte. Selbst wenn all das wahr war, konnte sie sich nicht ändern. Selbst wenn Dale ihr den Tod wünschte, konnte sie sich nicht ändern.

Sie riss sich davon los. Das Dinner. Wunderbares Essen. Mr Crane erzählte schottische Geschichten so jämmerlich und lachte selbst so laut, dass es keine Rolle mehr spielte, ob die anderen mitlachten oder nicht. Eine Gesellschaft aus Leuten, die sie nicht kannte. Ein feister Mann, der mit ihr im Mondschein den Rosengarten betrachten wollte und nur »umso besser« erwiderte, als sie darauf hinwies, dass der Mond gar nicht schien. Bridge, ein höchst ermüdendes Bridgespiel. Und endlich zu Bett. Sie hatte von Dale geträumt, Dales Augen, die sie anlachten, Dale, der sie küsste ... Sie durfte nicht daran denken.

Aber so sehr sie sich auch bemühte, ihre Gedanken wanderten immer wieder zurück zu Dale.

Dieser wunderbare Morgen. Der Nebel kam vom Meer, löste sich auf, machte einem perfekten blassblauen Himmel Platz. Und die Sonne so heiß auf ihrem Rücken, als sie da im Schutz der Hecke stand.

Für Dale kam der Unfall äußerst gelegen ...

Es hatte keinen Sinn. Es würde ihr nicht aus dem Kopf gehen.

In der gegenüberliegenden Ecke hatte Miss Silver ihr Strickzeug weggelegt und erneut Ethels Zeitschrift aufgeschlagen. Sie betrachtete dieselbe Seite, die bereits zuvor ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Die ganze Seite wurde von dem Foto einer jungen Frau in einem silbernen Kleid eingenommen. Die kursiv gedruckte Bildunterschrift lautete: »Die schöne Mrs Dale Jerningham in ihrem attraktivsten Kleid.« Um das Foto herum, in Zeilen von unterschiedlicher Länge, ein Brief, der mit »Mein Liebling« begann und mit »für immer dein« und einem großen Fragezeichen endete. Anonymität konnte bedeuten, dass man entweder zu bekannt oder gar nicht bekannt war. Sie hat gewisse Vorteile, und der Verfasser des Briefes nutzte dies voll und ganz. Dale Jerningham wurde zu Dale, sobald sein Nachname einmal erwähnt war. »Ein glücklicher Mann, nicht nur weil ihm Schloss Tanfield gehört, dessen Unterhalt ein Vermögen kostet, sondern weil er gleich zwei reiche Frauen geheiratet hat. Oh, natürlich nicht gleichzeitig, das wäre zu viel Glück selbst für den Glückspilz Dale. Und er war wirklich überraschend lange Witwer. Sein erster Coup war die Heirat mit der bedauernswerten Lydia Burrows, die vor zig Jahren beim Bergsteigen in der Schweiz ums Leben kam. Die derzeitige Mrs Dale hieß zuvor Lisle van Decken. Und hat sie auch alles, was man so braucht? Das kann man wohl sagen! Sie ist so hübsch wie auf dem Foto oder sogar noch hübscher. Vater Amerikaner und verstorben. Daher das Geld. Eine skandinavische Großmutter. Daher die platinblonden Haare, so blond und doch echt ...«

Miss Silvers Lippen verzogen sich geringschätzig. Ordinär, wirklich geschmacklos. Wohin sollte das noch führen mit der Presse. Sie blickte zu Lisle hinüber und sah, dass diese zurückgelehnt dasaß. Sie hatte die Augen geschlossen, schlief aber nicht. Die Hand in ihrem Schoß war zur Faust geballt, die Knöchel kalkweiß. Nein, sie schlief nicht, hatte sich nur mit ihrer Verzweiflung abgekapselt.

Als der Zug kurz darauf langsamer wurde, öffneten sich die Augen und begegneten Miss Silvers Blick. Eine ganze Weile, dann schlossen sich die Augen wieder.

Miss Silver knipste ihre Tasche auf und holte eine elegante Visitenkarte heraus:

MISS MAUD SILVER

15 Montague Mansions

West Leaham Street S.W.

Privatdetektivin

Entschlossen ließ sie ihre Tasche wieder zuschnappen, als der Zug langsam in den düsteren Bahnhof einfuhr, der gleichzeitig Endstation war. Ein Schaffner riss die Tür auf. Die Frau mit den drei lebhaften Kindern sammelte ihre Brut und stieg aus. Die schlanke Gestalt von Mrs Dale Jerningham erhob sich ebenfalls und schickte sich an, ihnen zu folgen.

Sie war schon auf dem Bahnsteig und einige Schritte gegangen, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte. Die kleine pummelige Frau, mit der sie im Zug gesprochen hatte, ging neben ihr. Sie hatte mit ihr geredet, konnte sich aber nicht mehr erinnern, was sie gesagt hatte. Und jetzt wollte sie nicht weiter mit ihr sprechen. Zerstreut blickte sie nach unten und sah, dass die Frau ihr eine Karte hinhielt. Sie nahm sie und steckte sie in ihre Handtasche. Die Stimme, die sie an sämtliche Erzieherinnen erinnerte, die sie je gehabt hatte, sagte freundlich und sehr bestimmt:

»Wenn Sie irgendwann einmal Hilfe brauchen, das ist mein Name und meine Adresse.«

Die Hand glitt von ihrem Arm. Ohne sich umzusehen ging sie weiter zum Ausgang und gab ihre Fahrkarte ab.

Kapitel 4

Die Sonne brannte auf die Tennisplätze von Tanfield. Es gab drei davon, zwei gepflegte Rasenplätze und einen grünen Hartplatz. Die Plätze waren von einer hohen Mischhecke aus Hainbuchen, Ilex und Dornensträuchern umgeben. Vom Schloss war außer den seitlichen Türmen nichts zu sehen.

Auf dem äußeren Rasenplatz beendete Alicia Steyne gerade ein spannendes Match mit Rafe Jerningham. Der Ball berührte das Netz und flog tief und gerade an Rafes Rückhand vorbei. Er rannte, sprang vergeblich nach vorne und landete auf dem Bauch. Alicia warf ihren Schläger in die Luft und rief mit ihrer hohen, hellen Stimme: »Satz und!«

Rafe stand auf und sah, wie sie ihn auslachte. Sie war klein und dünn wie ein Kind, mit dunklen, unordentlichen Locken und einem lebhaften, eigensinnigen Gesicht. Sie war rundherum braun; ihr Temperament ließ ihre Lippen und Wangen leuchten. Ihre Zähne waren strahlend weiß. Sie kam um das Netz herum, warf ihren Schläger in die Luft und lachte.

»Puh! Gegen dich gewinne ich noch allemal!« Sie spitzte die Lippen und warf ihm einen Kuss zu. »Und weißt du warum? Weil ich viel, viel besser spiele als du. Außerdem kriege ich keine Wutanfälle.«

Rafe lachte ebenfalls. Er war ebenso braun wie sie, mittelgroß, sehr schlank, sehr attraktiv auf eine etwas zigeunerhafte Art. Seine schwarzen Augenbrauen waren schmal mit einem seltsamen Knick. Die gebräunten, wohl geformten Ohren liefen leicht spitz zu, wie bei einem Faun. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und Alicia Steyne war nicht zu verleugnen. Tatsächlich hatten sie dieselbe Großmutter und die gleichen sehr weißen Zähne, wie man sehen konnte, als er jetzt sagte:

»Ich kriege doch keine Wutanfälle.«

»Nie?«

»Nie.«

»Nicht einmal, wenn es keiner sieht? Die meisten Männer können nicht gegen eine Frau verlieren.«

»Nicht einmal dann.«

In plötzlicher Ungeduld warf sie ihren Schläger auf den Boden.

»Ich jedenfalls bin entsetzlich jähzornig, und es ist mir egal, wer es weiß! Aber beim Spielen kriege ich keine Wutanfälle, die hebe ich mir auf für Dinge, die es wert sind.«

»Was zum Beispiel?«

Alicias Gesicht verdüsterte sich. Leicht sarkastisch fuhr Rafe fort:

»Es muss immer alles nach deinem Kopf gehen, stimmt’s? Andersherum verträgst du es schwer, auch beim Spielen.«

Sie blitzte ihn an.

»Das stimmt überhaupt nicht.«

»Nicht? Bist du sicher?«

»Du weißt, dass es nicht stimmt.«

Er lachte leise.

»Na ja, meistens geht es ja auch nach deinem Kopf.«

Ihr Lachen erlosch wie eine ausgeblasene Flamme.

»Nicht immer.«

Abrupt wandte sie sich ab und hob ihren Schläger auf. Rafe beobachtete sie mit neugierigem, spöttischem Blick. Zwischen seinen dünnen, beweglichen Lippen zeigten sich wieder die blendend weißen Zähne. Es amüsierte ihn, dass Alicia, die schon als Baby immer ihren Kopf durchgesetzt hatte, nicht über seinen Cousin Dale hinwegkam. Sie hätte ihn haben können, als sie neunzehn und er zwanzig war, als sie beide kein Geld hatten, Sir Rowland Steyne jedoch sehr viel davon hatte. Sie hatte Dale ziehen lassen und Rowland geheiratet. Also, was beklagte sie sich nun? Es war ihre eigene Entscheidung gewesen und sie lag zehn Jahre zurück. Dale hatte dem Druck seiner und Lydias Familie nachgegeben und Lydia Burrows geheiratet. Als er schließlich Lydias Vermögen erbte, war Alicia Lady Steyne. Rafe fand das recht amüsant.

Er fragte sich, was wohl passiert wäre, wenn Rowland einen oder zwei Monate früher mit seinem Wagen verunglückt wäre. Als die Todesanzeige erschien, war Dale bereits mit Lisle van Decken verlobt. Und sie waren verheiratet, bevor es für Alicia schicklich gewesen wäre, als Konkurrentin aufzutreten.

Mit schlenkerndem Schläger kam sie zurück und blickte ihn mit funkelnden Augen an.

»Was siehst du mich so an? Ich hasse dich!«

Sein Lächeln wurde breiter.

»Ich dachte gerade, dass du gar nicht wie eine Witwe aussiehst.«

Da musste sie lachen.

»Meinst du, ich sollte die Flagge auf Halbmast setzen?«

»Ganz und gar nicht. Du gefällst mir, so wie du bist.«

»Da bin ich mir manchmal nicht so sicher, Rafe.«

»Ich vergöttere dich.«

Alicia schüttelte den Kopf.

»Du vergötterst niemanden. Du bist in dich selbst und in Tanfield verliebt. Du magst Dale, Lisle magst du nicht. Und manchmal glaube ich, du hasst mich.«

Er legte den Arm um ihre Taille, kam mit seinen Lippen nahe an ihr Ohr und sagte leise und verführerisch:

»Das glaubst du doch alles selbst nicht.«

»Nicht? Ich denke, genauso ist es.«

Er legte seine Wange an ihre.

»Liebling!«

Sie sagte: »In Wirklichkeit hasst du mich.«

»Ja – so.«

Ärgerlich entwandt sie sich ihm und brach dann in Lachen aus.

»Du versuchst, mich zu verführen, weil du weißt, dass es dir nicht gelingt. Was würdest du wohl tun, wenn ich dir plötzlich in die Arme fallen würde?«

»Versuch’s.«

»Nicht in der Öffentlichkeit.« Sie lachte erneut. »Du bist wirklich ein Narr, Rafe. Weißt du, irgendwann wird man dich ernst nehmen, und das wird dir gar nicht gefallen.«

Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht.

»Also gut, fangen wir doch gleich damit an. Ganz im Ernst, warum sagst du, ich mag Lisle nicht?«

Spöttisch antwortete sie:

»Weil es so ist, Schätzchen.«

Der Ausdruck verstärkte sich. Er war echt bekümmert.

»Aber ich mag sie, ich mag sie sogar sehr. Ich würde Dales Frau immer mögen. Aber Lisle würde ich mögen, auch wenn sie nicht seine Frau wäre. Sie ist genau mein Typ, blond und groß. Warum sollte ich sie nicht mögen?«

»Weil sie Tanfield nicht mag«, erwiderte Alicia.

Rafe lachte.

»Mir geht’s genauso. Da haben wir schon eine Gemeinsamkeit.«

Alicia nickte.

»Du magst Tanfield nicht, das stimmt, du liebst es.«

Er schüttelte den Kopf.

»Als Kind wahrscheinlich. So ein riesiger Klotz, das ist etwas, was einem Kind gefällt. Aber mit der Zeit denkt man dann etwas praktischer. Kein Mensch möchte heute mehr ein Haus von dieser Größe, das führt unweigerlich in den Ruin. Sieh dir doch die Familiengeschichte an. Fünf der letzten sieben Jerninghams haben ziemlich vermögende Erbinnen geheiratet, und wo stehen wir jetzt? Ich habe keinen Penny. Dale wäre ohne Lydias Geld bankrott. Das hat ihn gerettet, aber Tanfield hat alles verschluckt, und jetzt öffnet es seinen Rachen und will alles, was Lisle hat.«

»Sie hasst das Schloss«, sagte Alicia. »Sie will, dass er es verkauft.«

»Das ginge mir genauso«, sagte Rafe. »Es ist das einzig Vernünftige. Das Herrenhaus ist schon genauso lange in Familienbesitz. Es ist viel wohnlicher und meiner Ansicht nach auch schöner. Wenn Dale nur einen Funken Verstand hätte, würde er das Angebot von Tatham annehmen; er wird es nicht ewig aufrechterhalten. Aber wenn es um Tanfield geht, setzt bei Dale leider der Verstand aus. Wir leben seit fünfhundert Jahren hier, und er glaubt, dass wir es noch einmal fünfhundert Jahre durchhalten. Dafür ist ihm jedes Opfer recht.«

Alicia war erschrocken. Rafe meinte es tatsächlich ernst. So ernst, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Gegen ihren Willen beeindruckte er sie ein bisschen. Sie drehte sich um und sah zum Schloss hinüber. In den Turmfenstern spiegelte sich die Sonne. Mehr war nicht zu sehen. Die lange Fassade mit dem Portikus aus dem achtzehnten Jahrhundert, zwei nach vorne verlaufende Flügel, die einen gepflasterten Hof begrenzten, in dem Steinlöwen einen Seerosenteich mit Springbrunnen bewachten – all das war nicht zu sehen, aber es war ihr nur allzu vertraut.

»So wie du redest, ist es wie ein Moloch.«

»Mein Schatz, dem Moloch wurden Menschenopfer dargebracht. So gierig ist Schloss Tanfield sicher nicht.«

Kapitel 5

Die beiden großen Salons von Schloss Tanfield gingen auf eine sehr niedrige Terrasse, von der breite, flache Stufen zu dem berühmten italienischen Garten hinunterführten. Lisle Jerningham gefiel er nicht – ein Hektar gezierter, geometrischer Formen, hart, formal, begrenzt von Zypressen und Statuen; die Blumen wie geleckt. Dahinter begann ein Gelände, in dem die Natur zwar noch immer gebändigt, wo aber immerhin Gras und Bäume gestattet waren. Zuerst die sorgfältig beschnittenen Versionen, doch mit zunehmendem Abstand zum Schloss wichen sie ungehindertem Wachstum. Dales Großvater hatte Bäume geliebt, und die von ihm gepflanzten Buchen, Eichen und Ahornbäume waren gewachsen und gediehen. Auch hoch gewachsene Nadelbäume mit gelben, tiefgrünen und blauen Nadeln gab es dort – Zypressen, Zedern, Himalaya-Zedern.

Lisle schlenderte zwischen ihnen hindurch und wartete, dass Dale nach Haue käme. Gestern, das war vorbei und fast vergessen. Sie hatte wieder Farbe und genug Beherztheit, um geringschätzig über ihre panische Flucht vom Vortag zu denken. Nachdem der Schock von ihr gewichen war, dachte sie eher erstaunt und leicht beschämt an ihr Verhalten zurück. Dale hatte sie für ein Wochenende zu den Cranes geschickt, und sie war gleich nach der ersten Nacht davongelaufen. Das würde ihn verärgern, und er würde eine Erklärung verlangen.

Während sie durch die Bäume spazierte, überlegte sie, was sie ihm sagen sollte. Es wäre ein Leichtes, zu lügen. Sie könnte sagen, sie sei plötzlich krank geworden und hätte nicht in einem fremden Haus im Bett liegen wollen. Rafe und Alicia, die über ihr gestriges Aussehen so erschrocken gewesen waren, würden es bezeugen. Aber man hatte ihr beigebracht, sich nicht mit Lügen aus Schwierigkeiten herauszuwinden. Lügen waren etwas Schreckliches, und Dale anzulügen war undenkbar. Und die Wahrheit? Leider war die Wahrheit ebenfalls undenkbar. Wie sollte sie Dale erklären: »Ich stand hinter einer Hecke, und zwei Frauen – ich weiß nicht wer – unterhielten sich. Sie haben gesagt, dass Lydia den Unfall nur hatte, weil du ihr Geld wolltest, und vielleicht würde ich ja auch einen Unfall haben.«

Plötzlich schauderte es sie bei der Erinnerung daran, wie kalt das Wasser gewesen war, das ihr über Kinn, Mund und Augen geschwappt war. Zehn Tage war es her, nur zehn Tage. Sie verdrängte den Gedanken und trat unter den Bäumen hervor in die wärmende Sonne. Sie konnte Dale nicht anlügen, und sie konnte ihm auch nicht die Wahrheit sagen.

Als sie sich umdrehte, sah sie ihn auf sich zukommen, und mit einem Schlag war alles vergessen. Freude durchzuckte sie jedes Mal, wenn sie ihn sah. Vom ersten Augenblick an hatte sie in seiner Gegenwart Wärme und Wohlbefinden verspürt. Es hatte etwas zu tun mit seiner Art zu schauen, wie er den Kopf hielt, mit seiner selbstsicheren Stimme, dem Lächeln in seinen Augen, das einzig ihr galt. Dunkle Augen, aber nicht so dunkel wie Rafes, gebräunte Haut, aber nicht so dunkel wie Rafes oder Alicias, und während die beiden schlank und grazil gebaut waren, war Dale groß und athletisch. Wenn er sie in die Arme nahm, spürte sie, wie seine unbändige Kraft sie schier zermalmen konnte. Bis jetzt hatte dieses Gefühl sie immer erfreut und erregt. Heute verspürte sie noch etwas anderes. Selbst als er sie küsste und sie Kuss für Kuss erwiderte, spürte sie ein kleines, kaltes Zittern der Angst, das nicht aufhören wollte. Sie war froh, als er sie freigab; froh und ziemlich atemlos.

»Dale ... ich bin nicht geblieben ...«

»Das sehe ich.«

Er war noch nicht wütend. Vielleicht würde er gar nicht wütend werden. Wenn ihr nur die richtigen Worte einfallen würden. Aber sie konnte nur stammeln:

»Ich wollte nach Hause.«

Seine Hand lag auf ihrer Schulter. Sie spürte den Druck.

»Warum?«

»Dale ...«

Sie war halb abgewandt und er drehte sie zu sich. Seine Stimme war ziemlich hart, als er sagte:

»Was soll das alles? Ich habe gestern Abend angerufen, und Marian Crane sagte mir, du seist nach dem Frühstück überstürzt abgereist. Als ich sie fragte, warum, meinte sie, du hättest ein Telegramm bekommen. Das hast du ihr wohl so erzählt?«

»Ja.«

»Und hast du ein Telegramm bekommen?«

»Nein, Dale ...«

Sie würde ihn nicht anlügen.

»Warum bist du dann abgehauen?«

Bisher hatte sie ihn nicht angesehen. Jetzt blickte sie zu ihm auf. Ihr Blick war fest und bekümmert.

»Ich möchte es nicht sagen.«

»Was für ein Unsinn! Du musst!«

»Dale ...«

Er lachte verärgert.

»Was ist denn in dich gefahren? Die Cranes sind meine Freunde. Du fährst für ein Wochenende zu ihnen und läufst am nächsten Tag davon. Das geht nicht so einfach ohne Erklärung. Hast du dich mit Marian gestritten?«

Sie errötete – vor Erleichterung, nicht vor Scham.

»Natürlich nicht. Ich streite mich nicht.« Sie trat einen Schritt zurück, und er ließ sie los. »Es hatte nichts mit Mrs Crane zu tun. Ich ... ich will dir erzählen, so viel ich kann. Es war nach dem Frühstück. Ich ging in den Garten und hörte das Gespräch von zwei anderen Frauen mit an. Ich weiß nicht, wer sie waren, es waren viele Gäste geladen.«

»Was haben sie gesagt?« Sein Ton war verächtlich.

Einen Augenblick wurde ihr übel bei dem Gedanken, was er wohl sagen würde, wenn sie es ihm verriet. Aber sie konnte es einfach nicht. Sie bekam keine Luft bei dem Gedanken.

»Ich weiß nicht, wer sie waren ...«

»Das hast du bereits gesagt. Ich will wissen, was sie gesagt haben.«

Du lieber Himmel, warum konnte sie nicht einfach bei der Wahrheit bleiben. Irgendeine dumme Skandalgeschichte über seine Freundschaft zu Marian. Er war noch nie ein geduldiger Mensch gewesen. Der Gedanke, dass Lisle wegen einem solchen Blödsinn davongelaufen war, brachte ihn auf. Sie sah, wie sich seine Miene verfinsterte und beeilte sich zu sagen:

»Es war dumm von mir, aber ich konnte ihnen danach einfach nicht mehr in die Augen sehen. Ich wollte nicht wissen, wer sie waren. O Dale, verstehst du denn nicht. Es war so entsetzlich, das zu hören, und ich wollte gar nicht wissen, wer es gesagt hatte ... Oder ihnen gar begegnen ... Aber wenn ich geblieben wäre, dann hätte ich ihnen doch begegnen müssen. Und so bald ich sie hätte reden hören, hätte ich doch gewusst ... hätte ich doch gewusst, wer sie waren! Verstehst du das denn nicht?«

Zu dem düsteren Blick gesellte sich ein Stirnrunzeln.

»Noch nicht, aber bald. Du hast mir noch nicht gesagt, was sie gesagt haben. Was du dort gehört hast, hat dich zu einer groben Unhöflichkeit den Cranes gegenüber verleitet. Also, was hast du denn nun gehört?«

Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.

»Es ging um Lydia. Dale, sei bitte nicht böse. Ich war nicht darauf gefasst, und es war ein Schock. Ich konnte einfach nicht bleiben.«

»Lydia?«, sagte Dale Jerningham. »Lydia. Es ging um Lydia, und das hat dich in solche Panik versetzt? Das ergibt keinen Sinn. Was hast du gehört?«

Lisle flüsterte fast.

»Sie haben gesagt, sie hätte einen Unfall gehabt ...«

Seine Augen beobachteten sie unter gerunzelten Brauen.

»Aber das wusstest du doch.«

Sie legte die Hand an die Wange.

»Ja. Aber die Art, wie sie es gesagt haben ...«

Was musste sie mindestens sagen? Wie viel musste sie ihm verraten? Er wartete, und sie zwang sich weiterzureden:

»Sie haben gesagt, der Unfall sei dir gelegen gekommen ...«

Sie wollte ihn anblicken, aber sie schaffte es nicht. Ihre Augen brannten. Sie sah zur Seite und spürte den Pulsschlag in ihrem Hals.

Einen Moment lang war er sehr ruhig. Dann sagte er mit beherrschter Stimme:

»Das war’s also? Eine ziemlich alte Geschichte. Ich hätte gedacht, sie wären allmählich damit durch. Deswegen hättest du wirklich nicht weglaufen müssen.«

Jetzt sah sie ihn an, und sie verspürte Angst. Sie kannte ihn wütend, aber nicht so. Das hier war Wut gepaart mit eisiger Verachtung. Am schlimmsten war der Gedanke, dass diese Verachtung ihr galt. Weil sie sich die Verleumdung angehört und dann auch noch davongelaufen war. Der einzige Trost war, dass er nicht weiter nachfragte. Wäre er weiter in sie gedrungen, so hätte sie ihm alles sagen müssen, und allein der Gedanke daran ließ sie schwach werden. Denn wenn er erst einmal wüsste, was ihre panische Flucht ausgelöst hatte, dann wäre es das Ende zwischen ihnen. So weit dachte sie nicht. Sie war noch gar nicht in der Verfassung zu denken. Aber instinktiv wusste sie es.

Dale Jerningham ging ein paar Schritte und kam dann zurück.

»Du musst lernen, nicht jedes Mal die Fassung zu verlieren, wenn du missgünstigen Tratsch hörst«, sagte er. Seine Stimme war jetzt fast gleichgültig. »Die Leute reden nun mal so ein Zeug. Keiner glaubt es; sie selbst glauben es auch nicht, aber sie sind nun mal innerlich vergiftet und drücken es auf diese Weise aus. Du kannst nicht durch die Welt gehen und vor allem, was dir nicht gefällt, davonlaufen. Darüber musst du dir im Klaren sein, sonst wird sich unser Freundeskreis in Luft auflösen. Marian ist nicht nachtragend, aber du musst dir eine sehr überzeugende Erklärung für das Telegramm ausdenken. Leider habe ich angerufen, sonst könntest du sagen, es sei von mir gewesen. Dann hätte ich mir etwas einfallen lassen. Ich bin sicher ein sehr viel besserer Lügner als du.«

Rasch blickte sie auf, um zu sehen, ob er bei diesen Worten lächelte, aber trotz des lässigen Tonfalls waren seine Augen hart und dunkel. Er sagte abrupt:

»Ich habe zwei Tage in Zügen und Büros verbracht, ich laufe ein Stück.« Und damit verschwand er zwischen den Bäumen.

Kapitel 6

Lisle ging zu den Klippen. Sie mochte Tanfield nicht, aber sie liebte die niedrigen Klippen über dem Meer. Von dort, wo sie mit Dale geredet hatte, führte ein Graspfad unter Bäumen hindurch zu dem Punkt, wo sie den Blick freigaben auf die Bucht mit dem flachen Wasser, das unter Sonne und Wolken ständig die Farbe änderte. Obwohl nur etwa fünf Meter hoch, waren die Klippen früher gefährlich gewesen. Dales Vater hatte sie vor fünfzig Jahren mit einem niedrigeren Steinmäuerchen abgesichert, das nur an einer Stelle unterbrochen war. Dort führten die Stufen zum Badestrand hinunter.

Lisle setzte sich auf die Mauer und blickte über das Wasser. Es war halb sechs, und die Sonne neigte sich über der Landzunge Tane Head. Gleich würde sie dort untergehen, und der Schatten der Landspitze würde sich wie verschüttete Tinte ausbreiten, bis er den Fuß der Klippen erreichte. Noch aber war das Wasser leuchtend klar und der Schatten erst eine Linie auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht. Es war ein heißer Tag gewesen, doch hier blies der Wind frisch vom Meer her. Bei der ersten Berührung fröstelte sie ein wenig in ihrem grünen Leinenkleid, dann vergaß sie, ob ihr warm war oder kalt. Dale war wütend. Sie hatte gewusst, dass er wütend sein würde. Selbst wenn sie ihm alles erzählt hätte, wäre er über ihre Flucht erbost gewesen. Wütend und voller Verachtung. Die Verachtung schmerzte mehr als die Wut, und sie konnte sich nicht dagegen wappnen; denn wenn Dale sie verachtete, verachtete sie sich auch. Sie war weggelaufen statt mit der Kraft ihrer eigenen Überzeugungen und ihrem Vertrauen den Verleumdungen entgegenzutreten. Sie blickte über das Wasser, und ihre Augen füllten sich langsam mit brennenden Tränen. Sie war zutiefst beschämt und unglücklich, aber dahinter saß noch immer so etwas wie Angst.

Lange saß sie dort auf der Mauer; der Schatten kroch über das Wasser. Das Blau verlor seine Farbe und changierte kaum merklich zu Grau. Jemand näherte sich ihr von hinten und blieb dort eine ganze Weile stehen, bevor er ihren Namen sagte. Als sie sich erschrocken umdrehte, sah sie, dass es Rafe war. Er hatte sich einen Pullover über das weiße Tennishemd gezogen und reichte ihr eine bunte Jacke mit grünen und roten Streifen und Karos auf beigem Grund.

»Das ist doch deine, oder? Wie kannst du bloß in diesem dünnen Kleid und ohne Jacke hier heruntergehen. So wie du gestern ausgesehen hast.«

»Mir war nicht kalt.« Doch sie zitterte beim Sprechen.

Rafe zog eine Grimasse.

»Willst du unbedingt krank werden? Oder ist das schon nicht mehr nötig? Hier, zieh das Ding an. Was ist los mit dir?«

»Nichts.«

Sie machte die Jacke zu. Sie fühlte sich weich und warm an, so als würden die fröhlichen Farben etwas von ihrer Wärme abgeben. Dale mochte Farben, und seinetwegen hatte sie die Jacke gekauft – wenn auch etwas unsicher –, denn sie selbst fühlte sich in zarteren Farben wohler. Aber jetzt war sie froh über die Farben. Sie knöpfte die Jacke zu, ohne Rafe anzusehen oder weiter an ihn zu denken.

Aber er zog sie wieder auf die flache Mauer und setzte sich neben sie, mit dem Rücken zu Tane Head. Seine Augen leuchteten, und der Wind zerzauste sein Haar.

»Was ist eigentlich los, Kleines?«

»Nichts.«

»Sturm im Wasserglas? Wahrscheinlich, das ist es doch meistens.« Er sang in leisem Tenor: »Car ici-bas tout passe, tout lasse, tout casse. So ist es nun mal, und je schneller es vorbei ist, desto schneller kann man schlafen. Ich kenne noch viel mehr rührselige Zitate. Aber was ist nun eigentlich mit dir los? Als du gestern heimkamst, sahst du aus wie ein Totenkopf auf Urlaub, und kaum fängst du dich wieder ein bisschen, erscheint Dale und du bist wieder völlig kopflos. Was ist los?«

»Nichts.«

»Red keinen Unsinn.« Er griff ihre Hände und schüttelte sie hin und her. »Schau mich nicht an wie ein hypnotisiertes Kaninchen, sondern erzähl mir, was bei den Cranes passiert ist.«

»Also wirklich, Rafe ...«

»Ja, wirklich. Ich will es wissen, und ich werde es erfahren. Komm schon, du wirst dich besser fühlen, wenn du es dir von der Seele geredet hast. Hat dir eine süße weibliche Seele erzählt, dass Dale und Marian ein Verhältnis hatten?« Seine Augen blitzten mutwillig. »Da ist nichts dran, weißt du, aber ich nehme an, du hast alles geschluckt, bist nach Hause geeilt und denkst jetzt an Scheidung.«

Wenn er sie provozieren wollte, so war ihm das geglückt. Sie entriss ihm ihre Hände und sagte entrüstet:

»Natürlich nicht. Darum ging es überhaupt nicht!«

»Worum ging es dann. Sag’s mir, meine Süße.«

»Sei nicht so albern!«

Er erwiderte sanft: »Aber du bist süß, wenn du willst und wenn es dir gut geht. Deshalb kann ich es nicht ertragen, dich unglücklich zu sehen.«

»Rafe!«

»Wusstest du das nicht? Ich muss ein exzellenter Schauspieler sein. Da sieht man, was das Gehirn alles vermag, wenn man es benutzt. Weißt du, dass Alicia denkt, ich könnte dich nicht leiden? Das hat sie gerade gesagt. Das zeigt, wie gut ich mich verstellen kann, stimmt’s?«

Sie japste nach Luft und musste zugleich lachen.