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Als Elinor Carter, die Chefköchin der Gerüchteküche von Beedon, stirbt, hinterlässt sie der kleinen Trish ein ganz besonderes Erbe: den quirligen Papageien Mister Welcome, dessen ständige Begrüßungen die Dorfbewohner zur Verzweiflung treiben. Doch als das freche Federvieh einen Gast durch geschickte Fragen zu einer lebensverändernden Erkenntnis führt, kommt Trish eine brillante Idee: Mister Welcome wird das Orakel von Beedon, das Schicksale lenkt und Lebenswege verändert. Schon bald strömen Menschen jeden Alters ins Dorf und zahlen großzügig für die weisenden Worte des ungewöhnlichen Vogels. Und als schließlich ein königlicher Gast um eine Audienz bittet, wird klar, dass das Glück oft nur einen kleinen Schubs braucht.
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Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2025
Claire Parker
Der König, ein Mädchen und ein Papagei, der auf alles eine Antwort hat
Roman
»Es ist immer das Leben, das einen inspiriert, oder?«
Wir hatten einen Papagei. Vermutlich war er der dümmste Papagei auf diesem Planeten. Aber aus unerfindlichen Gründen gab es eine Menge Menschen, die etwas sehr Besonderes in ihm sahen. Nun gut, wenn ich ehrlich bin, gehörte ich zu diesen Menschen. Und tue es noch.
Sein Name war Mr Welcome. Wie er ursprünglich geheißen hat, weiß niemand mehr. Wir hatten ihn so genannt, weil er jeden Besucher mit dem Wörtchen »Welcome« begrüßte. Das war auch das Einzige, was dieser Vogel auswendig sagen konnte. Sonst war es völlig unmöglich, ihm auch nur ein einziges Wort beizubringen. Mr Welcomes Gedächtnis war, wie man so schön sagt, ein Sieb. Und glauben sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Schließlich habe ich unzählige Stunden mit dem vergeblichen Versuch zugebracht, ihn zumindest ein paar wenige Vokabeln menschlicher Sprache zu lehren.
Ursprünglich wohnte Mr Welcome im Nachbarhaus bei einer sehr eigentümlichen Lady namens Elinor Carter, die in der Nachbarschaft ebenso beliebt wie gefürchtet war. Beliebt, weil sie von Zeit zu Zeit mit einem Korb voller Cupcakes durch die Straße ging und an die Türen klopfte, um ihre Mitmenschen mit Gebäck zu überraschen. Gefürchtet, weil sie dabei die absurdesten Gerüchte von Haus zu Haus trug – manchmal sogar solche, die der Wahrheit entsprachen. Erst wenn der letzte Cupcake verschenkt und die letzte Indiskretion begangen war, kehrte sie zurück in ihr altes Cottage auf Nummer 17 und verfütterte vermutlich die Krümel aus ihrem Korb an die Vögel.
Ja, die Vögel. Denn Mr Welcome war längst nicht ihr einziger gefiederte Gefährte. Wie viele Tiere es genau waren, kann ich rückblickend nicht sagen und konnte es gewiss auch damals nicht – aber es wurden stetig mehr. Ich erinnere mich gut an meinen ersten Besuch in Nr. 17 Old Bothampstead Road. Es war an einem Wintertag. Mrs Carter hatte mich bei Spacey’s, unserem Dorfladen, angesprochen: »Bist du nicht die Kleine von den Fishers?«
»Ja, Ma’am. Trish.« Man nannte mich damals Trish nach meinem zweiten Vornamen Patricia.
»Trish. Soso. Sag mal, magst du dir ein paar Pence verdienen?«
Vermutlich leuchteten meine Augen, als ich erwiderte: »Gerne, Ma’am!«
»Dann sei so gut und trag mir meine Tasche nach Hause. Heute ist es so kalt und feucht, dass meine Knochen wehtun, verstehst du?«
»Sicher, Ma’am«, log ich.
Natürlich durchblickte sie mich. Sie lächelte, streichelte mir über den Kopf und sagte: »Dann komm. Aber lauf nicht zu schnell, damit wir uns ein wenig unterhalten können.«
Und so trippelten wir gemächlich die Oxford Road entlang, vorbei an Mr Ormonds Laden, vorbei am Farmer’s Inn, vorbei an der Bushaltestelle, an der nur morgens und abends ein Bus hielt, und vorbei am Gemeindeweiher. Danach kamen wir zuerst an unserem Haus vorüber und gelangten schließlich zu Mrs Carters Cottage, das sich etwas zurückgesetzt von der Straße zwischen riesige alte Holunderbüsche duckte. Sie reichte mir den Schlüssel. »Hier, sperr du auf, ich brauche so lang, weil ich das Schlüsselloch nicht finde.«
Also sperrte ich auf. Und erschrak erst einmal. »Welcome!«, krächzte es mir entgegen, woraufhin ich den Schlüsselbund klirrend fallen ließ. Damit, dass jemand zu Hause sein könnte, hatte ich nicht gerechnet.
Damit, dass es Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Mitbewohnern sein könnten, schon gar nicht. Wir hatten den Fuß noch nicht über die Schwelle gesetzt, da schlug uns ein vielstimmiges Kreischen entgegen, wie ich es noch nie vorher gehört hatte. Mrs Carter hatte meinen Schreck erkannt, machte eilig: »Schschsch!«, und klatschte in die Hände – im nächsten Augenblick war es still im Haus. »Die Vögel«, sagte sie nur und ging voraus.
Und ich ging hinterher. Und staunte. In jedem Winkel des Hauses schien ein Vogelkäfig zu stehen oder zu hängen. Im Flur, am Durchgang zum Wohnzimmer, ja selbst in der Küche, wie ich bemerkte, als ich die Einkäufe auf Mrs Carters Zeichen dorthin brachte und auf den Boden stellte. Große Käfige mit mehreren Vögeln und kleinere. Einige wenige waren winzig, in ihnen saß nur ein einzelnes Tier. Der Papagei aber, der mich begrüßt hatte, saß gegenüber der Eingangstür. Mrs Carter sagte mir sicher den Namen dieses beeindruckenden Vogels. Aber wie es so ist: Manchmal legt sich eine Bezeichnung so vollkommen auf eine vorhergehende, dass man nur noch die neue wahrnimmt und die alte vergisst. Mir jedenfalls ging es so mit Mr Welcome.
Ich trat auf ihn zu und streckte die Hand nach seinem grün-roten Gefieder aus. »Vorsicht!«, rief Mrs Carter. »Das könnte gefährlich werden für deine hübschen kleinen Fingerchen!«
Klein waren sie in der Tat. Ob sie hübsch waren? Nun, ich vermute, sie waren zu der Zeit vor allem ständig schmutzig, denn ich war ein neugieriges Kind und gewiss nicht sehr auf Hygiene bedacht, eine typische Neunjährige eben. »Er beißt?«, fragte ich.
»Nein!«, rief Mrs Carter und lachte. »Er zwickt. Da er keine Zähne hat, kann er nicht beißen, richtig?«
»Hm.« Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.
»Möchtest du eine Tasse Tee mit mir trinken?«, fragte sie und griff schon zum Wasserkessel.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Hause.«
»Tja, die jungen Leute heute haben es immer eilig, was?«, sagte sie milde lächelnd. »Dabei hätte ich dir gerne noch ein weiteres Geschäft vorgeschlagen …« Sie nahm ihre Geldbörse aus der Handtasche, die sie im Flur abgestellt hatte, öffnete sie und hielt sie mir hin. »Schau, ob es zwanzig Pence gibt, und nimm sie dir«, sagte sie.
Ich tat wie geheißen und wackelte etwas verlegen hin und her, was meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. »Was für ein Geschäft meinen Sie denn«, traute ich mich dann vorsichtig zu fragen.
Sie steckte das Portemonnaie wieder weg und gab mir mit ihrem dünnen alten Zeigefinger ein Zeichen, ihr zu folgen, was ich mit einem seltsamen Gefühl auch tat. Mrs Carter ging voraus in den Wintergarten, der eine einzige Voliere war, und wies mir einen Stuhl. Ich erinnere mich, dass meine Füße kaum zum Boden reichten. Dann griff sie nach der Klappe eines Sekretärs, auf dem natürlich ebenfalls ein paar Kanarienvögel ihr Zuhause hatten, und überraschte mich im nächsten Moment mit einem dicken Stapel Hefte, den sie mir auf den Schoß legte.
»Das ist meine große Leidenschaft«, sagte sie, was mich ziemlich beeindruckte, auch wenn ich damals womöglich noch gar nicht wusste, was genau eine Leidenschaft eigentlich ist. Hätte ich es gewusst, so hätte ich vermutlich die Vögel für ihre Leidenschaft gehalten. Aber nein: Die Hefte waren es.
Rosen im Sturm las ich auf dem obersten. Der Umschlag zeigte eine Frau und einen Mann, die sich fest an den Armen gepackt hielten und einander anstarrten, als wollten sie sich im nächsten Moment gegenseitig auffressen. Nun, vielleicht war das auch die Absicht, wenngleich aus Gründen, die man sich als Neunjährige noch nicht vorstellen kann.
Rot wie mein Herz titelte das nächste Heft und zeigte zu meiner Überraschung: einen Mann und eine Frau, die sich fest an den Armen gepackt hielten und so weiter.
Meine Seele für einen Kuss von dir hieß es auf dem nächsten, Dein Kuss so heiß auf dem folgenden … Unnötig zu erwähnen, dass die Bilder auf den Umschlägen sich ähnelten wie Ferkel aus demselben Wurf. Es handelte sich um einen dicken Stapel Liebesromane, die mir die alte Dame da in die Hände gegeben hatte. Meine Ratlosigkeit war grenzenlos. »Ich lese jeden Tag einen davon«, sagte sie, als würde das irgendetwas erklären. »Und wenn ich ihn gelesen habe, mache ich oben rechts in der Ecke ein kleines Kreuz. Hier.« Sie deutete auf die obere rechte Ecke des Umschlagbildes, und tatsächlich: ein winziges Kreuz, für ein ungeübtes Auge kaum zu entdecken. Mrs Carter kicherte. »Mr Ormond hat keine Ahnung. Er hat es bis heute nicht bemerkt.«
Mr Ormond, muss man wissen, war der örtliche Buch- und Zeitschriftenhändler, in dessen Laden es auch andere Waren von kultureller Bedeutung zu kaufen gab: Schallplatten, Tickets für Veranstaltungen im Bürgerhaus, Marmite … Und eine Kiste mit Heftromanen, die man entweder kaufen oder gegen ein kleines Aufgeld gegen ebensolche Hefte eintauschen konnte.
„Du bringst meine gelesenen Hefte zu Mr Ormonds Laden und gibst sie ihm. Und dann suchst du aus seiner Kiste genauso viele andere Hefte raus und zahlst ihm für jedes zwanzig Pence. Du musst nur darauf achten, dass du kein Heft nimmst, das schon ein Kreuz in der rechten oberen Ecke hat.«
»Zwanzig Pence?«
»Wenn ich sie kaufen würde, müsste ich fünfzig Pence pro Heft bezahlen.« Sie kicherte. »Das ist ein gutes Geschäft.« Dabei fiel ihr ein: »Und du bekommst für jede Lieferung fünfzig Pence, einverstanden?«
Welche Neunjährige hätte sich da nicht einverstanden erklärt! Natürlich sagte ich mit glühenden Wangen zu.
»Komm morgen Nachmittag vorbei. Dann gebe ich dir meine gelesenen Hefte«, sagte Mrs Carter und brachte mich zur Tür. »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, sagte auch ich.
»Welcome«, sagte der Papagei. Von da an sah ich ihn jede Woche einmal.
Zwei Jahre lang war ich die »kleine romantische Botin« von Mrs Carter und brachte ihr, zuerst für fünfzig, dann für siebzig Pence, schließlich sogar für ein großzügiges Pfund ihre Lektüren aus Mr Ormonds Geschäft in der Stanmore Road. Es war eine lehrreiche Zeit. Nicht nur, weil ich rasch herausfand, wie man mit Geld umgeht (nämlich sparsam und raffiniert), sondern auch, weil ich mich mit Mrs Carters Heften gerne vor oder nach meinem Besuch des Zeitschriftenladens noch ein paar Minuten auf den Kirchhof am Chapel Court stahl, um selbst darin zu lesen. Es gab in dem prächtigen Grabmal der Countess of Granburch, das man eher als Mausoleum bezeichnen musste, eine steinerne Bank, auf die man sich, vor fremden Blicken wohlverborgen, setzen konnte, auch wenn man, nun ja, keine derer von Granburch war. So lernte ich allerlei über die großen Gefühle, was vermutlich heute noch meine Neigung zu romantischem Überschwang erklärt. Ob Mrs Carter es damals geahnt hatte? Wir haben nie darüber gesprochen.
Wenn ich mit den neuen Heften bei ihr eintraf, empfing sie mich stets mit einem wissenden Lächeln, manchmal auch mit einem Cupcake und einer Tasse Tee. Sie fragte mich dann neugierig darüber aus, wer mir unterwegs begegnet war, mit wem ich gesprochen hatte und worüber, was ich von der neuen Farbe von McRooneys Haus hielt oder ob wir in den Ferien wegfahren würden und wohin. Und erst wenn sie alles wusste, der Tee getrunken, der Cupcake aufgegessen war und sie ihre Schuld bei mir beglichen hatte, durfte ich gehen. Manchmal blieb ich dann noch ein wenig an der Eingangstür stehen und versuchte, Mr Welcome ein paar Worte beizubringen. Zum Beispiel: »Goodbye!« Ich arbeitete mit allen Tricks. Oft behielt ich ein Stückchen von Mrs Carters Cupcake, um es ihm als Belohnung zu geben. Vergeblich: Es gab schließlich nichts zu belohnen. Ich sagte dann selbst »Goodbye« und steckte mir den kleinen Brocken in den Mund, um ihm zu zeigen, was er mit seiner Sturheit verpasste. Ich rief »Goodbye!« und ging aus der Tür, kam wieder herein und rief »Welcome!«, wiederholte das Spiel wieder und wieder. Ich versuchte, ihm wenigstens ein »Bye!« zu entlocken, weil ich bemerkt hatte, dass er stets das letzte Wort wiederholte. Aber in diesem Fall schien er sich an seine eigene Regel nicht zu erinnern. Denn selbst wenn ich etwas sagte wie: »Dann sage ich mal Goodbye!«, echote er kein »Goodbye«, sondern blickte mich nur fragend an, wartete, bis ich die Tür öffnete, und grüßte dann ungerührt, wie er es immer tat, mit: »Welcome!«
Trotzdem wurden wir im Laufe der Zeit Freunde. Auch wenn ich in der ersten Zeit noch großen Respekt vor ihm hatte, vor allem vor seinem Schnabel. Wann immer ich Mrs Carters Haus betrat, freute ich mich, seinen Gruß zu hören, und grüßte zurück. Ich fragte ihn auch, wie es geht. Worauf er mich zurückfragte.
»Mr Welcome! How are you?«
»You?«
So was verbindet.
Natürlich wuchs mir auch die alte Dame ans Herz. Mrs Carter hatte zwar eine böse Zunge und einen gefährlichen Verstand, aber wenn sie sich einmal entschlossen hatte, jemanden zu mögen und ihm zu vertrauen, dann gab es da durchaus auch eine weiche Seite an ihr. Außerdem habe ich niemals jemanden erlebt, der besser zuhören konnte als sie, und das nicht nur, weil sie verstand zu schweigen, wenn andere redeten, sondern auch, weil sie aus irgendeinem Grund die Gabe hatte, ihr Gegenüber dazu zu bringen, sich ihr völlig zu offenbaren.
Das ging ganz beiläufig! Sie bat einen, ihr eine Tasse aus dem Regal zu reichen oder die Zeitung aus dem Flur zu holen, man half ihr, die Vögel zu füttern oder Linsen auszulesen – und schon berichtete man ihr von den geheimsten Gedanken und von den größten Peinlichkeiten. »Und du hast es deinen Eltern nicht gesagt, nehme ich an«, sagte sie etwa, womit sie sich auf die unaufdringlichste Weise zur Verbündeten machte. Was sollte man anderes antworten als: »Natürlich nicht! Sie würden es nie verstehen.«
»Vielleicht doch?«, schlug sie vor.
»Na ja, Mum vielleicht«, antwortete man. »Oder doch eher Dad. Er ist eigentlich der Harmlose von den beiden, wissen Sie?«
»Hm. Ein braver Mann. Ich habe tatsächlich noch nie etwas gehört …« Kein Gerücht über meinen Vater zu kennen, bedeutete im Falle von Mrs Carter schon etwas. »Aber lassen wir das«, sagte sie. »Was würde denn schlimmstenfalls passieren?«
»Na ja, ich würde Hausarrest bekommen, schätze ich.«
»Hausarrest. Soso. Das heißt: Kein Rausgehen in der Freizeit, richtig? Aber zur Schule dürftest du doch sicherlich?«
Ich lachte. »Zur Schule müsste ich sogar!«
»Und zur Arbeit?« Auf meinen verständnislosen Blick erklärte sie: »Nun, du arbeitest für mich, nicht wahr? Ich denke, sie wären nicht einverstanden, wenn du deine Arbeit vernachlässigst.«
»Sie meinen: Ihre Einkäufe bei Mr Ormond erledigen?«
»Zum Beispiel«, sagte sie. »Oder meinen Korb tragen. Gegen Bezahlung natürlich.«
»Ihren Korb?«
»Cupcakes. Ich möchte morgen mal wieder eine Runde durch den Ort drehen. Aber der Korb wird mir langsam zu schwer. Und wenn ich bis zu den Rosenbergs kommen möchte …«
»Zu den Rosenbergs?«, entwischte es mir.
Sie lächelte. »Aber sicher«, sagte sie. »Ruth Rosenberg ist eine alte Freundin von mir. Kennst du ihre Söhne?«
Ich räusperte mich. »Mhm«, machte ich. »Samuel. Und vor allem David.«
»Natürlich«, sagte sie wissend. »David. Vor allem. Soweit ich weiß, liebt er Cupcakes.« Ihre Augen schienen mich geradezu zu durchleuchten. »Ein hübscher Junge, nicht wahr?«
»Hm«, machte ich, denn was sollte ich dazu schon sagen. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich seit der ersten Klasse unsterblich in David Rosenberg verliebt war, der so ganz anders war als all die anderen im Ort: nämlich nicht fußballbegeistert, sondern ein eifriger Leser dicker Bücher, ein stiller, freundlicher, schüchterner Zwölfjähriger mit großen, klugen Augen und beeindruckendem Lockenkopf. »Ich kann es versuchen«, sagte ich. »Dass ich arbeiten darf.«
»Sehr gut«, befand Mrs Carter. »Davon werden wir beide etwas haben.«
So kam es, dass ich mit der Zeit nicht nur für die alte Dame unterwegs war, sondern immer mal wieder auch mit ihr. Dann trug ich ihren beeindruckenden Weidenkorb, in dem sie sicher an die fünfzig hübsche Cupcakes untergebracht hatte, und wir marschierten von ihrem Cottage am südlichen Ende von World’s End – unser Ortsteil hieß wirklich so, der größere Teil des Dorfes hörte auf den Namen Beedon – die Oxford Street hinunter bis zum östlichen Ende, drehten dort um, bogen dann in die Old Bothamstead Road ein und zuletzt in die Stanmore Road, um an jeder Tür zu klingeln und Gebäck zu verteilen und zu plaudern. Das konnte durchaus bis in die Abendstunden dauern, je nachdem, wer alles zu Hause war und wie viel es zu besprechen gab. Stolze zwei Pfund wurden mir dafür zuteil – und jede Menge Erkenntnisse.
Mein Verhältnis zu Mr Welcome war in der ersten Zeit ein zwiespältiges: Einerseits faszinierte mich dieser wunderschöne, große Vogel, der einen schon zu erwarten schien, wenn man zur Tür hereinkam. Andererseits hatte ich lange Zeit etwas Angst vor ihm, vielleicht auch, weil mich Mrs Carter gewarnt hatte, er könnte mir einen Finger abzwicken. Doch mit den Monaten wuchs mein Vertrauen. Und irgendwann lächelte ich schon, während ich noch die Tür öffnete, weil ich wusste, gleich würde mich die bekannte Stimme grüßen.
Bei meinen Versuchen, Mr Welcome ein paar Wörter beizubringen, fand ich zumindest heraus, was er besonders gerne aß. Und ich entdeckte ein Detail, das mir vorher nicht aufgefallen war: Der Vogel trug einen ganz besonderen Ring am Bein, einen goldenen mit einem kleinen roten Stein. »Das ist ein Rubin«, erklärte mir Mrs Carter eines Tages. »Und der Ring selbst ist aus Gold.«
»Haben denn Vögel Goldringe?«, fragte ich und musterte die anderen, die in den Käfigen rings um uns saßen, während wir im Wintergarten eine Tasse Tee zu uns nahmen.
»Nein, natürlich nicht«, sagte die alte Dame. »Da ist unser Freund sicher die große Ausnahme.« Sie nannte ihn nie »Mr Welcome«, natürlich nicht, zu dem Namen war er schließlich erst später gekommen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ab wann ich ihn selbst so genannt habe. Was ich weiß, ist, dass ich einmal Michael mitnahm, als ich Mrs Carter besuchte. Nicht weil ich es wollte, sondern weil er sich erhoffte, sie könnte auch für ihn einen Job haben.
»Welcome!«, krähte der Vogel, als wir eintraten.
Und mein Bruder stand wie angewurzelt in der Tür und starrte ihn mit offenem Mund an.
»Welcome!«, grüßte auch ich und winkte Michael, mit mir zu kommen. Mrs Carter hatte mir zu der Zeit bereits einen Schlüssel zu ihrem Cottage überlassen. Allerdings rührte sich Michael kein Stück, sondern schien geradezu paralysiert von dem Tier, das ihn mit großen runden Augen anblickte und vielleicht ja tatsächlich hypnotisierte. »Er hat mich begrüßt«, sagte er.
Ich nehme an, Mr Welcome warf an dieser Stelle ein »Begrüßt?« ein.
»Er begrüßt jeden«, erklärte ich lässig.
»Wow!«, sagte Michael. »Er kann reden?«
»Er ist ein Papagei«, stellte ich fest, als wäre damit alles gesagt. Was es nicht war. Es war zum Beispiel nicht damit gesagt, dass er ein äußerst eigenwilliger Vogel war, der nur wiederholte, aber nicht lernte.
»Hast du es ihm beigebracht?«, wollte Mike wissen, während wir hinüber in die Wohnküche gingen, in der sich Mrs Carter meistens aufhielt, wenn sie nicht im Wintergarten ihre Hefte las.
»Nein«, sagte ich. »Das konnte er schon. Ich nehme an, Mrs Carter hat es ihm beigebracht.« Nur: Wie hatte sie das geschafft? Und weshalb gelang es mir nicht, ihm noch mehr beizubringen. Wenn er »Welcome« hatte lernen können, musste er doch auch andere Wörter zu lernen in der Lage sein!
»Und was hat er sonst so drauf?«, fragte mein Bruder neugierig.
»Nichts«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Er kann nur ›Welcome‹. Und er kann wiederholen, was du sagst. Aber er kann sich nichts merken.«
»Welcome«, flüsterte Michael. »Hm. Vielleicht ist es sein Name?«
»Mr Welcome?«, lachte ich. »Vielleicht.«
»Ich werde ihm was beibringen«, verkündete mein Bruder, als wir vor der Tür zur Wohnküche stehen blieben. Es war ein kühler Tag im Spätherbst, Mrs Carter hatte die Türen im Haus alle geschlossen, um die Wärme in den geheizten Räumen zu halten. »Zuerst lasse ich ihn alle Namen der Spieler von Everton lernen. Und vielleicht ein paar von Liverpool.« Klar. Mike war so fußballversessen wie alle Jungs in seinem Alter. Den FC Everton liebte er. Liverpool liebten alle.
»Probier es«, forderte ich ihn auf. »Ich bin gespannt, ob du’s schaffst.«
Natürlich schaffte er es nicht. Womit der Vogel für ihn kein Thema mehr war. Zunächst.
Rückblickend denke ich manchmal, alles, was mir damals widerfuhr, folgte einem großen Plan, den Mrs Carter für mich ausgeheckt hatte, vielleicht auch für ihren Papagei. Das werden wir wohl nie erfahren. Nachdem sie mich in die Welt der hochromantischen, aber gewiss nicht hohen Literatur eingeführt und mich zugleich zur Geschäftsfrau gemacht hatte, machte sie mich nach und nach mit ihren Vögeln vertraut und mit den Eigenheiten jeder Art, seien es die scheuen Zebrafinken oder die zänkischen Wellensittiche, die empfindlichen Kanarienvögel oder die putzigen Nymphensittiche. Ich lernte, sie alle zu unterscheiden, ging Mrs Carter zur Hand, wenn sie die Käfige putzte oder den Tieren Wasser gab, wenn sie die Bäder frisch machte, Fischbein anbrachte und natürlich das Futter auffüllte – für jede Art etwas anderes und oft auch mit kleinen Variationen von Käfig zu Käfig. Denn längst nicht jeder Wellensittich hat die gleichen Vorlieben und längst nicht jeder Zebrafink gibt sich mit demselben zufrieden. Es gab einige Tiere, die mir bereitwillig aus der Hand fraßen. Andere ließen sich kaum dazu herab, mich auch nur zu ignorieren. Aber manche, das glaube und hoffe ich zumindest, freuten sich sogar, wenn sie mich sahen und wenn ich ihnen Aufmerksamkeit schenkte. Es war eine schöne, friedliche Zeit, die aber nur etwa drei Jahre währte.
Ich erinnere mich sehr gut, wie ich an einem Abend Ende Februar zu Mrs Carters Cottage kam. Die Schule war etwas früher aus gewesen, es nieselte, auf dem Dorfweiher schwamm altes Laub, das ein scharfer Wind in der Nacht aus dem angrenzenden Buschwerk geweht hatte. Ich war in Gedanken ganz bei David Rosenberg, den ich an diesem Tag mit einer Ausgabe von Stolz und Vorurteil auf dem Schulhof gesehen hatte. Stolz und Vorurteil! Konnte man das glauben?
Obwohl es also noch relativ früh war, hing schon die Dämmerung über World’s End. Das kleine Häuschen in 17
