mit Abstand - Rainer Helms - E-Book

mit Abstand E-Book

Rainer Helms

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Beschreibung

Im Jahr 2083 begleiten wir drei Erdflüchtlinge und erhalten Einblicke in ihr unter immensem Druck stehendes Denken und Fühlen und wegen des großen Abstandes vielleicht auch andere Blicke auf das Heute.

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Seitenzahl: 352

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


für Carla, Friedrich und Max

Inhaltsverzeichnis

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Tag 8

Tag 9

Tag 10

Tag 11

Tag 12

Tag 13

Tag 14

Tag 15

Tag 16

Tag 17

Tag 18

Tag 19

Tag 20

Tag 21

Tag 22

Tag 23

Tag 24

Tag 25

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Tag 28

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Tag 30

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Tag 34

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Tag 39

Tag 40

Tag 41

Tag 42

Tag 43

Tag 44

Tag 45

Tag 46

Tag 47

Tag 48

Tag 49

Tag 50

Tag 51 bis 59

Tag 60

Tag 61

Tag 161

Tag 162

Tag 163

Tag 164

Tag 240

Tag 241

Tag 242

Tag 243

Tag 244

Tag 245 bis Tag 250

Tag 251

Tag 252

Tag 1

Nachdem der Anschub nachgelassen und der Permanentflug begonnen hatte, blieben die Drei noch fast eine Stunde erschöpft und wortlos in ihren Sesseln liegen. Die gerade beendete Flugphase war doch um vieles anstrengender gewesen als man es ihnen gesagt hatte. Sie hatten vorher zwar alles was ihnen dazu greifbar war, akribisch studiert, aber sie waren deshalb noch lange nicht auf dem Stand eines ausgebildeten Astronauten. Das war aber auch nie ihr Ziel gewesen, denn sie wollten lediglich diesen Flug irgendwie überstehen.

Noch schwer atmend standen sie dann mühsam auf und halfen sich gegenseitig ihre altmodischen Druckanzüge auszuziehen. Das dauerte, obwohl sie das schon mehrfach geübt hatten, doch länger als auf der Erde. Die körperliche Anstrengung, aber auch die mit ihrem ersten Flug verbundene Aufregung, forderten jetzt ihren Tribut. Als die Anzüge endlich wie verlorene Schneckenhäuser um sie herum auf dem Boden lagen, standen sie sich gegenseitig von oben bis unten musternd in ihren grauen Baumwolloveralls etwas unschlüssig gegenüber. Dann lachten sie laut los, rissen freudig ihre Arme hoch und tänzelten, sich dabei abwechselnd auf die Schultern schlagend, wie Kleinkinder im Kreis. Die erste Stufe war geglückt! Sie umarmten sich ungestüm und alle hatten Tränen in den Augen.

„ Ich bin Mike, hallo!“

„ Hallo, ich heiße Sala!“

„ Ebenfalls hallo, ich bin Bea!“

Sie hatten sich in der Woche vor dem Abflug zwar schon mehrmals gesehen, sich aber bei den kurzen Begegnungen kaum persönlich kennengelernt, denn diese wenigen Tage waren bis oben hin vollgepackt mit vielerlei Test- und Unterweisungseinheiten. Diese Vorbereitungsmodule war auch nur angelegt, um sie mit dem unbedingt erforderlichen technischen Wissen für solch eine Reise auszurüsten, nicht aber, um sie menschlich zueinander zu bringen.

Und so musterten sie sich jetzt noch einmal ausgiebig. Und es war ihren Gesichtern dabei unschwer anzusehen, dass sie sehr froh waren über diese Auswahl, auf die sie ja leider keinerlei Einfluss gehabt hatten und es somit hätte auch anders kommen können! Und zweihundertsechzig Tage in der Enge eines Raumschiffes, die wollen erst einmal gemeistert werden. Mike fragte deshalb auch sofort :

„ Wart Ihr auch bei einem prophylaktischem Verträglichkeitstraining?“

„ Ich war drei Wochen in der Nähe von Paris.“, antwortete Bea etwas verstört und Sala sendete, sich dabei fast entschuldigend :

„ Ich habe ein paar Module absolviert, auf dem Balkan. Jeweils ein bis drei Tage.“

Mike lachte sie freundlich an :

„ Hauptsache, wir haben es erst einmal hierher geschafft. Die jetzt kommenden Monate werden wir schon irgendwie packen…Früher mussten die echten Astronauten vor dem Flug in ihren Vorbereitungscamps monatelang in vollkommener Abgeschiedenheit zusammenhocken und danach gingen dann dieselben Leute miteinander auf die Reise. Die konnten sich doch schon vorher nicht mehr riechen!“

Bea sah Mike verwundert an. Das, was der da jetzt sagt, das ist doch in diesem Augenblick völlig unwichtig! Und außerdem ist das alles bekannt, nicht umsonst gab es ja die Vorbereitungsmodule, und sie entgegnete ihm :

„ Da habe ich aber erst einmal ganz andere Sorgen.“

Mike wusste das natürlich selbst, dass anderes jetzt viel wichtiger ist. Aber er hatte auch nur irgend etwas sagen wollen. Immerhin besser, hatte er geglaubt, als sich in diesen ersten Minuten bloß stumm anzustarren.

„ Entschuldigung, Du hast selbstverständlich recht. Eigentlich interessiert mich auch viel mehr, warum Ihr hier seid. Und auch, wie Ihr das geschafft habt, diesen Flug zu bekommen. Immerhin ist es einer der letzten und damit auch einer der begehrtesten Flüge. “

Weshalb dieser Mann Bea mit seiner Fragerei jetzt so nervte, das hätte sie selbst noch nicht einmal begründen können, dennoch fragte sie ihn provokativ :

„ Was hält Dich davon ab? Du könntest ja mit der gegenseitigen Vorstellung beginnen! Warum also bist Du hier und wie hast Du das geschafft?“

Mike war noch genauso durcheinander wie die anderen beiden und eine solche, wohl rein rhetorische Gegenfrage hatte er nicht erwartet. Aber spätestens jetzt ahnte er, wie kompliziert eine stimmige Antwort auf seine so harmlos scheinende Frage sein wird. Und in diesem Augenblick wusste er noch nicht einmal, ob er das dazu zu Sagende denen überhaupt sagen sollte. Schon so lange traute er, ein paar enge Freunde ausgenommen, eigentlich gar keinem mehr so richtig über den Weg. Warum sollte er nun gerade diesen zwei Frauen da trauen? Nur weil sie mit ihm jetzt hier waren? Ihre und seine momentan schlechte Verfassung kam ihm für eine Ausflucht entgegen :

„ Später will ich das alles gerne genauer erzählen, jetzt aber bin ich ziemlich fertig und es muss vorerst reichen, wenn ich dazu in diesem Augenblick nur sage, dass Ich unendliches Glück gehabt habe. “

Die beiden Frauen nickten bloß. Auch sie wollten darüber in diesem Augenblick nicht reden, zumal auch sie gerade eine bleierne Müdigkeit überfiel.

Auf eine Erfrischung hoffend, fragte Bea :

„ Ob es hier so etwas wie funktionierende Duschen gibt? In diesen komischen Baumwolldingern kommt man ganz schön in Schwulitäten!“

„ Da gibt es nur zwei Möglichkeiten “, schlug Mike betont versöhnlich vor, „ entweder wir suchen eine zugehörige Informationsdatei oder wir machen uns auf zu einer Besichtigung unseres Dampfers …“

Die beiden Frauen antworteten ihm nicht, sondern gingen einfach los. Mike konnte ihnen nur kopfschüttelnd folgen.

Dass diese Mission lediglich ein einfacher Routine-Lastenflug war und sie nur geduldete Mitfliegende der untersten Kategorie, das wussten sie. Und dass dieses uralte Raumschiff schon seit einiger Zeit seine Flüge ohne Begleitmannschaft, also ganz autark flog, das wussten sie auch. Aber ebenfalls hatten sie in Erfahrung bringen können, dass genau dieses Raumschiff so etwas wie ein Reserveraumschiff war und dass deshalb alle Einrichtungen für eine eventuelle Begleitmannschaft darauf belassen worden waren.

Nun sollte es sich zeigen, ob dem wirklich so ist. Auf jeden Fall, das ergaben schon ihre ersten abtastenden Blicke, war hier nichts pompös wie auf den Raumschiffen, die man in den Werbefilmen sehen konnte, sondern alles war lediglich rein funktional und es gab auch nur eine Farbe : militärisches Grün. Das war, obwohl sie so etwas erwartet hatten, trotzdem äußerst deprimierend. Und Mike sah es den Frauen an, wie sie deshalb von Minute zu Minute immer kleinlauter wurden. Er sagte darum zu ihnen, aber auch um sich selbst ein wenig Mut zu machen :

„ Mein inzwischen verstorbener Großvater, der hat sein ganzes Leben lang von seiner einzigen Seereise geschwärmt. Aber der hatte für ein Luxusschiff einfach kein Geld gehabt und konnte deshalb nur mit einer sogenannten ‚Hurtigrute‘ reisen. Das waren auch bloß einfache Lastenschiffe, aber er war trotzdem begeistert. Es war die schönste Reise der Welt, unvergesslich, hat er so oft zu uns gesagt! Vielleicht sagen wir das auch einmal von dieser Reise, von unsrem Frachtschiff hier!“

Die Frauen lächelten ein wenig und Bea fragte :

„ Dem ging es ja dann so ähnlich wie uns, oder seid Ihr etwa vermögend?“

Auf eine Antwort wartend blickte sie zuerst zu Mike und dann zu Sala. Die antwortete ohne lange Überlegung :

„ Ich bin Ärztin und hatte von allen Antragstellern die meisten Ersatzorgane in und an mir. Alle mit hundert Prozent Funktionsfähigkeit. Und das war angeblich der einzig ausschlaggebende Grund dafür, dass ich diese Reise antreten darf. Aber nur für die Entscheider, für mich nicht!“

Bea überging den einschränkenden Zusatz und fragte :

„ Was hast Du denn alles ersetzt bekommen, wenn ich fragen darf?“

„ Herz, Leber, Milz, ein Lungenflügel, Bauchspeicheldrüse, Zähne ja sowieso, ach, und die Galle…“

Sie überlegte kurz und ergänzte dann :

„ Na ja, und dann habe ich noch einen doppelten Ergänzer.“

Mike wollte unbedingt verhindern, dass er in diesen ersten Minuten des freien Fluges in ein emotionales Loch fällt und fragte, nur um sich damit selbst ein wenig abzulenken, scheinbar sehr interessiert :

„ Ich habe mich schon gewundert, dass Dein Ergänzer so ungewöhnlich dick aussieht, aber wenn das zwei sind, dann ist das ja erklärbar. Aber warum hast Du denn zwei?“

Sala strich sich mit der Handfläche über ihre Ergänzer. Zusammengenommen liegen da höchstens zwei Millimeter auf der Kopfhaut, so dick sind die doch gar nicht, dachte sie, und wusste deshalb nicht, ob, oder wie sie darauf antworten sollte. Aber dann entschloss sie sich, das mit dem zweifachen Ergänzer ernsthaft zu erklären :

„ Also, diese doppelte Ausbildung zu erproben, das ist eine meiner Aufgaben, insbesondere auch hier oben. Eure Ergänzer sind ja alle noch aus Kunststoff, jedenfalls das Trägermaterial für die Platinen. Genau wie mein unterer. Aber der obere, der hat gar keine elektronischen Speicherelemente mehr, der besteht vollkommen aus organischem Material und seine Speicherfähigkeit soll damit etwa zehntausend mal größer sein. Aber niemand weiß bisher, wie sich dieser organische Zellspeicher im Weltraum und dann auch auf dem Mars verhalten wird. Deshalb habe ich als Ersatz auch noch den ersten behalten müssen. Und da der Anschluss des organischen an meinen Körper anoperiert wurde, könnte ich die Dinger nicht beliebig wechseln.“

Mike war jetzt ernst geworden. Er hatte wohl auch sie mit seiner oberflächlichen Fragerei verärgert, aber das hatte er auf keinen Fall gewollt. Sie sieht so toll mit dem Ding aus, dachte er. Eigentlich gleicht der organische Ergänzer fast hundertprozentig einer normalen Haut. Sie ist damit viel besser dran als wir mit unsren Allerwelts-Ergänzern. Er sah sie um Verzeihung bittend an, wollte aber trotzdem noch weitere Fragen loswerden :

„ Ich habe mich bestimmt falsch ausgedrückt, Du siehst sehr gut damit aus! Aber ich hätte doch noch etwas dazu : Merkst Du denn, dass der organische schneller ist? Und haben die beiden schon einmal im Wechsel oder zusammen gearbeitet?“

Obwohl sie im Augenblick viel mehr all das Neue um sie herum interessierte, versuchte sie so schnell wie möglich, aber trotzdem freundlich zu antworten :

„ Das waren ja gleich mehrere Fragen…Von deren Zusammenarbeit merke ich nichts. Noch nicht einmal, ob beide gerade arbeiten oder nur einer. Auf jeden Fall aber ist diese Konfiguration unheimlich schnell und die Abrufe sind viel plastischer und genauer. Und die Übertragungsweite ist bedeutend größer. Ich glaube, der organische arbeitet jetzt ganz alleine, aber ich soll das gar nicht wissen, sonst wäre die Begutachtung nicht objektiv…“

Mike schien es kurz so, als wenn sich bei Sala gerade die Lippen bewegt hätten, so als wenn sie damit ein Wort formen wollte, ähnlich wie man es früher gemacht hatte um zu sprechen. Aber das würde sie nie tun, da muss ich mich geirrt haben, dachte er dann, denn sie lebt ja offensichtlich voll in der Jetztzeit und sie wirkt keineswegs rückwärtsgewandt. Aber ‚Lippen‘ war jetzt trotzdem das Stichwort, das ihn zu einer neuen Frage animierte :

„ Jetzt will ich mal nicht nur Sala fragen, sondern auch Dich Bea. Wie kommt Ihr mit diesen neuen Zungenkränzen zurecht, die sie uns kurz vor dem Abflug noch aufgenötigt haben? Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass die nur noch so feine Frequenzen haben?“

Die Frauen schienen anderes als viel wichtiger zu empfinden und Mike hatte Mühe, ihnen zu folgen. Bea war bereits zwei Schleusen weiter und hatte wohl ihren Ergänzer nicht laufen lassen, denn erst als sie sich jetzt umdrehte, sah sie an Mikes Mimik, dass der sie etwas gefragt haben musste.

„ Sorry, ich lasse mir gerade einiges erklären. Das ist unheimlich spannend. Hast Du mir etwas übermittelt?“

Nachdem Mike die Frage noch einmal gestellt hatte, lächelte sie und antwortete, mit einem Schulterzucken in Richtung Sala :

„ Ja, ja das Gefühl hatte ich zuerst auch, aber ich habe mich schnell daran gewöhnt und ich finde diese neuen Zungenkränze irgendwie frischer. Ich spüre meinen gar nicht mehr, nur wenn ich ihn herausnehme…“

Sie kam nicht zu Ende mit ihrer Einschätzung, denn Sala war dazu etwas eingefallen :

„ Es ist ja nun auch schon so einige Jahre her, aber in einem meiner damaligen Module, es hieß Medizingeschichte, da haben sie Dinge gezeigt, da wäre uns allen beinahe schlecht geworden, vor Ekel. Dass wir früher, das heißt die Menschen damals, alle noch Zähne hatten, das weiß ja wahrscheinlich jeder, aber dass die Dinger andauernd kaputt gingen und unheimliche Schmerzen verursachten, dass wissen nur noch Wenige. Es gab dafür extra Ärzte, sogenannte Zahnärzte! Und die haben sie uns gezeigt, natürlich keine echten, aber echte Filme von damals. Darin konnte man sehen, wie diese Zahnärzte versucht haben, diese ekelhaften Zähne irgendwie zu reparieren. Ich glaube nicht so richtig, dass das geklappt hat, aber diese ‚Zahnärzte‘, die gab es nachweislich!“

„ Interessant.“, konnte Mike nur senden und gratulierte sich innerlich, nicht Arzt geworden zu sein, denn solche Filme hätte er sicherlich nicht ausgehalten.

Bea hob den Arm. Dann zeigte sie auf die vor ihr befindliche Wand.

„ Soll ich Euch jetzt mal parallel schalten? Ich lasse mir gerade dazu etwas erklären!“

In der Parallelschaltung sahen dann alle Drei die von ihr angesprochene Erklärung. Dieses Wandstück, so stand es dort, kann auf etwa fünf mal drei Meter durchsichtig gemacht werden. Sie konnten das kaum glauben und wollten es sofort ausprobieren. Und augenblicklich standen sie dann fassungslos und scheinbar durch nichts mehr davon getrennt, vor dem unendlichen Weltraum. Der Durchblick war so klar und so plastisch, dass sie sofort ein paar Schritte zurückwichen, um nicht, wie sie es eine zehntel Sekunde lang befürchteten, in das Unendliche hinauszufallen.

„ Phantastisch!“, entfuhr es Sala, „ Gigantisch! Es ist nicht zu glauben! Und wir unterhalten uns hier über Belanglosigkeiten, als wenn wir in irgendeinem Gartenlokal säßen! Wir sind aber im Weltraum! Im Weltraum! Wir müssen das endlich begreifen : wir sind hier und fliegen zum Mars!…Ich denke, wir können das noch gar nicht ganz begreifen …“

Wie recht sie damit hatte! Auch die anderen beiden hatten es noch nicht verarbeitet, noch nicht verarbeiten können, dass sie jetzt wirklich hier und nun wirklich zum Mars unterwegs waren. Dorthin, wo sie glaubten, dass es dort besser sein wird. Sie schwiegen und sahen andächtig in den unendlichen Weltraum. Nicht nur ihre Blicke, auch ihre Gedanken verloren sich damit nach und nach in der Ferne. Bis Bea dann den beiden, immer noch in sich Versunkenen, einen Vorschlag sendete :

„ Ich denke, vor dieser wunderbaren Aussicht sollten wir immer unsere Energie aufnehmen!“

Aber keiner antwortete.

Erst nach der Abkehr von den Milliarden von Unendlichkeiten kam Mike dann als erster langsam wieder in die Realität zurück :

„ Apropos Energieaufnahme, ja dieser Ort wäre sehr gut dafür und wir sollten dann mal schnell in unsere Ergänzer die gleichen Zeiten dafür einspeichern! Oder wollt Ihr Eure Energie doch lieber für Euch alleine aufnehmen?“

Die Frauen schüttelten mit dem Kopf und alle Drei glichen sofort die Einspeisezeiten ab. Auf fünfzehn Uhr hatten sie sich dabei geeinigt. Das würde gut in den Tagesablauf passen und sich auch mit keinerlei Schlafenszeit kreuzen.

Nachdem sie das erledigt hatten, wendete sich Sala, freundlich lächelnd, aber trotzdem sehr bestimmt, an Mike :

„ Und was bist Du nun für einer? Ich will das jetzt auch wissen. Wo kommst Du her, warum bist Du hier?“

Mike überlegte, wie er dieser erneuten Hinterfragung möglichst diplomatisch ausweichen könnte, und glaubte dann, eine profane Zusammenfassung wäre dafür allemal hinreichend :

„ Ich bin aus Dänemark. Zuerst habe ich so um die vierzig Module Physik belegt, und dann habe ich mir anschließend noch mal fünfzig Module Ingenieurswissenschaften gegönnt. Beruflich war ich dann nicht ganz erfolglos. Aber trotzdem hat man mir auf meinen Ausreiseantrag hin leider nur eine minimale Anforderung zukommen lassen. Eine Zweitausender Anforderung. Aber ich hoffe, dass ich mich da oben so nützlich machen kann, dass sie die noch verlängern. Und ich sage es ganz ehrlich, hier kann man das jetzt ja wohl : Ich habe keine Lust mehr auf die Erde! Diese scheiß Erde, Entschuldigung, mit ihrem Dreck und den andauernden Kriegen und der ständig versauten Luft! Ich habe das so satt!“

Die Frauen konnten ihm ansehen, wie schwer im dieses Eingeständnis gefallen war.

„ Zweitausend Tage, das ist nicht viel,“ sinnierte Bea, „ ich sollte auf meinen Ausreiseantrag zuerst auch nur eine kleine Anforderung bekommen, allerdings eine Achttausender, aber die ist zum Glück dann noch erweitert worden auf eine Dreißigtausender,…und was danach kommt, das wird man sehen, das ist noch lange hin…Ach, was ich bin? Ich bin Biokoordinatorin, speziell Ergänzerkoordinatorin, also jemand, der für ein gutes Miteinander unter uns Ergänzerträgern sorgen soll. Ja Mike, und da hast Du recht, das mit den Kriegen da unten, das ist so fürchterlich. So schlimm. Ich denke, das könnte etwas besser werden, wenn alle einen Ergänzer hätten. Aber manche wollen ja keinen. Sie haben Angst, dass sie dann von irgend jemand gesteuert werden…Ich als Fachfrau weiß, dass es technisch unwahrscheinlich aufwändig ist, einen Ergänzer zu knacken und deshalb nur in sehr, sehr wenigen Extremfällen zur Anwendung gelangt.. Aber mit solchen Leuten kann man nicht ins Gespräch kommen. Die glauben irgend etwas, und daran wollen sie weiter glauben. Es ist schlimm. Aber auf den Mars darf man gar nicht mehr ohne Ergänzer leben. Und die schon sehr früh da waren, die sind inzwischen alle damit nachgerüstet worden…Sonst würde das ja auch gar nicht mehr gehen da oben. So viele Menschen auf so engem Raum, die würden sich ohne Ergänzer wahrscheinlich gegenseitig auffressen!“

Sie musste im Stillen über ihren eigenen Witz lachen, aber sie wusste, das war kein Witz. Aggressionen aller Art, das war bisher ihr täglich Brot gewesen.

Interessante Frau, dachte Mike, ich sollte ihr irgendein Kompliment machen, aber stattdessen fragte er sie :

„ Weißt Du denn genau, wie viele inzwischen da oben sind?“

„ Genau zwölftausendachthundertundzwölf.“

„ Und wieviele davon…“

Bea unterbrach Mikes gesendete Frage, hob ihren Zeigefinger, und sendete an alle beide eine Datei mit den genauen Angaben über die demographische Verteilung auf dem Mars, Stand gestern, 12.03.2083.

„ Weißt Du auch wie viele von den Kindern schon dort oben geboren worden sind?“

„ Sieh mal in Datei vier auf der rechten Seite!“

Mike staunte.

„ Das ist ja doch allerhand! Neunhundertertachtundvierzig! Das hätte ich nicht gedacht!“

Die ganze Zeit, auch während sie sich unterhielten, betrachteten sie mit größter Aufmerksamkeit die vielen Ungewöhlichkeiten, die sie beim Abschreiten dieses alten Lastenraumschiffes rings herum sahen. Ihre Ergänzer mussten bestimmt glühen, soviel hatten die heute aufzunehmen und zu bewerten.

Mike wollte das Gespräch mit Bea nicht abreißen lassen. Sie gefiel ihm in ihrer offensichtlich faktenbasierten und klugen Sicht auf die Dinge und er hatte Angst, jetzt etwas anzustimmen, was sie vielleicht wieder nicht interessieren würde. Aber dann fiel ihm etwas ein, was im entfernten Sinne auch etwas mit der Erfassung von demographischen Daten zu tun hat :

„ Bea, ich habe gerade, noch kurz vor unserem Abflug, von einem Freund gehört, dass die Abstimmung bezüglich des Entfalls der Altersangaben mit großer Mehrheit positiv gelaufen ist.“

Bea drehte sich um, sah Mike mit ihren wunderschönen blauen Augen an und fragte ganz trocken .

„ Was heißt positiv? Und welche Region betrifft das?“

Mike merkte, wie ungenau er sich ausgedrückt hatte und war froh, noch keinen dieser neuen Ergänzer zu haben, denn der wäre jetzt bestimmt vor Scham rot geworden und er ergänzte schnell :

„ Altersangaben entfallen nun vollkommen. In unserer Region und auch in der südlichen Region.“

„ Aha. Gut so. Ich empfand das sowieso als längst überfällig. Manche mussten ja etliche Zahlen dabei angeben. Schrecklich!“, entgegnete Bea und sah dabei Sala an.

Als davon Betroffene antwortete die sofort :

„ Ja, ja, davon kann ich ein Lied singen. Jedes Mal die Angabe des Grundalters und für jedes ausgewechselte Organ die Angabe des speziellen Alters. Das war bei mir eine lange Liste. Wirklich schrecklich! Aber ich habe es dann nur noch gemacht, wenn es ausdrücklich so verlangt wurde. Vom Ergänzer durfte das ja nicht gespeichert und bei Bedarf automatisch gesendet werden. Wegen des Datenschutzes! Ein weiterer Blödsinn! Zum Glück ist dann wenigstens das Magenalter entfallen, denn den hat ja wohl niemand mehr, oder kennt Ihr noch irgend jemanden mit einem Magen?“

Natürlich kannte keiner jemanden mit einem Magen. Wozu sollte der denn auch noch gut sein? Vielleicht hatten ein paar sehr, sehr alte Leute noch einen, aber seitdem 2071 die totale Abschaffung von tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln endgültig beschlossen worden war, da gab es dafür ja auch keinen Grund mehr.

Sala nahm das Thema trotzdem noch einmal auf :

„ Ich weiß noch, als es um die Abschaffung des Magens ging, da war ich in der zuständigen Berufenen Versammlung. Und natürlich dafür. Aber es wäre fast schief gegangen, denn irgendwelche Spinner wollten es verbinden mit der Abschaffung des Gehirns, wollten dass die Ergänzer die Sache komplett übernehmen. Sie weigerten sich für die Abschaffung des Magens zu stimmen, wenn es nicht im Paket mit dem Gehirn geschieht.“

Mike hob seine Schultern, aber Bea konnte sich noch sehr gut an die damaligen Schlammschlachten erinnern :

„ Ja, ja, ich habe das damals mit größtem Interesse verfolgt, und mir ist es bis heute vollkommen unverständlich, wie sie das in eine Schale werfen konnten? Man kann doch ein Gehirn nicht durch einen Ergänzer ersetzen! Nur ergänzen, wie der Name es schon sagt!“

„ Ja klar, das weiß ja eigentlich jeder, denn ein Ergänzer empfindet nun mal keinen Schmerz, hat keine Emotionen und so weiter. Aber ich schwöre Dir Bea, ich kenne Leute, in deren angestammten Gehirnen wird so etwas auch nur sehr mäßig generiert! Anders kann ich mir deren Entscheidungen und Taten oft nicht erklären? Die haben Gehirne, die gar nicht den Unterschied zwischen einem normalen Gehirn und einem Ergänzer bemerken. Aber auch die haben Interessen. Und nicht immer die ehrenwertesten. “

Dass dieses Thema Sala immer noch beschäftigte, konnte sie nicht verleugnen, sie wollte das hier oben aber auch nicht mehr. Mit zu vielen persönlichen Verlusten hatten sie und ihre Gleichgesinnten damals dafür gekämpft, dass Gehirne erhalten bleiben. Aus vielerlei Quellen, dazu gehörten auch weltbekannte Forscher, wusste sie nur zu gut, wozu allein gelassene KI in der Lage ist. Zum Beispiel, dass sie mathematisch exakt zu dem Ergebnis gekommen war, dass eigentlich der Mensch der größte Feind der Erde ist, denn er hatte bis 2075 bereits 62 Prozent aller Lebewesen, 68 Prozent aller Pflanzen und 41 Prozent seiner eigenen Spezies ausgerottet. Und da war es aus Sicht der KI nur folgerichtig, dass die dann irgendwann eiskalt vorgeschlagen hatte, die Menschheit bis auf ein Minimum abzuschaffen, damit überhaupt noch etwas von ihr übrig bleibt und es für sie irgendwie weitergehen kann.

Beas jubelnde Stimme riß sie aus ihren Gedanken :

„ Ich habe sie gefunden! Das ist die Dusche!“

Der letzte Satz war schon aus der Dusche gekommen, dann hatte sich deren Verschluss aktiviert.

Aber nach kaum zwei Minuten war sie wieder heraus und stand nun nackt vor den Beiden.

„ Ein super Ding. Bei mir zu Hause muss ich nach dem Augenschliessen immer bis Zehn zählen, aber die hier gibt einen Ton und nach ganz kurzer Zeit wieder einen Ton, und das war es dann! Und irgendwie scheint es auch eine ganz andere Bestrahlung zu sein, ich habe ein viel frischeres Gefühl!“

Mikes Blicke konnten sich nicht von Beas nacktem Körper lösen und er fühlte sich plötzlich von beiden Frauen beobachtet. Krampfhaft einen Scherz versuchend, hoffte er sie von ihrer richtigen Vermutung abzulenken :

„ Na Bea, wenigstens hattest Du zu Hause schon eine mit Bestrahlung, und nicht noch eine mit Wasser!“

Bea konnte darauf nur belustigt abwinken, aber Sala fiel sofort in ihre Ernsthaftigkeit wieder zurück :

„ Das war damals auch so ein wichtiger Kampf. Auch dafür hatte ich mich in eine Berufene Versammlung wählen lassen. Da habe ich aber auch noch nicht gewusst, wie anstrengend es ist, wenn man trotz guter Argumente nicht sofort punkten kann. Millionen von Menschen wollten damals noch mit Wasser duschen! Und das, wo sie doch gar keine Stoffwechsel-Ausscheidungen mehr abgaben! Und stinken konnten sie auch nicht mehr, weil sie alle schon Bios trugen! Also warum dann diese wertvollste aller Ressourcen sich über den Kopf gießen und dann in den Abfluss rinnen lassen? Ja, das hätte doch sofort jeden überzeugen müssen! Tat es aber nicht, es hat noch endlos gedauert, bis dann das Duschen mit Wasser verboten wurde. Nicht nachvollziehbar! “

Bea war derselben Meinung, aber sie wollte Sala wieder fröhlicher sehen :

„ Bio! Wir haben immer noch nicht unsere Bios angezogen! Besonders ich!“

Sie hob mit spöttischem Blick in Richtung Mike mit ihren Händen ihre zwei wunderbar geformten Brüste an, drehte sich dann um und lief schnell zurück zu den Startsesseln.

Während die beiden ihr langsam folgten, wollte Mike, wenigstens bei Sala, nicht den nach seiner Ansicht falschen Eindruck von sich stehenlassen. Die Provokation Beas ignorierend, kehrte er deshalb jetzt den immer nur technisch Interessierten heraus :

„ Die Bios, die sie uns für diese Reise mitgegeben haben, die sind auch vollkommen neu, hast Du das schon gemerkt?“

Sala durchschaute sein Spielchen.

„ Wie denn? Wir haben sie doch noch gar nicht angehabt!“

Sie hob ihre Stirn dazu in Falten, aber Mike wollte sich nicht abbringen lassen :

„ Steht alles drauf, beziehungsweise in der Anleitung. Sie sind jetzt nicht nur antibakteriell wirkend, heizbar und farblich änderbar, nein jetzt sind sie direkt auf den Ergänzer aufschaltbar und damit kann man nun selbst nicht nur die Farbgebung, nein auch das Traggefühl bestimmen, also Rauhigkeit, Luftigkeit, Weite und so weiter! Ist doch toll, oder?“

Sala wollte noch nicht klein beigeben.

„ Na ja, auf jeden Fall werden sie bestimmt besser sein, als diese Baumwolldinger hier. “

Sie war absolut kein Technikfreak und Mike sollte es nun bitte auch sein lassen. Der aber belehrte sie :

„ Das war doch erforderlich, weil Bios sich so schlecht mit den Druckanzügen vertragen!“

Sala musste darauf nicht mehr eingehen, denn jetzt stand Bea bereits in ihrem neuen Bio vor ihnen. Stolz drehte sie sich damit vor ihnen hin und her, blieb dann aber plötzlich stehen, wahrscheinlich, weil sie gerade etwas von ihrem Ergänzer erfahren hatte. Dann strich sie unsicher mit ihrer rechten Hand über den Bio und staunte, als unter ihrer Hand, wie von einem breiten Pinsel übermalt, sich die Farbe des Bios wechselte. Sie lachte noch ungläubig, aber dann versuchte sie es am Oberschenkel, am Oberarm und am Bauch. Und je nach ihrer gedanklichen Vorgabe erschien wie von Geisterhand unter ihrer Hand die gewünschte Farbe. Die beiden verfolgten staunend Beas Experimente mit dem neuen Equipment. Die hatte es inzwischen voll verstanden und nun ritt sie abermals der Teufel. Mike breit angrienend, malte sie mit ihrem Zeigefinger auf die betreffenden Areale zwei rote Kreise und dann noch, Burstwarzen andeutend, jeweils mittig darin, zwei rote Punkte.

Jetzt war es Mike zu viel. Das habe ich nicht verdient, war er sich sicher. Ich will keinen Ärger, aber ich will auch nicht schon nach so wenigen Minuten festgelegt werden auf etwas, was ich gar nicht bin, zumindestens nicht sein will. Leise, aber sehr bestimmt, sendete er lächelnd :

„ Bea, lass es gut sein. Dass Du toll aussiehst, das weißt Du ja bestimmt alleine, aber woran Du Dich erinnern solltest, das ist an die Aufgabe, von der Du vorhin selber berichtest hast. Ich meine, die Aufgabe einer Ergänzerkoordinatorin! Und das ist, wenn ich Dich richtig verstanden habe, eine Dame, die dafür sogt, dass alles hübsch friedlich bleibt!“

Bea wischte sich mit einer schnellen Bewegung das soeben Gemalte wieder weg. Er hat recht, dachte sie. Und er ist ein Mann.

„ Stimmt genau, verzeih mir bitte! Und wir müssen, nein wir wollen, noch zweihundertsechzig Tage gut miteinander auskommen. Und das ist erst Tag Eins!“

Mit noch unsicheren Schritten in ihrem neuen Bio ging sie auf Mike zu und gab ihm zur Versöhnung einen winzigen Kuss auf die Wange. Das hatte der nicht erwartet und er bemühte sich sofort, auch einzulenken. Er zog seinen Baumwollanzug aus, zog seinen neuen Bio unter dem Flugsessel hervor, streifte ihn sich über und sendete lachend :

„ Ich werde bei mir da unten jetzt nichts draufmalen, Ihr könnt den Anblick ja auch so in guter Erinnerung behalten! Und auch für Euch, anlässlich Tag Eins und ganz platonisch!“, und noch, während er sprach, ging er zuerst zu Bea und danach zu Sala und gab beiden ebenfalls einen kleinen Kuss auf ihre Wangen.

„ Auf dass alles so wird, wir wir es uns erhoffen!“

Beide lachten und alle Drei fanden sich wieder gut.

Drei Stunden später saßen sie dann wie geplant vor dem spektakulären Weltraumblick und tankten in aller Ruhe ihre Bioenergie. Mit fast verschlafener Stimme fragte Mike in die Stille hinein :

„ Jetzt ist das Schiff ja auf neunzig Prozent Schwerkraft eingestellt, also ist es fast so wie auf der Erde. Wir müssen das nicht jetzt besprechen, aber wenn wir zu langsam auf die geforderten achtzig Prozent gehen, dann fällt es uns da oben viel schwerer. Überlegt es Euch mal.“

Es kam keinerlei Antwort, denn die beiden schliefen jetzt ganz fest. Egal, sagte er sich. Aber trotzdem, irgendwann muss ich sie daraufhin noch einmal ansprechen. Ich bin hier schließlich nicht umsonst der mit der meisten Ahnung von Technik. Daran jetzt erinnert, erhob er sich, blickte noch einmal zufrieden an seinem neuen Bio herunter, erweiterte das mit dem Ergänzer zu einem Eigenbild, sah sich an und ging einigermaßen zufrieden mit sich selbst zum Kontaktraum. Als er den vorgelagerten Durchgang passieren wollte, legte sich sofort eine Kraftsperre dazwischen und eine rot blinkende Schrift warnte : ERGÄNZER ABNEHMEN!

Mist, durchfuhr es ihn, hätte ich beinahe vergessen. Immer schön dran denken : absolute Datentrennung! Nur jetzt nicht schon irgendwelche Fehler machen! Und dann auch noch solch einen, wo doch da oben die dortige Berufene Versammlung gerade die absolute Datenzensur beschlossen hat. Klar, ein verfluchter Mist, aber die Ergänzerverweigerer bei uns da unten, mit ihren scheiß Fake News, die sind auch nicht zu ertragen und richten…

Er kam mit seinen Gedanken nicht zum Schluss, denn nachdem er seinen Ergänzer abgelegt hatte, wurde die Kraftsperre augenblicklich aufgehoben und der Weg in den Kontaktraum war wieder frei. Drinnen setzte er sich auf den dort fest verankerten Hocker vor die Informationswand, gab seinen persönlichen Code ein und wartete. Selbst die unendlich schnellen Übertragungswellen brauchten bei dieser Entfernung so ihre Zeit. Aber keine fünf Sekunden, dann war alles da, sauber aufgetrennt in die drei Rubriken : Anweisungen / allgemeine Nachrichten / Persönliches.

Bei ‚Persönliches‘ stand nichts. Wer sollte mir auch schreiben, dachte er. Mit meiner Schwester habe ich keinen Kontakt mehr und mein Bruder hat zur Zeit selber viel zu viel um die Ohren. Und meine Freunde wissen wahrscheinlich noch gar nicht, dass ich es nun endlich geschafft habe. Denen muss ich das aber unbedingt in den nächsten Tagen mitteilen. Unruhig blickte er immer wieder zu der Rubrik ‚Anweisungen‘ hinüber. Aber zum Glück war da immer noch nichts erschienen. Auch nach weiteren fünf Minuten blieb es so. Auch bei ‚Allgemeine Nachrichten‘ erschien nichts. Damit ist nun erst einmal meine Pflicht erfüllt, sagte er sich, stand auf und verließ den Kontaktraum. Noch beim Aufsetzen seines Ergänzers kam Bea ihm lachend entgegen. Sie schien, so interpretierte er ihr offenes Lachen, alles das, was ihm ihr gegenüber schiefgegangen war, bereits wieder vergessen zu haben.

„ Du musst hier Deinen Ergänzer abnehmen! Datensperre!“, begrüßte er sie.

„ Ich weiß. Und Du? Hast Du schöne Nachrichten von Deinen Lieben bekommen?“

Egal, dachte er, ich sage ihr einfach die Wahrheit :

„ Nein, gar keine. Ich habe da unten kaum jemanden…Ein Grund mehr dafür, mich anzustrengen, um da oben bleiben zu können…“

Und dann lachte er sie an.

Aber das meint er jetzt nicht witzig, dachte sie und glaubte, sogar etwas Traurigkeit bei ihm zu spüren. Vielleicht ist er gar nicht so oberflächlich wie er sich gibt, vielleicht ist er am Ende auch nur so eine arme Sau wie ich. Sie streichelte wie zufällig seine Hand.

„ Mike! Nicht traurig sein, es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“

Und dann fiel ihr noch etwas ein :

„ Wie könnte Sala das denn hier überhaupt machen? Die kann doch ihre Ergänzer gar nicht ablegen? Ich gehe nachher gleich mal fragen, ob ich für sie ihre Erdkontakte erledigen soll. Aber jetzt erst einmal hinein!“

Mit dieser Überlegung allein gelassen, trottete Mike wieder zurück zum Weltallfenster. Sala schlief immer noch. Bea war ihm zuerst aufgefallen, aber jetzt, wo er Sala in aller Ruhe unbeobachtet ansehen konnte, musste er feststellen, sie ist auch schön, wunderschön. Ganz ebenmäßig ist ihr Gesicht, eine kleine, aber irgendwie besondere Nase hat sie und eine leicht bräunliche Gesichtsfarbe. Hatte sie nicht irgendetwas vom Balkan erzählt? Oder habe ich da etwas durcheinander gebracht?

In diesem Moment schlug sie ihre Augen auf. Ganz kurz musste sie sich orientieren, dann lachte sie Mike an.

„ Mein Ergänzer anerkennt Dich noch nicht so ganz als einen Freund. Er hat mich aufgeweckt!“, dabei lachte sie noch einmal .

„ Du solltest Dir auch bald mal ein neueres Modell verpassen lassen!“, scherzte Mike zurück. Und im selben Augenblick fielen ihm dabei Beas gerade geäußerte Bedenken hinsichtlich Salas Doppelergänzers ein und er fragte sie besorgt :

„ Bea ist darauf gestoßen : Was machst Du eigentlich, wenn Du mit der Erde kontaktieren willst? Dein Ding ist doch fest angenäht! Du könntest ihn doch vor dem Verbindungsraum garnicht vorschriftsgemäß abnehmen! Und damit wäre der Zugang für Dich doch gar nicht möglich!“

Sala richtete sich auf. Sie wirkte verstört. Nachdem sie sich mit der linken Hand über ihren Ergänzer gestrichen hatte, zeigte sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf ihre Herzgegend und sendete so leise, dass Mike es kaum hören konnte :

„ Selbst in meinem Herzen ist nichts von mir, es ist ja nicht mein Herz…“

Dann machte sie eine harsche Bewegung mit dem rechten Arm, so als wenn sie etwas abschlagen wollte und stand sprunghaft auf. So normal, als wenn es diese kleine Szene gar nicht gegeben hätte, fragte sie den jetzt nur noch verwirrt dastehenden Mike :

„ Und, was machen wir jetzt Schönes?“

Mike raffte sich so gut es ging zusammen und antwortete nach einer kleinen Pause :

„ Ja, ich bin vor dieser Reise noch nie mit einem Raumschiff geflogen und deshalb kann Dir auch nicht sagen, wie man hier die Tage verbringen könnte. Ich meine die Tage der Anreise. Darüber habe ich mir auch nie Gedanken gemacht. Über das zu erwartende Leben da oben schon, aber nicht über diese zweihundert Tage.“

„ Zweihundertneunundfünfzigeinhalb! Einen halben können wir schon abziehen, den haben wir schon geschafft!“, entgegnete Sala spitzbübisch.

„ Na gut! Geschenkt! Und wenn der Rest auch so schnell vergeht wie dieser halbe Tag, dann haben wir es ja bald geschafft…“

Sala überlegte, fasste sich wieder unbewusst an ihren Ergänzer, so als wenn der ihr darauf eine Antwort geben könnte.

„ Mike, wir sollten wirklich ernsthaft darüber nachdenken…Ich habe das auch immer vor mich her geschoben. Ich habe mir immer gesagt, wenn ich nicht weiß, mit wem ich da fliegen werde, dann kann ich auch nicht sagen, was ich mit denen machen kann oder machen werde…Aber jetzt ist das anders…“

Mike wusste nichts Sinnvolles darauf zu antworten, wollte erst einmal Zeit gewinnen und fragte sie :

„ Wollen wir uns da hinten auf das gemütliche Sofa setzen? Wir müssen doch hier nicht herumstehen.“

Er reichte ihr seine Hand und zog sie mit sich.

Als sie beide eng nebeneinander auf dem Sofa saßen, angelten sie sich gemeinsam noch eine Bank heran und legten ihre Füße darauf.

„ Wenn die ersten Raumfahrer das jetzt sehen würden! Die armen Kerle damals!“

Sala lachte.

„ Die Ersten haben es immer am schwersten! Der erste Raumfahrer, die erste Autofahrerin, der erste Liebhaber!“

Mike wusste nicht, wie er den letzten Halbsatz werten sollte. Wollte sie das Gespräch damit in eine bestimmte Richtung lenken? Ihr dabei mitgegebenes Lachen, so schien es ihm wenigstens, war irgendwie anders gewesen. Aber dieses Mal bleibe ich vorsichtig, ein zweites Mal verbrenne ich mich nicht. Er stieß sie nur ein wenig an, Handrücken gegen Handrücken und sagte unverfänglich :

„ Die Ersten haben es immer am schwersten! Ja, ja das gibt nicht nur zu denken, das reimt sich sogar!“

Sein Blick sagte dabei mehr als seine Worte.

Sala tat, als wenn sie das nicht bemerkt hätte und fragte hinterlistig :

„ Zu denken? Was gibt es da zu denken?“

Wenn du es darauf anlegst, meine Liebe, dann kann ich das auch…Aber er konnte es nicht, denn in diesem Augenblick hörten sie Bea weinen. Es war ihnen nicht möglich, sie zu sehen, und sie kam auch nicht näher heran. Wahrscheinlich schämte sie sich oder sie wollte ihr Inneres vor den noch so Fremden nicht ausbreiten. Dann hörte man ein beherztes Schnäuzen, auch etwas, was man nie vor Fremden machen würde, aber dann stand sie vor ihnen und glaubte sich nun rechtfertigen zu müssen :

„ Na ja, hat wohl ganz schön lange gedauert? Aber es ist einfach alles nicht so einfach…Aber Schwamm drüber, man sollte immer nach vorne blicken und nicht zurück!“

Beide nickten und froh, jetzt nicht über die offensichtliche Trübnis Beas reden zu müssen, erklärte Mike, worüber sie gerade nachgedacht hatten :

„ Wir sind gerade darauf gekommen, dass wir Drei uns unbedingt ein paar Gedanken darüber machen sollten, wie wir unsere Zeit auf diesem Schiff sinnvoll und friedlich miteinander verbringen wollen. Selbst Salas Doppelter hilft da nicht! Das bleibt voll uns überlassen!“

Obwohl nicht so gemeint, fühlte sich Bea damit auf ihre Mission hin angesprochen. Sie räusperte sich zweimal und begann dann zu reden, eher zu dozieren :

„ Es ist nicht genau mein Gebiet, aber ich glaube trotzdem, etwas dazu sagen zu können. Also…es ist anerkannt, dass Differenzen, Streitigkeiten und so weiter, in frühen Phasen, wo in Menschengruppen noch keine Lagerbildung stattgefunden hat, sehr selten auftreten. Umgekehrt heißt das, dass man diese Phase, also keine Lagerbildung, möglichst lange erhalten sollte, besonders dann, wenn die Menschen der einen Gruppe keine Möglichkeit haben, irgendwie der anderen Gruppe auszuweichen…Wir hatten ja schon festgestellt, dass man früher die für einen Flug Vorzubereitenden zusammengesperrt und über sehr lange Zeit geschult hatte. Das war falsch, haben wir erkannt, denn sie konnten sich dann bei Flugbeginn oftmals schon nicht mehr vertragen. Anders ist es uns ergangen. Zum Glück. Wenn auch nicht beabsichtigt. Aber wir wissen somit nichts von uns, müssen uns noch abtasten, müssen uns noch kennenlernen. Und diese interessante Zeit, eine Zeit in der wir noch gar keine, jedenfalls ausgeprägte, und vor allem begründbare Antipathien verspüren können, sollten wir nutzen, um die nächsten zweihundertsechzig Tage intelligent zu strukturieren. Schon allein, um noch als nicht zerstritten auf dem Mars anzukommen…Vielleicht sogar, das wäre das Allerbeste, um uns irgendwann einmal auf dem Mars gegenseitig unterstützen zu können…“

Als besonders neu empfanden die anderen beiden das nun gerade nicht und sahen sich, ohne dass Bea es merken sollte, fragend an, sagten aber nichts.

Bea hingegen hatte nur mechanisch irgend etwas dahingeredet, nur um nicht auf die schlimmen Dinge kommen zu müssen, die sie gerade im Kontaktraum erfahren hatte. Jetzt aber, mit der Reaktion der beiden darauf und durch die Blicke, die sie sich gerade zugeworfen hatten, merkte sie, dass sie ganz schnell wieder in das Hier und Jetzt zurück kommen muss. Das hier ist jetzt wichtig, das andere ist endgültig vorbei. Es ist vorbei…

„ Entschuldigt bitte, manchmal verfalle ich ungefragt in solche blödsinnigen Reden…vielleicht ist das auch berufsbedingt?“

Sala und Mike waren empathisch genug, um zu fühlen, dass ihre überdrehte Rede nicht berufsbedingt war, sondern dass sie das Gespräch mit der Erde vollkommen durcheinander gebracht hatte. Nicht umsonst war sie weinend aus dem Kontaktraum gekommen. Und nicht umsonst war ihr Gesicht jetzt so aschfahl.

Sala, manchmal den Schalk im Nacken, stand auf und nahm Bea verschwörerisch in den Arm.

„ Als erstes meine Liebe, müssen wir beide uns absprechen, wie wir den hier unter uns aufteilen. Rein sexuell meine ich! Das sehe ich als eine entscheidende Hilfe zur Kriegsvermeidung auf diesem Raumschiff!“

Bea war Sala dankbar für diese krude Ablenkung und lachte noch weinenden Auges laut los. Obwohl dieses Lachen nur künstlich war, und Sala das auch wußte, stimmte die sofort ein und beide taten jetzt so, als wenn sie sich nicht wieder einkriegen könnten vor Lachen. In Beas Innerem sah es aber noch ganz anders aus und auch blieb bei ihr die Frage offen, ob Salas Witz vielleicht doch nicht nur ein Witz gewesen war? Um so mehr war sie deshalb bemüht, den spaßigen Grundton beizubehalten :

„ Ich habe mich deshalb vorhin ja gleich nackt angeboten! Nicht soviel Worte, lieber gleich harte, nein weiche Tatsachen, habe ich gedacht! Aber es wurde ja nur ein Rohrkrepierer …“

Nun war es Sala, die nicht wusste, wieviel davon jetzt ernst gemeint war. Aber bevor sie antworten konnte, lachte nun auch Mike und sendete ihnen :

„ Ich habe mich ja auch schon nackend präsentiert! Nun ist Sala aber auch dran, sonst wird es zu schwer für mich, mich für Eine von Euch zu entscheiden!“

Er griente beide breit an und kam sich sehr witzig vor. Sala wurde es nun aber doch zu bunt und Mikes Selbstsicherheit erstarb sofort als Sala zwar lachend aber sehr bestimmt konterte :

„ Solltest Du mich einmal nackend sehen, ich meine nicht zufällig, sondern gewollt, dann hast Du mich nicht ausgewählt, sondern bestenfalls ich Dich!“

Bea schlug ihre Hände so laut zusammen, dass beide sich erschreckten.

„ Hier spricht die Koordinatorin! Schluss nun mit Lustig! Heute wird ja nicht mehr viel, aber was haltet Ihr davon, wenn morgen jeder die Gelegenheit bekommt, mal etwas länger aus seinem bisherigen Leben zu berichten. Das heute dazu Gesagte war viel zu kurz. Und es wäre bestimmt sehr spannend, die Menschen, mit denen man jetzt zweihundertsechzig Tage zusammen leben muss, damit etwas besser kennen zu lernen.“

„ Zweihundertneunundfünfzigeinhalb!“, sendete Mike lachend und nickte.