Mit dem Blindenstock nach Togo - Jasmin Ciplak - E-Book

Mit dem Blindenstock nach Togo E-Book

Jasmin Ciplak

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Beschreibung

Nach dem Abitur beschließt Jasmin im Rahmen eines Freiwilligendiensts für ein Jahr nach Togo zu gehen. Ihre Besonderheit: sie ist sehbeeinträchtigt und sieht zum Zeitpunkt ihrer Reise auf dem besseren Auge nur noch zehn Prozent. Wohlgemerkt mit Brille. Nach der Suche nach ihrem verschollenen Koffer und der ersten Malariaerkrankung, geht es für Jasmin in das togolesische Dorf Balanka, rund eine Tagesreise von dem Rest der Freiwilligen entfernt. Dort arbeitet sie in einer Bibliothek und muss zunächst einmal lernen ihre ganzen Gastgeschwister zu unterscheiden. Später reist sie mit ihrer Gastschwester in die Hauptstadt, gerät auf dem Rückweg in gewaltsame Ausschreitungen und organisiert, nachdem sie währenddessen einen blinden Abiturienten traf, ein Spendenprojekt für ihn und seine blinden, sehbeeinträchtigten Mitschüler, um diese mit neuen Blindenstöcken auszustatten. Im Anschluss an den Ramadan und das Opferfest, welche Jasmin mit ihrer muslimischen Gastfamilie begeht, fährt sie mit einer anderen Freiwilligen weiter in den Norden Togos, steht Kopf an Kopf mit einem Elefanten und schläft auf einem UNESCO-Weltkulturerbe unter den Sternen, ohne Handyempfang, Strom oder fließend Wasser.

Ehrlich und einfühlsam erzählt Jasmin von den Hürden, Vorurteilen und Tiefpunkten während des Freiwilligendienstes und untermalt ihre Erzählung mit Zitaten aus ihrem Tagebuch. Gegen Ende des Jahres wird ihr Glück in Balanka getrübt, denn ihre Mutter erkrankt schwer an Krebs. Lange ist es ungewiss, ob Jasmin sie noch einmal lebendig wiedersehen wird.

Zurück in Deutschland muss sich Jasmin erst wieder eingewöhnen und kämpft zudem das gesamte erste Studiensemester um ihre Hilfsmittelausstattung. Mit der Zeit lernt sie ihre Sehbeeinträchtigung, die sie vor Togo immer versuchte zu verbergen, anzunehmen und immer offener damit umzugehen.

Gemeinsam mit ihrem Mann („Mr.Blindlife“), dem größten blinden Content Creator im deutschsprachigen Raum, zeigt Jasmin zudem, dass man mit Beeinträchtigung genauso viel erreichen kann, wie ohne. Vielleicht muss man manchmal mehr improvisieren oder investieren, aber letztendlich ist so viel mehr möglich, als man anfangs denkt.

Pro verkauften Buch geht ein Euro an den Verein "Bildung für Balanka e.V:", in dessen Bildungszentrum Jasmin während ihres Freiwilligendiensts tätig war. Der Verein fördert sowohl Bildungs- als auch Umweltschutzprojekte in Balanka.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 395

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Jasmin Ciplak

Mit dem Blindenstock nach Togo

Von Büchern, Saharasand und Mr. BlindLife

»So seht ihr das Bild - das Cover stellt 

das Bild ungefähr so dar, wie ich es mit

meiner jetzigen Sehkraft wahrnehme.«

über die Autorin

Jasmin Ciplak, geboren 2000, studiert Jura und steht kurz vor dem ersten Staatsexamen. Bedingt durch eine degenerative Augenerkrankung sieht sie inzwischen auf dem besseren Auge nur noch vier Prozent und gilt damit als stark sehbeeinträchtigt. 
Nach ihrem Abitur entschloss sie sich, noch etwas von der Welt sehen zu wollen, bevor sie eines Tages möglicherweise erblindet. Daher bewarb sie sich für einen Freiwilligendienst in Togo und erfüllte sich mit diesem Aufenthalt ihren Lebenstraum. 
Inzwischen klären ihr Mann und sie unter den Namen „Mr. & Mrs. BlindLife“ in den Sozialen Medien sowie in zahlreichen Fernseh- und Rundfunkbeiträgen zum Thema Blindheit und Sehbeeinträchtigung auf.

 

IMPRESSUM

1. Auflage 2023

© 2023 by hansanord Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und strafbar. Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN Print 978-3-947145-75-1

ISBN E-Book 978-3-947145-76-8

Cover | Umschlag: Tobias Prießner

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

Bildnachweis: privat © by Jasmin Ciplak

Für Fragen und Anregungen: [email protected]

Fordern Sie unser Verlagsprogramm an: [email protected]

hansanord Verlag

Johann-Biersack-Str. 9

D 82340 Feldafing

Tel. +49 (0) 8157 9266 280

FAX +49 (0) 8157 9266 282

[email protected]

www.hansanord-verlag.de

 

Inhalt

Vorwort 
1. Abflug ins Unbekannte
2. Ein halbes Jahr zuvor (Rückblick und Reisevorbereitungen)
3. Die ersten drei Wochen und das erste Mal Malaria
4. Ankunft in Balanka, werde ich die Eingewöhnung schaffen?
5. Von Skorpionen und Albinoechsen
6. Schulbesuch aus Deutschland – Wer ist Koko Affo Tenin?
7. Tanz der Glühwürmchen
8. Erste kritische Gedanken nach einem Drittel der Zeit
9. Besuch in Lomé, zwischen Luxus und Armut
10. Ayala, das Spendenprojekt und das Centre des Aveugles de Kpalimé
Bildteil 1
11. Neujahr und ein illegaler Abstecher über die Grenze ins Nachbarland Benin
12. Eine kleine Geschichtsstunde und weiterer Besuch
13. Die Bibliothek: von Büchern, Saharasand und Stromausfällen
14. Samsia und ich – Geschwister im Herzen
15. Mal wieder Malaria? – Krankenhauserfahrungen
16. Ramadan in einem muslimischen Dorf
17. Vom letzten Fastenbrechen und dem Opferfest
18. Eine Reise in den Norden, von Elefanten, Lehmburgen und der Frage, was Tourismus ist
19. Ingenieursbesuch und eine schreckliche Nachricht
20. Überschattete letzte Wochen
21. Ein emotionaler Abschied, Versprechen auf ein Wiedersehen
22. Die letzte Woche
23. Der Sprung ins kalte Wasser, Rückkehr nach Deutschland
24. Neue Perspektiven und alte Routine
25. Aufbruch
Bildteil 2
26. Rückkehr nach Balanka
27. Was die Zukunft bringen mag
28. Nachwort bezüglich »Black Lives Matter«
Buchempfehlungen
Die für mich wichtigsten Wörter auf Balanka
Danksagungen
Endnoten
Für meinen Mann Erdin, der mich immer unterstützt
hat, meine wundervolle Gastfamilie, meine Schwester
Esther sowie S., die mir auf einer halsbrecherischen
Motorradfahrt ins Ohr geschrien hat, dass ich ein Buch
über mein Leben schreiben solle, wenn wir das hier
überlebten.

Vorwort

Dieses Buch reiht sich ein in die Sammlung unzähliger bereits erschienener Bücher, welche einen Freiwilligendienst, eine Reise oder einen Lebensabschnitt im Globalen Süden thematisieren.
Und auch bei diesem Werk handelt es sich um eine subjektive Perspektive. Ich gebe meine Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen wieder, welche sich von anderen, die in Togo leben, gelebt oder gearbeitet haben, unterscheiden. Also betrachtet dieses Buch bitte nicht als eine umfassende Dokumentation über das Leben in Togo. Vieles habe ich vielleicht nicht gesehen, nicht richtig einordnen können und ganz gewiss werde ich nie eine Expertin für den Globalen Süden sein und möchte mir auf keinen Fall anmaßen, etwas allgemein oder wissenschaftlich Verwertbares über das Leben in Togo zu schreiben.
Eines kann ich aber erzählen. Ich kann von den Sachen sprechen, die ich erlebt habe. Wie es mir mit Malaria ging, wie unglaublich liebevoll mich meine Gastfamilie aufgenommen hat und wie wohl und zu Hause ich mich in dem Dorf Balanka gefühlt habe. Es gibt Freiwillige, die andere Erfahrungen gemacht haben, und diese möchte ich ihnen gar nicht absprechen. Doch hier wird von dem Jahr erzählt, das ich, als sehbeeinträchtigtes, schüchternes, achtzehnjähriges Mädchen erlebte. Ein Jahr, das mich prägte, Narben hinterließ und unvergesslich bleibt.
In Büchern wie »Die weiße Massai« werden Menschen aus dem Globalen Süden als »exotisch«, »wie von einer anderen Welt« beschrieben und in vielen Kinderbüchern und Abbildungen bis heute leider so dargestellt. Auch mich hatte dieses Bild in der Kindheit geprägt, später Berichte über Armut und Kinderarbeit. Im Bekanntenkreis, gerade von älteren Personen, wurde es als mutig betitelt, dass ich nach Togo ging. Dort wurde der afrikanische Kontinent lediglich mit Krankheiten, Hungersnöten und »Unterentwicklung« in Verbindung gebracht.
Dass ich selbst mit meinen Vorurteilen ziemlich viel falsch eingeordnet hatte, hat schnell dazu geführt, dass ich gelernt habe, eher zu beobachten und auf Erklärungen zu vertrauen, die beispielsweise meine Gastschwestern oder Kollegen mir bereitwillig gaben, anstatt selbst zu raten, was wohl gerade stimmt.
Meine Gastfamilie, Freunde und Kollegen in Togo als »exotisch« zu betrachten, lag mir jedoch von Anfang an fern. Stattdessen habe ich in meinen Geschwistern genau dasselbe gesehen wie in mir. Spannende, interessierte Jugendliche, die ihre eigenen Hobbys, Interessen, Wünsche und Träume haben. Der einzige Unterschied ist, dass ich, aufgrund eines Zufalls, in einem anderen Land geboren bin, wo ich Anspruch auf eine gesetzliche Krankenversicherung habe, kostenlose Schulbildung genießen durfte und es somit deutlich leichter habe als meine Gastgeschwister, meine Träume zu verwirklichen.
Noch eine kurze Anmerkung, bevor es losgeht:
Ich werde im Buch die Begriffe weiß und »Schwarz« (*1) verwenden. Dabei steht »Schwarz« für eine von Rassismus und Diskriminierung betroffene Person und ist teils eine Eigenbezeichnung Schwarzer Menschen oder BIPoC (*2). Der Begriff weiß bezeichnet hingegen eine privilegierte und dominante Position. Ich habe für die Fertigstellung des Buches Personen, welche sich vertieft mit den Themen Rassismus und Rassismuskritik beschäftigt haben, zu Rate gezogen. Falls ich dennoch unbeabsichtigt unangemessene Wörter oder Redewendungen verwendet habe, freue ich mich über Hinweise darauf, um diese Fehler aufzuarbeiten und möglichst schnell zu korrigieren.

1. Abflug ins Unbekannte

Ich stand am Flughafen in Frankfurt am Main, noch etwas geschwächt von der Erkältung, die ich mir in den Tagen vor dem Abflug eingefangen hatte, aber glücklich, überhaupt fit genug zu sein, um den Flug nach Togo antreten zu können. Koffer und Reiserucksack, welche ich erst in der Nacht zuvor fertig gepackt hatte, waren schon abgegeben und meine Eltern sowie Großeltern warteten noch an der Schranke beim Zoll, wo sie mich verabschieden mussten. Ich erkannte meine Mutter an ihrer lilafarbenen Regenjacke in der Menge und fragte mich, ob ich alle vier so gesund und lebendig wiedersehen würde, wie ich sie verlassen hatte. Jetzt war es doch gut, ein paar Taschentücher in der Jackentasche zu haben, denn auch mir liefen nun einige Tränen über die Wangen.
Ich hielt Ausschau nach S., die mit mir von Frankfurt aus nach Togo flog, erkannte sie aber nicht.
Die erste Angst kam bei der Sicherheitskontrolle. Der Plastikkorb, in dem sich Jacke und der kleine schwarze Rucksack von mir befanden, wurde gleich mehrfach durch das Gerät geschickt, nachdem dieses anfing, Geräusche von sich zu geben. Ich wurde gefragt, ob ich neben dem Handy und Tablet, welche ich bereits gesondert in den Korb gelegt hatte, weitere Akkus bei mir führen würde. Ich verneinte, wies aber darauf hin, dass vielleicht das Ladekabel des Tablets von der Form her in Betracht kommen würde. Gleich mehrere Personen standen mir gegenüber und nach einer kurzen Diskussion untereinander wurde es mir erlaubt, ganz vorsichtig und langsam den Rucksack zu öffnen und das Ladekabel des Tablets herauszuholen. Leider war dies nicht der Gegenstand, der sie beunruhigte. Stattdessen war es die Form meiner Blocklupe aus Glas in Kombination mit den darin befindlichen Batterien, welche von ihnen wohl zunächst für eine Bombe gehalten wurden. Besorgt fragte ich mich, was dann bei der Kontrolle in Togo noch kommen mochte. Letztendlich wurde meine Lupe, bestehend aus einem länglichen Glasblock und einem gräulichen, über einen Schiebemechanismus an der Lupe befestigten Batteriefach für das in die Lupe integrierte Licht, von den Beamten doch als unbedenklich eingestuft und ich konnte nach einem kleinen Schrecken den Wartebereich betreten.
Erneut ging ich im Kopf meine Dokumente durch. Visum und Reisepass hatte ich in der Jackentasche, der Impfausweis war griffbereit im Rucksack. Hatte ich auch alles Wichtige eingepackt? Genug Kleidung, das Gastgeschenk, Zahnbürsten, Duschzeug für ein Jahr, meine Bürste und die Visakarte?
Im Flugzeug von Paris nach Lomé kamen erste große Zweifel, ob das die richtige Entscheidung war. Ein Freiwilligendienst in einem Land, einem Dorf, von dem ich kaum etwas wusste. Und nachdem der Flugbegleiter noch nicht mal mein eingerostetes Schulfranzösisch verstanden hatte, kam dann auch noch die Frage hinzu, ob mich die Leute überhaupt verstehen würden … Was, wenn mich keiner verstand, weil mein Französisch so schlecht war? Wie soll ich mich dann mit meiner Gastfamilie, mit meinen Kollegen verständigen?
Die anderen Freiwilligen, die wir in Paris getroffen haben, nachdem wir aufgrund von Flugverspätungen fast unseren Anschlussflug verpasst hätten, wirkten recht nett. Allerdings würden sie zusammen in Kpalimé bleiben, während es für mich dann alleine noch weiter in den Norden, in das Dorf Balanka, gehen würde. Wir würden wohl von der Partnerorganisation (*3) am Flughafen abgeholt werden, aber wie es dann für mich weitergehen würde, wusste ich nicht. Draußen wurde es nun dunkel, durch das Flugzeugfenster war nichts mehr zu erkennen. Langsam ging das Flugzeug in den Landeanflug, in meinem Bauch mischten sich nun die mulmigen Gedanken mit der Aufregung und Vorfreude auf das Jahr in Togo.
Angekommen am Flughafen, verließen wir mit steifen Beinen das Flugzeug. Den anderen Fluggästen folgend gelangten wir zu den Passkontrollen, wo zugleich unser Visum geprüft wurde. In der Gruppe mit den anderen Freiwilligen gelang es mir gut, mich zu orientieren, zumal wir nach den Kontrollen auf der anderen Seite aufeinander warteten. Ein Fluggast wurde im Rollstuhl an uns vorbeigeschoben und nachdem alle die Kontrollen passiert hatten, gingen wir einen längeren, hellen Korridor entlang. Dort stand ein Mann in einem weißen Kittel und schnell sprach sich herum, dass er die Impfausweise sehen wollte. Auch ich hatte das Dokument griffbereit, doch anscheinend fehlte etwas bei mir. Mir lief es kalt den Rücken herunter. Würde das ein vorläufiges Ende des Freiwilligendienstes bedeuten? Würde man mich direkt wieder zurück nach Deutschland schicken? Ausgerechnet die Gelbfieberimpfung fehlte, ohne die dürfe man nicht einreisen, so der Mann (*4). Ich bekam Panik, mehrfach blätterten andere Freiwillige und ich den Impfpass durch. Nicht, dass ich die Schrift darin erkennen konnte, aber ich wollte mit eigenen Augen sehen, dass der Platz, wo sich die Impfung befinden müsste, leer war.
Auf mein verzweifeltes Beteuern, dass ich alle Impfungen in Deutschland hatte machen lassen, und das Versprechen, dass ich eine (erneute) Impfung zeitnah nachholen würde, durfte ich letztendlich doch weitergehen. Ich war einfach nur unglaublich erleichtert, dass dieser Vorfall nicht das vorläufige Ende des Freiwilligendienstes bedeutete, zumal ich die Kosten eines zusätzlichen Hin- und Rückflugs nicht hätte bezahlen können, und folgte den anderen in eine große Halle, in der sich mehrere Gepäckbänder befanden. Bei dem Gepäckband unseres Flugs erkannte ich meinen großen Rucksack aufgrund der von mir befestigten weißen und blauen Bänder recht schnell wieder. Auch die anderen Freiwilligen hatten inzwischen ihr Gepäck gefunden. Bloß mein Koffer war noch nicht zu sehen.
Eine andere Freiwillige, P., entdeckte, dass mein Koffer schon als fehlend an einer Tafel stand. Er hatte wohl den »Umstieg« in Paris nicht mehr geschafft. Wir beschrieben meinen Koffer, glücklicherweise hatte ich ihn vor dem Abflug fotografiert, und sollten bei seiner Ankunft vom Flughafen kontaktiert werden. Genug Schocks für mich an einem Abend. Ich schrieb meiner Familie und Freunden noch schnell mittels Flughafen WLAN, dass wir gut gelandet waren. Nach erneuter Sicherheitskontrolle, wobei es diesmal keinerlei Probleme bezüglich der Lupe gab, verließen wir das Flughafengebäude und wurden von der togolesischen Partnerorganisation, feucht-warmer Luft und dem Klang der Trommeln einiger Künstler empfangen. 

2. Ein halbes Jahr zuvor (Rückblick und Reisevorbereitungen)

Springen wir ein halbes Jahr zurück … oder vielleicht sogar noch ein wenig mehr. Wie kam es dazu, dass ich in Togo landete? All das begann wohl mit der Erkenntnis, dass nach dem Abitur im Frühjahr 2018 die Schule endgültig vorbei sein würde. Keine Möglichkeit mehr, einen Schüleraustausch oder Ähnliches zu machen. Und der Tatsache, dass ich nicht wusste, was ich werden wollte, was ich überhaupt als Beruf ausüben konnte. Denn ich hatte gemerkt, dass mein Sehvermögen noch einmal deutlich abgenommen hatte.
Im Winter 2017/18, in dem sich alle anderen aus meinem Jahrgang auf die anstehenden Abiturprüfungen vorbereiteten, setzte ich mich zum ersten Mal bewusst mit meiner Sehbeeinträchtigung auseinander. 
Aber beginnen wir auch hier etwas weiter vorne: Im Alter von neun Jahren bekam ich, nachdem ich meine erste Brille verloren hatte, eine neue Brille und bemerkte, dass ich aus der Entfernung die Schrift an der Tafel dennoch verschwommen sah. Manche Kreidefarben konnte ich darauf auch gar nicht mehr erkennen. Mein Augenarzt schickte mich zunächst aufgrund der schnellen Abnahme meiner Sehkraft mit Verdacht auf einen Gehirntumor zum MRT in ein Krankenhaus. Als das bildgebende Verfahren jedoch ohne Auffälligkeiten blieb, ging es für mich in eine nahegelegene Augenklinik, dann in die nächste Augenuniklinik und nachdem dort von drei verschiedenen Ärzten an einem Tag drei verschiedene Diagnosen gestellt wurden, schickte er mich zu einer weiteren Augenuniklinik, im Süden Deutschlands. Im Herbst 2011 stand dann die Diagnose: Verdacht auf Zapfen-Stäbchen-Dystrophie und zugleich ein so großer Sehverlust, dass ich als »schwerbehindert« galt. Ich war zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt und das Letzte, was ich in diesem Alter sein wollte, war, anders zu sein als die anderen. Erst recht wollte ich nicht als »behindert« gelten.
Und tatsächlich, als ich mich mit einer Tafelkamera5 abschleppte und die erste, geliehene Version einer solchen Tafelkamera (*5) schließlich mit einem Rollwagen über den Schulhof ziehen musste, wurde ich genau deswegen gemobbt und als »behindert« bezeichnet. Für mich war daraufhin klar, ich wollte versuchen, so »normal« wie möglich zu sein. 
Bloß nicht auffallen, vor allem nicht negativ. 
Einige Lehrer störte es, dass ich die Tafelkamera nach jedem Raumwechsel auf- und wieder abbauen musste, und so durfte ich diese in manchen Stunden nicht mehr nutzen. Irgendwann wurde es mir auch zu lästig, das später erhaltene Gerät immer in einer großen Tasche mit mir herumzutragen, und zu Beginn der achten Klasse entschloss ich mich, es einfach zu Hause zu lassen. Der mit der Kamera verbundene Laptop war durch die Vergrößerungssoftware sowieso extrem langsam und wurde von mir nicht gesondert für den Unterricht genutzt. Fortan schrieb ich bei Freundinnen die Tafelbilder ab oder notierte einfach all das, was die Lehrer an der Tafel verbal erklärten. So waren meine Noten zwar nicht herausragend, aber mir selbst ging es besser. Ich war nicht mehr die merkwürdige Außenseiterin mit dem übergroßen Hilfsmittel, sondern ging eher in der Masse der anderen Schüler unter. 
Gegen Ende der achten Klasse bekam ich dann ein Tablet, mit dem ich Fotos von den Tafelbildern machen konnte, und dies wurde von allen Beteiligten akzeptiert. Zwar musste ich so oft zu Hause versuchen, im Nachhinein die Schritte bei mehrteiligen Rechnungen oder komplizierten Formeln mit dem Gesagten aus dem Unterricht in Verbindung zu bringen, aber das nahm ich gerne in Kauf. Für mich bedeutete meine Sehbeeinträchtigung von nun an primär, dass ich zu Beginn des Schuljahres die neuen Lehrer über meine Sehbeeinträchtigung informieren musste. Dafür hatte ich ein Schreiben aus der Augenuniklinik. Die Lehrer waren zum Glück alle sehr vertrauensvoll und erlaubten mir, das Tablet zum Abfotografieren der Tafelbilder zu nutzen. Im Gegenzug achtete ich selbstverständlich darauf, soweit möglich, keine Personen im Bild zu haben, und löschte die Bilder, sobald ich deren Inhalt abgeschrieben hatte. Der Nachteilsausgleich für die Klausuren wurde durch die für mich zuständige Lehrerin der Sonderschule für blinde und sehbeeinträchtigte Schüler in Frankfurt, welche ungefähr alle ein bis zwei Jahre für ein Gespräch oder den Besuch einer Unterrichtsstunde vorbeikam, geklärt. Ansonsten hatte ich in meinem Alltag wenig Berührungspunkte mit diesem Thema. Mit meinen Freundinnen nutzte ich die Vorteile, die der Schwerbehindertenausweis bei Fahrten, Schwimmbad- und Kinobesuchen mit sich brachte, und beim Geigenunterricht in der Schule wurden die Noten für mich vergrößert. Meine Flötenlehrerin hingegen war irgendwann dazu übergegangen, mit mir immer zunächst meine Stimme zu üben und mich zu begleiten, während beispielsweise meine Mutter eine der anderen Stimmen spielte, bis ich meine eigene Stimme konnte und zugleich im Ohr hatte, wie diese mit der anderen Stimme agierte. Danach konnte ich dann ohne Probleme die Stücke im Chor mitspielen, da ich mich an den anderen Stimmen orientieren und das Stück meist gut genug auswendig konnte, um die durch die Gesichtsfeldausfälle auftretenden Probleme auszugleichen.
Einmal jedoch, da war ich noch recht jung, sind wir nach dem Gottesdienst noch zu anderen Gemeindemitgliedern gefahren. Diese hatten mitbekommen, dass ich schlechter sehe, und wollten für meinen Vater (*6) und mich beten. Ich war von dieser Absicht sehr überrascht und fühlte mich etwas unwohl. Obwohl ich mich damals durchaus als strenggläubig bezeichnet hätte, stieß ich an dieser Stelle an eine Grenze. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass durch das Gebet der Personen vor mir meine Augen tatsächlich besser werden würden.
Und auch in meinem letzten Schuljahr, als ich mich genauer mit meiner Sehbeeinträchtigung beschäftigte, stieß ich noch einmal auf diese Grenze. Wir thematisierten Wunder im Religionsunterricht. Verbunden wurde dies mit einem Bericht über den Schauspieler Samuel Koch, der nach einem Fernsehunfall querschnittsgelähmt ist. Natürlich kannte ich von klein auf die Berichte über die Wunder, die Jesus und im Anschluss auch seine Jünger wirkten. Dass Jesus Kranke heilte. Ich hatte als kleines Kind sogar ein Bilderbuch gehabt, in dem erzählt wurde, wie ein gelähmter Mann von seinen Freunden durch das Dach zu Jesus in einen vollen Raum heruntergelassen wurde und dieser dann zu ihm sagte, dass er seine Matte zusammenrollen und gehen solle. Und tatsächlich, von diesem Moment an konnte er wieder gehen. All diese Heilungen, diese Wunder Jesu, hatte ich nie angezweifelt. Und doch konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine Augen so einfach geheilt werden könnten. Dass ein Gebet zu Gott ausreichen würde, dass ein Handauflegen mir die vollständige Sehkraft zurückgeben könnte.
Aber wie merkt man eigentlich, dass die Sehkraft abnimmt? Natürlich spielen objektiv messbare Werte eine Rolle, aber viel relevanter sind doch die Veränderungen, die man im Alltag tatsächlich bemerkt. Kurz vor dem Abitur fiel mir beim Zeitungaustragen auf, dass ich im Dunkeln Mülltonnen, Wahlplakate und ähnliche Hindernisse oft nicht mehr rechtzeitig wahrnahm und dass mein Sehvermögen allgemein nachgelassen hatte. Auf einmal genügte meine Blocklupe nicht mehr, um kleinere Beschriftungen im Biologiebuch zu erkennen, und das Lesen wurde immer anstrengender. Auch wurde mir bewusst, als ich im Deutschunterricht einen Text laut vorlesen sollte, dass ich zwar den Inhalt korrekt wiedergegeben hatte, jedoch nicht ganz in der Reihenfolge, wie es im Buch abgedruckt war. Stattdessen hatte sich mein Gehirn den Sinn der Wörter, die ich sehen konnte, zusammengereimt und es, mit entsprechenden Füllwörtern versehen, erneut zusammengesetzt.
Die Abiturprüfungen standen nun bevor und einige Lehrerinnen hatten mir bereits Vorschläge gemacht, was ich alles werden könnte. Die Vorschläge erstreckten sich von Ärztin über Buchhändlerin, Geschichtslehrerin, Psychologin bis hin zur Religionswissenschaftlerin. Als mir eine Lehrerin vorschlug, Ärztin zu werden, dachte ich sofort daran, dass es mit meinen Augen schwierig werden könnte, diesen Beruf auszuüben (*7). Und schlagartig wurde mir bewusst, dass es für meine Berufswahl auf jeden Fall entscheidend wäre zu wissen, wie es mit meiner Augenerkrankung weitergeht. Die Abnahme meiner Sehkraft machte mir mehr Angst, als ich wahrhaben wollte.
Aber Angst hat man bekanntlich vor allem vor Unbekanntem. Und so holte ich meine ganzen, bislang unbeachteten Arztunterlagen hervor, suchte im Internet nach den Erklärungen für die Fachwörter und schrieb mir all das an Informationen zusammen, was in den Arztbriefen und auf Seiten von Blindenvereinen und einer Selbsthilfeorganisation zu diesem Thema zu finden war. Die Aussichten waren ernüchternd. Laut der Seite des Selbsthilfeverbands führt meine Augenerkrankung früher oder später zur Erblindung und ist aktuell nicht therapierbar (*8).
In diesem Moment fiel ich in ein tiefes Loch. Ich, als Person, der Eigenständigkeit sehr wichtig ist, werde eines Tages hilflos sein? Nichts mehr sehen, noch nicht einmal alleine verreisen und nie wieder ein Buch lesen können? In diesem Moment bereute ich es, dass ich keine sehbeeinträchtigten Freunde oder Bekannte hatte und alle außerschulischen Angebote einer Blinden- und Sehbeeinträchtigtenschule abgelehnt hatte, aus dem Gedanken heraus, dass ich mich selbst damals nicht als sehbeeinträchtigt sah.
So viele Gedanken schwirrten zu diesem Zeitpunkt in meinem Kopf herum. Bislang war mir zwar klar, dass ich keinen Autoführerschein machen könnte, auch wenn ich von Mitschülern ab und an gefragt wurde, wann ich denn mit den Fahrstunden anfinge. Nun wurde mir bewusst, wie viel mehr durch meine Sehbeeinträchtigung auf dem Spiel stand. Mein Partner würde dann nicht nur gegebenenfalls größere Einkäufe erledigen und falls man auf dem Dorf lebt, auch mögliche Kinder zu den verschiedensten Sport- oder Kulturveranstaltungen fahren müssen, auch Teile des Haushalts würden mit fortschreitendem Sehverlust an ihm hängen bleiben. Dann müsste er noch einmal Nachputzen, um sicherzustellen, dass es auch wirklich überall in der Wohnung sauber ist, er müsste kontrollieren, dass die Kleidung makellos ist, und wäre derjenige, der mit den Kindern für die Schule üben müsste. Wobei Kinder? Zapfen-Stäbchen-Dystrophie ist vererbbar, also sind Kinder vielleicht sogar ausgeschlossen? Ich bekam Angst vor der Vorstellung, dass sie mir eines Tages, wenn sie selbst in der Phase sind, wo alle anderen um sie herum den Führerschein machen oder wenn sie sich mit ihrer möglichen Sehbeeinträchtigung eines Tages auseinandersetzen müssen, Vorwürfe machen, dass ich sie in diese Situation gebracht habe. Dass es egoistisch sei, Kinder zu wollen und sie der Gefahr einer eigenen Sehbeeinträchtigung auszusetzen.
»Dunkelheit«
Noch sehe ich das Licht, 
 Doch schon bald bemerke ich es nicht.
Eine Welt voll Helligkeit und Farben,
Voll von Gottes wunderbaren Gaben, 
 Bunte Blumenmeere, dein Gesicht, 
 Schon bald erkenne ich es nicht. 
 Anstatt meine Wege klar zu sehn, 
 Muss ich langsam, tastend gehn.
Ich hatte gehofft, dass es ewig tagt,
Gelacht, wenn jemand nach der Zukunft fragt. 
 Große Pläne, eine Familie und Karriere, 
 Wie aber mit der Nacht als Barriere?
Die Dämmerung ist schon da, 
 Und die Nacht bedrohlich nah.
Meine Angst, mal groß, mal klein, 
 Kann es eines Tages wirklich dunkel sein?
Meine Pläne, Träume einfach fort, 
 Ich gefangen an einem dunklen Ort?
Kaum einer nimmt die Dämmerung wahr, 
Auch dir ist es nicht wirklich klar,
Doch ich spür es mehr von Tag zu Tag, 
Hadere, was die Zukunft bringen mag …
(geschrieben im Winter 2017/18)
Passend zu meinen Gedanken, wie es nach dem Abitur weitergehen sollte, hatten wir im Englischunterricht das Thema Apartheid in Südafrika, sodass mein Interesse an einem Freiwilligendienst dort geweckt worden war. Ich wollte schon, seit ich in der vierten Klasse das Buch »Sombo, das Mädchen vom Fluss« gelesen hatte, auf den afrikanischen Kontinent. Eine Zeit lang plante ich als Missionarin nach Burundi zu gehen, den Gedanken verwarf ich jedoch in der 7. Klasse, da ich es nicht befürworten kann, wenn der Zugang zu Trinkwasser, Bildung oder Ähnlichem an die Vermittlung eines fremden Glaubens geknüpft wird. Und wenn diese Tätigkeiten nicht streng von einander abgegrenzt sind und die Religion und Kultur des jeweiligen Volkes nicht respektiert werden, sehe ich es weiterhin kritisch. Natürlich kann man in die Städte und Dörfer gehen und von seinem Glauben erzählen. Man sollte allerdings ein wenig mehr auf den Heiligen Geist vertrauen, dass er schon die Menschen zu einem schickt, anstatt mit Geldern als großer »Wohltäter« im Globalen Süden aufzutreten und mit Versprechen zu versuchen, die Menschen zum vermeidlich »richtigen« Glauben zu bekehren.
Über eine kirchliche Organisation meinen Freiwilligendienst zu machen, hatte ich dadurch bereits im Voraus ausgeschlossen. Stattdessen suchte ich über »weltwärts«, einer Seite des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, welche die Stellenausschreibungen von verschiedenen Partnerorganisationen sammelt. 
Leider hatte ich dort keine Ausschreibungen für Südafrika gefunden, die mich interessiert oder zu meinen Wünschen gepasst hätten. Stattdessen wurde ich auf einige Stellenausschreibungen einer NGO (*9) für Freiwilligendienste in Ghana aufmerksam. Gefordert waren Englischkenntnisse, teils Erfahrung im Umgang mit Kindern, welche ich aufgrund meiner Arbeit als Pausenaufsicht (*10), in der Schulmediathek und meiner fünf Jahre als Leitung einer Kindergottesdienstgruppe (*11) vorweisen konnte. Daher entschied ich mich, nach Absprache mit meinen Eltern, mich für drei Stellen in Ghana zu bewerben. Und tatsächlich musste ich nicht lange warten. Bald darauf erhielt ich eine Nachricht – in der ich allerdings gefragt wurde, ob ich es mir nicht vielleicht auch vorstellen könnte, in das französischsprachige Nachbarland Togo zu gehen und dort in einem Bildungs- und Kommunikationszentrum in Balanka zu arbeiten. Glücklich darüber, überhaupt eine Stelle angeboten bekommen zu haben, sagte ich natürlich zu. 
Wieso wurde mir vorgeschlagen nach Togo zu gehen? Das erfuhr ich ein paar Wochen später beim Telefoninterview mit einer ehemaligen Freiwilligen. Es gäbe wohl immer deutlich weniger Freiwillige mit Französischkenntnissen als mit Englischkenntnissen und da ich bei meiner Bewerbung das DELF B1 (*12) Zertifikat von mir mitgeschickt hatte, kam ich auch für Togo in Betracht.
Während der schriftlichen Abiturprüfungen blieb das Thema Freiwilligendienst etwas liegen, bis ich im Mai zu dem Vorbereitungsseminar in der Nähe von Göttingen fuhr. Dort traf ich andere zukünftige Freiwillige und lernte mit ihnen von ehemaligen Freiwilligen und Gästen über Rassismus und wie man diesem entgegenwirken kann, Vorurteile und die »Rolle der Freiwilligen«. Zudem sprachen wir über Wirtschaft, Nachhaltigkeit und konnten uns mit Süd-Nord-Freiwilligenm (*13) austauschen, die zu dieser Zeit einen Freiwilligendienst in Deutschland absolvierten. Die Erzählungen einer Süd-Nord-Freiwilligen aus Balanka, welche mir von ihren Rassismuserfahrungen in Berlin berichtete, schockierten mich. Besonders, nachdem ich selbst während des Jahres erlebte, wie herzlich und freundlich die Menschen in Balanka mir begegnet sind.
Wir bekamen natürlich auch praktische Tipps bezüglich einer Reiseapotheke, Gepäck und Gesundheit sowie vielem mehr. Ich denke noch gerne an diese Zeit zurück, da es eine schöne Erfahrung war, die Tage mit so aufgeschlossenen und interessanten Personen zu verbringen.
Am Tag der Rückfahrt erhielt ich eine Nachricht von Koko, der Frau, für dessen Verein ich in Balanka tätig sein würde. Sie lud mich zu einem Vorbereitungs-Treffen mit den ehemaligen Balanka-Freiwilligen nach Potsdam ein. Auch die Handynummer der zweiten Freiwilligen, welche mit mir nach Togo fliegen und in dem Bildungszentrum arbeiten würde, hatte sie mitgeschickt.
In den nächsten Tagen lernte ich für die mündlichen Abiturprüfungen in Deutsch und Geschichte. Während meiner Deutschprüfung erhielt ich in Abwesenheit einen Anruf. Nach der Prüfung, als ich zurückrief, wurde mir mitgeteilt, dass meine Mitfreiwillige nun doch nicht am Freiwilligendienst teilnehmen würde. Das erklärte auch, wieso sie bisher auf meine Nachricht nicht reagiert hatte.
Trotz eines kleinen Schocks sagte ich zu, dass ich in Balanka bleiben wolle, auch alleine.
Während ich die notwendigen Schutzimpfungen durchführen ließ, mit meinen Großeltern die letzen Male vor dem Abflug ins Theater ging und mit Nebenjobs das Geld für das Einreisevisum, die Aufenthaltsgenehmigung und die Impfungen verdiente, lernte ich zudem den Umgang mit dem Blindenlangstock, auch als Absicherung für die Zeit in Togo. Inzwischen hatte ich mich mit dem gesetzlich blinden (*14) Influencer »Mr. BlindLife« in Kontakt gesetzt, welcher mich immer wieder ermutigte, den Freiwilligendienst in Togo anzutreten. 
Seine Videos hatte ich entdeckt, als ich über das Leben von blinden und sehbeeinträchtigten Menschen in Deutschland recherchierte, und so schrieb ich ihn eines abends, nach meinen schriftlichen Abiturprüfungen, als er auf den sozialen Medien eine Story zu »dunklen Momenten« teilte, spontan an. Ich schickte ihm unter anderem das Gedicht, welches ich in einem meiner dunklen Momente geschrieben hatte, und fragte ihn, ob ich als sehbeeinträchtigte Person denn auch einen Langstock nutzen dürfe, obwohl ich ja nicht vollständig blind sei (*15). Dabei erwähnte ich auch, dass ich diesen gerne zur Absicherung während meines Freiwilligendienstes dabei hätte. Was sich aus dieser Nachricht zu einer späten Stunde entwickeln würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht.
Nach einigen Tagen, in denen ich es bereits bitter bereut hatte, ihm überhaupt eine Nachricht und insbesondere das Gedicht geschickt zu haben, antwortete er mir und recht schnell wechselten wir zu einem Messengerdienst, schickten immer längere Sprachnachrichten und fingen an, irgendwann immer öfter miteinander zu telefonieren. Wir trafen uns Ende April auf einer Hilfsmittelmesse (*16), wo ich noch andere Personen kennenlernte, die ebenfalls schlecht sahen, und ermutigt wurde, ein Mobilitätstraining zu machen. Auf dieser Messe war ich zum ersten Mal im Leben nicht die »Außenseiterin«, auf die andere besondere Rücksicht nahmen, weil ich schlecht sah. Hier liefen fast alle mit Führhund, Langstock oder einem Monukular in der Hand herum, es gab Leitstreifen auf dem Boden, große Schilder und Texte, die auch in Brailleschrift vorhanden waren. An Ständen stellten die unterschiedlichsten Hilfsmittelfirmen ihre Produkte vor, welche man direkt austesten konnte, an anderen Ständen präsentierten sich verschiedene Selbsthilfeorganisationen und sogar ein Reiseanbieter war dabei, welcher Touren für Menschen mit und ohne visuellen Beeinträchtigungen anbietet. Auf den Reisen bilden dann immer eine gut sehende und eine sehbeeinträchtigte beziehungsweise blinde Person ein Team und helfen sich, falls nötig. Auch bei Stadtführungen werde beispielsweise darauf geachtet, dass mehr beschrieben wird und die Orte auch mit den anderen Sinnen erkundet werden können. Dabei zahlen die sehenden Reisenden etwas weniger und die blinden und sehbeeinträchtigten Reisenden etwas mehr. Hierbei muss ich noch einmal meinen Hut vor der Dame an diesem Stand ziehen, die auch auf sehr, sagen wir »interessante« Fragen äußerst humorvoll und kompetent geantwortet hat. Die Frage einer Person aus der Gruppe, mit der ich später unterwegs war, ob dort denn auch eine Art »Frauentausch« stattfinden könne, wenn er mit seiner sehenden Frau an einer solchen Reise teilnehmen würde, bringt uns noch heute zum Schmunzeln. Nur eines enttäuschte mich gewaltig: der Vortrag zu Chancen von Menschen mit Beeinträchtigung auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Ich war auf diesen Vortrag besonders gespannt gewesen, weil ich hoffte, dadurch vielleicht Anregungen für meine eigene Berufswahl zu finden. Deshalb antwortete ich auch, als Erdin, der Influencer, mich fragte, wo wir uns am besten treffen, dass ich erst nach dem Vortrag zu ihm stoßen würde. Ich hatte ihn auf der Messe zwar schon erkannt und war mehrfach an ihm vorbeigegangen, hatte aber noch nicht den Mut gehabt, ihn anzusprechen, weil er stets mit anderen Personen im Gespräch war und ich dort nicht stören wollte. Leider entmutigte der besuchte Vortrag lediglich. Es wurde erklärt, wie schwer es sei, auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, dass immer noch eine Mehrheit von Menschen mit Beeinträchtigungen in einer WfbM (*17) arbeiten würden und die Chancen sehr schlecht seien, jemals aus einer solchen Einrichtung auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Ich war ernüchtert. Wieso sollte es mir, im Gegensatz zu meinen Mitschülern, nicht möglich sein, zu studieren und ebenfalls auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig zu sein? Ich war doch auch in der Schule gut genug, um mit den anderen mitzuhalten. Wieso sollte ich also anfangen in einer Werkstatt zu arbeiten oder eine, speziell auf sehbeeinträchtigte und blinde angepasste Berufsausbildung machen? Nein, ich schaffe es auf den ersten Arbeitsmarkt!
Rückblickend weiß ich, dass blinden- oder sehbehindertenspezifische Ausbildungsangebote selbstverständlich auch ihre Vorteile haben und nicht jede blinde oder sehbeeinträchtigte Person meine damalige Einstellung teilt. Natürlich können Berufsbildungswerke, die auf sehbeeinträchtigte Personen eingestellt sind, eine große Erleichterung für diese darstellen. Es nimmt einem den möglichen Mehraufwand, sich sein Lernmaterial selbst barrierefrei gestalten zu müssen, und entlastet dadurch sehr. Zudem werden vielleicht Techniken beigebracht, um seine Beeinträchtigung im Berufsalltag auszugleichen, auf die ich so selbst kommen müsste. Dennoch hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt einfach gewünscht, neben den eher ernüchternden Zahlen auch ein positives Beispiel zu hören. Eine Person, die mit Sehbeeinträchtigung oder Blindheit auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeitet. Denn davon gibt es gar nicht so wenige, wie ich inzwischen weiß. Sie finden bloß zu wenig Beachtung, werden zu wenig in den Medien dargestellt. Eine einzige Person bei diesem Vortrag hätte mich ermuntern können, hätte zeigen können, dass das Schicksal als sehbeeinträchtigte Person eben nicht vorgefertigt ist, sondern dass man mit etwas mehr Arbeit auch einen tollen Beruf auf dem ersten Arbeitsmarkt ausüben kann. In diesem Moment war ich froh, auf einer Regelschule zu sein. Nicht so tief in dem Parallelsystem der Sonderschulen festzustecken, als dass der Weg für mich ohne einen weiteren Gedanken, auf Empfehlung der Lehrkräfte hin, in die nächste »Sondereinrichtung« geführt hätte.
Nach dem Vortrag schrieb ich Erdin und fragte, wo er sich inzwischen befindet. Wir verabredeten, dass wir uns eine Etage höher in einer Art Cafeteria treffen würden, wo er sich bereits mit ein paar anderen Zuschauern befand. Oben angekommen stand er schon beim Eingang und wartete auf mich. Recht schüchtern grüßte ich ihn. Er war ungefähr so groß wie ich, trug ein schwarzes T-shirt mit der Aufschrift »BlindLIFE« und eine beige Hose. Sein dunkles, volles Haar trug er kurz und er hatte eine schmale, längliche Tasche umgehängt. Er fragte, ob es okay wäre, mich zu umarmen, und ich stimmte, entgegen sonstiger Gewohnheit, zu.
Gemeinsam gingen wir zu der Gruppe, bestehend aus zwei Männern mittleren Alters und einer etwas jüngeren Frau. Ich hielt sie zunächst für Erdins Freundin, bis er uns miteinander bekannt gemacht hatte, und erwähnte, dass er uns alle heute zum erstem Mal traf. Nachdem die anderen aufgegessen hatten, gingen wir als Gruppe ein wenig ziellos zwischen den Ständen umher. Erdin versuchte sich für uns alle Zeit zu nehmen und drehte zwischendurch noch einzelne Videos über Hilfsmittel an verschiedenen Ständen. Es war spannend zu sehen, wie unterschiedlich alleine wir in der Gruppe sahen und wie wenig sich das reelle Sehvermögen an den Werten messen lassen konnte. Als sich der Tag dem Abend zuneigte, beschlossen wir zusammen noch etwas essen zu gehen und stellten bei der Suche in der Frankfurter Innenstadt fest, dass es als Gruppe von sehbeeinträchtigten und blinden Personen etwas schwieriger ist, wenn niemand in diesem Bereich der Stadt ortskundig ist. Letztendlich fanden wir einen Dönerladen und konnten den Abend schön ausklingen lassen, bevor es für uns alle wieder in die unterschiedlichsten Teile Deutschlands ging.
Zudem war ich am Tag vor der Messe in der Augenuniklinik meines Vertrauens und hatte erfahren, dass ich mit einer neuen Brille aktuell noch rund zehn Prozent mit dem besseren Auge sah. Mir war es sehr wichtig gewesen, vor dem Jahr in Togo noch einmal zur Kontrolle dort hinzufahren. Ich erhoffte mir genauere Informationen und Prognosen bezüglich meiner Erkrankung, zudem wollte ich wissen, ob der Verdacht auf Zapfen-Stäbchen-Dystrophie sich auch jetzt noch immer bewahrheitete. All dies ist schließlich wichtig, um zu entscheiden, welchen Beruf man wählt und wie man sein Leben gegebenenfalls plant.
Vor Ort wurde mir im Anschluss an die üblichen Untersuchungen Blut für eine Gendiagnostik abgenommen, auch wenn viele Auslöser der Zapfen-Stäbchen-Dystrophie noch gar nicht bekannt sind. Auf eine Prognose, wie sich mein Sehvermögen entwickelt, wollte sich der Arzt nicht festlegen. Ich war also ungefähr so klug wie zuvor, hoffte allerdings, dass die Ergebnisse der Gendiagnostik, welche in ungefähr vier Monaten zu erwarten wären, mir weiterhelfen würden. 
In der Zwischenzeit kümmerte mich um eine neue Brille und bat meinen Augenarzt um das Rezept für einen Langstock und ein Mobilitätstraining. Während ich zwar das Rezept ohne Probleme erhielt, erwies sich die Suche nach einem Mobilitätstrainer als deutlich schwieriger. Viele waren bereits bis ins Folgejahr ausgebucht. Doch ich hatte Glück und es fand sich eine Mobilitätstrainerin, welche mir in Heidelberg den Umgang mit dem Langstock beibringen konnte. Das war auch für mich von Vorteil, denn ich wollte auf keinen Fall von Personen, die ich kenne, mit Langstock gesehen werden. Noch war ich längst nicht bereit dafür, offen mit meiner Sehbeeinträchtigung umzugehen.
Die ersten Stunden Mobilitätstraining hatte ich tagsüber, ich lernte zunächst, mit dem Langstock auf dem Boden vor mir gleichmäßig, etwa schulterbreit zu pendeln. Danach ging es dann vom Bahnhofsparkplatz in die Innenstadt. Das erste Mal mit einem Langstock Bus fahren und sich zu trauen, beim Busfahrer nach der Linie zu fragen, war mir recht unangenehm. »Jetzt denkt jede Person, die uns sieht, dass ich vollkommen blind bin, dabei sehe ich doch noch was«, so mein Gedankenkarussel. Ich, die am liebsten in der Menge unterging und sich jahrelang geweigert hat, sich auch nur mit der eigenen Sehbeeinträchtigung auseinanderzusetzen, war nun offen nicht nur als sehbeeinträchtigt, sondern für die meisten fälschlicherweise sogar als blind zu erkennen. Denn natürlich fällt man mit Langstock im Alltag auf, Personen ziehen ihre Kinder oder Hunde aus dem Weg und schauen einem gegebenenfalls kurz hinterher. Doch sosehr ich mich innerlich unwohl fühlte, es hatte auch Vorteile. Ich fühlte mich mit Langstock sicherer, insbesondere wenn ich aufgrund der Sonne eine Sonnenbrille trug und so in schattigen Bereichen dafür nichts mehr sah.
Auch lernte ich, wie man sich bei Straßen ohne akustischen Übergang an den Autos orientiert, und hatte dabei einen kleinen Zwischenfall mit einem Auto an einem Zebrastreifen, dessen Fahrer meinte, mir statt per Sprache, einfach mal mit einer Handgeste zu verstehen zu geben, dass er mich vorlassen würde. Das erzählte mir jedenfalls später meine Trainerin, die das Ganze aus ein paar Metern Entfernung beobachtet hatte. Als ob der Langstock nicht Kennzeichen genug ist, dass meine Augen vielleicht etwas schlechter sind als andere. Bei den nächtlichen Einheiten bewahrte mich der Langstock davor, in Caféstühle zu laufen, und meine Trainerin zeigte mir die Nutzung auf verschiedenen Untergründen. Besonders gut gefiel mir, dass sie darauf achtete, dass wir zugleich meinen Sehrest mit einbanden, ich also lernte auf beides zugleich zu vertrauen.
Am Wochenende, bevor ich als Betreuerin bei den Ferienspielen in der Nachbarstadt aushalf, fuhr ich nach Potsdam. Noch halb krank von einer Grippe nach dem Abiball, doch unglaublich gespannt auf alles, was ich an diesem Wochenende über Balanka hören würde. Dort lernte ich ehemalige Freiwillige sowie Koko Affo Tenin, die Gründerin des Vereins »Bildung für Balanka e.V.« kennen und meine Vorfreude stieg erneut, weil mir viel Interessantes über die Einsatzstelle in Balanka erzählt wurdem (*18). Spontan holte ich von einer früheren Freiwilligen noch zwei gespendete Laptops für die Bibliothek in Balanka ab und nahm auf der Rückfahrt an einer Demo in Berlin gegen die Abholzung eines größeren Waldgebiets teil.
In einem Buch, das meine Mutter mir geschenkt hatte, wurde von einer früheren Freiwilligen in Togo erzählt, welche teils als Unterrichtsbegleiterin für blinde und sehbeeinträchtigte Schüler gearbeitet hatte. Dies weckte mein Interesse und ich setzte mir zum Ziel, diese Schule zu besuchen, um zu erfahren, wie blinde und sehbeeinträchtigte Menschen in Togo leben.
Dieses Interesse wurde natürlich auch durch meinen Freund geprägt. »Mein Freund«, Worte die für mich noch ganz neu waren, als ich nach 
Togo geflogen bin. Schließlich waren wir erst zwei Wochen vor dem Abflug offiziell zusammengekommen und ich hatte ihn, abgesehen von der Hilfsmittelmesse, erst zwei Mal privat getroffen. 
Erdin und ich hatten uns von Anfang an gut verstanden, konnten stundenlang über die verschiedensten Themen reden und irgendwann wurde mir bewusst, dass wir so eng in Kontakt standen, dass es nur angemessen wäre, den Kontakt abzubrechen, sollte jemand von uns eines Tages in einer Beziehung sein. Auf dem Vorbereitungsseminar hatte ich noch Mitgefühl mit denen, die ihren Freund oder ihre Freundin für ein Jahr nicht sehen würden.
Und dann fuhr ich Ende Juli für ein Wochenende nach Hamburg, um Erdin noch einmal vor der Abreise zu sehen. Sehr naiv? Vielleicht. Immerhin hatte ich einer Freundin seine Adresse geschickt und vereinbart, dass ich mich regelmäßig bei ihr meldete, damit sie wusste, dass alles gut war. Bereits die Hinfahrt war chaotisch. Ich wollte, um Geld zu sparen, mit dem ÖPNV (*19) fahren (*20) und stieg in Frankfurt statt in die Regionalbahn nach Kassel in eine S-Bahn ins Nirgendwo. Die Gleisänderung wurde nicht durchgesagt, ich konnte die Anschrift an der Anzeige und auch an der Bahn selbst nicht lesen und beide Züge waren leider rot, sodass mir der Fehler erst nach einiger Zeit auffiel. Mit zwei Stunden Verspätung kam ich schließlich in Hamburg an, ganz nervös, ob auch alles gut gehen würde. Aber natürlich lief ich erst einmal genau in die falsche Richtung, sodass ich bei den Rolltreppen auf der entgegengesetzten Seite nach Erdin Ausschau hielt. Glücklicherweise kennt er sich am Hamburger Hauptbahnhof aus und so fand er mich recht schnell. Das Miteinander fühlte sich von Anfang an vertraut an.
Wir aßen etwas in Bahnhofsnähe, fuhren danach zu ihm und abends machten wir noch einen Spaziergang an der Binnenalster, da für diesen Tag ein sogenannter »Blutmond« angekündigt war. Zusammen besuchten wir am nächsten Tag eine Ausstellung, ich lernte ein paar seiner Arbeitskollegen kennen, als er mir die im selben Haus befindliche Ausstellung zeigte, in welcher er arbeitete, und zusammen ging es im Regen zum Hafen, einem absoluten Lieblingsort von uns beiden. Schon diesen Weg legten wir, beieinander eingehakt zurück, schließlich sahen wir beide ja nicht so gut. Bei einer Schifffahrt im Hafen legte er dann irgendwann seinen Arm um meine Schulter und nach einem kurzen Zögern rutschte ich ein wenig enger an ihn. Schmetterlinge flatterten in meinem Körper und der Moment kam mir fast unwirklich vor. Bei Wellengang und leichtem Regen auf einem fast leeren Barkassenboot im Hafen, mit einem so wunderbaren Mann, mit dem ich nicht nur den geistigen Austausch ungemein schätzte, sondern in dessen Anwesenheit ich mich auch sehr wohlfühlte. Händchenhaltend gingen wir die Landungsbrücken entlang, aßen zusammen zu Abend und fuhren nach einem kleinen Abstecher zu Hause noch einmal los, zum Dom. 
Nachdem sich meine anfänglich Verwirrung gelegt hatte und ich realisierte, dass der Hamburger Dom kein religiöses Bauwerk, sondern ein Jahrmarkt war und wir in der Menschenmenge, zwischen Fahrgeschäften, Essenständen und Schießbuden eingetaucht waren, suchten wir uns einen Weg in Richtung des Riesenrades. Zwar hatten wir beide Höhenangst, aber dennoch erhofften wir uns in der lauen Abendstimmung einen schönen Ausblick über die hell erleuchtete Stadt. Auch hier ließen wir uns nicht los, alleine um uns in dem Trubel um uns herum nicht zu verlieren.
Am nächsten Morgen packte ich meinen Rucksack und ließ mich von Erdins Begeisterung anstecken, als er mir Bilder und Videos vom traditionellen Taekwon-Do zeigte, einer Kampfkunst, die er bereits seit Jahren ausübte. Wir saßen zusammen auf dem Sofa, konnten kaum aufhören zu reden und so verschob sich meine Rückreise immer weiter nach hinten. Schließlich nahm ich gegen Mittag den letzten Zug, mit dem ich nach einigen Umstiegen in Frankfurt noch den letzten Zug in die Nachbarstadt bekommen würde.
In Frankfurt angekommen, gab es leider Probleme, sodass mein Zug dort nicht mehr fuhr und ich zunächst mit einem Umweg in Darmstadt ankam. Dort rannte ich zur entsprechenden Bushaltestelle und entnahm dem Plan erleichtert, dass in ungefähr einer Stunde noch ein Bus kommen würde. Also schrieb ich meiner Mutter, dass ich in einer Stunde den Bus nehmen würde und sie bereits schlafen gehen könne. Ich setzte mich in das hell erleuchtete Bahnhofsgebäude und lief extra bereits zwanzig Minuten vor der Abfahrt zur Bushaltestelle, um den Bus auf keinen Fall zu verpassen. Doch der Bus kam nicht. Nach geraumer Zeit beschloss ich nochmals einen Blick auf den Plan zu werfen. Ich zoomte mit der Kamerafunktion meines Smartphones an den Text heran, der mit dem Blitz mehr oder minder ausgeleuchtet wurde. Nach genauerem Hinsehen erkannte ich ein kleines Symbol und musste feststellen, dass der Bus nur zu ausgewählten Tagen um diese Uhrzeit fuhr. Meine Mutter war nicht mehr zu erreichen und daher verbrachte ich die Nacht im Bahnhofsgebäude, darauf bedacht, nicht einzuschlafen. Erdin blieb mit mir wach, bis ich morgens wohlbehalten in den ersten Bus in Richtung Dorf steigen konnte.
Noch hatten wir das Thema Beziehung nicht angesprochen und doch stand es unausgesprochen zwischen uns im Raum. Recht schnell war vereinbart, dass wir uns noch einmal treffen würden, bevor es für mich nach Togo ging. Er war es, der den ersten Schritt machte, zugleich aber auch seine Sorgen bezüglich des Altersunterschieds äußerte. Mit diesem Punkt hatte ich weniger Probleme. Wahrscheinlich würde nicht jede Person in unserem Umfeld es positiv auffassen, wenn wir zusammen wären, dennoch schätzte ich all das zwischen uns so viel mehr, als dass das Grund genug wäre, nicht zusammen zu sein. Für uns beide passte es so, wie es war. Ich war verglichen zu anderen Personen in meinem Alter vielleicht etwas reifer, gewohnt, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen und in manchen Punkten vielleicht ein wenig unabhängiger als andere.
Unser zweites Wiedersehen Ende August war noch schöner. Wir verbrachten fast eine Woche miteinander, machten Ausflüge, kochten zusammen und lernten uns noch besser kennen.
Doch zugleich stand uns nun ein Jahr bevor, in dem wir uns gar nicht sehen würden. Würde unsere Beziehung das überstehen? Was wäre, wenn er währenddessen jemand kennenlernte, der besser aussah, klüger und sympathischer war als ich?
Genau aus diesen Gedanken heraus und in Anbetracht dessen, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits zweiunddreißig Jahre alt war, sagte ich vor dem Abflug zu ihm, dass er nicht bis zu meiner Rückkehr warten solle, wenn er eine Frau finde, bei der er sicher sei, dass er mit ihr sein Leben verbringen möchte. Dass ich dann Verständnis dafür hätte und eine solche Entscheidung respektieren würde. Dass er in so einem Falle einfach anrufen und es mir sagen solle.
Und tatsächlich hätte ich dafür Verständnis gehabt, denn in seinem Alter sollte man sich eine solche Chance nicht aus Rücksichtnahme auf mich vertun. Schließlich war ich erst achtzehn Jahre alt und es würde Jahre dauern, bis ich mit ihm die Schritte hinsichtlich Familie oder gemeinsamer Wohnung gehen könnte, die einer Frau in seinem Alter bereits zu diesem Zeitpunkt möglich wären.
Trotz Anspielungen Dritter, dass ich sicherlich einen jungen Mann in Togo kennenlernen würde (*21), war ich überzeugt davon, dass Erdin der Mann war, mit dem ich zusammen sein wollte, auch nach meiner Rückkehr aus Togo. Sowohl er als auch ich waren uns einig, dass eine Beziehung sinnlos wäre, wenn man sich nicht eine Zukunft miteinander vorstellen könnte.

3. Die ersten drei Wochen und  das erste Mal Malaria

Doch nun zurück zu den ersten Wochen in Togo. Was wir am Abend unserer Ankunft in Lomé noch nicht gesehen hatten, war die Umgebung des mehrstöckigen Hauses, in dem wir die erste Woche verbrachten. Wir wurden von den restlichen Mitgliedern der Partnerorganisation herzlich empfangen und sogleich bildeten wir eine Menschenkette,  sodass wir das Gepäck, was vom Dach des Kleinbusses abgeladen wurde, von einer Person entgegennahmen und an die nächste weiterreichten. Wir verteilten uns auf die Zimmer und recht schnell gab es dann auch schon Abendessen, bestehend aus dicken Spaghetti und einer Soße mit Gemüse und Fisch. Naiv, wie wir waren, und weil wir keine Haken in der Decke gefunden hatten, beschlossen wir, nachts zunächst auf die Mückennetze zu verzichten. Ich teilte mir ein Zimmer, das mit einem großen Bett ausgestattet war, mit zwei anderen Mitfreiwilligen. Zudem befand sich eine große Matte im Zimmer. Hinter einer spiegelnden Schiebetür verbarg sich ein Bad, mit Waschbecken, Toilette sowie einem fest an der Wand angebrachten Duschkopf.
Zum Frühstück gab es längliche Brote, von der Form ähnlich wie ein Baguette, und Margarine sowie Marmelade zum Bestreichen. Während es morgens heißes Wasser mit wahlweise einem Teebeutel oder Kakaopulver sowie Kondensmilch gab, hatten wir mittags und abends Wassersäckchen, sogenannte Sachets, aus denen wir tranken. Jedes Säckchen enthielt einen halben Liter Wasser. Um daraus zu trinken, bissen wir in eine der Ecken des Sachets und tranken dann aus der entstandenen Öffnung. An das Essen mussten wir uns im Bezug auf Schärfe und den ständigen Fischgeschmack zunächst gewöhnen, es war jedoch gut, reichhaltig und lecker. Gegessen wurde im Hof des Hauses auf großen Matten, was eine sehr schöne Erfahrung und gute Vorbereitung auf den Alltag in Balanka war.