Mit Siebzehn - Wilhelm Wiesebach - E-Book

Mit Siebzehn E-Book

Wilhelm Wiesebach

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Beschreibung

Mit siebzehn kann das Leben so verlockend sein. Als die siebzehnjährige Mia das erste Mal in die Oper darf, ist ihr Glück vollkommen. Das Leben der vergnügten Schülerin scheint voller Geschenke zu sein, die man sich nur zu nehmen braucht. Ausgestattet mit einem neuen weißen Kleid, das ihr der Onkel zum Theaterbesuch geschenkt hat, mit Blumen im Haar und im Gürtel, sieht sie aus wie eine Braut. Vergessen die Rauferei mit Fritz, der sie auf der Straße zu küssen versuchte, vergessen auch die bissigen Kommentare der neidischen Freundinnen. Doch die Stunden nach dem berauschenden Opernbesuch lassen Mia in größter Verwirrung zurück. Sie denkt nur an die Liebe, die Tannhäusers Unstern war, die das Herz verzaubert, aber die Seele so vieler Menschen leer lässt. Auch Hans Abel lässt sich mitreißen von den seelenlosen Ambitionen seiner Mutter. Immer ist er Zweiter hinter Fritz Risse in der Schule, und dabei wäre es doch ein Leichtes, Fritz in den Schatten zu stellen. Man müsste ihn nur ein bisschen ablenken und vom Schreibtisch locken. Doch Hans gelingt dieser Plan besser als gedacht, bis Fritz, der unter dem Einfluss seines falschen Freundes völlig auf die schiefe Bahn gerät, schwer erkrankt. Alle drei heiteren Geschichten, auch die von Röschen Schneider, die von einem Mann zum anderen taumelt, verweisen in ihrem dramatischen Ende auf den sinnstiftenden Glauben als Leitlinie für ein erfüllendes Leben jenseits eines oberflächlichen Glücks.Heiter und mit tiefem Verständnis lässt Wilhelm Wiesebach drei junge Menschen voller überschwänglicher Lebenslust die totale Leere eines oberflächlichen, nur auf sich bezogenen Lebens erfahren.

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Seitenzahl: 167

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Wilhelm Wiesebach

Mit Siebzehn

Saga

Mit SiebzehnCopyright © 1916, 2019 Wilhelm Wiesebach und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711592786

1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der siebzehnte Geburtstag

Ja, und morgen gehe ich zum erstenmal ins Theater!“

Mia Breuers sprang von der ersten Haustürstufe auf Lene Karsten zu und legte ihre Hand auf deren Arm.

„Wie ich mich freue!“

„Was, du ins Theater?“ fragte mit boshaft erstaunter Stimme die lange, spindeldürre Lizzi Neunagel und schlug die Hände zusammen, dass die Schlittschuhe klirrten, die an ihrem Arm pendelten. „Nein, aber so was! Menschenkind, du wirst ja ganz schlecht!“

„Pass mal auf,“ flüsterte Luise Hänel Lizzi ins Ohr, aber laut genug, dass es die andern hören konnten, „unsere gute Mia verliebt sich in Raoul Traber, wenn sie ihn in dem weissen Wams mit den Trikots sieht.“

„Ach, dummes Zeug,“ fuhr Lizzi dazwischen, „Mia ist dafür viel zu vernünftig, höchstens wird sie das Küssen lernen.“

Mia drehte sich mit einem Ruck herum und stapfte energisch die mit zertretenem Schnee bedeckten Stufen zur Haustür hinauf.

„Ich bin euch bös, wenn ihr so dummes Zeug schwätzt.“

„Sieh mal einer die gekränkte Leberwurst!“ lachte Luise.

„Pah, meint ihr denn, Mia hätte noch nie geküsst? Ihr kennt doch den süssen Fritz . . . hm . . . hm!“

„Ja, so sind überhaupt die von den Ursulinen. Wir leichte Ratten von der Diktoriaschule sind doch ganz andere Menschen.“

„Quatsch! Ich will euch lehren, solchen Unsinn schwätzen.“

Mia sprang wieder die Treppe hinunter, warf ihren Skunksmuff zur Erde, kniete in den Schnee, formte mit Blitzeseile einen Ball zusammen und zielte auf das Pelzbarett der langen Lizzi. Die drehte sich um und fing den Schuss mit dem Rücken auf. Der Ball war aber von der runden Faust Mias so kräftig geschleudert, dass Lizzi das Barett in den Nacken fiel und ihr lose herabhängendes dürres haar von dem verspritzenden Schnee überstäubt wurde.

Der Ruf zum Kampf war gegeben. Alle vier hockten jetzt in den Schnee und formten ihre Geschosse und im nächsten Augenblick war die Luft zwischen den Mädchenköpfen von Schneeballen und weissem, feinem Staub angefüllt. Dazwischen das Rasseln der Schlittschuhe an den Riemen, Lachen und Quieksen. Mia kämpfte so tapfer und hatte so viele Treffer, dass sich schon nach wenigen Augenblicken Lene und Luise auf ihre Seite stellten und die lange Lizzi mit einem Hagel von Geschossen überschütteten.

„Fritz!“

Lizzi hatte es mit halberstickter Stimme gerufen. Wie mit einem Zauberschlag war die Schneebuddelei abgebrochen. Lizzi griff mit beiden offenen Händen in den Nacken und ordnete mit kühnen Strichen ihr strohfarbenes Haar. Lene und Luise klopften den Schnee von Jackett und Rock und fassten wie der Blitz ihre Schlittschuhe, die auf dem zerstampften Kampfplatz halb in den Schnee eingewühlt waren.

„Wie fandst du denn heute die Eisbahn, Mia? Ich fand sie herrlich, besonders das Stück zwischen der Felsgrotte und der Insel.“

Wie Damen aus Korbgeflecht und Wachs im Schaufenster eines Kleidergeschäftes standen Lizzi, Lene und Luise da und probierten die interessanteste, jede für ihre Figur passendste Stellung aus.

„Ihr esset auch gerne Käse, nicht wahr? — Pfui, schämt euch was, wegen eines Zierbengels so ein Theater zu spielen,“ rief Mia entrüstet.

Mia Breuers Haus lag ziemlich einsam an einer Strasse ausserhalb der Stadt. Eine Tuchfabrik und eine Eisengiesserei waren die einzigen Gebäude in der Nähe. Weiter die Strasse hinauf, kaum noch in Sichtweite, lagen zwei Dillen, in deren einer Fritz Strang wohnte. Die Besitzer der andern waren Lenes Eltern.

Fritz, der Primaner, war natürlich das Ideal der angehenden jungen Damen der ganzen Gegend: Schwarzes Haar, gekrönt von einem eleganten hellgrauen Hütchen, bleiches, hochinteressantes Gesicht mit einem mehr geahnten als vorhandenen Schnurrbartanflug, feiner Wuchs und feiner Gang, achtzehn Jahre. . . . Was kann man noch mehr verlangen?

Dass aber auch Fritz gerade in diesem Augenblick um die Strassenecke biegen musste! Man war unsterblich blamiert, wenn er die Schneebalgerei gesehen hatte. Und an allem war diese Mia schuld, das eklige Ding!

Die drei verlegenen Damen, rot bis in den Nacken hinein, streichelten ihre Müffe und wendeten sich halbrechts in der Richtung zu Fritz hin. Mia kehrte dem Kommenden den Rücken zu und platzte ziemlich laut aus.

Lizzi hob keck herausfordernd ihren eckigen Kopf auf dem dünnen Hals und fragte spitz:

„Sag mal, liebe Mia, du gehst doch hoffentlich nicht allein ins Theater. Das passt sich doch nicht für ein Kind in deinem Alter.“

Mia suchte Lizzi nachzuahmen und straffte ihr untersetztes Figürchen in die Höhe und blitzte mit ihren leuchtenden, schwarzen Augen die Fragestellerin an.

„Mit Derlaub zu bemerken, ich werde morgen siebzehn Jahre. Und wenn ihr es wissen wollt, mein Onkel nimmt mich mit.“

„Was, du hast morgen Geburtstag? Davon haben wir ja gar nichts gewusst! Geburtstag auf Neujahr!“

„Nein, der liebe Onkel geht mit! Da können wir ja ruhig schlafen, da bist du in guten Händen.“

Fritz war gerade dem Klübchen gegenüber. Seinem tiefen Gruss neigten sich die drei leicht und wurden noch röter, als sie schon waren. Mia wandte nur eben den Kopf und nickte. Die andern schauten dem Bewunderten verstohlen nach; jede meinte von ihrer Freundin, sie merke ihren Blick nicht. Alle waren sie aufeinander eifersüchtig, am eifersüchtigsten aber auf Mia, die sie aus vielen Anzeichen für Fritzens stille Liebe hielten. Gerade deshalb neckten sie ihre Freundin auch immer mit dem „süssen Fritz“. Sie klopften auf den Busch, ob der Vogel nicht doch einmal herausflöge und Mia sich verriete.

„Was wird denn aber morgen gespielt?“

„O, sicher Genoveva oder Aschenbrödel oder so was recht Züchtiges.“

„Nein, Tannhäufer wird gegeben, wenn ihr es wissen wollt.“

„Puh! Tannhäuser! Da wird die Venus hübsch en coeur sein. Das ist aber nichts für kleine liebe Mädchen vom Lande.“

„Übrigens weisst du, Luise,“ tat Lizzi wichtig und schaute triumphierend um sich, um die Wirkung ihrer Worte zu beobachten, „ich trage heute abend auf dem Neujahrsball bei Geheimrat Palenberg auch zum erstenmal ein Tanzkleid mit grossem runden Ausschnitt.“

„Na, geh du! Mit deinem knochigen Schwanenhals!“ höhnte Luise.

Lene fiel ihr ins Wort: „Ei, wie mich das freut, Lizzi, ich mache auch heute bei Palenbergs meinen ersten grösseren Ball mit; wie mir Lore Neller verriet, kommt auch Fritz, der süsse Fritz, hin!“

Damit hatte Lene zwei Stiche ausgeteilt. Sie wusste nur zu genau, dass Lizzi mit ihrer Ballprahlerei gelogen hatte, und wollte sie nur in Derlegenheit setzen, deshalb log sie ebenso dick. Und mit Fritz wollte sie gegen Mia ausholen. Aber der Angriff auf Lizzi war zu heftig gewesen und hatte zu gut gesessen. Darum blieb ihr keine Zeit mehr, Mia zu beobachten. Lizzi hatte den Stich gefühlt.

„Meine Fräulein, meine alte Dame ist sehr pünktlich und dringt bei ihrem Fräulein Tochter auf Pünktlichkeit. Ich muss zum Essen. Auf Wiedersehen! Gehst du mit, Luise?“

Die Mädchen gaben sich flüchtig die Hand. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!“

„Bewahre deine Unschuld, Mia! Die Welt ist bös und ganz besonders das Theater.“

Mia lachte mit ihrem ganzen rotwangigen, kecken Gesicht und steckte ihr kleines Himmelfahrtsnäschen in die Luft, nach oben spähend, wo im ersten Stock sich ein Fenster öffnete und ein schwarzhaariger Frauenkopf über einem Bübchen, dem Abbild Mias, erschien. Das Bübchen krähte: „Mia! Mia!“ und das Mädchen warf einen Handkuss hinauf. Dann stieg es die drei haustürstufen hinauf und drückte auf einen Knopf am Türrahmen. Mit einem Knacks öffnete sich die Tür und Mia verschwand im Hausflur.

Auf der halben Treppe kam ihr der Kleine entgegen. Seine Grösse reichte noch nicht, dass er einen Fuss vor den andern setzen konnte; aber er beeilte sich, an Mias Hals zu kommen. Sein Gesicht strahlte, als er seine warme Wange an der Schwester kalte Stirne legte.

„Karli, mein Liebling!“

„Geschwind essen kommen, Mia! Tante hat Kompott gemacht.“

Klein-Karl, Familie Breuers Nesthäkchen, war in Mia, seine älteste Schwester, verliebt, wie nur ein kleiner Bub in seine Schwester verliebt sein kann. Und das Mädchen schenkte dem Kinde sein ganzes reines, weiblich-mütterliches Herz.

Vor zwei Jahren war Frau Rechnungsrat Breuers plötzlich am Herzschlag gestorben und seit der Zeit führte eine Schwester der Mutter den Haushalt. Herr Breuers war ein merkwürdig stiller und verschlossener, fast finsterer Mann, der von seinem Bureau zum Mittagessen kam, wo er schweigsam sass, dann ein Schläfchen hielt und wieder zum Bureau ging. Abends kam er meist so spät nach Hause, dass er die Kinder nicht mehr wach traf. Mia und Karl waren ganz die Mutter mit heiterem, mutigem und doch tiefgemütvollem Temperament. Die beiden Geschwister, Trude mit dreizehn und Gustav mit neun Jahren, waren ganz nach dem Vater geartet, so dass, besonders nach der Mutter Tode, eine Wand zwischen den Familiengliedern stand.

Der natürliche Dermittler zwischen beiden nicht gerade feindlichen Lagern war Onkel Lorenz, ein bedeutend älterer Bruder des Vaters. Schweigsam und ernst wie er, aber ein tiefes, sonniges Gemüt, ein lediger Sonderling, doch vernarrt in Mia seit den ersten Tagen ihres Lebens. Die Liebe beruhte merkwürdigerweise auf Gegenseitigkeit.

Onkel Lorenz hatte mit seinen sechzig Jahren die Verwaltung des Gutes, das er als einziger unstudierter Sohn von seinem Vater übernommen hatte, aufgegeben und war mit seiner Haushälterin in die Stadt ins Haus seines Bruders Rechnungsrat gezogen. So ganz in das Häuserwirrsal wollte er sich, des langen Landlebens gewöhnt, doch nicht vergraben. Deshalb war es ihm sehr lieb, dass Herrn Breuers Haus etwas vor der Stadt lag. — —

Man sass schon zu Tisch — Tante an der Schmalseite, den Rücken dem Fenster zugekehrt, Trude und Gustav an der einen Langseite und ihnen gegenüber Mia mit Karl —, als Vater kam. Der Sitte gemäss standen alle auf und sprachen ihren Gruss wie aus einem Mund:

„Guten Tag, Vater, guten Appetit.“

Herr Breuers brummte etwas wie guten Tag in den schwarzen Bart. Man sprach ein kurzes Gebet und setzte sich nieder.

Vater ass schnell und stumm. Auch die andern Sprachen kein Wort, selbst der Kleine wagte nur mit Mia zu flüstern.

„Du musst laut sprechen, wenn du etwas willst.“

Aber jetzt verstummte er ganz und zeigte das sprudelnde Leben, das in ihm quoll, nur durch seine leuchtenden Blicke, die er über den Tisch warf, und durch Hin- und Herrutschen auf dem breiten Stuhl.

Als der Vater sich erhob, standen wieder alle auf und wiederholten den Gruss wie vor Tisch:

„Auf Wiedersehen, Vater.“

Wieder ein unverständliches Brummen als Antwort.

Gustav und Trude verliessen gleich hinter dem Vater das Zimmer. Tante blieb mit Mia und Karl zurück und sofort war die Luft in dem Raum wie verändert.

„Komm, Karli, ich schäle dir noch einen Apfel.“

„O bitte, bitte! — Nimmst du mich auch morgen mit ins Theater?“

„Aber, Bubi, ins Theater gehören doch nicht so kleine Purzel wie du!“

„O bitte, nimm mich mit! Ich will dich nur in deinem schönen neuen Kleid sehen, das du dann anziehst und das du dom Onkel Lorenz hast.“

„Nun sieh mal einer an, Mia, da macht der kleine Schlingel dich ja schon eitel.“

„Ich will dir alles erzählen, wenn ich nach Hause komme, und will dir Musik machen auf Onkels Klavier.“

„Ja, bitte, bitte! Gleich Musik machen!“

„Hast du dir auch das Textbuch des ‚Tannhäuser‘ schon etwas angesehen, Mia? Ohne den Text gelesen zu haben, wirst du wenig verstehen.“

„Ja, Tante, ich habe den ‚Tannhäuser‘ schon zweimal durchgelesen. Er ist wunderschön. Ich träume schon den ganzen Tag von der Aufführung. Es muss herrlich sein! Neulich sang Lene mir einmal die Romanze vom Abendstern vor. Ich bin gespannt, wie sie das auf der Bühne machen, dass der Stern wirklich aufgeht.“

„Komm, Mia, Musik machen.“

Karl war vom Stuhl heruntergerutscht, hatte die Serviette unter den Tisch fallen lassen und fasste Mia bei der Hand und bettelte mit seinen grossen schwarzen Kinderaugen.

„Nun, geh’ in Gottes Namen mit ihm hinauf zum Onkel, dann hat der Quälgeist Ruhe.“

„Ja, dann komm, aber zuerst die Serviette schön aufheben. — So, marsch, hinauf!“ — —

Karl pochte mit seinen kleinen Fäustchen im zweiten Stock an die Tür des Onkels.

„Herein — —!“ tönte es drinnen vom tiefsten Bass in einer langen Schleife bis zum höchsten Tenor.

„Onkel, Karl will Musik hören!“

„So, Junge, was willst du denn hören: Alles neu macht der Mai, oder: Hopp, hopp, hopp wohl über den Graben, Karlchen will ein Pferdchen haben?“

Der Onkel war schon aus der Fensterecke aufgestanden, hatte die lange Pfeife an den Stuhl gelehnt und war an das braune Klavier zugegangen, das dem Fenster gegenüber an der Wand stand. Er klappte es ziemlich unsanft auf und setzte sich auf den runden Drehstuhl. Seine lange, hagere Gestalt bückte sich über die Klaviatur und die grauen Augen über der spitzen Nase im glattrasierten, fahlen Gesicht suchten die richtigen Tasten. Dann ging es los mit Kraft, hart und abgestossen jede Note: Alles neu — Pause — macht der Mai — hu! das war daneben! Also noch einmal: macht — der Mai.

„Onkel, lass nur, es ist für dich hier zu dunkel an dem nebligen Wintertag. Lass mich nur ein paar Töne anschlagen, dann ist das Kind schon zufrieden.“

Als Onkel Lorenz in die Stadt gezogen war, hatte er das Klavier alt gekauft und wollte durchaus von Mia in seinen alten Tagen Klavierunterricht haben. Das Mädchen hatte ihm den Willen getan und in die alten, steifen Finger die ersten Stückchen aus Damms Klavierschule hineingearbeitet. Damit war Onkel Lorenz aber nicht zufrieden; er träumte vom Torgauer Marsch und dem Donauwellen-Walzer. Bis dahin wollte er es doch bringen. Die hatte er draussen auf dem Lande so oft von den „Sieben Brüdern“ gehört, wenn sie zur Kirchweih in der Prozession schritten oder zum Tanze aufspielten. Der Alte bestand darauf: die beiden grandiosen Stücke musste er lernen.

„Gut, dann spiel’ mir mal die Donauwellen. Da ist das Heft.“

Mia setzte sich und schlug die Tasten an, und während sie den schon hundertmal vor dem Onkel gespielten Walzer hörte, stiegen in ihrer Phantasie berauschende, bunte Bilder auf von Grotten und Wäldern und buntgekleideten Menschen und darüber stand am blaudämmerigen Abendhimmel ein leuchtender Stern. Das war Wagners „Tannhäuser“, wie sie sich die Oper vorstellte. Sie spielte und spielte bis zum Schluss mit allen Wiederholungen und wusste doch nicht, was sie spielte, so war ihr junges Mädchenherz von der Romantik des zu Schauenden und zu Hörenden erfüllt.

Karl ritt auf Onkels Knie auf dem Sofa. Längst hatte er die Musik vergessen und spähte nur noch nach den Büchern, die auf einem geschnitzten Regal an der Wand standen. Als Mia mit glühenden Wangen geendigt hatte, rutschte er von seinem Reitsitz herunter.

„Onkel, Bilder zeigen. Karli will Bilder sehen!“

Da rief eine Helle Frauenstimme von unten herauf:

„Karli, Karli, schlafen kommen.“

„Pst! Hörst du, Bubi, Tante ruft. Musst dein Mittagsschläfchen halten. Geh’, lauf schnell!“

Mia öffnete dem Brüderchen die Türe und schob es hinaus.

„Mia mitgehen!“

„Nein, Kind, Mia muss noch ein bisschen bei mir bleiben. Du kannst allein schlafen gehen; bist doch ein so grosser Junge.“

Gehorsam gab er sich zufrieden und trollte sich.

Der Alte zog das Mädchen zu sich aufs Sofa und nahm ihre Rechte in seine beiden alten, knochigen, blauädrigen Hände.

„Kind, freust du dich denn auf das Theater morgen?“

„O, Onkel, ich denke fast an nichts anderes. Ich bin fast zu bange, heute beichten zu gehen, dass ich beim Gebet nur Zerstreuungen habe.“

„Ich weiss, Kind, dass andere Mädchen viel früher alle Vergnügen der Erwachsenen mitmachen, aber ich weiss auch, dass deine Mutter nie darin eingewilligt hätte, dich mit vierzehn oder fünfzehn Jahren schon ins Theater gehen zu lassen. Ich weiss auch, dass mich die jungen Leute einen Sonderling schelten.“

„Nein, Onkel, das tun sie nicht.“ Sie patschte ihm dabei mit ihrer Hand auf seinen Handrücken.

„O, du bist gut, Mädchen!“ Er zog ihren Kopf an seine Wangen und streichelte sie mit seinen rauhen Stoppeln. Das war Mia so gewöhnt. „Aber siehst du, ich habe so die Idee, in meinen alten Tagen noch etwas zu lernen. Du kennst ja meine Bücher und weisst, dass ich viel studiere. Vom Pierers Konversationslexikon habe ich jetzt schon drei Bände ganz gelesen und Holzwarths Weltgeschichte habe ich auch schon ganz aus. Von nächster Woche an musst du mir alle Theaterstücke von Schiller und Goethe vorlesen.“

„Das wird aber schön, Onkel, wenn wir zwei in Tell und Tasso schwelgen!“

Mia lächelte spitzbübisch, dass ihre Wangengrübchen sich vertieften. Wie sollte sie auch nicht? Waren die Einfälle des alten Mannes doch gar zu drollig.

„Ja, und dann wollen wir zwei alles nach und nach im Theater sehen, was wir gelesen haben. Weisst du, ich will dir etwas verraten. Darfst es aber keinem sagen.“

„Nun, und was ist das, Onkel?“

Der Alte wandte sich dem Mädchen zu, legte seine mageren, bartlosen Lippen an ihr Ohr und flüsterte geheimnisvoll:

„Ich gehe morgen auch zum ersten Male ins Theater.“

Mit einem Ruck sprang Mia auf und schlug übermütig theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. Sie drehte sich auf dem Absatz im Kreise herum, dass die Zöpfe flogen, und fasste den Alten an beiden Schultern.

„Holdio, Onkel, da bin ich aber stolz, dass ich dich zum ersten Male ins Theater führe. Dass du mir aber ja recht artig bist!“

„O, artig werde ich schon sein. Ich freue mich schon gross darauf, wenn die Leute meinen, ich führe meine Tochter ins Theater. So ein feines Mädchen.“

„Pfui, Onkel, so darfst du nicht reden. So sprechen nur die Gecken.“

Mia wich vor dem alten Manne zurück, machte ein böses Gesicht und stellte sich stramm.

Der Alte erhob sich langsam und ging, ohne ein Wort zu sagen, an seinen Mahagonisekretär, zog den Klapptisch herunter, öffnete eine Schublade und entnahm ihr ein schwarzes Lederkästchen.

„Kind,“ begann er feierlich, indem er das Kästchen auf seinen Fingerspitzen thronen liess, „hier habe ich etwas, das ich mein Leben lang wie einen Schatz gehütet.“

„Wenn du noch einmal so was Dummes sagst, Onkel, dann will ich gar nicht sehen, was du da hast.“

„Ruhig, Kind, unterbrich mich nicht! — Siehst du, als ich noch jung war, da habe ich einmal ein Mädchen geliebt.“

„O weh! Du, Onkel?“

„Du sollst mich ja nicht unterbrechen. — Sie war nicht schön, aber hübsch. Geld hatte sie keines. Sie verbrachte die Sommermonate auf einem Nachbargute. Als ich ihr meinen Antrag machen wollte, kaufte ich in der Stadt diese Perlenhalskette, sie ihr zu schenken. Endlich kam der grosse Tag. Ich 30g mit meinem Brautgeschenk in ihr Haus und — wurde nicht einmal empfangen.“

„Das war gemein, Onkel.“ Mia sagte es mit mitleidiger Entrüstung.

„Siehst du, Mädchen, jetzt habe ich das Halsband aufbewahrt bis heute. Ich wusste wohl, dass ich einmal eine würdigere Besitzerin finden würde.“

Damit drückte er auf den Knopf des Etuis, nahm die Kette heraus und hielt sie ausgebreitet Mia vor die Augen.

Das Mädchen erglühte in Entzücken, Dank und Rührung. Seine Augen glänzten feucht.

„Onkel, du bist zu gut. Was würde Mutter sagen, wenn sie mich mit siebzehn Jahren mit einem solchen Schmuck sähe?“

„Mutter würde sich freuen, wie ich mich freue. Vielleicht würde sie auch eine lustige Bemerkung machen, wie du, Schelm, eben tatest, wenn sie die Geschichte des Halsbandes kännte.“

Stolz wie eine Mutter legte der Alte die Kette um Mias Hals, dass sie in weitem Bogen auf ihrer Brust lag.

„Eine Brillantkette brauchst du nie; deine Augen glänzen schöner als alle Diamanten.“

Mia schaute beschämt vor sich. In ihrem Staunen vergass sie, dem Onkel wegen des ungeschickten Komplimentes eins drauf zu geben.

„Weisst du, Kind, jetzt noch eine Myrtenblüte an der Brust, dann wirst du die Schönste sein morgen im weissen Kleid.“

Hastig griff das Mädchen an das Kettenschloss im Nacken und legte in plötzlicher Bewegung die Kette auf den Tisch. Mit aller Gewalt verbiss sie sich die Tränen.

„Onkel, jetzt muss ich gehen. Es wird heute voll am Beichtstuhl. Behüt’ dich Gott bis heute abend.“

Husch! war sie fort und der Alte stand allein im winterdämmerigen Zimmer. — —