Der Einzige u.a. - Wilhelm Wiesebach - E-Book

Der Einzige u.a. E-Book

Wilhelm Wiesebach

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Beschreibung

Den Glauben, die Berufung auch als Beruf auszuüben: Diese Entscheidung seinen Mitmenschen und besonders seiner Familie verständlich zu machen ist nicht immer einfach. In seinen christlichen Geschichten erzählt Wilhelm Wiesebach von Existenzängsten, Verpflichtungen und dem familiären Druck, den die Entscheidung, ins Kloster zu gehen, heraufbeschwört: Zwei Söhne der alten Frau Schirmer sind im Kloster. Nur der Jüngste ist ihr geblieben, um sie im Alter zu versorgen. Sein Plan, es den Brüdern gleichzutun, bringt sie zur Verzweiflung. Ein Gespräch mit ihrem Pfarrer lässt sie eine mutige Entscheidung treffen. Ganz anders die Familie von Angelo. Der heißblütige Paterfamilias Carlos setzt seine ganze Autorität gegen seinen Sohn ein, als der frischgebackene Abiturient, der mit seinem Tangospiel die ganze Nachbarschaft mitreißt, seinen Entschluss, zu den Padres zu gehen, mitteilt. Listig schickt er den Jungen zu seinem Bruder nach Rio, um ihm das "echte Leben" schmackhaft zu machen. Als der Sohn, aufgeschwemmt und kalt von den Vergnügungen der Stadt, zurückkommt, ist seine Lebensfreude zerstört. Andere Erzählungen dieser Sammlung, wie z. B. "Vita" oder "Der Einzige" zeigen christliche Nächstenliebe als intuitive Handlung ("Vita") oder als Verwandlung in die persönliche Freiheit ("Der Einzige"). Wilhelm Wiesebachs ungewöhnliche Kurzgeschichten erzählen von existenziellen Konflikten, in die der Glaube den modernen Menschen stürzen kann.-

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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Wilhelm Wiesebach

Der Einzige u.a.

und andere Erzählungen

Saga

Der Einzige u.a.Copyright © 1915, 2019 Wilhelm Wiesebach und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711592793

1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der Einzige.

Vom Maschinenhause der Tuchfabrik Halm u. Co. heulte die Dampfsirene. Mittag. Die Herren auf dem Bureau klappten ihre Bücher zu und tauchten aus dem Reich der Zahlen in die Wirklichkeit empor.

« Verdammte Hitze heute,» schnarrte der junge Schaller mit dem schneidigen, blonden Schnurrbart und der frühen Glatze, und hielt seine Pulse unter die Wasserleitung. Latting, der Stift, nestelte an seinem Selbstbinder und schielte durch die offenstehende Tür ins Nebenzimmer, wo eben das Klappern einer Schreibmaschine abbrach und eine weisse Bluse hin und her schwebte.

Die anderen Herren tupften mit dem Taschentuch die Stirne und streiften die Manschetten, die bis jetzt auf den breiten Pulten gestanden hatten, über die Hände.

Herr Sassen, der als Prokurist am ersten Pult, dicht vor der Tür des Privatkontors des Fabrikherrn stand, trocknete bedächtig seine Feder am Tintenwischer und schmunzelte vergnügt den kleinen porzellanenen Hemdenmatz an, der mit ausgestreckten Beinchen auf der breiten, runden Fläche des obersten Tintenwischerläppchens sass. Sein Nachbar, ein langgeschossener, magerer Herr mit glattrassiertem, rotem Weingesicht, prüfte seine Fingernägel und den feingebügelten, hellgrauen Anzug.

« Na, Herr Sassen, Sie können schon lachen. Während unsereins sich in der Julihitze abschinden muss, machen Sie den Nachmittag frei. Das hat man davon, wenn man geplagter Junggeselle ist.»

« Ei, Donnerwetter ja, Herr Sassen, verzeihen gütigst; habe ganz vergessen zu gratulieren,» kam Schaller kratzfüssig an, « welche Nummer ist’s denn eigentlich?»

« Nummer acht!» antwortete der ganze fünfstimmige Chor, indem Herr Schaller Herrn Sassen die Hand bot.

« Besten Dank für die Glückwünsche. Aber wer hat mir denn da den kleinen Kerl aufs Pult gesetzt? Das ist sicher wieder Herr Malten gewesen?»

« Ich, ich?» pustete ein kleiner, kugelrunder Herr mit speckiger Stimme.

« Na, nu leugnen Sie man nicht! Das Kerlchen macht mir übrigens grossen Spass.»

« Na ja, was kann alles Lügen helfen! Ich darf Ihnen doch einen porzellanenen Buben schenken; denn Sie haben ja doch nie genug von der Sorte.»

« Gott sei Dank, dass es so ist, Herr Malten,» und Herrn Sassens Augen blickten ernst unter den schwarzen Brauen hervor.

« Na, Sie müssten meine Frau haben,» quakte der Dicke entgegen.

Herr Sassen tat, als hätte er die Frechheit nicht gehört. « Meine Herren, ich gebe mir die Ehre, Sie für morgen abend zu einem kleinen Trunk in die « Altdeutsche Bierstube» einzuladen. Da wollen wir das Kleine gehörig begiessen.»

« Angenommen, bravo! Was ist’s denn, ein Junge oder Mädel?»

« Natürlich ein Bub. Mädel habe ich jetzt genug.»

Der Stift machte sich noch immer angelegentlich am Wasserkranen mit Händewaschen zu tun. Herr Sassen merkte, dass er neugierig lauschte.

« Karl, mach, dass du nach Hause kommst. — Meine Herren, Sie entschuldigen, ich muss eben noch zu Herrn Halm hinein.»

« So, so! Gehaltszulage?»

« Herr Malten, ich verbitte mir das.»

Der Prokurist strich seinen schwarzen Spitzbart zurecht und schritt auf die Tür des Chefs zu. Kaum war er drinnen verschwunden, als ein zynisches Kichern unter den Fünfen anhub.

« Der Sassen ist glatt verrückt. Der kommt noch mal total zur Plebs hinunter.»

« Wie lange trägt er nun schon den braunen Anzug? Menschenkind, das kann ja einer allein gar nicht mal zusammenrechnen.»

« Na, und dabei sind ihm schon drei kleine Affen gestorben.»

« Die ganze Erklärung ist die: der Kerl ist bigott, und seine Alte auch.»

« Ja, aber die Bischöfe und ihr gemeinsamer Hirtenbrief?»

« Was geht das uns an? Lass sie sagen und schreiben, was sie wollen . . . ich meine, ein gebildeter Mensch heutzutage . . .»

« Na, kurz und gut, Sassen ist ein Schaf erster Grösse. Wenn ich jemals heiraten sollte, wovor mich das Geschick bewahre, Kinder — nee — brr. Meine Herren, darauf muss ich meinen Mund mit einem guten Pilsener ausspülen.»

Die Herren griffen zu ihren Hüten und verliessen das Büro. — —

Der Prokurist kam aus dem Zimmer des Chefs, rieb sich vergnügt die Hände und summte einen Marsch vor sich hin. Seine Bewegungen, wie er noch einige ordnende Griffe auf seinem Pulte tat und mit Hut und Stock das Zimmer verliess, waren frisch und geschmeidig. Heute sah er vor eitel Freude wenigstens um zehn Jahre jünger aus. Das würde ein schönes Taufessen geben. So ganz in der Familie, nur den Chef mit Gemahlin als fremde Gäste. Jetzt aber im Sturmschritt nach Hause, zu seiner lieben Frau und dem kleinen Heiden! Schon so oft hatte er diese jubelnde Freude erlebt, doch immer wieder war sie ihm neu. Man hätte hinter der sonst so ernsten Miene des pflichttreuen Mannes nie ein so natürliches, frisches Glücksgefühl vermutet.

Vor einigen grösseren Zigarrengeschäften und Schreibwarenhandlungen drängten sich Arbeiter und Ladenmädchen, Soldaten und Schreiber vor ausgelegten Telegrammen. Doch was kümmerten ihn heute die aufregendsten Neuigkeiten. In der Politik sah es seit dem Mord von Sarajewo gefährlich aus. Aber es wird wohl auch diesmal, wie schon so oft, wieder glücklich vorübergehen. Heute treibt man keine Politik, heute lebt man dem Kinde.

Herr Sassen steckte den Schlüssel in die Haustüre und stürmte die Treppe zum ersten Stock hinauf ins Zimmer seiner Frau. Da war heute seine ganze Welt, sein ganzes Sinnen und sein Glück.

« Gertrud, du erlaubst? Frau Halm möchte dich ein Weilchen besuchen. — Bitte, gnädige Frau!»

Damit liess Herr Sassen die Gemahlin seines Chefs ins Zimmer seiner Frau eintreten und zog sich selbst zurück.

Ein freudiges Erröten huschte über das nervösbleiche Gesicht der hochgewachsenen, stolzen Frau, als sie die kleine Blondine in den blühweissen Kissen liegen sah. Alles licht und weiss um sie her, und ein schwellender Strauss weisser Rosen auf dem Toilettentisch.

Frau Sassen streckte der Eintretenden ihre schmale weisse, von Spitzen umrahmte Hand entgegen und erhob sich lächelnd ein wenig. « Herzlichen Dank, gnädige Frau, für ihre Liebenswürdigkeit.»

« Verzeihen Sie meine Zudringlichkeit! Ich will nicht lange stören. Ich wollte Sie eben nur einmal begrüssen und den kleinen Buben sehen.»

« Da ist unser Richard,» und sie wies auf ein kleines Himmelbettchen am Fussende ihres Bettes.

Frau Halm näherte sich auf den Fussspitzen dem spitzenumblühten Nestchen und schob den Vorhang etwas zur Seite. Da lag ein kleines, puppenhaftes Wesen mit rotem Gesichtchen und roten Händchen und schlief unbeweglich wie ein Christkindchen aus Wachs.

« Ein allerliebstes Kindchen! Die Härchen hat es halb von Ihnen, Frau Sassen, und halb von Ihrem Herrn Gemahl, halb blond, halb schwarz; und wie lang sind sie schon!»

« Das haben alle unsere Kleinen so gehabt.»

« Und wieviel sind deren schon?»

« Das ist das Elfte. Drei sind schon Engel im Himmel, klein gestorben.»

« Also acht am Leben!»

« Ja, eine wahre Freude für eine Mutter. — Aber nehmen Sie, bitte, Platz, gnädige Frau.»

Die Besucherin setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. Da sah Frau Sassen erst, wie gross sie war; sie musste immer noch zu der Dame aufschauen.

« Es kommt ganz darauf an, liebe Frau Sassen, wie man das Leben nimmt.»

« Wie verstehen Sie das? Ich meine, es gibt für eine Frau nichts Schöneres, als Mutter, recht oft Mutter zu sein.»

« Wenn man keine anderen Verpflichtungen hat.»

« Mag sein, aber ich war immer glücklich mit den Verpflichtungen, die mir meine Kinder brachten.»

« Ach, auf mir lasteten schon Verpflichtungen, ehe ich unseren Einzigen, den Robert zur Welt brachte; gesellschaftliche Verpflichtungen dringendster Art.» Die Sprecherin nestelte mit der rechten Hand an der Kante des Federbettes. Hier und da schien sie sich der Ungehörigkeit bewusst zu werden und zog die Hand zurück. Dann vergass sie sich aber wieder und nahm das Spiel wieder auf. « Was will man als junge Frau machen? Man muss doch ins Theater gehen, auch einmal einer Balleinladung zusagen. Und dann sehen Sie: Im Anfang ging unser Geschäft auch noch nicht so glänzend. Da musste ich aus Liebe zu meinem Mann auch gegenüber manchem einflussreichen Kunden Rücksicht nehmen. Wollte ich mich da oft zu preziös machen, so schädigte ich schliesslich unsere Existenzsicherheit selbst! Hatten wir Gewissheit, Brot für viele Kinder zu finden?»

« Ach, gnädige Frau, was liegt schliesslich am Brot? Wo der liebe Gott ein Häschen schafft, da schafft er auch ein Gräschen.»

Die Dame musste lächeln ob der verblüffenden Philosophie der einfachen, kindlichen Frau. Aber sie liess sich in ihrem überhastenden Redeschwall nicht stören.

« Und dann wissen Sie, bei Robert habe ich schon so viel gelitten. Der Arzt sagte mir ernst, wenn es noch einmal so weit käme, könne er für nichts einstehen.»

« Das hat er mir auch schon einmal gesagt. Aber, wie Sie sehen, lebe ich heute noch und bin gesünder denn je. Glauben Sie mir, gnädige Frau, wenn der liebe Gott mich hätte von meinem Mann und den Kindern wegholen wollen, dann brauchte er mir kein Kindchen zu geben. Eine Lungenentzündung oder eine ähnliche gefährliche Krankheit hätte mir auch den Tod bringen können. Dem lieben Gott kann man doch nicht entwischen, wenn er einen haben will.»

« O, Sie haben gut reden. Sie finden in Ihrem häuslichen Kreis Ihre Befriedigung. Sie verlangen nach nichts mehr. Aber unsereins! Der gesellschaftliche Verkehr! Sie müssten einmal die spitzen Bemerkungen unserer Damen hören, wenn einmal eine aus unserem Kreis sich zu sehr mit Kindern beschwert und schon in frühen Jahren verblüht.»

« Nein, gnädige Frau, was Sie da sagen! Schauen Sie mich einmal an; bin ich denn verblüht? Ich bin doch noch leidlich hübsch mit meinen achtunddreissig Jahren.» Sie lachte schelmisch. « Und dann, was Sie von den Stichelreden der Damen der Gesellschaft sagen: Ich weiss von meinem Mann recht gut, wie die Herren reden. Die Nadeln, mit denen die Damen stechen, müssen, soviel ich darüber urteilen kann, allerdings noch viel spitzer sein.»

« Allerdings, meine Liebe, die sind entsetzlich spitz, und dazu noch vergiftet.»

« Aber die Liebe zu Mann und Kind nimmt ihnen die Spitze und das Gift. Ich bin dazu noch stolz auf meine Kinder. Ich sasse die Stichelreden, wenn ich einmal etwas davon höre, nur als Ausbruch des blassen Neides auf. Die Damen haben ein schlechtes Gewissen und können deshalb auch andere nicht in Ruhe lassen. Sie müssen sich selbst auf irgend eine Weise ins Recht setzen und deshalb die andern ins Unrecht.»

Die kleine Mutter hatte sich in Eifer hineingeredet, und die andere fühlte ihre geistige Überlegenheit, die aus dem reinen, echt weiblichen und mütterlichen Herzen heraus mit ungekünstelten Gedanken scharfe Schläge führte.

« Apropos, Frau Sassen, was will denn Ihr Ältester studieren? Wenn ich nicht irre, ist er mit unserm Robert auf der Oberprima und macht Ostern das Abitür.»

« Er will, soviel ich weiss, Medizin studieren. Aber das kann sich bei so jungen Leuten ja noch ändern.»

« Denken Sie, das will unser Robert auch. Vater hätte so gerne, wenn er erst Jura studierte und dann in die Fabrik einträte. Sehen Sie, wer soll denn später das Geschäft übernehmen? Aber der Junge hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Arzt zu werden. Wenn ihm nun da etwas passierte! Die jungen Leute müssen ja an den Leichen herumschneiden. Hu, ich habe schon einen Ekel davor. Aber wenn er sich nun dabei einmal in den Finger schnitte, und es ihm ginge wie Direktor Schillings Eduard, der in vierundzwanzig Stunden tot war. Ich mag nicht daran denken.»

Die grosse Frau schlug sich die Hände vor’s Gesicht und schluchzte nervös auf.

« Man muss auch nicht immer gleich das Schlimmste denken, gnädige Frau. Wieviele haben schon Medizin studiert und es ist ihnen nichts zugestossen.»

« Ja, aber die vielen ansteckenden Krankheiten, mit denen er als Arzt in Berührung kommt.»

« Welcher Beruf ist heute ohne Gefahr? Wenn Ihr Sohn einmal den Beruf hat . . . ich sage unserm Otto gar nichts, er soll sich seinen Beruf frei wählen.»

« Sie haben gut reden; aber wenn man nur ein Kind zu verlieren hat!»

« Ein Kind bleibt für die Mutter nun einmal ein Kind, ob es eins unter achten oder ob es das einzige ist.»

Es klopfte, und ein etwa sechzehnjähriges Mädchen mit frischgeröteten Wangen und leuchtenden Augen trat ein.

« Ach, Fräulein Maria!» Frau Halm erhob sich und streckte der Tochter des Hauses die Hand entgegen.

« Gnädige Frau, Papa lässt bitten.»

« O, verzeihen Sie, Frau Sassen, dass ich Sie so lange ermüdet habe.»

« Maria muss in der Haushaltung helfen und mich heute in der Küche vertreten. — Herzlichen Dank für Ihren freundlichen Besuch. Das Plauderstündchen hat mir wohl getan.»

« Bitte, das Vergnügen war ganz auf meiner Seite. Hoffentlich sprechen Sie später einmal mit Ihrem kleinen Richard bei mir vor.»

Die Frauen gaben sich die Hand, und Maria führte die Besucherin hinaus und die Treppe hinunter.

Von dem ersten Treppenabsatz führten drei Stufen zum Seitenbau hinauf. Eine Tür stand offen, und aus dem Zimmer schallte ein fröhliches Lärmen von drei Jungen und zwei Mädchen, die in buntem Gewusel mit einer Eisenbahn spielten.

« Kinder, Kinder! Wollt ihr nun durchaus das Brüderchen nicht schlafen lassen?»

Sofort war auf die Stimme der älteren Schwester hin das Rufen und Lachen verstummt.

« Kommt mal her und sagt der gnädigen Frau guten Tag.»

Da kamen sie alle der Reihe nach die Stufen herunter. Die Buben verneigten sich stramm und gaben der Dame leicht die Hand, die beiden kleinen Mädchen machten ihr Knixchen und schauten gleich wieder stolz auf ihre Puppen, die sie im Arm trugen.

Frau Halm legte, ohne ein Wort zu sagen, nur ihre Hand auf den Scheitel der Mädchen. Ihre Augen wurden ein wenig feucht. Wie die Kinder alle schönen Züge von Vater und Mutter in sich vereinten! Sollte sich ihr Lebensinhalt doch nicht reicher gestaltet haben, wenn sie und ihr Mann Gott nicht in die Arme gegriffen hätten? Welches Lebensziel hatte sie jetzt eigentlich? Ihr Sohn entwuchs allmählich ihren Händen und ihrer Kraft. Mutter und Sohn hatten so ganz andere Gedanken und Strebungen. Hätte sie doch wenigstens noch ein Mädchen, in dem sie sich selbst wiedergebildet fände!

Die Kinder schauten die eigentümlich schweigende Frau verwundert an. Die grösseren Jungen standen noch immer stramm. Die kleinen Mädchen wiegten ihre Puppen in den Armen. — Wie der Mutterdrang doch schon in den kleinen Dingern steckte!

« Nun spielt weiter, liebe Kinder! Lebt wohl!»

Da wagte sich der grösste Junge heraus: « Die Eisenbahn hat uns das Brüderchen mitgebracht.»

« Ja, und mir und Martha die Puppen.»

« Ist das aber ein liebes Brüderchen, nicht wahr? Habt ihr es auch gern?»

« Ja, sehr lieb haben wir es, aber es ist noch zu klein, man kann noch nicht recht mit ihm spielen.»

« Da müsst ihr halt noch ein bisschen warten. Wenn ihr recht ruhig seid, kann es gut schlafen, und dann wächst es auch schnell. Darum macht auch hübsch die Türe zu, wenn ihr weiterspielt. Lebt wohl, Kinder.»

« Auf Wiedersehen, gnädige Frau.» Das war Franz, der älteste unter den Kleinen, der schon etwas auf sich und feine Manieren hielt.

Als Frau Halm mit Maria in den Salon im Erdgeschoss eintrat, stand der Hausherr mit Herrn Halm, seinem Bruder Richard, dem Paten des heutigen Täuflings, und seinem Sohn Otto in engem Kreis zusammen. Die Unterhaltung zwischen den älteren Herren war sehr eregt. Otto, an einen Stuhl gelehnt, hörte nur aufmerksam und bescheiden zu. Tante Leni, die Patin, hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt und schaute etwas verängstigt drein.

« Nun, Alterchen, seid ihr wieder in Geschäften?»

Alle wandten sich zur Sprecherin um.

« Nein und ja, meine Liebe. Es gibt wirklich Krieg.»

« Ja, gnädige Frau, darf ich bitten?» — und der Hausherr wies ihr den Ehrenplatz an — « ja, der Kriegszustand ist erklärt, und die Mobilmachung steht bevor.»

« Gott sei Dank, Erich, dass du nicht mehr mit musst und Robert noch zu jung ist.»

Man hatte Platz genommen, und die Pasteten wurden aufgetragen. Aber alle festliche Stimmung war wie im Keime erstickt. Die Herren schauten ernst drein, und die Damen besorgt.

« Lass da kommen, was kommen mag! Wir werden uns durchhauen. Ein Unterliegen gibt es für uns nicht. Unsere Volkskraft wird sich wieder siegreich aufraffen. Die deutschen Mütter werden siegen. Das durch eigene Schuld entvölkerte Frankreich wird von Gott für seine Sünde gestraft, und das halbzivilisierte Russland von unserem überlegenen Geist geschlagen.»

« Wirtschaftlich werden wir auch durchhalten; ich hoffe sogar, an Tuchlieferungen für das Heer recht gut zu verdienen. Aber Krieg bleibt doch immer Krieg, eine entsetzliche Geissel.»

« Nun, Erich, wenn du für das Geschäft nichts fürchtest, dann bleibt doch diese Geissel recht weit von uns selbst entfernt.»

« Wir Frauen haben dann um so mehr Gelegenheit, christliche Liebe zu üben,» meinte Herrn Sassens Schwägerin, « der Krieg wird nicht nur Hass, sondern noch viel mehr Liebe entbrennen lassen.»

« Und wir jungen Leute werden uns mit Begeisterung als Freiwillige melden. Man munkelt sogar, wir bekämen ein Kriegsabitür, wenn es wirklich jetzt losginge.»

Otto sprach es mit leuchtenden Augen und mutiger Stimme. Maria schaute mit zager Bewunderung zu ihrem Bruder hinüber.

« Gott bewahre, Herr Sassen! Was würde denn Ihr Herr Vater sagen, wenn Sie, sein Altester und sein Stolz, ins Feld ziehen und sich erschiessen lassen wollten? Ich würde das von unserm Robert nie zugeben.»

« Ich denke so, gnädige Frau: Wenn mein Junge mitgehen will, dann soll er es tun. Tausende armer Eltern und Gattinnen müssen im Kriege ihr Liebstes und ihren Ernährer opfern fürs Vaterland und für uns, die wir schön zu Hause bleiben dürfen. Sollen wir denn da so ganz opferlos ausgehen? Ich käme mir, offen gestanden, erbärmlich vor, wenn ich Otto nicht ziehen liesse.»

« O Herr Sassen, Sie haben gut reden. Ich habe eben schon zu ihrer Frau Gemahlin gesagt, dass ein gewaltiger Unterschied ist, ob man nur ein Kind oder deren acht hat.»

Maria schaute erstaunt von der Seite auf die Dame; ein leises Mitleid sprach aus ihren Zügen.

« Ich meine» , ertönte der tiefe Bass des Fabrikherrn, « man sollte von vornherein bei einer Mobilmachung auf die jungen Leute Rücksicht nehmen, die einzige Söhne ihrer Eltern sind. Man sollte sie entweder gar nicht einziehen oder sie in der Heimat mit Postenstehen und in der Heeresverwaltung verwenden; denn gerade in den besseren Kreisen der Bildung und in der Finanz findet man oft nur einen Sohn. Wer soll denn nach dem Krieg die grosskapitalistischen Unternehmungen und die höhere Bildung weiter führen?»

« Jungdeutschland, das jetzt heranwächst.»

« Ja gewiss, Jungdeutschland! — Ich trinke auf das Wohl des allerjüngsten Deutschland. Wie heisst er denn noch? Ja richtig, Richard Löwenherz! Sie gestatten, mein lieber Herr Sassen!»

Und man trank auf den Täufling und vergass allmählich den drohenden Krieg; wenigstens die Herren fanden bald einen anderen Gesprächsstoff. Nur Frau Halm hatte die Stimmung verloren. Ihre Gedanken waren bei ihrem Sohn Robert. Wenn der Junge nur nicht auch auf den Einfall kam, sich im Falle einer Mobilmachung freiwillig zu melden. In dem jungen Sassen spukten ja schon solche Ideen. Die Männer verstanden nie und nimmer das Gefühl einer Mutter. Wie jetzt Otto da sass mit träumendem Blick und an dem Stiel seines Weinglases fingerte. Der dachte gewiss schon an frisches Stürmen gegen den Feind, ans Eiserne Kreuz und siegreiche Heimfahrt.

Einige Tage später. Die Mobilmachung ist in vollem Gange. Eine schwarzgekleidete Dame schellt bei Sassens.

« Ist Frau Sassen schon zu sprechen?»

« Ich will einmal nachsehen. Bitte, treten Sie ein,» erhielt sie zur Antwort.

Frau Halm liess sich im kleinen Nebenraum des Salons, der als Sprechzimmer diente, nieder und streifte ihren Schleier über die Stirne hinauf, entnahm ihrem Ledertäschchen das Taschentuch und wischte sich die Augen. Frau Sassen trat ein.

« Gnädige Frau, was verschafft mir die Ehre?»

« O, denken Sie sich, die ganze Oberprima des Wilhelmgymnasiums will das Kriegsabitür machen, und alle wollen sich als Freiwillige für das Heer melden. Die jungen Leute müssen ja die Einwilligung ihrer Eltern haben, und ich kann und darf sie meinem Robert nicht geben. So ist der gute Junge aber vor dem ganzen Gymnasium, in der ganzen Stadt blamiert, wenn er der einzige ist, der sich nicht meldet.»

« Machen Sie sich darum keine Sorge, gnädige Frau! Das wird man in dieser aufgeregten Zeit bald vergessen. Und man wird auch Ihre Bedenken verstehen.»

« Aber mein Junge wird mir keine Ruhe lassen. Er ist sehr ehrgeizig. Jetzt fängt er schon an zu trotzen. Ich bitte Sie, liebe Frau Sassen, helfen Sie mir. Bringen Sie Ihren Otto dazu, dass er sich nicht meldet; dann hat mein Sohn wenigstens einen Genossen, und lässt sich vielleicht eher durch meine Bitten umstimmen. ES wäre mein Tod, wenn ich den Jungen verlöre.»

« Gnädige Frau, ich verstehe Ihren Mutterschmerz sehr wohl; aber mein Mann und ich, wir haben den Grundsatz, unseren Kindern in ihre Lebenspläne, solange sie gut und edel sind und sich ausführen lassen, nicht hineinzureden. Ich für meinen Teil habe meinen Ältesten lieb, wie jede Mutter ihre Kinder liebt, aber ich bin auch stolz auf ihn, wenn er ritterlich ist, selbst wenn es Opfer kostet.»

« Frau Sassen, Sie sind grausam gegen Ihr Kind und mich. Ihr Otto ist noch nicht so alt, dass er sich selbst leiten könnte, ebensowenig wie mein Robert; da sollten Sie die Zügel in die Hand nehmen. Aber ich will nicht hart werden. Ich bitte Sie flehentlich, um Ihrer Mutterliebe willen, helfen Sie mir in meiner Not.»

« Gut, ich will alles tun, was ich vor meinem Gewissen verantworten kann. Ich will mit Otto reden. Aber ich versichere Sie, es wird nichts fruchten.»

« Ich danke Ihnen recht sehr für Ihr gutes Wort.» Frau Halm erhob sich und fasste der Hausherrin Rechte mit beiden Händen. Die Tränen rannen ihr aus den Augen über die bleichen Wangen herab. « Denken Sie, liebe Frau Sassen, denken Sie an meinen Einzigen!»

«