Mitten im Jungbusch - Nora Noé - E-Book

Mitten im Jungbusch E-Book

Nora Noé

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Beschreibung

In diesem ersten Band ihrer erfolgreichen Roman-Serie verarbeitet die Mannheimer Autorin Nora Noé die biografischen Erinnerungen ihrer Mutter und die ihrer eigenen Kindheit zu einem ergreifenden Stück Zeitgeschichte. Vor dem Hintergrund regionaler, deutscher und weltpolitischer Ereignisse der Jahre 1900 bis 1942 erzählt sie aus dem Leben der Legrands, die über vier Generationen im Jungbusch wohnen, dem Arbeiterviertel am Mannheimer Hafen mit seiner wechselhaften Geschichte. Noé erzählt mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Lokalkolorit von Amelie und Carlo, von Marlene und Alfred. Sie lässt längst vergangene Zeiten lebendig werden, deren Spuren sich bis heute im Jungbusch entdecken lassen. Die Ereignisse und Augenblicke, die sie in ihrer Familien- und Liebesgeschichte einfängt, die bewegenden Schicksale, die sie schildert, sind geprägt von dem Bewusstsein, dass unsere Lebenslinien meistens unseren Wurzeln folgen.

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Meiner Mutter

und den vielen liebenswerten Menschen

im Jungbusch gewidmet

Nora Noé, geb. 1952 in Mannheim, arbeitete nach dem Germanistik- und Kunststudium als Lehrerin, bis sie diesen Beruf gegen eine Tätigkeit im Kulturbereich eintauschte. Seit 1991 hat sie mehr als 20 musikalisch-literarische Programme auf die Bühne gebracht. 2006 erschien ihr erster RomanWer einmal einen Priester küsst ...Nora Noé lebt und arbeitet in Mannheim und Karlsruhe. Informationen zur Autorin unterwww.noranoe.de

Nora Noé

Mitten

im Jungbusch

Aber wenn Ostwind ist,

dann haben wir immer Glück.

Dann riecht der ganze Jungbusch

nach Schokolade ...

1

„In den Jungbusch willst du gehen? Du bist verrückt! In dieses heruntergekommene Viertel? Da wohnen doch bloß Nutten, Kiffer und Kanaken. Wer geht denn da schon hin? Da muss man doch Angst haben, dass man beklaut oder vielleicht sogar zusammengeschlagen wird. Nee, da musst du schon jemand anders mitnehmen, das ist nichts für mich“, Charlottes Freundin Helga winkte ab.

„Aber das ist doch Unsinn! Das stimmt doch gar nicht! Der Jungbusch ist dabei, sich total zu verändern. Da lassen sich immer mehr Künstler nieder, besonders seit es die Pop-Akademie in der Hafenstraße gibt. Und außerdem war der Jungbusch nie so, wie du ihn beschreibst! Da haben auch immer ganz viele anständige Leute gewohnt, die einfach nur arm waren und ...“ Weiter kam Charlotte nicht. Denn Helga war, ohne ihr weiter zuzuhören, einfach gegangen. „Schöne Freundin!“

Aber so einfach ließ sich Charlotte nicht von ihrem Plan abbringen. Sie hatte gerade im Mannheimer Morgen gelesen, dass es unter dem Motto „Nachtwandel“ das ganze Wochenende über Kulturveranstaltungen im Jungbusch geben würde.

Charlotte war seit 1970 nicht mehr im Jungbusch gewesen. Sie würde so gerne mal wieder dahin gehen, wo sie aufgewachsen war. Schauen, ob das Haus, wo sie gewohnt hatte, noch stand. Ob es noch Läden von damals gab und ob der Spielplatz in der Beilstraße noch existierte.

Und so fragte Charlotte ihre Nachbarin, die unter ihr wohnte:„Hätten Sie nicht Lust, heute Abend mit mir zum Weintrinken zu gehen und Multi-Kulti-Musik zu hören?“ Ihre Nachbarin Frau Schmitt war Reiseleiterin und an allem interessiert, was mit fremden Kulturen und mit Kunst zu tun hatte. Und so reagierte sie, wie Charlotte es erwartet hatte.

„Das ist ja eine tolle Idee! Wann geht es los? Wann wollen wir uns treffen?“ Und nach einer Pause: „Wo ist das Fest überhaupt?“

„Es ist eine Kulturinitiative des Quartiermanagements Jungbusch.“

„Ach, im Jungbusch findet das statt?!“ Auf Frau Schmitts Stirn bildete sich eine tiefe Falte. „Und da wollen Sie hin?“

„Ja, warum sollte ich denn nicht dahin?“

„Aber Sie wissen doch, das ist ein asoziales Viertel. Aus dem Jungbusch kam doch noch nie was Gescheites! Gebildete Menschen wie Sie und ich setzen doch keinen Fuß in den Jungbusch! Sie sollten da nicht hingehen!“

Und nach einer Pause fügte sie hinzu: „Aber wenn es mal so ein Event hier bei uns in der Oststadt gibt, dann gehe ich gerne mit.“ Charlotte musste an sich halten, um nicht laut zu werden. Und so war es gut, dass Frau Schmitt sich umdrehte und während sie Charlotte einen schönen Tag wünschte, ihre Wohnungstür hinter sich schloss.

Der schöne Tag war Charlotte erst einmal verdorben. Während sie zurück in ihre Wohnung ging, erschien ihr das alles wie eine Reise in die Vergangenheit, in ihre Kindheit, vierundvierzig Jahre zurück in das Jahr 1962.

Und mit den Bildern, die vor ihrem geistigen Auge vorbeizogen, kamen auch die Gefühle zurück. Gefühle von Verlassenheit, Hilflosigkeit und Kränkung, aber auch von Trotz, Entschlossenheit und Beharrlichkeit.

Sie legte sich auf die Couch im Wohnzimmer und schloss die Augen. Und sah sich als Zehnjährige vor ihrer Lehrerin stehen.

*

„Bitte, bitte, Fräulein Pfaff, rufen Sie meine Mama in die Schule und sagen Sie ihr, dass ich auch Lehrerin werden möchte, so wie Sie. Meine Mutter soll mich aufs Gymnasium gehen lassen! Ich will nicht in die Volksschule!“ Charlotte blickte ihre Lehrerin mit flehendem Blick an.

„Mach dir keine Sorgen, Lottchen, natürlich werde ich mit deiner Mutter reden.“ Fräulein Pfaff strich ihrer Lieblingsschülerin zärtlich über den Kopf. „Du passt immer so gut auf meine zweite Klasse auf, du wirst eine wunderbare Lehrerin werden! Und du schaffst das auch, da bin ich mir ganz sicher.“ –

Genau das sagte Fräulein Pfaff auch zwei Tage später zu Charlottes Mutter. Helena Kühn schaute sie voller Zweifel an. „Ich weiß nicht. In unserer Familie war noch nie jemand auf dem Gymnasium. Eigentlich wollte ich, dass Charlotte in die U-Schule an der Kurpfalzbrücke geht und nach der Volksschule vielleicht noch die Handelsschule besucht, so wie es die meisten Kinder bei uns im Jungbusch machen. Sie haben doch auch gehört, was der Kulturbürgermeister letzte Woche beim Elternabend gesagt hat, nämlich, dass wir unsere Kinder, auch wenn sie gute Noten haben, besser in die Volksschule schicken sollten, nicht jedes Kind müsse aufs Gymnasium gehen und studieren.“

Fräulein Pfaff verzog den Mund. „Das dürfte ich jetzt eigentlich nicht sagen, Frau Kühn, aber denken Sie denn wirklich, dass der Herr Bürgermeister diese Empfehlung auch in Schulen gibt, wo die Eltern Akademiker sind? – Ich denke, Charlotte ist so ein aufgewecktes Kind und sie hat gute Noten, Sie sollten ihr nicht den Weg verbauen.“

„Meinen Sie wirklich?“ Helena Kühn war noch immer unsicher. „Wir können ihr halt überhaupt nicht helfen. Wir können alle kein Englisch und Französisch. Mein Mann und ich haben auch nur Rechnen und keine höhere Mathematik gelernt. Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll?“

„Sie machen sich viel zu viele Gedanken. Charlotte muss ja sowieso eine Aufnahmeprüfung machen und da wird sich entscheiden, ob sie es schafft. Aber ehrlich gesagt, ich denke, das macht sie mit links.“

Und genauso war es. Charlotte Kühn, das Arbeiterkind aus dem Jungbusch, bestand mühelos die Aufnahmeprüfung und besuchte ab April 1963 die Sexta des Elisabeth-Gymnasiums im Quadrat D7. Nur diese Oberschule kam in Betracht, da sie dem Jungbusch am nächsten lag. Die Tatsache, dass Charlotte nun statt fünf noch mindestens neun Jahre zur Schule gehen sollte, danach womöglich noch studieren wollte, würde für die Haushaltskasse der Kühns eine erhebliche Belastung darstellen. Im Jungbusch ging man davon aus, dass die Kinder spätestens mit fünfzehn das erste Geld nach Hause brachten und damit die Familie finanziell entlasteten. Wenn das nun schon nicht der Fall sein würde, musste man zumindest alle unnötigen Kosten wie eine teure Monatskarte für die Straßenbahn oder den Bus einsparen.

Am ersten Schultag saß Charlotte in einer Klasse mit 41 anderen Schülerinnen. Das Elisabeth-Gymnasium war ein reines Mädchengymnasium, ein richtiger Weiberverein mit all jenen „Tugenden“, die man Frauen so nachsagt: Eifersucht, Neid, Konkurrenz und Eitelkeit.

Die meisten „höheren Töchter“ kamen auch aus „besseren Familien“ – zumindest hielten sie sich auf Grund der Berufe ihrer Eltern dafür. Die Väter waren Rechtsanwälte, Architekten, Pfarrer, Fabrikbesitzer, Ladenbesitzer und Kaufleute, mindestens aber Angestellte. Bald fanden die Klassenkameradinnen heraus, dass Charlottes Vater nur Arbeiter in der Margarine-Union war. Und das ließen sie Charlotte spüren.

In der neuen Klassengemeinschaft entstanden bald Cliquen. Man traf sich am Nachmittag beim Polsterfabrikanten Eckerle, half sich gegenseitig bei den Hausaufgaben, trank heiße Schokolade, aß „Flammende Herzen“ oder „Schweinsöhrchen“ – weil man vornehm war natürlich mit der Kuchengabel – und spielte Tischtennis auf der Dachterrasse.

Die jungen Damen gründeten einen Club, in den viele Klassenkameradinnen eintraten. Charlotte wäre auch gern Clubmitglied geworden, aber niemand sprach sie darauf an. Und so nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und fragte die Mädchen, ob sie denn nicht auch mitmachen dürfe. Da gab man ihr zum ersten Mal richtig zu verstehen, dass sie nicht dazu gehörte. Traudel Eckerle betrachtete sie von oben bis unten und meinte hochnäsig: „Du? Dein Vater ist doch bloß Arbeiter!“

Aber damit nicht genug. Die „Niedrigste“ dieses Clubs, was ihren gesellschaftlichen Status anbelangte, war Ilka Pichler. Sie wohnte in den G-Quadraten und ihr Vater war ein kleiner Angestellter. In der Hackordnung war das jedoch immer noch viel mehr als ein Arbeiter aus dem Jungbusch. Ilka trieb das Ganze auf die Spitze. Vielleicht wollte sie sich damit profilieren, indem sie nach unten trat und nach oben schön tat. Jedenfalls rief sie eines Tages Charlotte „Margarinesimpel! Dein Vater ist ein Margarinesimpel!“ hinterher. Dann drehte sie sich zu ihren Freundinnen. Alle brachen in lautes, hysterisches Lachen aus.

Charlotte wollte an diesem Mittag nur noch heim. Raus aus der Schule und nach Hause zu ihren Freunden im Hinterhof der Dalbergstraße. Sie lief allein den Luisenring entlang, niemand hatte denselben Schulweg wie sie, weil ja keines der Mädchen im Jungbusch wohnte. Sie grüßte den Eismann, der wie immer in den warmen Monaten mit seinem Eiswagen vor dem Café Weller stand. Der ältere Mann im weißen Konditoranzug und mit schiffchenartigem Käppi, dem sie ab und zu für zehn Pfennig ein Schokoladeneis am Stiel abkaufte, winkte ihr zu. Und auch die schöne blonde Frau Weller, die gerade vor die Eingangstür des Cafés trat, grüßte sie freundlich. Sie kannte das Mädchen gut, weil Charlotte manchmal sonntags, wenn ihr Onkel aus Ludwigshafen zu Besuch kam, ins Café Weller geschickt wurde, um dort immer die drei gleichen Artikel zu kaufen: eine Flasche Habereckl Bier, eine Schachtel Kurmark und ein Päckchen Wrigley’s Spearmint weiß. Kaugummi war angeblich sehr gut gegen Sodbrennen.

Charlotte bog in die Dalbergstraße ein. Schon von weitem sah sie vor dem Haus Nr. 15 Hansel in seinem Rollstuhl sitzen. Als er sie sah, verkrampfte sich sein Körper und sein Gesicht verzerrte sich. Die unkontrollierten spastischen Bewegungen signalisierten ihr, dass er sie gesehen hatte. Als sie bei ihm war, griff sie nach seiner versteiften Hand und schüttelte sie.

„Guten Tag, Hansel, na, wie geht es dir?“

Hansels Grimassen wurden noch wilder und er fuchtelte mit seinen Armen in der Luft herum – Ausdruck seiner Freude. Hansel war immer ganz glücklich, wenn jemand zu ihm kam. Und Charlotte blieb immer bei ihm stehen und redete mit ihm. Hansel konnte nicht sprechen. Nur mühsam gelang es ihm, ein paar undefinierbare Laute hervorzustoßen. Seine einzige Beschäftigung war es, den ganzen Tag in seinem Rollstuhl an der Bundesstraße 44 zu stehen und den Autos hinterher zu schauen. Seine Eltern waren arme Leute und hatten dem von Geburt an spastisch Gelähmten keine adäquate Behandlung zukommen lassen können. Sie konnten es sich einfach nicht leisten. Und so erhielt er eben durch den Hausarzt eine Minimalbetreuung, um ihn am Leben zu halten. An eine Therapie war gar nicht zu denken.

Als Charlotte Hansel sah, vergaß sie den eigenen Kummer. Was waren die Demütigungen der Mitschülerinnen schon im Vergleich zu Hansels Schicksal? Sie war jetzt auf der Höheren Schule und irgendwann würde sie Lehrerin sein. Dann würde sie niemand mehr piesacken. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg.

Am Nachmittag traf sie ihre Freundin Bärbel aus dem Hinterhaus der Dalbergstraße 17. Sie wohnte gegenüber in einer 5-Zimmer-Dachgeschosswohnung. Diese teilten sich insgesamt elf Personen. Bärbels Eltern hatten Zimmer und Küche gemietet. Sie arbeiteten beide den ganzen Tag in der Fabrik. Bärbel war ein Schlüsselkind und somit ganz sich selbst überlassen, was sie bald in einer für sie nachteiligen Form zu nutzen wusste. Denn in der sechsten Klasse flog sie mit Pauken und Trompeten von der Volksschule und landete in der Pestalozzi-Schule, der Hilfsschule. Sie hatte nie Hausaufgaben gemacht und mehr als einmal die Schule geschwänzt.

Mit Bärbel hatte sie sich immer gut vertragen. Aber je länger Charlotte auf der Höheren Schule war, desto schlechter wurde das Verhältnis der Freundinnen. „Schwetz doch net so gschwolle doher!“ Bärbel beschwerte sich, weil Charlotte versuchte, nach der Schrift zu sprechen. In der Schule konnte sie es sich einfach nicht erlauben, breites Mannheimerisch zu reden. Das hätten alle erneut zum Anlass genommen, auf ihrer Herkunft rumzureiten.

„Willscht dann ubedingt was Besseres soi wie mir?!“ – Nein, sie wollte beileibe nichts Besseres sein, sie hing an den Menschen im Jungbusch, an den Nachbarn, die sie kannten und die sie grüßten. Viele ältere Leute im Haus waren stolz darauf, dass in ihrem Haus ein Mädchen wohnte, das aufs Gymnasium ging und Lehrerin werden wollte. „Des hawwe ma schun imma gewisst, dass aus derre Lumpekrott mol ebbes werd!“ Oder „Ja, des Lottche, des war schun imma ä uffgewecktes Kind, des hot ma schun gemerkt, wo se noch ganz klä war.“

Allmählich waren nun auch Charlottes Eltern stolz darauf, dass sie ihre Tochter aufs Gymnasium geschickt hatten. Und ihre Großmutter Amelie Legrand freute sich ganz besonders, denn sie war von Anfang an für die Höhere Schule gewesen. Aber im Gymnasium gehörte Charlotte einfach nirgends dazu. Und so beschloss sie, die Flucht nach vorne anzutreten. Wenn die anderen sie schon nicht mitmachen ließen, so wollte sie wenigstens versuchen, die eine oder andere Klassenkameradin zu sich einzuladen.

Marianne Wenz war Pfarrerstochter und – wahrscheinlich durch den seelsorgerischen Beruf ihres Vaters – ein bisschen aufgeschlossener. Irgendwann fragte sie Marianne, ob sie nicht Lust habe, am Nachmittag zu ihr zu kommen.

„Zu dir?“, Marianne schaute sie verunsichert an, „du wohnst doch im Jungbusch, oder?“ Und nach kurzem Zögern sagte sie: „Da darf ich nicht hin! Das erlauben mir meine Eltern nicht. Tut mir leid.“ Und ehe Charlotte ihr antworten konnte, drehte sie sich um und ging. Charlotte blickte ihr traurig nach. Was die nur immer mit dem Jungbusch hatten? In ihrer Straße wohnten ganz normale Leute, die alle fleißig waren und zumeist in den Fabriken auf der Friesenheimer Insel arbeiteten. Neben ihnen, in den Hanbuch-Häusern, waren vor kurzem ein paar Italiener und Spanier eingezogen. Die waren aber auch alle nett.

Gut, in der Beilstraße und in der Werftstraße gab es ein paar Kneipen, und manchmal torkelten Männer durch die Straße, die zu tief ins Glas geschaut hatten und in der Jungbuschstraße hatte jetzt gerade die Onkel-Otto-Bar aufgemacht. Und natürlich gab es da auch Leute, von denen sie sich fernhalten sollte. „Das ist Pack! Ich will nicht, dass du mit denen Umgang hast!“, meinte ihre Mutter im Hinblick auf den einen oder anderen Nachbarn.

Da gab es beispielsweise auf der anderen Straßenseite eine kinderreiche Familie. Sie nannten sie immer nur die „Butzelchen“, weil sie stets ungekämmt und dreckig waren und keine Kinderstube hatten. Oder Anke Woitek, die ständig andere Kinder verprügelte und deren Mutter, eine rassige Schwarzhaarige, oft beim „Heiler“, einem Wirtshaus in der Mitte der Dalbergstraße, saß und zuweilen ein Glas zu viel trank. Von Anke hielt sich Charlotte gerne fern, denn es wäre ihr ein Gräuel gewesen, sich mit einem anderen Kind prügeln zu müssen. Aber irgendwie hatte dieses sonst eher garstige Mädchen vor Charlotte Respekt, denn sie hatte sich nie mit ihr angelegt.

Charlotte überlegte, ob sie Marianne Wenz hinterhergehen sollte, um ihr zu sagen, dass der Jungbusch ganz ungefährlich sei und sie ruhig kommen könne. Aber sie tat es dann doch nicht.

Ein paar Wochen später sprach ihre Erdkundelehrerin, Frau Stahlhofen, über Mannheim. Die lange dürre Lehrerin mochte so Mitte 50 sein. Wenn sie lachte, war eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gattung Pferd nicht zu leugnen. Jedenfalls hatte sie ihren Zeigestock in der Hand und stand vor der Stadtkarte Mannheims. Gerade erklärte sie den Schülerinnen das Quadrate-System, dass die Buchstaben mit 1 alle von der Breiten Straße ausgingen, auf der einen Seite von A bis K gingen, J fehle und sich dann auf der anderen Seite von L bis U fortsetzten und es die letzten Buchstaben des Alphabets nicht gebe. Sie erklärte dann noch, dass die Entfernung von der Kurpfalzbrücke zum Schloss genau einen Kilometer betrage und dass die Quadrate fast komplett vom Ring umschlossen seien.

„Ach, und dann gibt es da noch ein ganz übles Viertel. Schaut mal, hier ist die Jungbuschbrücke und das ist der Jungbusch. Da dürft ihr nie hingehen, das ist eine ganz gefährliche Gegend. Da ist man seines Lebens nicht sicher!“

Marianne Wenz drehte sich um und blickte zu Charlotte. Sie fühlte sich bestätigt. Und auch die Polsterfabrikantentochter und ihre Clique schauten triumphierend zu ihr hinüber. Charlotte wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Am nächsten Tag war sie krank. Sie hatte Fieber und hütete zwei Wochen das Bett. Niemand aus der Klasse besuchte sie und so versäumte sie viel Lehrstoff.

Nach und nach entfernte sich auch ihre Freundin Bärbel immer mehr von ihr, weil die Interessen der beiden Mädchen auseinander drifteten. Charlotte hatte von ihrer theaterbesessenen Großmutter Amelie ein Schülerabonnement fürs Nationaltheater geschenkt bekommen. Bald war Charlotte genauso fasziniert von den Brettern, die die Welt bedeuten, wie ihre Großmutter. Und während sie sich auf der Bühne „Was ihr wollt“ von Shakespeare anschaute und sich anschließend am Bühneneingang ein Autogramm von dem von ihr heiß verehrten Schauspieler Joachim Bliese holte, zog Bärbel es vor, ins „Müllerle“, dem kleinen Kino in der Mittelstraße, zu gehen, um sich dort „Doktor Schiwago“ oder „Der Schatz im Silbersee“ anzusehen.

Zu ihren Eltern wollte Charlotte nicht sagen, wie alleine sie sich fühlte. Ihr Vater war von der Gymnasiumsidee von vorneherein nicht begeistert gewesen und auch ihre Mutter hatte sich ja mehr oder weniger von der Lehrerin überreden lassen. Jetzt mit ihrem Kummer zu den Eltern zu gehen, wäre falsch gewesen. Im schlimmsten Fall hätten die sie von der Schule genommen. Dann wäre alles umsonst gewesen! Also schwieg sie und erzählte nichts von ihren Schwierigkeiten, zwischen sämtlichen Stühlen zu sitzen.

Charlotte kämpfte. Auch als sie in das Kurzschuljahr kam und plötzlich innerhalb von eineinhalb Jahren Latein, Englisch und Französisch bekam. Anfangs hatte ihre Mutter sie noch lateinische Vokabeln abgehört: agricola arat, puella cantat, ancilla laborat – der Bauer pflügt, das Mädchen singt, die Magd arbeitet. Aber bei Englisch und Französisch wich die Schreibweise zu sehr von der Aussprache ab. Da musste die Mutter passen. Als dann in der Quarta die Großmutter schwer erkrankte, ließ Charlotte die Schule schleifen. Lieber ging sie jeden Nachmittag ins Theresienkrankenhaus. Oma war schließlich wichtiger als Hausaufgaben.

Obwohl Amelie Legrand, von ihrer Krankheit gezeichnet, bleich in ihren Kissen lag, bemerkte sie die Traurigkeit in Charlottes Augen. „Kind, du hast doch etwas. Sag mir, was dich bedrückt!“

„Ach, nichts, mach dir keine Sorgen, Oma! Schau lieber, dass du schnell wieder gesund wirst!“ Charlotte versuchte auszuweichen.

„Ich weiß, dass ich nicht mehr gesund werde. Aber du, mein Kind, hast noch alles vor dir liegen. Du warst immer so ein fröhliches Mädchen, aber in den letzten Monaten bist du so ernst geworden. Sag schon, was ist los?“

„Und du versprichst mir, dass du Mama und Papa nichts sagst.“

Amelie Legrand nickte: „Großes Ehrenwort!“

Und nun erzählte Charlotte ihrer Großmutter, wie sehr sie unter der Situation in der Schule litt und dass sie das Gefühl hatte, zu niemandem mehr zu gehören.

„Manchmal wünsche ich mir, dass wir aus dem Jungbusch wegziehen würden, damit das alles aufhört.“ Charlotte klang verzweifelt.

„Das tut mir so leid, Lottchen. Das hast du nicht verdient. Aber du musst durchhalten. ‘Immer wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.’ Merk dir den Spruch! Es geht immer irgendwie weiter und für alles gibt es eine Lösung. Du schaffst das schon! Du bist eine Legrand, die sind zäh und stur, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt haben. Und darüber hinaus hast du auch viel von mir.“

„Findest du?“

„Ja, wenn ich dich sehe, muss ich an mich denken, als ich jung war. Ich wollte – so wie du – auch einmal Lehrerin werden. Aber dann kam alles anders.“

„Du wolltest auch mal Lehrerin werden, das habe ich ja gar nicht gewusst?“ Charlotte schaute ihre Großmutter erstaunt an.

„Ja, ja, das ist lange her! – Aber wer weiß, wozu es gut war? Sonst hätte ich wahrscheinlich nie deinen Opa, meinen geliebten Carlo, kennen gelernt.“

Als sie den Namen „Carlo“ sagte, hatte sie ein zärtliches Lächeln um den Mund und ihre Augen bekamen einen traurigen Glanz. Charlotte nahm die Hand ihrer Großmutter. „Mir fehlt Opa auch, Oma! Ich habe ihn so lieb gehabt!“

„Ich weiß. Aber lass uns jetzt über dich reden. Weißt du, Lottchen, ich mache mir keine Sorgen um dich. Deinen Grips und die Hartnäckigkeit, die hast du, glaube ich, von mir.“ Die Großmutter lächelte. „Deine Aufrichtigkeit und deine künstlerische Ader hast du von deinem Opa Carlo geerbt und deinen Mut von Onkel Gustav.“

„Onkel Gustav? – Das ist doch Opas Bruder, der mit Pauline verheiratet ist, oder?“

„Ja, genau der. Gustav war immer ein mutiger Mann. Der war in der Hitlerzeit im Widerstand. Er war Kommunist und später hat er dann in seinem Keller in K1 linke Flugblätter gedruckt und sie verteilt. Über ein Jahr war er im Schloss eingesperrt. Stell dir das vor!“

Charlotte spürte die Bewunderung, die Großmutter ihrem Schwager entgegenbrachte. Sie runzelte die Stirn: „Das würde man gar nicht glauben, wenn man ihn so sieht. Der wirkt so klein und unscheinbar.“

„Klein aber oho! – So wie ich!“ Sie musste lachen, doch im gleichen Augenblick verzerrte der Schmerz ihr Gesicht. Sie stöhnte und presste ihre Hand auf den Bauch.

„Oma, kann ich dir helfen?“ Charlotte war aufgesprungen und beugte sich über sie.

„Ist schon vorbei. Setz dich wieder! So schnell lassen wir uns nicht unterkriegen!“ Trotz ihrer schweren Krankheit hatte Amelie Legrand ihren Optimismus und ihren Humor nicht verloren.

„Und von wem habe ich noch was geerbt?“, fuhr Charlotte schließlich fort.

„Lass mich sehen!“ Die Großmutter dachte nach und betrachtete ihre Enkelin. „Deine Augen hast du von deiner Mutter. Helena hat auch so große dunkle Augen wie du! Und weißt du, von wem du auch viel mitbekommen hast?“ Charlotte schüttelte den Kopf. „Von Tante Marlene! Die hat genauso fröhlich gelacht wie du. Sie war ein lieber Mensch, aber sie hatte so viel Pech in ihrem Leben.“

„Tante Marlene? Wer ist denn das?“ Charlotte konnte mit dem Namen nichts anfangen.

„Die hast du nicht mehr kennen gelernt. Tante Marlene ist die Mutter von Tante Annerose.“

„Erzählst du mir mehr von ihr?“ Charlotte blickte ihre Großmutter erwartungsvoll an.

„Was willst du denn hören?“ Amelie Legrand lächelte ihre Enkelin an.

„Am besten alles, was du weißt, Oma!“

„Gut, mein Kind, aber heute nicht mehr. Ich bin so müde, ich muss mich ein wenig ausruhen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Bevor Charlotte das Krankenzimmer verließ, gab sie ihrer Großmutter einen Kuss auf die Stirn. „Ich hab dich lieb, Oma.“

„Ich dich auch, Lottchen!“

Am nächsten Tag ging es der Großmutter etwas besser.

„Und wie war es heute in der Schule?“

„Wie immer, allmählich gewöhne ich mich ja an die Bosheiten.“ Charlottes Stimme klang traurig.

„Denke an den Spruch, den ich dir gestern gesagt habe. Irgendwo kommt immer ein Lichtlein her. Du musst mir versprechen, dass du nicht aufgibst! Du musst immer dein Ziel vor Augen haben und darauf zugehen, koste es, was es wolle! – Gib mir dein Ehrenwort darauf!“

Charlotte streckte ihrer Großmutter die Hand hin.

„Dass du heute im Jahr 1965 noch Spießruten laufen musst, das will mir einfach nicht in den Kopf. Ich habe immer gedacht, das wäre nur damals so gewesen, dass die Leute so viele Vorurteile gegen den Jungbusch haben. – Ich glaube, der schlechte Ruf, den der Jungbusch hat, hängt mit den Schifferkneipen und den Bars zusammen.“ Amelie Legrand schwieg und dachte ein wenig nach, dann murmelte sie: „Das mit den Bars ist ja auch wirklich ein Problem. Neben unserem Haus hat schon wieder eine neue aufgemacht: ‘Die Fata Morgana’-Bar. Da stehen dann immer ein paar leicht geschürzte Bordsteinschwalben mit ihren Kerls herum. Das macht natürlich keinen guten Eindruck! – Aber das sind doch Ausnahmen! – Die Leute sind immer schnell bei der Hand, wenn es darum geht, andere runter zu machen. Aber das war ja schon immer so.“

„Reg dich nicht auf, Oma! Erzähl mir lieber von der guten alten Zeit! Ich bin schon ganz gespannt!“ Charlotte schaute ihre Großmutter erwartungsvoll an.

„Oh je, von der ‘guten alten Zeit’! – Alt, ja das ist sie, aber gut war sie eigentlich nie. Wo fange ich denn da am besten an?“

„Erzähl mir doch bitte etwas von Tante Marlene, von der weiß ich gar nichts!“

Und so wanderten Amelie Legrands Gedanken zurück in die 20er-Jahre und sie begann ihrer Enkelin alles zu berichten, an was sie sich erinnerte.

2

Während Marlene Legrand flink in ihr blaues Kleid schlüpfte, betrachtete sie sich in dem schon etwas blinden Spiegel des alten Kleiderschranks. Es war ihr schönstes Kleid – und es war das einzige, das sie besaß. In dem Schrank, den sie sich mit ihren beiden jüngeren Brüdern Gustav und Erich teilte, hingen sonst nur noch zwei ältere Röcke, ein paar verwaschene Blusen und eine abgewetzte Strickweste.

Sie zog das Kleid hoch auf Knielänge und drehte sich ein wenig zur Seite. So trugen es die modebewussten Damen, die in die Kaffeehäuser auf den Planken gingen, und die Sängerinnen am Theater. Aber ihre Mutter würde das nie erlauben. Marlene ließ das Kleid los; es rutschte zurück und bedeckte wieder die Waden. Sie strich sich über den Bauch und zog ihn ein. Obwohl ihre kleine Tochter Annerose jetzt schon ein halbes Jahr alt war, hatte sie noch immer nicht ihre alte Figur wieder. Vielleicht würde ja der Bauch gar nicht mehr weggehen? Gott sei Dank war sie wenigstens ansonsten schlank.

Sie zog die Schublade des Nachtschränkchens heraus und griff nach der kleinen Pappschachtel, öffnete sie und schob vorsichtig das Seidenpapier zur Seite. Dann nahm sie den weißen Kragen mit der feinen Häkelspitze heraus und ging zurück zum Spiegel. Behutsam, um ihn nicht zu zerknittern, legte sie ihn um den Hals und befestigte ihn mit den Druckknöpfen am Ausschnitt ihres Kleides.

Sie lächelte in den Spiegel und schob ihre blonden Locken, die sie zuvor mit der Brennschere in Form gebracht hatte, in die Stirn. Der Kragen putzte ungemein und schmeichelte ihrem hübschen Gesicht. Das wird etwas vom meinem Bauch ablenken. „Ob er mir jetzt noch widerstehen kann?“ fragte sie ihr Spiegelbild mit einem koketten Augenaufschlag.

Sie blickte auf den Wecker. Es war kurz vor fünf. Noch zwei Stunden! Vielleicht würde sich ja heute ihr Leben verändern? Ich werde mich noch ein bisschen ausruhen, dachte sie. Sie legte sich aufs Bett und betrachtete die Stuckverzierungen an der Decke.

Ich muss unbedingt hier raus, so geht das nicht weiter! Ich halte es nicht mehr aus! Wenn er mich will, werde ich mit ihm weggehen! – Aber wird er mich wollen, wenn er hört, dass ich ein Kind habe? – Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass er großherzig ist und über diesen Makel hinwegsieht! Ich würde so gerne ein neues Leben anfangen, alles hinter mir lassen! Oh, Alfred, bitte hol mich weg von hier! Mit diesen Gedanken schlief sie ein.

Marlenes Wunsch war durchaus nachvollziehbar. Sie war 21 Jahre alt, hatte nichts gelernt und keine feste Arbeit. Was aber noch schlimmer war, sie war die ledige Mutter einer kleinen Tochter. Und das ließ man sie überall spüren. Daheim bekam sie fast täglich die Vorwürfe ihrer Mutter zu hören und draußen auf der Straße sah sie die verächtlichen Blicke der Nachbarn, die, wenn sie mit ihrem kleinen Mädchen im Arm vorbeiging, hinter ihrem Rücken die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Und auch einige der jungen Burschen in der Straße behandelten sie respektlos. Einmal war einer von ihnen freundlich lächelnd auf sie zugekommen und hatte sie gefragt, ob sie sich am Abend nicht mal am Verbindungskanal mit ihm treffen wolle. Sie hatte sich zunächst darüber gefreut, dass ein Junge auch einmal Interesse an ihr zeigte, obwohl sie ein Kind hatte. Als sie zögerte, hatte er gemeint, sie solle sich nicht so zieren, schließlich wüsste ja jeder, dass sie leicht zu haben sei. Marlene war damals weinend nach Hause gelaufen und hatte beschlossen, sich damit abzufinden, allein zu bleiben.

Um ihren Eltern nicht gänzlich auf der Tasche zu liegen, ging sie an manchen Tagen in die Lagerhallen im Hafen zum Putzen, aber hauptsächlich lebte sie von dem Wenigen, was ihr ihre Eltern und mitunter auch ihre Brüder zusteckten. Sie hatte nach der Geburt ihres Kindes ein paar Mal versucht, in Stellung zu gehen, aber jedes Mal, wenn sie sich vorgestellt und wahrheitsgemäß angegeben hatte, dass sie unverheiratet sei, aber eine kleine Tochter habe, hatten die vornehmen Herrschaften das Gespräch schnell abgebrochen. Sie war eben ein „gefallenes Mädchen“ und passte nicht in einen anständigen Haushalt.

Ihre Situation war wirklich alles andere als rosig.

Aber wessen Situation war im Mannheimer Jungbusch schon rosig? Bis auf ein paar übrig gebliebene Schiffseigentümer, Kapitäne, Lagerhallenbesitzer und Kaufleute, die bei ihren Besitztümern, also in der Nähe des Hafens, wohnen wollten, waren fast alle wohlhabenderen Leute schon vor dem Krieg weggezogen. Dafür war ein Heer von arbeitssuchenden Menschen aus dem nahen Odenwald, der Pfalz und sogar aus Schwaben nach Mannheim übersiedelt. Viele hatten, wie auch ihr Vater, geglaubt, sie könnten bei der Badischen Anilin und Sodafabrik – der BASF in Ludwigshafen – Arbeit finden. Aber der verlorene Krieg hatte diese Hoffnungen zunichte gemacht. Die Alliierten hatten zahlreiche Produktionsanlagen demontiert und ins Ausland verlegt. Viele Arbeitsplätze waren dadurch verloren gegangen und nur einige wenige waren tatsächlich bei der Anilin untergekommen. Manche hatten in anderen Fabriken Mannheims, wie zum Beispiel bei den Motorenwerken, bei Lanz, Bopp und Reuther, der „Gummi“, der „Spiegel“ oder der Estol, Arbeit gefunden. Die meisten dieser Fabriken waren am Neckar, im Hafengebiet oder auf der Friesenheimer Insel und so bot es sich für die Arbeiter an, sich im nahe gelegenen Jungbusch oder in der Neckarstadt anzusiedeln.

Es gab auch Zugewanderte, die keine feste Arbeit gefunden hatten, die aber auch nicht mehr dahin zurückgehen konnten, von wo sie gekommen waren. Sie hielten sich und ihre Familien mit Gelegenheitsarbeiten im Hafen über Wasser. Hier wurden immer mal wieder Lagerarbeiter und Sackträger gebraucht. Auch für sie war es naheliegend, im Jungbusch zu wohnen.

Nach dem Krieg hatten die Legrands gehofft, es würde alles besser werden. Aber diese Hoffnung war enttäuscht worden. Während des Ersten Weltkriegs hatte es sie besonders schlimm getroffen, denn bei einem Fliegerangriff war das Haus, in dem sie lebten, als Einziges in der ganzen Umgebung zerstört worden. Ihre Wohnung im zweiten Stock war ausgebrannt und sie hatten fast alles verloren. Am 29. Juni 1918, morgens um 9.10 Uhr, war die Bombe in die Dalbergstraße 4 eingeschlagen. Das dreistöckige grüne Eckhaus war schwer beschädigt worden. Am schlimmsten war für Marlene gewesen, dass ihre Freundin Elfriede gegenüber auf dem Balkon von einem Splitter getroffen wurde. Sie war auf der Stelle tot gewesen.

Die Legrands hatten Glück im Unglück gehabt. Denn sie waren alle wie durch ein Wunder zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen. Marlenes jüngere Brüder Gustav und Erich waren schon früh morgens in die Schule und ihr Vater zum Arbeiten in den Mühlau-Hafen gegangen.

Ihre Mutter und sie selbst hatten wahrlich mehr als einen Schutzengel gehabt, denn Luise Legrand hatte – was sie sonst nie tat – an diesem Morgen kurz das Haus verlassen, um beim Bäcker Krämer gegenüber am Luisenring ein Brot zu kaufen. Und Marlene hatte ausnahmsweise ihre kleine Schwester Rosemarie in die K5-Schule begleitet.

So hatten die daheimgebliebenen Legrands den Ersten Weltkrieg unbeschadet überlebt. Und als dann eines Tages noch der älteste Sohn Carlo mit eingefallenen Wangen und leeren Augen vor der Tür gestanden hatte, war ihr Glück fast vollkommen gewesen. Die Franzosen hatten „den Langen“, wie er wegen seiner beachtlichen Größe in der Familie genannt wurde, aus der Gefangenschaft entlassen – magenkrank und mit Hungerödemen an den Beinen. Marlene hatte den schönen Carlo beinahe nicht erkannt, als er so ausgemergelt plötzlich vor ihr stand. Sie hatte geweint, als sie ihren großen Bruder umarmte. Doch nur eines war in diesem Augenblick wichtig: er war wieder zu Hause.

Aber die Zeiten wurden schlechter. Die Deutschen hatten den Krieg verloren und wurden dafür von den Siegermächten abgestraft. Besonders Frankreich nutzte die Gelegenheit, sich beim Versailler Vertrag mit einer besonders harten Haltung für die schmachvolle Niederlage von 1870/71 zu revanchieren.

Die Situation der Menschen war in ganz Europa schwierig, es gab zwar einerseits einen wirtschaftlichen Aufschwung, während dessen viele neue Fabriken entstanden, andererseits gab es ein Heer von kinderreichen Familien und ungelernten Arbeitern und es herrschte eine katastrophale Wohnungsnot, weil alle in die Städte strömten. So hatte sich beispielsweise die Bevölkerungszahl Mannheims seit 1870 von 40.000 auf 220.000 mehr als verfünffacht. Und Deutschland lag durch die hohen Reparationszahlungen, die es zu leisten hatte, am Boden. Es fehlte an allem und eine Besserung war nicht abzusehen.

Die Legrands zogen, nachdem ihr Haus ausgebombt war, ans andere Ende der Dalbergstraße, in die Nummer 31, gegenüber vom „Eis-Bender“. Das war zwar günstig, weil sie nun die großen Eisblöcke für ihren Eisschrank nur noch über die Straße schleppen mussten, aber diese Zweizimmerwohnung war auf Dauer viel zu klein. Obwohl ein Teil der Kinder schon erwachsen war, lebten sie aufgrund der Wohnungsnot noch alle bei den Eltern.

Und so packten sie ein halbes Jahr später erneut ihr Hab und Gut und zogen kurz vor Weihnachten in die Hafenstraße 60. Die Wohnung im vierten Stock bot eine wunderbare Aussicht über die Lagerhallen und den Verbindungskanal hinweg bis zu den großen Schiffen, die im Rhein vor Anker lagen. Allerdings war die Dreizimmerwohnung auch nicht sehr viel größer als die vorige. Aber man durfte nicht wählerisch sein! Zumindest schliefen nun Marlene und ihre beiden Schwestern in dem einen Raum und die drei Brüder in dem anderen.

Glücklicherweise heiratete ihre ältere Schwester Marie im darauf folgenden Jahr den kränkelnden Hermann Schneider und zog mit ihm in ein Zimmer im ersten Stock desselben Hauses.

Die beiden waren ein seltsames Paar. Marie war wahrlich keine Schönheit. Man wusste nicht so recht, nach wem sie kam, denn ihre Mutter Luise Legrand war in ihrer Jugend ein bildschönes Mädchen gewesen, mit schwarzen Augen, dunkelbraunen Haaren und einem wohlproportionierten Körper. Auch ihr Vater Bernhard Legrand war ein stattlicher Mann mit ausdrucksvollen blauen Augen und dunklen Haaren gewesen. Viele hatten sich nach diesem schönen Paar umgedreht. Aber das harte Leben hatte beide schnell altern lassen.

Marie war groß und kräftig, mit hellen Haaren, weißer Haut, groben Gesichtszügen und Glubschaugen, die auf eine Schilddrüsenerkrankung schließen ließen. Hermann Schneider hingegen war schmächtig, darüber hinaus ein Pedant, der die Staubkörner in der Wohnung akribisch suchte und immer etwas zu nörgeln hatte. Vielleicht äußerte sich darin auch nur seine Unzufriedenheit. Als schwächlicher, lungenkranker Mann fand er nur gelegentlich Arbeit und so lebten sie hauptsächlich von dem, was Marie beim Putzen verdiente. Das verschaffte ihm bei Maries Mutter natürlich nicht unbedingt großes Ansehen. Überhaupt neigte insbesondere Luise Legrand dazu, sich in alles einzumischen und immer, wenn ihre Kinder Probleme hatten, die Schuld bei den jeweiligen Partnern zu suchen.

Marlenes großer Bruder Carlo wurde Ende 1919 als Wachtmeister bei der Heidelberger Polizei eingestellt und wohnte dort ab diesem Zeitpunkt. So musste Marlene fortan das Zimmer nur noch mit ihrer kleinen Schwester Rosemarie teilen und Erich und Gustav waren auch nur noch zu zweit. Aber diese „komfortablen“ Wohnverhältnisse sollten nicht lange währen, denn ihr Vater, Bernhard Legrand, verlor im Herbst 1920 seine Arbeit. Er war mittlerweile 50 Jahre alt und es fiel ihm alles andere als leicht, die manchmal bis zu zwei Zentner schweren Säcke über die schmalen, wackeligen Laufbretter an den Schiffen zu schleppen. Und die Lagerhausbesitzer zogen es natürlich vor, junge, kräftige Burschen einzustellen. Sie hatten ja die große Auswahl, denn Arbeitssuchende gab es wie Sand am Meer, oder passender gesagt: wie Kies im Rhein.

Die Legrands mussten sich also etwas einfallen lassen. Um über die Runden zu kommen, beschlossen sie, ein Zimmer zu vermieten. Und so wurden alle vier Geschwister wieder in einen einzigen Raum einquartiert.

Zimmer zu vermieten war angesichts der Wohnungsnot schon seit vielen Jahren gang und gäbe. Und es war auch nichts Anstößiges dabei. Fast die Hälfte der Bevölkerung besserte so ihr Haushaltsgeld auf und sicherte damit das Überleben der Familie. Ganz anders war das vor dem Krieg gewesen, wo es Leute gegeben hatte, die einen oder mehrere ledige Wanderarbeiter in Kost und Logis aufgenommen und oft mit ihnen nicht nur in denselben Räumen gelebt, sondern ihnen auch ihre Betten zur Verfügung gestellt hatten. Und schließlich hatte es sogar Fälle gegeben, wo mehrere Schichtarbeiter sich ein einziges Bett geteilt hatten. Wenn der eine zur Arbeit ging, legte sich der andere in das noch warme Bett. Diese „Schlafgängerei“, wie man es nannte, wurde von bürgerlichen Kreisen als „sittliche Versumpfung“ und „Verwahrlosung“ angesehen und die Regierung hatte mehrmals vergeblich versucht, diese Art der Untervermietung zu reglementieren. Aber die Not ließ vielen keine andere Wahl, auch wenn in manchen Fällen die „Schlafgängerei“ mehr oder minder schwere Folgen hatte – vom noch harmlosen Schweißfußgeruch über Wanzenbefall bis hin zu unerwartetem Kindersegen. Nicht selten geschah es – und das war dann meist noch einer der glücklicheren Fälle –, dass ein „Schlafgänger“ die Tochter des Hauses heiratete, oder besser gesagt, heiraten musste.

Der junge Mann, der schließlich das Zimmer bei den Legrands anmietete, hieß Franz Brandstetter. Er war ein 23-jähriger Angestellter bei Bopp und Reuther und zog im November bei ihnen ein. Und obwohl sich nun sechs Personen zwei Zimmer teilen mussten, taten sie es doch gerne. Schließlich verdankten sie seiner Anwesenheit, dass sie sonntags wieder ein Stück Fleisch auf dem Teller hatten. Franz war ein angenehmer Untermieter. Er zahlte jede Woche pünktlich seine Miete und spielte sogar manchmal mit den beiden Jungs und der kleinen Rosemarie Mensch-ärgere-dich-nicht. Und wenn Carlo, der Älteste der Legrand-Brüder, am Sonntag in seiner schmucken Uniform mit der OEG – der Oberrheinischen Eisenbahngesellschaft – aus Heidelberg kam, unterhielt sich Franz mit ihm über seine Arbeit bei der Polizei.

Am liebsten aber saß Franz mit Marlene zusammen, erzählte und lachte mit ihr. Die hübsche kleine Blondine mit den blitzenden blauen Augen hatte es ihm angetan. Und auch sie hatte sich vom ersten Augenblick an in ihn verguckt. Wenn er sich mit ihr unterhielt, hing sie an seinen Lippen voller Bewunderung. Er war neben ihrem Bruder Carlo der gescheiteste und stattlichste Mann, den sie kannte. Besonders wenn er als Einziger in der ganzen Straße seinen weißen Hemdkragen aus dem Revers blitzen ließ, so dass jeder gleich wusste, dass er ein Angestellter und nicht nur ein kleiner Arbeiter war, imponierte ihr das mächtig – auch wenn er sie manchmal fühlen ließ, dass er eigentlich etwas Besseres war und sich im Jungbusch fehl am Platz fühlte. Dann aber gab es auch wieder Momente, wo er so etwas Unbeschwertes hatte, was sich angenehm von der Schwerblütigkeit, die bei den Legrands meistens vorherrschte, abhob. Aber leider hatte er auch eine Freundin. Sie hieß Elisabeth und wohnte am Messplatz, wo ihr Vater ein gut gehendes Schreibwarengeschäft hatte. Sie kam also aus soliden, gutbürgerlichen Verhältnissen und ihre Eltern waren wohlhabend. Das alles hatte Marlene natürlich nicht zu bieten. Einmal war sie den beiden an einem Sonntagnachmittag begegnet, als sie untergehakt – wie ein altes Ehepaar – die Dammstraße oberhalb des Neckars entlangspazierten. Er hatte die Frauen miteinander bekannt gemacht. Elisabeth schien um einiges älter zu sein als Franz. Sie war mindestens Ende zwanzig. Außerdem hatte sie dicke Brillengläser, eine lange spitze Nase und war rappeldürr. Franz, siehst du nicht, dass ich viel hübscher bin als sie? hatte Marlene gedacht, als sie dem Mädchen die Hand gegeben hatte. Franz hatte das sehr wohl bemerkt und er begann nachts, wenn er nur durch eine Wand von ihr getrennt war, intensiv an sie zu denken. Und Marlene ging es nicht anders.

Es war ein Sonntagmorgen im Januar. Marlenes Eltern waren mit der kleinen Rosemarie in der Liebfrauenkirche und ihre Brüder waren in Heidelberg bei Carlo. Franz hatte gerade die Wohnung verlassen und Marlene war in sein Zimmer gegangen, um es aufzuräumen und das Bett zu machen, wie sie es immer tat. Sie öffnete das Fenster und schüttelte das Kopfkissen auf und so hörte sie nicht, wie die Türklinke nach unten gedrückt wurde und hinter ihr jemand den Raum betrat. Als sie die warmen, samtigen Lippen in ihrem Nacken spürte, zuckte sie erst zusammen, dann aber durchlief sie ein wohliger Schauer. Sie drehte sich um und Franz’ Augen betrachteten sie voller Sehnsucht.

„Ich möchte dich küssen, Lenchen.“ Marlene legte ihre Arme um seinen Hals und sie küssten sich zärtlich und voller Hingabe. „Ich begehre dich schon so lange, du bist so ein hübsches Mädchen“, flüsterte er ihr ins Ohr. Er liebt mich, dachte sie, während sie mit ihm in die Kissen sank, endlich hat er gemerkt, dass ich die Richtige für ihn bin.

Als ihre Eltern aus der Kirche zurückkamen, war Franz bereits gegangen und Marlene stand an dem großen Wasserstein in der Küche. Ihre Mutter trat neben sie und schaute in die Spülschüssel. „Du hast ja noch nicht einmal die Kaffeetassen gespült! Du solltest nicht so viel träumen und mit den Gedanken mehr bei der Arbeit sein, Marlene! Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“

„Ach, ich habe mir an meiner Strickweste einen Knopf abgerissen und ihn gleich angenäht“, log sie. Sie hatte genau gewusst, dass ihre Mutter etwas sagen würde und sich darum schon zuvor eine Erklärung zurecht gelegt. Sie würde ihre Liebe zu Franz erst einmal geheim halten. Die Eltern würden es noch früh genug erfahren. Wenn er mich dann erst einmal heiratet, werden wir uns sowieso ein anderes Zimmer suchen und vielleicht können wir uns ja auch irgendwann eine kleine Wohnung leisten ... Marlene war noch nie so glücklich gewesen. Sie würde die Stunden zählen, bis er abends zurückkäme. Wo er jetzt wohl war? Unbehagen stieg in ihr hoch. War er in diesem Augenblick bei Elisabeth? – Vielleicht würde er ihr ja gerade sagen, dass sie sich nicht mehr sehen könnten, weil er ein anderes Mädchen liebe, ein hübsches Mädchen aus dem Jungbusch mit großen blauen Augen und einer Stupsnase! – Ja, das würde er ganz sicher tun. – Und vielleicht würde er ihr ja, wenn er gegen Abend heimkäme, sagen, dass er mit Elisabeth Schluss gemacht habe ...

Sie lag schon zwei Stunden im Bett, ihre Brüder schnarchten um die Wette und die kleine Rosemarie hatte sich an sie gekuschelt. Marlene konnte nicht einschlafen und starrte ruhelos in die Dunkelheit. Wo er bloß blieb? So spät kam Franz doch sonst nie nach Hause!

Gegen Mitternacht hörte sie schließlich, wie jemand die Abschlusstüre öffnete und in den Flur trat. Das konnte nur Franz sein. Sie wäre so gerne aufgestanden und zu ihm hinausgegangen. Aber das war nicht möglich. Ihre Mutter hatte einen leichten Schlaf und wenn sie die beiden mitten in der Nacht im Gang erwischt hätte, wäre der Teufel los gewesen. Aber morgen war ja auch noch ein Tag! Sie würde ihn in der Frühe beim Kaffeetrinken sehen und bestimmt würde sich eine Gelegenheit finden, dass sie miteinander sprechen konnten und vielleicht würde er sie ja auch heimlich küssen?

Das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür weckte sie. Ihre Brüder lagen noch in den Kissen und schliefen fest. Sie befreite sich vorsichtig aus Rosemaries Umarmung und kroch aus dem Bett. Es war kurz nach sechs Uhr und noch dunkel. Schrecklich diese Jahreszeit – eisig kalt und finster!Sie zog ihre Wollsocken an. Die hatte ihr Franz zu Weihnachten geschenkt. Und dann legte sie den großen dicken Wollschal um ihre Schultern.

Als sie in die Küche kam, hantierte ihre Mutter schon am Ofen herum und machte Feuer. „Hier, du kannst gleich mal die Asche ausschütten! – Guten Morgen! – Und dann kannst du den Wasserkessel voll machen und auf den Ofen stellen!“

„Guten Morgen, Mutter!“ Marlene gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ja, ist schon gut, mach schon!“ Ihre Mutter war wie meistens abweisend, wenn es um Zärtlichkeiten ging. „Und dann kannst du den Tisch decken. Eine Tasse weniger. Franz ist nämlich schon weg.“

„Franz ist schon weg?! Aber – aber warum denn? Er geht doch sonst nie so früh aus dem Haus?“

„Weiß ich doch nicht! Er wird schon seine Gründe haben.“ Luise Legrand zuckte gleichgültig mit den Schultern.

Marlene spürte die Tränen in ihre Augen steigen. Sie schluckte und bekam einen Hustenreiz. Sie konnte kaum noch atmen, rang nach Luft, begann zu husten und konnte nicht mehr damit aufhören.

„Geht das schon wieder los mit deiner Husterei! Das hast du aber in letzter Zeit häufig!“ Ihre Mutter reichte ihr ein altes Taschentuch. „Hier, da kannst du reinspucken! Der Dreck muss raus, nicht runterschlucken!“

Marlene hörte auf ihre Mutter und betrachtete den Auswurf. Er war gelbgrün und ihr tat nach diesem Hustenanfall die Brust weh. Eigentlich hätte sie längst zum Arzt gehen müssen. Aber sie hatte eine höllische Angst davor, dass er sie ins Lungenspital in der Hochuferstraße einweisen würde.

Ihre Freundin Agnes, mit der sie in der Liebfrauenkirche zur Kommunion gegangen war, hatte man dort hingebracht. Der Vater von Agnes arbeitete in der Zuckerraffinerie in der Filsbach, die als das Armenviertel von Mannheim bekannt war. Sie hatte sechs kleine Geschwister und ihre Mutter war jahrelang bettlägerig gewesen, was nicht zuletzt auf die miserablen Lebensumstände zurückzuführen war. Die Familie hatte oft nichts zu essen und auch kein Geld für Brennholz oder Kohlen gehabt. Schließlich war die Mutter mit 32 Jahren gestorben – an der Lungenpest. Da Agnes damals mit ihren gerade mal 13 Jahren die Älteste war, hatte sie die Mutterrolle übernehmen müssen. Aber leider hatte ihr die Mutter nicht nur die Geschwister hinterlassen. Denn zwei Jahre später war auch bei Agnes die Schwindsucht ausgebrochen. Da man fürchtete, sie könne ihre Geschwister anstecken, hatte man sie wie viele andere mit der gleichen Erkrankung in das Lungenhospital eingewiesen, weit draußen vor der Stadt. Da es keinerlei wirksame Behandlungsmethoden gab, bedeutete dies doppeltes Leid: abgeschoben fristeten die Kranken ein armseliges Dasein und warteten auf den Tod – verlassen von allen Menschen, die ihnen je etwas bedeutet hatten.

„Ich fühle mich so elend, Mutter. Darf ich mich noch einmal hinlegen? Mir ist so kalt.“

„Bleibt wieder alles an mir hängen, wie immer!“, klagte die Mutter, während sie die Metallringe mit dem Schürhaken in die runden Öffnungen auf der Oberseite des Ofens schob und sie mit dem Deckel verschloss.

„Geh schon, ich bringe dir einen Tee mit Zwiebelringen, bevor ich zum Putzen gehe, der löst den Schleim. Weck’ gleich deine Schwester und die Jungs!“