Mitten im Wind - Röthlisberger Thomas - E-Book

Mitten im Wind E-Book

Röthlisberger Thomas

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Beschreibung

»Erstaunlich ist, dass der Hund sich innerhalb kurzer Zeit mit der neuen Hausgenossin arrangiert zu haben scheint. Nicht dass sich die beiden gegenseitig den Pelz leckten, man geht sich aus dem Weg, aber man akzeptiert die Gegenwart des anderen. Dem Alten fällt es nach ein paar Tagen auf. Da ist er selbst noch nicht so weit. Da lässt er die regelmäßig aufkeimende Wut über die Katze noch am Hund aus. Nun ist der es ja gewohnt, dem Alten auszuweichen. Frieden herrscht nicht im Haus, da ist der Alte davor. Aber Waffenstillstand, immerhin. Wörter werden gezischt, gefaucht oder geknurrt. Die neue, alte Form der Verständigung. So viel hat die Katze schon erreicht. Oder anders gesagt: Es ist wieder ein weibliches Wesen im Haus. Das aber würde der Alte nie zugeben.« »Psychologischer Feinsinn, eine sorgfältige Sprache für Geschichten mit Sogwirkung, dazu das Gesicht einer packenden Landschaft – sie zeichnen Thomas Röthlisbergers Texte aus. Und immer bergen seine Menschen ein Rätsel in sich, das nicht völlig aufgelöst wird.« Beatrice Eichmann Leutenegger

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THOMAS RÖTHLISBERGER

ROMAN

Mitten im Wind

EINE FINNISCHE GESCHICHTE

Die Liebe konnte man nie verstehen.Aber wer wären wir,wenn wir es nicht versuchten.

Per Olov Enquist

Für Sabine,die zu Recht an der Vollständigkeitvon Henriks Geschichte zweifelte.

nur die haut

ist wand die trennt

und grenze die entscheidet

so ausgesetzt

fast ahnungslos

nicht nur dem wind

der über ihre narben

streicht

Diese Geschichte ist eine Fiktion. Alle Verweise auf reale Begebenheiten, Institutionen, Orte und Personen dienen lediglich dazu, einen fiktiven Kosmos zu erschaffen.

Inhalt

Pekka

Henrik

Märta

Olli

Matti

Märta

Olli

Pekka

Matti

Henrik

Olli

Pekka

Märta

Olli

Henrik

Pekka

Märta

Matti

Pekka

Olli

Märta

Henrik

Pekka

Matti

***

Eigentlich gibt es in der Gegend fast keine Katzen. Die Hunde jedenfalls sind, solange er sich besinnen mag, eindeutig in der Überzahl. Wie auch die Füchse. Die Füchse sowieso.

Der Hund fiept nicht, er knurrt auch nicht, nein: Er bellt. Ja, das tut er. Er bellt, wie schon lange nicht mehr. Als ob er von Sinnen wäre. Als ob ihm etwas begegnet sei, was ihm die Haare zu Berge stehen lässt, die grauweißen, spärlichen. Der Mann erinnert sich nicht, dass der Hund jemals so wütend, so verstört gebellt hat. Was kann es sein, das ihm die Vernunft aus dem Hirn geblasen hat? Ein wildes Tier? Ein fremder Mensch? Wie wenn ihm der Leibhaftige persönlich …?

»Teufel auch«, brummt der Alte und scheut sich nicht, damit auch gleich den richtigen Namen in den Mund zu nehmen.

Er stützt sich mit den Händen auf den Tisch und versucht, durch das Küchenfenster einen Blick auf den Hof zu werfen. Um zum Ziel zu gelangen, müsste man aber zuerst einmal die Fensterscheiben gründlich putzen. Der Aufwand lohnt sich nicht. Da ist es doch einfacher, man geht in den Flur und öffnet die Haustür. Von dort hat man ohne große Einschränkungen freie Sicht über den ganzen Hof und Vorplatz. Nur gleicht das Gehen von der Küche in den Flur einer anstrengenden Wanderung. Bei den abgenützten Gehwerkzeugen kein Wunder. Immerhin kann man sich überall abstützen oder halten, am Tisch, am Stuhl, dann am Kochherd und der Kante des Küchenschranks. Später an Tür, Türrahmen und Treppengeländer. Das hat sich so eingependelt, dass es nicht mehr anders denkbar ist.

Und schließlich steht er doch draußen, auf der Vortreppe, wo das Licht blendet, wo der Hund bellt. Hinter dem Haus bellt er nun, sodass der Mann immer noch nicht sehen kann, was die Ursache für die Aufregung ist. Er klopft mit dem Stock gegen das Geländer, mehrmals, ärgerlich. Das ist das Zeichen für den Hund, dass er sich bei seinem Meister einzufinden hat. Plötzlich und sofort. Sonst setzt es was.

Wie aber soll der Hund gehorchen, wenn das Problem hinter dem Haus sitzt und sich nicht dorthin bewegen lässt, wo der Herr steht? Wenn die Fremde mit genügend Abstand unter dem Strauch sitzt, im Gebüsch, mit gesträubtem Pelz und verächtlichem Blick?

Ein satansschwarzes Biest. Das ist der erste Eindruck des Mannes, als er schnaufend und schnaubend endlich an der Hausecke angelangt ist und die Fremde erblickt. Die Satansschwarze, die Katze.

Eigentlich kitzelt ihn ein beginnendes Lachen im Hals. Er kann es noch rechtzeitig unterdrücken. Wenn es nur eine Katze wäre, so eine gewöhnliche Hauskatze, getigert, mit ängstlichen Augen und eingezogenem Schwanz. Aber diese Farbe der Nacht. Diese seltsamen Augen.

Ja, er kann sogar die Augen sehen. Trotz Märtas Brille, die er trägt, seit seine zerbrochen ist, und mit der er nur wenig sehen kann. Er sieht diese Augen. Zwei leuchtende Knöpfe in all dem Schwarz. Leuchtende Knöpfe und darin eine schmale Pupille.

Der Hund hat aufgehört zu bellen. Er schleicht sich hinter den Alten. Setzt sich, in ausreichendem Abstand, sodass der Stock des Mannes ihn nicht erreichen kann. Er scheint seine Erfahrungen gemacht zu haben.

Die Katze regt sich nicht. Erst als der Alte mit dem Stock einen Stein in ihre Richtung schlägt, zieht sie sich weiter ins Gebüsch zurück, langsam, sichernd, auf behutsamen Pfoten, als schleiche sie über Glassplitter.

Der Hund bellt erneut, der Mann schlägt weitere Steine ins Gebüsch. Außer deren Kollern bleibt es still. Auch der Hund ist jetzt still. Seine Aufregung hat nachgelassen, jetzt, wo die Katzeweg ist. Er kratzt sich mit der Pfote am Bauch. Sein Fell ist grau und weiß geworden, und er lässt sich auf keine Verfolgungsjagden mehr ein.

Der Mann hinkt zurück ins Haus. Die Tür steht offen. Er hat vergessen, sie zu schließen. Wie er so manchmal etwas vergisst in letzter Zeit. Die Kerze auszublasen auf dem Küchentisch zum Beispiel. Er hatte keine Glühbirne zur Hand gehabt, als die Lampe zu flackern begann und verlöschte. Als die Schnapsflasche nichts mehr hergab, war er am Tisch eingeschlafen. Die Flamme der niedergebrannten Kerze hatte auf das Wachstischtuch übergegriffen und ein schwarzes Loch hinterlassen. Zum Glück war weiter nichts geschehen. Aber das hätte schiefgehen können. Sehr schief.

Als er nun in die Küche kommt, erstarrt er. Dort, wo das ausgebrannte Loch sich befindet, hockt die Schwarze. Auf dem Tisch. Sitzt da und blickt ihn mit ihren seltsamen Augen an. Herausfordernd. Sitzt da, als ob dies etwas Selbstverständliches sei. Als ob sie Anrecht hätte auf etwas, von dem er nur noch nichts weiß.

***

Pekka

Pekka Savolainen lief in Nacht und Regen durch ein Außenquartier von Lahti, der großen Stadt in Südfinnland. Vor einigen Minuten war er dem Wagen entstiegen, dessen Fahrer ihn als Anhalter mitgenommen hatte auf dem nächtlichen Weg in den Süden. Jetzt ging er zwischen den modernen Wohnbauten, die zu seiner Rechten und Linken viele Stockwerke hochragten. Ganz anders als die kleinen Häuser und Hütten im Dorf, wo er herkam. Da, wo er aufgewachsen war, wo er zur Schule gegangen war und man auf ihn gezeigt hatte, weil er nicht aussah wie die Einheimischen. Zu dunkle Haut, nur eine Spur zwar, aber zu dunkel. Bei diesen Bleichgesichtern bedurfte es auch keiner Anstrengung, ein Indianer, eine Rothaut zu sein. Auch wenn man nicht darum gebeten hatte. Nun, schuld war sein Vater gewesen. Er, dessen Herkunft ganz oben in Lappland lag. Im Grenzgebiet. Sein Vater, den er nie kennengelernt hatte. Von dem es genau eine Fotografie gegeben hatte. In Schwarz-Weiß. In einem silbernen Rahmen stand sie auf der Kommode im Flur. Im Halbdunkel, leicht abgewendet vom Auge des Betrachters. Als hätte der Mann auf dem Foto sich tatsächlich abwenden wollen, zur Wand hin.

Das Foto hatte nicht im Schlafzimmer gestanden. Dort wollte die Mutter es nicht haben. Beziehungsweise ihn, ihren Mann. Angeblich war er bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen, kurz nach Pekkas Geburt. So hatte die Mutter es erzählt. Und so kannte er seinen Vater nur von dem alten Foto und dem Wenigen, das die Mutter von ihm zu berichten wusste. Oder vielmehr preiszugeben bereit war. Von einer Beziehung zu sprechen, schien jedenfalls übertrieben, wie er es sich in späteren Jahren zusammengereimt hatte. Maßlos übertrieben. Aber es war die Angelegenheit seiner Mutter, und sie musste ertragen, was sie vor ihm geheim hielt.

Jetzt war er wieder da, nach vielen Jahren der Abwesenheit. Seine Mutter war vor Kurzem unerwartet verstorben, das kleine blaue Haus am Dorfrand, in der Nähe des Sees, stand leer. Er war der einzige Erbe. Aber er hatte kein Interesse, zurück ins Dorf zu ziehen, und würde das Haus vermieten. Er hatte keine Lust, von den damaligen Ereignissen aufs Neue überrollt zu werden. Den Weg des alten Nieminen zum Beispiel wollte er nie mehr kreuzen. Zu gefährlich. Der Mann war unberechenbar, nach wie vor. Da zweifelte er keine Sekunde. Aber von wegen alt – sie waren ja beide in dieselbe Schulklasse gegangen. Wenn er den Zustand der eigenen Knochen bedachte, so stand er dem alten Rüpel Matti Nieminen wohl in nichts nach. Auf ihn geschossen hatte der Berserker damals, tobend und in seiner ganzen Männlichkeit gedemütigt, weil er, Pekka, mit Mattis Ehefrau Märta – aber das war eine andere Geschichte.

Es hätte Nieminen nichts ausgemacht, wenn er seinen Gegner dabei tödlich verletzt hätte. Vielleicht hatte er das tatsächlich vorgehabt. Um den Rivalen ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen. Immerhin hatte Pekka einen Volltreffer in das linke Schultergelenk abbekommen. Nachts, vor der Tür zum Haus seiner Mutter. Zum Glück hatte man ihn rechtzeitig gefunden und ins Krankenhaus gebracht, sonst wäre er wohl damals verblutet. Was vielleicht gar nicht der schlechteste Weg gewesen wäre, um sich aus den mehrheitlich unwegsamen Schluchten dieses Lebens zu verabschieden.

Das Schultergelenk war seither nur noch eingeschränkt und unter Schmerzen belastbar. Aber wer hatte ursächlich Schuld daran? Märta. Märta Valtonen, die nun bereits seit vier Jahrzehnten Nieminen hieß. Nach ihrem Mann. Nach dem Mann, den sie an seiner statt geheiratet hatte. Weil das Kind in ihrem Bauch einen Vater brauchte. Weil der leibliche Vater zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis saß. So kleinmütig hatte sie gehandelt, seine große Liebe. Hatte den Namen Nieminen dem Namen Savolainen vorgezogen. Sie hatte nicht nur ihn verraten, sie hatte auch das Kind verraten. Olli, den Jungen. Ein paar Mal war sie noch heimlich mit ihm vorbeigekommen. Mit seinem Sohn, der nun Nieminen hieß. Mattis Sohn. Alles hätte er in diesen wenigen Monaten dafür gegeben, wenn er das Unglück über Mattis Haus hätte bringen können. Als ob das etwas genützt hätte. Fiel es nicht fast immer letztlich auch über das eigene Haupt?

Und dann war Matti ihnen auf die Schliche gekommen. Dass seine Ehefrau keineswegs zu den Singstunden mit dem Pfarrer ging, sondern zu ihm, zu Pekka, der inzwischen wieder freigekommen war.

Nein, Märta traf keine Schuld, eigentlich wusste er das. Sie wollte nur, dass ihre Familie nicht ins Gerede kam. Der Vater hatte ihr verboten, ihn, den Kleinkriminellen, zu heiraten. Matti stammte erwiesenermaßen aus ehrlichem Haus. Zudem war er ein Bleichgesicht, wie es sich gehörte. Und seine berüchtigten Wutanfälle würde er sich im Lauf der Jahre wohl abgewöhnen. Wie sich vieles abschwächt, wenn man älter wird.

In dem Jahr, in dem Pekka im Gefängnis seine Strafe abgesessen hatte, weil er als Angestellter einer Bank Geld unterschlagen hatte, war ihm eines klar geworden: Wie damals schon bei seinem Vater würde auch für ihn die Zukunft nicht in dieser jämmerlichen Ansammlung von ein paar wenigen Häusern liegen. Es hatte den einen oder anderen gegeben in der Strafanstalt, der ihm auf die Schulter klopfte, ihn ein cleveres Bürschchen nannte und grinste. Nun ja, bei seinem Alter hatte er schon etwas drauf. Und es gab Beispiele genug, dass auch in den oberen Etagen einer Bank Ähnliches geschah. Nur handelte es sich da um ganz andere Summen. Es war eine fieberhafte Welt, in der alles möglich zu sein schien. In der das Faktische und das Imaginäre sich kaum noch unterscheiden ließen. Offensichtlich spielte da das Alter der agierenden Schauspieler keine Rolle. Schauspieler, ja, das waren sie doch, allesamt.

Tja, und dann war der Tag gekommen, als er wieder an der Haltestelle aus dem Bus stieg und mit einem kleinen Koffer in der Hand zu Hause bei seiner Mutter anklopfte.

»Kleingekriegt haben sie dich wohl kaum«, meinte sie, nachdem sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Das haben wir ja immerhin gemeinsam, dein Vater, du und ich.«

»Märta war ein-, zweimal bei mir mit dem Kleinen«, sagte sie, als er beharrlich schwieg. »Ein spezielles Kerlchen. Aber ja, er könnte ganz gut dein Junge sein. Schade, dass du es verbockt hast, wirklich schade.«

Sie setzten sich in die Küche. Die Mutter stand noch einmal auf, holte Saft aus dem Eisschrank und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Sie füllte beide randvoll, hob das ihre und trank ein paar Schlucke.

»Was hast du nun vor?«, wollte sie wissen.

»Hierbleiben kann ich nicht unter diesen Umständen«, sagte Pekka.

Die Mutter nickte beistimmend.

Und dann blieb er trotzdem. Ein paar Monate zumindest. Jedenfalls zu lange. Bis zu diesem Schuss, der alles veränderte. Natürlich war der Verdacht auf Matti Nieminen gefallen. Wer sonst hätte einen Grund gehabt, ihm nach dem Leben zu trachten?

Aber Matti hatte man nichts nachweisen können. Er musste den Anschlag von langer Hand geplant haben. Und er hatte sein Ziel ja erreicht – der verhasste Nebenbuhler verschwand von der Bildfläche. Von einem Tag auf den anderen. Einfach weg. Ob tot oder verschollen, hatte keine Rolle gespielt.

Pekka hatte nun die neuen Wohnblocks hinter sich gelassen und das Ende der Straße erreicht. Da standen noch zwei, drei Häuser älteren Jahrgangs, Backsteinbauten mit zerschlissenen Sonnenstoren, die im Nachtwind flatterten. In einzelnen Wohnungen brannte noch Licht. Er stieg eine Treppe hinunter und klopfte an das abgedunkelte Fenster neben dem Eingang. Es dauerte eine Weile, bis im Treppenhaus das Licht anging und die Tür aufgeschlossen wurde.

»Ich dachte schon, du kämst heute nicht mehr«, sagte die Frau, die öffnete. Ihr Gesicht lag im Dunkeln. Aber er wusste trotzdem, wie ihr Mund in diesem Augenblick aussah: zusammengepresste Lippen, zur linken Seite heruntergezogen zu einer Schnute, wie sie besser zu einem Teenager gepasst hätte als zu einer erwachsenen Frau von Mitte siebzig.

»Ja«, sagte er, »hat ein bisschen gedauert.«

»Du hättest immerhin anrufen können«, meinte sie.

»Ja, hätte ich«, pflichtete er ihr bei. »Aber der Akku war leer.« Er hörte, wie sie verächtlich schnaubte. Immer dieselbe Ausrede, er wusste es selber. Er klopfte sich die Nässe von Jacke und Hose und schob sich an ihr vorbei in das Treppenhaus.

Henrik

»Wer will schon von sich behaupten, er wüsste, wo und wann eine Geschichte tatsächlich begonnen hat«, sagte Henrik Nyström.

Er ließ den Schreibstift zwischen den Fingern kreisen, so rasch, dass die metallene Hülse im Licht blitzte. Niskanen, der ihm den Rücken zukehrte, drehte sich um, gab aber keine Antwort. Er räusperte sich nur vernehmlich. Wenn der Vorgesetzte zu philosophieren begann, hatte das seiner Meinung nach nicht mehr viel mit polizeilicher Ermittlungsarbeit zu tun. Das behielt er jedoch besser für sich. Und wie zu erwarten gewesen war, fiel Nyströms Stift ein paar Augenblicke später scheppernd zu Boden.

»Verdammt …«, murmelte Henrik.

Auch das gehörte zum Ritual. Niskanen seufzte. Seit der Sache mit dem alten Nieminen war sein Chef nicht mehr derselbe. Seltsam. Sie hatten doch gewiss schlimmere Fälle zu bearbeiten gehabt. Zum Beispiel das Drama um Leena, die Tochter der Familie Strömberg. Tod durch Erfrieren, nachdem der Vater sie mitten im Winter aus dem Haus geworfen hatte. Ursache: ihr Verhältnis zu einem Russen, der auf Strömbergs Hof angestellt war. Nicht dass der alte Nieminen erträglicher gewesen wäre. Aber immerhin war niemand dabei zu Tode gekommen.

Irgendwie erinnerte ihn Henriks Zustand an die Zeit vor dessen Heirat, dachte Niskanen. Henriks zweiter Heirat, mit Annika. Auch da schien er unschlüssig, zögernd und hörte nur mit halbem Ohr, was Niskanen gerade sagte. Und der hatte nicht gewusst, ob er Nyström darauf ansprechen sollte.

»Sorgen mit Frau und Kindern?«, fragte er schließlich.

Nyström hob den Kopf und blickte ihn verständnislos an.

»Na, leg schon los«, forderte ihn Niskanen auf.

»Blödsinn«, sagte Henrik und knüllte die vor ihm liegenden Zettel zu einer Kugel, die er zu den vielen anderen Kugeln in den Papierkorb warf. Helmi, die Putzfrau, eine Perle wie ihr Name, würde wieder den Kopf schütteln ob so viel Abfall.

»Mehr denken, weniger schreiben – wenn das Geschriebene ja doch nur in den Kübel wandert«, war einer ihrer Lieblingssätze. »Ich seh schon, hier fehlt eine Frau.«

Nun ja, vielleicht hatte sie ja recht. Aber er konnte das jeweils trotzdem nicht einfach so im Raum stehen lassen.

»Man fährt am besten, wenn einfach jeder seinen Job macht«, brummte er dann.

Und Helmi, eine robuste Frau von vierzig Jahren, rollte die Augen und machte sich an die Arbeit.

Worüber hatte Matti geredet, als Henrik wieder einmal wegen eines nachbarlichen Zwists bei dem Alten anrücken musste? Es ging um das illegale Verbrennen von Hausabfällen. Ein erster obligater Wutanfall betraf Ukkonen, den Nachbarn, weil es diesen wohl einen feuchten Dreck anging, was Matti auf seinem eigenen Grundstück tat. Und man wohnte ja weiß Gott nicht gerade in einem Reihenhaus, sondern in Abständen von mindestens einem halben Kilometer dichten Waldes. Was also sollte das Geschrei? Dass sich die Polizei einmal mehr als Vermittlerin bemühen sollte, im Wissen darum, dass sie spätestens in einem halben Jahr erneut an derselben Stelle stehen würden, die Streithähne wie die Ordnungshüter?

Matti hatte aber noch von etwas anderem berichtet. Von der Sache mit dem Fuchsfell. Ans Hühnerhaus soll es genagelt worden sein. Vor ein paar Tagen habe er es entdeckt. Noch blutig soll es gewesen sein. Ein Jux? Ein Fingerzeig? Oder gar eine Drohung?

»Sicher kein Zufall«, hatte Matti gesagt. »Da will mir wieder einer schlecht.«

»Nun ja«, meinte Henrik, »Ukkonen wird es diesmal wohl kaum gewesen sein.«

»Nee«, schüttelte der Alte den Kopf. »Nee … Aber wer dann?«

»Ein Bubenstreich«, vermutete Henrik. »Und seither war Ruhe?«

Der Alte nickte. Nachdenklich, wie es Henrik schien.

»Gib Bescheid, falls sich ein ähnlicher Vorfall wiederholen sollte«, sagte er. »Und verbrenn dein Zeug nicht mehr, sonst riskierst du eine Buße.«

Auch wenn er Matti gegenüber die Sache mit dem Fuchsfell abgewiegelt hatte, so glaubte Henrik doch keinen Augenblick an einen puren Zufall, wenn er an jene Ereignisse auf dem Hof des Alten dachte, nachdem dieser von seiner Frau Märta verlassen worden war, Henrik den auf dem Boden Liegenden gefunden hatte und Matti den Namen Pekka erwähnt hatte. Und vielleicht hing es auch irgendwie zusammen mit dem überzähligen Stein, den Marja bei ihrer Schwester Märta gefunden hatte und von dem diese behauptete, dass Pekka ihn ihr gebracht hätte. Marja hatte Henrik deswegen angerufen. Ach ja, Märta und ihre Steine … Die Wege des Herrn sind verschlungen und für den einfachen Irdischen undurchschaubar. Das waren jeweils die Worte seines Großvaters gewesen, wenn er keinen Sinn mehr sah, über etwas weiterzudiskutieren. Und so gab es durchaus Momente, in denen sein Enkel sich fragte, ob es nicht erstrebenswert wäre, vorzeitig in den Ruhestand zu treten. Unbewusst griff Henrik zur Zigarettenpackung.

»Könntest du nicht …?«, fragte Helmi und zeigte auf die Tür.

»Och, ja«, sagte er und schob die herausgezogene Zigarette zurück in die Packung.

Helmi blickte demonstrativ auf ihre Uhr.

»Täusche ich mich oder solltet ihr nicht vor einer halben Stunde Feierabend gemacht haben?«

Niskanen hob die Schultern und deutete auf Nyström. Der war gerade im Begriff, den Raum zu verlassen und nach draußen zu gehen.

»Na, geh ihm nach«, forderte Helmi ihn auf. »Wie soll ich sonst meine Arbeit machen?«

Henrik stand unter dem Vordach und rauchte. Er hielt Niskanen die Zigarettenpackung hin. Der fischte sich eine heraus und ließ sich von Henrik Feuer geben. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander.

»Solltest du nicht längst zu Hause sein?«, fragte Nyström plötzlich.

Niskanen sah ihn erstaunt an.

»Auf mich wartet niemand«, sagte er.

Henrik hob die Schultern.

»Das weiß man nie.«

Niskanen schüttelte den Kopf. Schweigend rauchten sie, bis die Glut den Filter erreicht hatte. Die Kippen warfen sie in den Aschebehälter neben dem Eingang. Ganz nach Helmis Anweisung. Jetzt grinsten sie, wie Schuljungen, die sich nicht immer an die Regeln halten.

Henrik fuhr noch hinaus an den See. Der Abend versprach Regen, da bissen die Fische vor den Niederschlägen sicher gut. Er hatte zwar kein Boot zur Verfügung, aber an der kleinen Landzunge zog er trotzdem meist ein paar gute Stücke an Land. Manchmal warf er sie auch zurück, Größe hin oder her, und kam mit leeren Händen nach Hause. Aber der stille Ort, von dem man weit über den See hin sah, versprach auch einfach Ruhe. Und die hatte er, je älter er wurde, umso nötiger. Er schrieb Annika eine kurze Nachricht, dass es etwas später würde.

An diesem Abend zappelten nur drei, vier aufgeregte Barsche an seiner Angel. Und nachdem er ihnen gesagt hatte, wie Leichtsinn leicht zum Tode führen konnte, ließ er sie wieder ins Wasser gleiten, wo sie wie betäubt einen Augenblick reglos an der Stelle verharrten, bevor sie wie auf Kommando alle pfeilschnell im dunklen Wasser verschwanden.

Pekka, dachte Henrik, während er nach Hause fuhr. Das war der Name, den Märta Nieminen mehrmals erwähnt hatte bei den Ermittlungen zu den Schüssen bei Mattis Haus. Märtas Liebhaber, den sie nicht hatte heiraten dürfen. Pekka. Aber seitdem waren doch nun schon eine Handvoll Jahre vergangen. Warum tauchte gerade dieser Name nun auf? Sollte diese Geschichte in irgendeiner Form, mit neuen Vorzeichen, von vorn beginnen? Was mochte das räudige Fuchsfell an Mattis Hühnerhaus bedeuten? Fragen über Fragen. Er würde das Ermittlungsdossier nochmals hervorsuchen müssen. Wobei über Fuchsfelle sicher nichts darin zu finden war.

Märta

Sie wog den Stein in der Hand. Täglich. Er wurde nicht leichter. Obschon er nicht sehr groß war, wurde er nicht leichter. Sie betrachtete die silbernen Einsprengsel. Es war ihr Stein. Der Wichtigste vielleicht. Ja, das war keine Frage. Pekka hatte ihn zurückgebracht. An jenem Abend, als sie in ihrem Zimmer saß. Sie hatte ihn gesehen. Ihn, Pekka. Es hatte nur ganz kurz gedauert, aber sie wusste, dass er es war. Auch nach den vielen Jahren, die sein Gesicht inzwischen gezeichnet hatten. Aber die Augen, die waren noch dieselben. Etwas müde, schien ihr. Aber dieselben.

Wie war er denn überhaupt zu dem Stein gekommen? Sie hatte immer gedacht, er sei bei denen, die Matti einst in einem seiner Anfälle in den Wald hinausgeworfen hatte. Aber wenn er es herauszufinden geschafft hatte, wo sie sich aufhielt, so war es doch auch möglich, dass er den Stein wiedergefunden hatte. Oder hatte er ihn schon längst mit sich herumgetragen, ohne dass sie etwas davon wusste?

Für Märta war klar: Pekka war zurück, Pekka war wieder da. Nur hatte Marja ihr das nicht glauben wollen. Weder sie noch Arto wollten ihn gesehen haben. Dabei war er doch ins Haus gekommen, in Märtas Zimmer, das sie bewohnte, seitdem ihr die Schwester und der Schwager Unterschlupf boten. Ein Zurück in das alte Haus, zu Matti, war nicht mehr infrage gekommen. Und wo sonst sollte sie hin?

Jedenfalls war Pekka da gewesen, er hatte hier im Zimmer gestanden, vor ihr, und hatte ihr den Stein in die Hand gelegt. Den Stein vom Wasserturm in Tampere. Den Stein des ersten Abends. Und einer verbotenen Reise. Hätte sie heute den Mut, noch einmal so zu handeln, wie sie es damals tat? In den Augen der anderen musste alles falsch gewesen sein, was sich daraus ergeben hatte. Nun war Pekka zurückgekommen. Er hatte ihren Namen geflüstert, und sie hatte ihre Hand über dem Stein verschlossen. Diesmal würde sie besser auf ihn achtgeben.

Aber dann war Marja ins Zimmer gekommen und hatte gefragt, mit wem sie denn gesprochen habe.

»Mit dir«, wollte Märta sagen. Erst als sie aufblickte, nahm sie wahr, dass die Schwester vor ihr stand. Nicht Pekka. Nein, Marja wollte Pekka nicht gesehen haben. Wie auch? Außer ihnen war doch niemand da.

Aber der Stein – war er nicht das Beweisstück? Vom Himmel gefallen war er jedenfalls nicht.

Ach ja, Pekka, dachte Märta. Der Unglücksheld geisterte immer noch durch ihre Träume. Stein hin, Stein her. Märta hatte nebst Kleidern und anderen Dingen auch eine Schachtel mit Steinen mitgebracht, als sie bei ihrer Schwester eingezogen war. Die Schachtel lag nun unten im Schrank, in einer Ecke, halb verdeckt von den Kleidern, die an den Bügeln hingen.

Sicher hatte Märta den Stein aus der Schachtel geholt, dachte Marja. Sie wusste es nur nicht mehr, hatte es vergessen. Wie sie so manches vergaß, je älter sie wurde.

»Willst du ihn nicht zu den übrigen Steinen in die Schachtel legen?«, fragte Marja, als sie ins Zimmer trat. »Nicht, dass er plötzlich verloren geht.«

Märta blickte sie erschrocken an.

»Warum sollte er verloren gehen?«

»Weil du ihn vielleicht irgendwo verlegen könntest.«

»Das tu ich bestimmt nicht«, sagte Märta trotzig.

»Bedenke doch, wie viele andere kleine Dinge wir schon gesucht haben«, meinte Marja.

»Das ist nicht dasselbe«, entgegnete Märta und schüttelte den Kopf. »Das ist ganz und gar nicht dasselbe.«

Marja hob die Schultern, wandte sich um und ging zur Tür. Wenn Märta Trotzkopf spielte, gab es kein Zauberwort mehr, um sie zurückzubringen.

»Ich bringe dir einen Tee«, sagte sie.

»Nicht dasselbe …«, wiederholte Märta, aber da war die Schwester bereits aus dem Zimmer gegangen. Eigentlich wusste sie ja, dass Marja recht hatte. Mit ihrem Gedächtnis war es nicht mehr zum Besten bestellt. Schon lange nicht mehr. Immer wieder fühlte sie sich im Stich gelassen von diesem eigensinnigen, trägen Kopf. Der so viel Inhalt bewahrte, dass er zu einem großen Klumpen gepresst sein musste, woraus sich einzelne Dinge kaum oder gar nicht mehr herauslösen ließen. Da nützte es auch nichts, wenn sie sich mit beiden Händen an Stirn und Schläfen schlug, bis sie weinen musste.

»Tja«, sagte Olli, wenn er ab und zu vorbeikam, nicht aus reiner, unbescholtener Liebe zur Mutter, sondern weil seine Devisen, wie er es nannte, wieder einmal im roten Bereich dümpelten. Was sie ja meistens taten.

»Tja«, sagte Olli und »Du weißt schon« oder »Ich kann’s drehen, wie ich will.« Er hatte mehrere dieser kümmerlichen Ausdrücke auf Lager und wendete sie in kleinen, dosierten Portionen in immer anderer Reihenfolge an. Er war nie schuld, dass er ständig pleite war. Alles war so teuer, und mit dem bisschen Sozialgeld kam man einfach nirgends hin.

»Tja, das würden dir auch alle meine Bekannten bestätigen«, sagte er, egal wer jetzt gerade sein Gesprächspartner war.

»Und wenn du mal bei deinem Vater anklopfen würdest?«, schlug Marja einmal vor. Sie wusste, dass der Alte eine Knacknuss war, nicht nur wenn es um Geld ging. Zudem war er mit fortschreitendem Alter noch knausriger geworden, bei Geldfragen sowieso. Olli äußerte sich so gut wie nie über ihn. Jetzt kniff er die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Kein Thema.

»Tja«, sagte er auch, wenn Märta über ihre Vergesslichkeit jammerte. »Tja, vielleicht würde eine Liste helfen.«

»Eine Liste«, wiederholte Märta.

»Ja«, sagte Olli. »Du schreibst dir all die Dinge auf, die du immer wieder vergisst.«

»Genau«, mischte sich Marja ein, die in der Tür stand. »Ich hol dir gleich den Notizblock und einen Stift.«

»Aufschreiben«, wiederholte Märta, und es hörte sich an, als würde sie das Wort kauen.

Als Marja zurückkam, stand Olli am Fenster und Märta knetete ihre Hände.

»Also«, sagte Marja und legte die Schreibutensilien in Märtas Schoß. »Oder nein, komm, es ist besser, wenn du dich an den Tisch setzt, sonst wird das schwierig mit dem Schreiben.« Sie gab Olli einen Wink. Der bewegte sich nicht. Er schien mit seinen Gedanken irgendwo. Ganz der Sohn seiner Mutter.

»Mann …«, stöhnte sie, als er sich endlich in Bewegung setzte und der Mutter half, sich vom Bettrand hinüber zu Stuhl und Tisch zu begeben.

»So«, sagte sie und legte Papier und Stift auf die Tischplatte vor Märta hin.

Die schaute zu und saß einfach nur da, bewegungslos, als ob sie das alles überhaupt nichts anginge.

Mein Gott, was war das für eine Familie!, dachte Marja. Aber du gehörst auch dazu. Du gehörst ungefragt auch dazu. Amtlich beglaubigt. Keine Chance zu entkommen. Es gab tatsächlich Augenblicke, da hatte sie ein entferntes Verständnis für Mattis verbale Ausbrüche.

»Du wolltest etwas aufschreiben«, sagte Olli, als er dem auffordernden Blick seiner Tante begegnete. Er drückte der Mutter den Stift in die Hand.

»Schreib mal auf die erste Seite: Liste der vergessenen Wörter«, schlug er vor.

Märta drehte sich zu Marja um und sah sie fragend an.

»Schreib einfach Liste – oder nein, schreib: Ich bin Märta. ICH BIN MÄRTA – groß, wie es sich für einen Titel gehört«, meinte Marja.

Märta runzelte die Stirn und blickte von Marja zu Olli. Dann zog sie eine Linie quer über das Blatt und machte einen Punkt dahinter.

»Nein«, seufzte Marja, »nein.«

»Nein«, sagte auch Märta und erhob sich mit einer beinahe energischen Bewegung aus dem Stuhl, als wäre sie bereit, das bisschen Eigenständigkeit, das man ihr gelassen hatte, bis zum Letzten zu verteidigen.

»Wofür haltet ihr mich eigentlich? Ich werde doch meinen Namen nicht vergessen!«

Olli

Den Ersatzwagen hatte Olli am Morgen zurückgebracht. Er war auf das Gelände der Firma gefahren, hatte geparkt und den Autoschlüssel wie vereinbart beim Empfang abgegeben. Über den Zustand seines eigenen Wagens konnte man ihm noch keine Auskunft geben, man versprach aber, ihn noch am selben Tag zu benachrichtigen.

Zu Fuß ging er den Weg zurück zu seiner Wohnung. Die Sonne, schien ihm, brannte und hatte das Regenwasser der vergangenen Nacht bereits aufgesogen. Wie eine durstige Kuh. Die konnten ja zwischen hundert und hundertfünfzig Liter Wasser saufen am Tag. Unvorstellbar.

Im Briefkasten lag ein Formular des Sozialdienstes, das er ausfüllen und zurücksenden sollte. Immerhin war ein vorfrankierter Rückantwortumschlag mit dabei. Er stieg die Treppen hoch und nickte einer Frau im Flur zu, die ihre Wohnungstür hinter sich abschloss. Sie mochte um die fünfzig sein, jedenfalls einige Jahre älter als er. Er versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, aber es blieb beim Versuch. Sie murmelte etwas, aber da war er bereits eine Treppe höher und blickte nicht zurück.

Acht Wohnungen gab es in dem Haus. Unten wohnten die im vorgerückten Alter, die das Treppensteigen scheuten. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Olli kannte die Meisten, durch diese nichtssagenden Begegnungen, durch die kurzen, abgerissenen Sätze, wenn man aneinander vorbeiging und nicht stehen blieb. Nicht stehen bleiben wollte. Genauer hieß das also: Er kannte sie nicht. Egal, es war ihm lieber so. Das Unverbindliche hatte sich auf Dauer meist besser bewährt. Mit wenigen Ausnahmen.

In der Wohnung ließ er sich auf das Sofa fallen, das zerschlissene alte Kunstledersofa. Eine Weile döste er vor sich hin. Aber dann erinnerte er sich plötzlich wieder an die defekte Karre und was ihn die Reparatur und der Ersatzwagen kosten würden. Da reichte Tante Marjas Zuschuss nirgends hin. Und beim Sozialdienst konnte er auch keine zusätzlichen Ansprüche geltend machen. Die durften nicht einmal erfahren, dass er ein Auto besaß! Ein meckerndes Lachen blieb ihm gleich im Hals stecken.

Verdammt! Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Verärgert schob er all den Kram zusammen, der sich auf dem Salontisch türmte. Er holte den Kehrrichteimer aus der Küche und warf weg, was wertlos und zu entsorgen war. Und das war fast alles. Danach fühlte er sich etwas besser.

»Wer am Morgen nichts tut, macht meistens auch am Nachmittag nichts anderes«, hielt ihm seine Betreuerin öfter vor, wenn er zu ihr aufs Amt bestellt war. Und wer bis dreißig den Absprung nicht schaffe, dem gelinge es auch später nicht mehr.

Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht. Dass er die dreißig seit einigen Jahren überschritten hatte, bestätigte die Prognose. Nun, er war nicht der Richtige, um das beurteilen zu können. Es gab einfach solche Tage und solche. Daran ließ sich nicht viel ändern. Die Tage kamen und gingen, wie sie wollten. Er war ihnen ausgeliefert. Ja, so konnte man es durchaus sagen: Ausgeliefert war er ihnen.

Vielleicht hatte sie aber doch Unrecht. Denn jetzt hatte er plötzlich ein seltsames Gefühl in den Händen. Sie waren eben tätig gewesen, gewissermaßen in einem Anfall von Putzsucht. Und nun schien es, als ob sie nach mehr verlangten. Als ob sie tätig bleiben wollten. Er betrachtete sie nachdenklich, seine Hände. Aber da war nichts Besonderes zu entdecken. Nach einer Weile nickte er, stand auf und holte in der Küche einen feuchten Lappen, um den Salontisch zu säubern. Das sah schon ganz akzeptabel aus, fand er, nachdem er seine Arbeit begutachtet hatte. Das könnte doch durchaus eine Fortsetzung haben, ging ihm durch den Kopf. Aber als er zurück in die Küche kam, erschlug ihn der Anblick des schmutzigen Geschirrs überall. Nein, heute nicht. Für heute reichte es. Es überstieg seine Möglichkeiten ganz einfach.

»Morgen«, sagte er halblaut. Und dann laut und deutlich: »Ja, morgen.« Den Lappen warf er in den Ausguss und ließ ihn dort liegen.

Er ging ins Bad, duschte und machte sich bereit, in die Stadt zu gehen, um bei Jari nach günstigem und trotzdem gutem Gras nachzufragen. Jari, der eigentlich Juhani hieß, aber seinen Namen abgelegt hatte, weil schon sein Vater so hieß und auch der Großvater so geheißen hatte. Zu viel Familie. Und schlecht für das Geschäft, hatte Jari einmal erklärt. Egal, Olli ging das nichts an. Er wollte auch gar nicht mehr wissen. Das Innenleben von ihm fremden Familien interessierte ihn nicht. Im Gegenteil, es war mühsam und führte stets dazu, das eigene mit dem fremden zu vergleichen. Zeitverschwendung war nicht das richtige Wort dafür. Eher eine Art von Ekel, den er nicht näher hätte beschreiben können. Aber es fragte ja auch keiner danach.

Genug gequatscht. Wenn auch tonlos. Aber wenn er so weiterfuhr, würde er sicher bald einmal zu den ständig vor sich hinbrabbelnden Alten gehören, die ihre reale Umgebung gar nicht mehr wahrnahmen. Also: Das Geld von Tanta Marja reichte so oder so nicht für die Wagenreparatur. Da konnte er geradeso gut erst mal die wirklich wichtigen Grundbedürfnisse abzudecken versuchen.

Vorsichtshalber rief er Jari an, um den Weg nicht vergebens zu machen.

»Alles bestens«, beruhigte ihn Jari. »Aber du musst innerhalb einer halben Stunde da sein, sonst bin ich weg.«

Fing der Stress schon wieder an? Nein, tat er doch gar nicht. Es blieb ja genügend Zeit. Er liebte sie trotzdem nicht, diese Termine und Verabredungen auf Zeit. Kam man zu früh, erschien man als aufdringlich, kam man zu spät, so war es unhöflich, weil man den anderen hatte warten lassen. Im schlimmsten Fall war die Sache auch bereits gelaufen. Am einfachsten war, wenn das Gegenüber ein Zeitintervall vorschlug, zwischen einer halben und vollen Stunde oder so. Das war praktischer. Das blieb überblickbar. Wenn man den Zeitraum einhielt, konnte man weder zu früh noch zu spät kommen.

Bei Jari traf er noch rechtzeitig ein. Der hatte sich richtiggehend herausgeputzt. Zumindest der Kittel, den er trug, war neu. Die zerschlissene Jeans passte trotzdem gut, auch weil die Schuhe nach der neusten Mode waren.

»Wow«, sagte Olli, ein Wort, das ihm sonst eigentlich nur selten über die Lippen kam. »Tolles Outfit!«

Wahrscheinlich hatte Jari ein Treffen mit einem seiner Lieferanten. Olli prüfte die Ware, die er ihm hingelegt hatte und nickte befriedigt. Als Jari ihm jedoch den Preis nannte, schrak er auf.

»Moment mal, da muss dir ein Irrtum unterlaufen sein«, sagte er.

Jari hob die Schultern.

»Eine Sache von Angebot und Nachfrage«, sagte er.

»Das ist zu viel«, wandte Olli ein. »Ich habe noch meine Karre in der Werkstatt. Hat den Geist aufgegeben. Keine Ahnung, wie ich das alles unter einen Hut bringen soll, verstehst du?«

»Tut mir leid«, sagte Jari. »Ich kann da keine Ausnahme machen, du musst das verstehen. Wenn sich das rumspricht, habe ich schon morgen alle anderen am Hals.«

»Scheiße«, murmelte Olli. »Wenn ich für einmal in Raten zahlen könnte?«

»Raten? Vergiss es!«, sagte Jari. »Das kennen wir. Und du kennst es auch. Ware nur gegen Barzahlung.«

Olli schob ihm seufzend die geforderte Summe zu. Es spielte keine Rolle mehr. Es reichte nicht. Und es würde auch künftig nie reichen.

»Na also«, meinte Jari und zählte nach. »Geht doch«, nickte er grinsend.

Als Erstes zündete sich Olli eine Zigarette an, nachdem er das Haus verlassen hatte, wo Jari wohnte. Die Wohnungen kosteten hier mehr, das sah man schon den Häusern an. Alles war viel gepflegter, auch die Bepflanzung der Terrassen, im Gegensatz zu der Gegend, wo er herkam.