Mo - James A. Blessing - E-Book

Mo E-Book

James A. Blessing

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Beschreibung

Matz hätte sich nie vorstellen können, dass sein erster Schultag sein ganzes Leben prägen wird. Er trifft auf Mo und freundet sich sofort mit ihm an. Es wird eine intensive und dramatische Beziehung werden. Während einer WG-Studentenparty lernt Matz zudem Gabriel kennen und verliebt sich unsterblich in ihn. Der eingeladene Nichtstudent Mo fährt total auf Bianca, Gabriels Schwester, ab. Keiner ahnt, was Schönes, aber auch Schlimmes auf sie zukommen wird. Denn die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung wird das Leben von allen auf den Kopf stellen. Plötzlich sind andere Dinge gefragt als das leichte Leben. Aber die Freunde nehmen den Kampf an … mit allen Facetten.

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Seitenzahl: 612

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-649-8

ISBN e-book: 978-3-99130-650-4

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfoto: Josefkubes | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Mo

Ich hätte es wissen müssen, dass es kein gutes Ende nehmen würde, und niemals so vorschnell mit Ja antworten sollen, als Mo mich fragte, ob ich ihm bei einer bestimmten Sache helfen würde. Mo war nämlich der chaotischste Chaot, den man sich vorstellen konnte.

Er hatte hunderte Ideen und Vorhaben, ohne je einen Plan zu haben.

Mo war Moritz, mit dem ich eingeschult wurde und in dieselbe Klasse kam.

Er setzte sich sofort zu mir und war ganz hippelig vor Aufregung. Unsere Schultüten lagen vor uns auf dem Pult und hinter uns standen die nicht minder aufgeregten Väter und Mütter. Die Lehrerin stellte uns nacheinander vor und wir mussten vortreten, um uns ein Namensschild abzuholen, das wir vor uns aufstellten. Nachdem ich Moritz’ Namen wusste, grüßte ich ihn: „Hi, Mo!“

„Hi, Matz!“, kam es von der Seite. So hatte auch ich einen neuen Spitznamen.

Von nun an waren wir unzertrennlich, eigentlich wie Brüder. Auch, weil er bei uns und ich bei ihm zuhause ein- und ausgingen. Wir verbrachten jede erdenkliche Minute zusammen, sodass kaum Platz für andere Freunde war; da wir uns eben genügten. Lediglich auf dem Bolzplatz gesellten wir uns zu den anderen und kamen öfter mit aufgeschrammten Knien, verdreckten Klamotten und völlig ausgepumpt nachhause.

Was wir alles anstellten (aus heutiger Sicht recht harmlos), hätte für acht Jungs gereicht.

Schon in der ersten Klasse hatte es Mo voll drauf. Unsere damalige Klassenlehrerin, Fräulein Maier (sie bestand darauf, Fräulein genannt zu werden!), war eine liebe, gerechte, aber strenge, dicke Frau, die uns mit wogendem Busen und Oberarmen wie Oberschenkel, durch unsere ersten beiden Schuljahre begleitete. Ihr graues, streng zurückgekämmtes Haar endete in einem mächtigen Dutt, aus dem ab und zu die zwei Spitzen verschiedener Haarnadeln hervorlugten, was Mo, wie hätte es auch anders sein können, zu einer frechen Bemerkung veranlasste: „Fräulein Maier! Ich glaube, Ihre Vogeljungen haben Hunger!“

Erstaunt fragte sie nach: „Moritz, wie kommst du bloß darauf? Und was für Vogeljunge?“

„Na, die, die ihre Schnäbelchen aus ihrem Vogelnest auf Ihrem Kopf strecken!“, prustete es unter dem brüllenden Gelächter der Klasse aus ihm heraus. Unsere Lehrerin tat, als ob sie richtig böse auf ihn war, und er musste zur Strafe ein Bild malen, mit einem Nest voller hungriger Vogeljungen. Dabei blitzten ihre Augen so liebevoll amüsiert, dass es im krassen Gegensatz zu ihren zornig zusammengezogenen Augenbrauen stand. Wir liebten sie!

Und da war noch die Sache mit dem dicken Marcel! Dem legte ich eine Stinkbombe unter das Tischbein. Da wir seine Gewohnheiten kannten, musste unser Plan aufgehen: Kurz nach Unterrichtsbeginn haute Marcel sich mit vollem Gewicht mit beiden Armen und Ellbogen auf seinen Pult, um seinen fetten Schädel in die feisten Hände fallen zu lassen. Als die Glasampulle knirschend zerbrach, machte Mo ein langgezogenes Furzgeräusch, um gleich darauf empört zu Marcel gewandt zu rufen: „Buh … ähhhh! Marcel, du Sau!!!“

Marcel saß mit hochrotem Kopf da und schüttelte abwehrend mit den Händen. Der „Duft“ hatte sich rasend schnell im Raum verteilt und alle Mitschüler machten Würgegeräusche.

„Das war mit Sicherheit nicht Marcel! Also? Wer hat die Stinkbombe platzen lassen?!“, schimpfte Herr Zehntner, unser Mathelehrer.

„Okay! Es meldet sich kein Schuldiger, dann müsst ihr halt alle die Strafe entgegennehmen. Ich gehe jetzt raus und ihr bleibt hier und rechnet die Aufgaben auf Seite 21, Aufgaben 1–6! Viel Spaß!“

Bevor er durch die Tür ging, drehte er sich noch einmal um: „Und wehe, jemand macht ein Fenster auf!!!“ Was danach abging, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.

Unsere gemeinsame Schulzeit trennte sich, als ich ins Gymnasium wechselte, während er die Hauptschule besuchte, obwohl es für ihn zumindest für die Realschule gereicht hätte. Er traute es sich einfach nicht zu, trotz meiner heftigen Interventionen.

Zumindest die unterrichtsfreien Stunden gehörten nur uns. Wir machten zusammen die Hausaufgaben, balgten uns oder streunten in der Landschaft herum.

Hatten Spaß im Freibad, wo wir mit Arschbomben die Mädchen am Beckenrand vollspritzten. Oder als wir zum ersten Mal vom Dreier sprangen, das heißt, Mo sprang, ich wurde von ihm, als er wieder das Sprungbrett erklommen hatte und nachdem schon einige andere Jungs mich aufforderten endlich zu springen, damit sie auch mal drankämen, hinterrücks nach vorne bugsiert und hinuntergeschubst. Nach unendlich langen Minuten platschte ich unsanft auf dem Wasser auf und verursachte eine riesige Fontäne. Ich schluckte mindestens zehn Liter chlorige Brühe und dachte lieber nicht darüber nach, was da so alles noch enthalten war. Hustend tauchte ich wieder auf und schwamm zum Beckenrand. Hoch über mir hörte ich ein dreckiges Lachen. Ich sah Mo und die anderen, wie sie sich krümmten. Beleidigt und wütend hievte ich mich heraus und sprach stundenlang kein Wort mehr mit Mo, der sich bemühte, die Sache herunterzuspielen. Was das Ganze aber nur verschlimmerte. Ich teilte weder mein mitgebrachtes Vesper noch das Eis, das ich am Kiosk erstand.

Im Winter fuhren wir mit dem Kandelbus zu unserer Lieblingspiste zum Skifahren oder fuhren Schlittschuh auf dem zugefrorenen Stadtrainsee, auf dem wir im Sommer sonst zum Bootfahren waren.

Dann kam unsere Gameboyzeit, wobei es von unseren Eltern aber nicht so gerne gesehen wurde, wenn wir stundenlang herumdaddelten. An den Wochenenden übernachteten wir abwechselnd beim anderen, was zu ziemlich unausgeschlafenen Nächten führte.

Sobald es das Gesetz und vor allem unsere Eltern erlaubten, gingen wir offiziell Party machen. Es war ja nicht so, dass wir nicht schon vorher heimlich nach Freiburg fuhren und uns in diversen Läden amüsierten. Unseren Eltern sagten wir, dass wir jeweils beim anderen übernachteten. Gott sei Dank hatte mein Zimmer einen direkten Zugang vom Treppenhaus aus, sodass wir unentdeckt hineinschleichen konnten. Als ich das meinen Eltern viel später einmal erzählte, war meine Mutter erschüttert und von meinem Vater kam ein anerkennendes Augenzwinkern, gepaart mit ein wenig Vaterstolz.

Aber zu jenem Zeitpunkt, als Mo mich um Hilfe bat, war unsere Sturm- und Drangzeit so gut wie vorüber. Wir waren ja auch ein paar Jahre älter geworden.

Ich befand mich nach zwei Semestern Biologie jetzt im dritten Semester Medizin.

Nach drei abgebrochenen Lehren arbeitete Mo in Emmendingen in einem Lager.

Wir hatten uns dennoch nicht aus den Augen verloren, auch wenn die gemeinsame Zeit durch Studium und Arbeit doch merklich eingeschränkt war. Außerdem wohnte ich in einer WG in Freiburg und kam meist nur am Wochenende und in den Semesterferien nach Waldkirch.

Als ich mich damals zum Studium anmeldete, beharrte meine Mutter darauf, dass ich unbedingt unsere Dachgeschosswohnung beziehen sollte. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende und mehrfach sanierte Haus war schon lange in Familienbesitz. Im Erdgeschoss befand und befindet sich noch heute ein Ladengeschäft. Das erste und zweite Obergeschoss wurden von meinen Eltern bewohnt. Das Dachgeschoss war an ein junges Paar vermietet.

Nach langem Zureden, auch durch meinen Vater, konnten wir sie überzeugen, dass ich mir in Freiburg ein Zimmer in Freiburg nehmen würde. Eventuell in einer WG, wozu es schlussendlich auch kam. Sie entließ mich dann doch in die Selbstständigkeit. Ausschlaggebend war, dass ich ihr versprach mein „Jugendzimmer“ zu behalten, damit ich auch mal zuhause übernachten konnte.

Mo saß auf seiner anthrazitfarbenen „echten Wildledercouch“, die in Wirklichkeit lediglich mit Alcantara bezogen war, was ich ihm aber nie sagte. Er war so stolz darauf, weil er sie selbst ausgesucht und gekauft hatte. Die Füße lagerten in fadenscheinigen Socken auf dem wohl hässlichsten Anfang-siebziger-Jahre-Couchtisch, den ich je gesehen habe.

Auch da hielt ich mich zurück, denn es war ein Erbstück seiner verstorbenen Großmutter, die liebevoll von allen nur Ömchen genannt wurde. Infolgedessen hieß nun der Horrortisch Ömchentisch. Aber die skandinavische Designerlampe war grandios! Sie war ein Original und ein kleines Vermögen wert. Mo konnte sie nicht leiden, deshalb versuchte ich sie ihm abzuschwatzen. Ohne Erfolg!

Seine Erbtante Maria, die Schwester seiner Mutter, hatte sie ihm zum Einzug geschenkt und er wollte sie nicht vergrätzen, wenn er die Lampe nicht aufgehängt hätte. Sie war Witwe und hatte keine Kinder. Deshalb besuchte sie Mo manchmal zu Kaffee und Kuchen, Letzteren natürlich selbstgebacken. In der Regel waren es Streuselkuchen mit jahreszeitlichem Obst. Die liebte Mo wie nichts sonst.

Ansonsten stammten die wenigen Restmöbel von IKEA. Mit ihnen erlebten wir einige lustige Aufbaunachmittage, da Mo alles intuitiv aufbauen wollte, während ich strikt nach Plan vorgehen wollte. Erst als auch noch der zweite Billy in sich zusammenfiel, kam Mo zur Vernunft. Nicht zuletzt gaben ein paar Fläschchen Bier das Ihrige, um dem Ganzen etwas Fröhliches abzugewinnen. Zu Lachen gab es reichlich. Für Mo natürlich mal wieder mehr, da ich mir das eine oder andere Mal den Hammer auf einen Finger klopfte. Ich jaulte vor Schmerz und Mo vor Schadenfreude. Aber stets kam er dann mit einem Eiswürfel angerannt und kühlte meinen lädierten Finger.

Manchmal pustete er danach darauf wie bei einem kleinen Kind. Ich genoss es und stöhnte ein wenig mehr als notwendig, damit Mos Fürsorge hinausgezögert wurde.

„Und wobei soll ich dir denn nun helfen? Hast du wieder etwas zum Zusammenschrauben?“, fragte ich Mo mit leicht jammervollem Unterton.

„Nööö! S’geht um was ganz anderes. Du weißt doch, dass ich im Betrieb etwas Probleme mit meinem Chef, dem Arschloch Wenke, habe!“, murrte er.

Na klar wusste ich Bescheid. Dieser Vollpfosten musste ein ziemlich pedantischer, unberechenbarer und cholerischer Schleifer sein.

„Also, der nervt nicht nur bei der Arbeit. Nix ist ihm recht und außerdem sind wir in seinen Augen nur nichtsnutzige Faulpelze, die nicht mal ein Loch in den Schnee pinkeln könnten! Aber damit nicht genug: Wenn einer von uns Jungen auf die Toiletten geht, steht der Alte kurz darauf nebenan am Pissoir und lugt uns, vermute ich, auf unser Teil! Das perverse Schwein!“, schimpfte Mo empört.

„Warum geht ihr nicht in eine Kabine?“, wunderte ich mich.

„Na, die ist doch seit vielen Wochen abgesperrt, weil die Verstopfung einfach nicht zu reparieren sei. Und die andere hat keine Türe mehr. Angeblich Vandalismus. Und im Freien pinkeln? Strikt verboten! Zuwiderhandlung führt zur fristlosen Kündigung. Sagt Wenke!“

„Klingt gar nicht so doll!“

„Isses auch nicht und nervt gewaltig!“, bestätigte Mo.

„Und wie soll ich da helfen? Etwa ’ne neue Tür einbauen oder Wache schieben?“, entgegnete ich.

„Quatsch! Du sollst nur herausfinden, ob wir uns täuschen oder diese Drecksau wirklich schwul ist. Du kennst dich doch mit so was aus, oder?“, erklärte er mir mit hochgezogenen Augenbrauen.

Er spielte darauf an, dass ich mich mit sechzehn bei ihm outete.

Ich merkte, dass Mo mich mehr als nur als Kumpel interessierte. Im Gegenteil: Er reizte mich enorm. Wenn ich ihn sah, an ihn dachte oder gar absichtlich unabsichtlich berührte, brannte es in mir. Ich war regelrecht verknallt in meinen besten Freund. Wenn ich nachts von ihm träumte, erwachte ich erigiert. Ich fürchtete mich davor, dass mir dasselbe bei unseren gemeinsamen Übernachtungen passieren könnte, was dann auch der Fall war. Mo hatte glücklicherweise einen festen Schlaf und merkte nichts. Es gelang mir, meinen Zustand gut zu verbergen.

Ich rang monatelang mit mir, um ihm zu gestehen, wie es um mich stand. An einem besonders schönen Abend in meinem Zimmer, wir hörten gerade Musik, beschloss ich, es Mo zu sagen. Zuerst druckste ich herum:

„Weißt du Mo, ich muss dir etwas sagen, was man seinem besten Freund nicht sagen möchte. Äh … weil er damit zu tun hat … äh … und weil er vielleicht schockiert sein könnte.“

„Ey, Alter! Was’n los?! Red’ schon! Oder was soll die Scheiße!“, insistierte Mo.

„Jaaaa … also … die Sache ist die … also, ich meine …“, stammelte ich.

„Stotter nich’ rum, lass es endlich aus!!!“, ärgerte er sich.

„Okay! Gut! Also … Du weißt, wir sind die dicksten Freunde, die es gibt. Die immer zueinander gehalten haben.“

„Okeeei!?“, benutzte Mo das Modewort mit dem Unterton, „verstehe, aber noch nicht ganz, rede mal weiter, bis hierher habe ich es registriert!“

„Äh … und wir stehen uns ziemlich nahe.“

„Okeeei!?“

„Mmh … aber unterschiedlich nahe, wenn du verstehst!“

„Nööö!?“

„Puh, ist das schwer! Also ich bin dir näher, als dir vielleicht lieb ist!!!“

„Okeeei!?“

Ich schluckte und atmete tief durch.

„Ich bin hochgradig verknallt in dich!“, gestand ich nun erleichtert, aber angespannt.

„Okay! Du verarschst mich jetzt. Aber wie! Ich dachte schon … du hast das so toll rübergebracht. Ich wäre glatt darauf hereingefallen!“, feixte er.

Mit nun tränenerstickter Stimme gab ich ihm aber zu verstehen:

„Das ist todernst gemeint! Du glaubst doch nicht, dass ich mit so was rumspinne! Verdammt noch mal: ICH … LIEBE … DICH!!!“, schrie ich verzweifelt, bevor ich in mir zusammensackte.

Nach kurzem Überlegen löste er meine Anspannung: „Bleiben wir trotzdem Freunde, wenn ich nicht so empfinde wie du?“

Ich war so erleichtert, alles offenbart und endlich mit ihm geredet zu haben, dass ich ihn im Überschwang umarmte und einen dicken Kuss auf seine Wange schmatzte. Er löste sich aus der Umarmung und wischte sich die Wange mit seinem legendären schlabberigen Sweatshirt trocken.

„Hehehe! Nicht so stürmisch! War das jetzt kumpelig oder schwul?!“

„Nur erleichtert! Boah, hatte ich einen Bammel. Ich dachte, du würdest mich zu Boden schlagen und fluchtartig das Zimmer verlassen.“

„Spinnst du jetzt komplett?! Wir sind doch Brüder, die besten Freunde! Und solange du nicht verlangst, dass ich dir einen … du weißt schon, wird’s auch so bleiben!“, versicherte er mir. „Aber dass du deinem besten Freund dein Geheimnis so lange nicht offenbart hast, nehm’ ich dir durchaus übel. Schließlich haben wir uns alles erzählt, auch die intimsten Details!“

Vor Erleichterung hätte ich ihn beinahe nochmals umarmt, konnte mich aber gerade noch bremsen.

„Und wie soll das Ganze vonstattengehen?“, hakte ich nach.

„Na ganz einfach: Du musst ihn anbaggern und dann schau’n, wie er reagiert!“, gab er mir in fast betulichem Ton zu verstehen.

„Mal von allem abgesehen: Wie soll das funktionieren? Ich kann ihn doch nicht wie ein Stricher fragen: ‚Na, Süßer wie wär’s mit uns beiden?!“, gab ich zu bedenken.

Mo setzte sein Unschuldsgesicht auf, fuhr sich mit der Rechten durch seine dunkle Lockenmähne und gurrte: „Du bist doch das Brain! Ich bin nur das dumme Landei, das von seinem allerallerbesten Freund ein wenig Beistand möchte … ich bin dann auch ganz lieb zu dir!“

„Verarschen kann ich mich selber, Dumpfbacke! Aber ich werde mir was überlegen“, gab ich beleidigt zurück.

Mo überraschte mich mit einem feuchten Schmatzer auf die Stirn und knuffte mich in die Seite.

„Bäh … Igitt!“, schüttelte ich mich gespielt angeekelt.

Mo kringelte sich kichernd auf der Couch. Im Laufe der Zeit hatte er seine anfänglichen Berührungsängste verloren und schlief inzwischen auch unbefangen wieder mit mir in einem Bett. Anfangs lag er noch die ganze Nacht wach. Aber nach einer kurzen Gewöhnungsphase, als er merkte, dass ich ihm nicht an die Wäsche ging, befand er es für richtig, dass seine Sorgen überhaupt nicht nötig waren.

Zwei Tage später stand mein Plan, der mir genial und für mich unverfänglich schien. Ich sagte Mo noch nichts und fragte nur, wann denn die beste Uhrzeit wäre, um Wenke alleine zu treffen. Mo meinte, dass dies vormittags zwischen zehn und elf am besten sei. Er war schon superneugierig, wie und wann alles stattfinden sollte. Ich beruhigte ihn, sagte ihm, dass es besser sei, so wenig wie möglich zu wissen und dass er schon noch mitbekommen werde, was los ist.

Am Vormittag des nächsten Tages fand dann „Aktion Wenke“ statt.

Nachdem ich mich von Mo ortskundig machen ließ, betrat ich, mit meinem Aufreißeroutfit, die Eingangshalle von Mos Firma.

Sie war modern gestaltet, mit viel Glas und Stahl. Links befand sich eine halbrunde Empfangstheke, rotlackiert mit einer Marmorplatte belegt. Einige Prospektständer und eine Bonbonniere standen darauf herum. Eine Treppe schlang sich um den Aufzugschacht nach oben. Der Tresen war Gott sei Dank nicht besetzt. So konnte ich in aller Ruhe nach rechts durch eine Flügeltüre hindurch zu dem hinteren Trakt gehen. Nirgendwo waren Menschen zu sehen. Mo hatte recht: Die waren alle beim Frühstück!

Es war nicht schwierig zum Lager zu gelangen. Auch das Büro der Lagerverwaltung hatte ich schnell gefunden. Ich wollte erst im Flur herumlungern, aber wie es der Zufall so wollte, kam ein Mann in einem offenen, kittgrauen Arbeitsmantel aus dem Büro. Sorgfältig schloss er die Türe ab, bevor er sich zu mir umwandte. Jetzt erst hatte er mich entdeckt. Nach Mos Beschreibung musste es Wenke sein: klein, untersetzt, etwas linkisch in der Bewegung, mit zum Kittel passendem lichten Haar, das kunstvoll über die weit zurückgerutschten Geheimratsecken drapiert war. Seine Gesichtshaut hatte etwas kindhaft Glattes, wie so mancher verklärte Bischof.

Er grüßte überraschend freundlich und fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ach ja, vielleicht. Ich war eben bei der Geschäftsleitung wegen eines Vorstellungsgespräches und wollte gerade gehen. Aber ich muss auf die Toilette und habe mich wohl verlaufen.“

„Das trifft sich gut! Ich wollte auch gerade dahin, kommen Sie einfach mit“, sabberte Wenke. Mir war jetzt schon klar, was Sache ist, aber ich wollte das Spielchen dennoch auf die Spitze treiben.

„Vielen Dank!“, sagte ich fast übertrieben höflich.

Gerhard Wenke, Lagerverwalter, wie aus seinem Namensschild ersichtlich war, scharwenzelte mit wiegendem Gang vor mir her, leise ein Lied vor sich hin pfeifend.

Nach wenigen Metern kamen wir auch bei den Toiletten an und traten durch die Tür. Typischer Männerklogeruch schlug mir entgegen. Eine Mischung aus Urinalduftstein, stechendem Männerurin und beißendem Desinfektionsreiniger. Die Putzfrau musste noch vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen sein.

Ich stellte mich an das rechte der drei Urinale. Erfreulicherweise hatte ich reichlich Kaffee getrunken, dass auch genügend Harndrang vorhanden war. Genüsslich erleichterte ich mich, währenddessen Wenke direkt neben mir, ohne den schicklichen Anstandsabstand einhaltend, umständlich sein Ding ins Freie beförderte. Aus meinen Augenwinkeln sah ich, dass sich Wenke leicht nach vorne beugte, um das Objekt seiner Begierde besser in Augenschein nehmen zu können. Merklich unmerklich manipulierte er an sich herum und grinste versonnen vor sich hin. Danke Gott, dass ich recht schnell die letzten Tropfen abschütteln und meinen Reißverschluss hochzippen konnte.

Ich drehte mich kurz zu ihm und verabschiedete mich so höflich, wie es mein Ekel eben gerade so zuließ.

„Hat mich gefreut. Hoffe, Sie werden eingestellt. Wo die Angestelltentoiletten sind, wissen Sie ja jetzt!“, gierte er mir nach.

Ich grinste verschwörerisch, innerlich würgend, und verließ so schnell wie möglich den Ort des Grauens. Irgendwie stieß ich beim Verlassen des Gebäudes auf Mo und einen Kollegen, den er auch gleich wegschickte.

„Hey, wie isses gelaufen? Isser nun oder nicht?!“, löcherte er mich.

Ich berichtete ihm den Verlauf meiner „Recherche“ und bestätigte seinen Verdacht. Mo schien sehr zufrieden zu sein, rieb sich die Hände und klopfte mir anerkennend und dankbar auf die Schulter.

„Und was hast du jetzt vor?“

„Lass das mal meine Sorge sein. Das Schwein ist jetzt so was von fällig. Der kriegt kein Bein mehr auf den Boden!“

„Mach aber ja nix Unvernünftiges! Frag mich, bevor du etwas unternimmst! Du weißt: ICH bin das Brain!!“

„Keine Sorge, das schaukle ich schon“, versuchte er mich zu beruhigen. Mit mäßigem Erfolg. Jetzt machte ich mir erst recht Sorgen und bereute, dass ich Idiot da mitgespielt hatte.

Freitagnachmittags fand immer unsere Lerngruppe statt. Mal bei dem einen Kommilitonen, mal beim anderen. Da gab es Thorsten, den hochaufgeschossenen Germanentyp, dessen Eltern in Frankfurt eine große Spedition besaßen. Dann Daniel aus Ulm. Ein kleiner wuseliger Typ, der auch diese großen braunen Augen und dunkle Wuschellocken hatte wie Mo. Überhaupt hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm, was mich für ihn anfällig machte. Aber: chancenlos! Des Weiteren war da noch Franny (Franziska), Österreicherin, burschikos, lesbisch und ein echter Kumpeltyp. Ihre roten kurzen Stehhaare ließen an Pumuckl denken. Außerdem gab es noch Ratz (kommt von Ratte, welche er auch ständig mit sich herumtrug). Ein waschechter Punk, den er auch schon mal in der Vorlesung gab. Eindeutige Herkunft gab es bei ihm nicht. Er sei irgendwo in Deutschland geboren, wäre ja auch egal. Dabei konnte er mitunter seinen Pfälzer Dialekt nur schwer unterdrücken. Wir rätselten bei jedem Treffen, welche Haarfarbe sein Iro denn habe: grün, blau, pink oder gelb. Er wechselte ständig. Er war aber ansonsten eigentlich ein ganz braver und lieber Mensch.

Und dann noch Tim, etwas kräftig gebaut, recht groß, sehr gesellig, aus dem Kaiserstuhl und Winzersohn.

An diesem schwülwarmen Julitag, kurz vor den Semesterferien, war ich wieder an der Reihe. Meine Mitbewohner kannten das ja, da es bei ihnen auch so ablief. Also zogen sie sich aus dem Gemeinschaftsraum zurück und überließen uns das Feld. Tim brachte wie immer zwei Flaschen Wein („Vom guten!“) mit, die er von seinem Winzervater immer aus dem Weinkeller stibitzte. Die anderen brachten Knabberzeug mit. Leider kam ich nicht mehr in den Genuss am Mitgebrachten.

Mein Handy vibrierte in meiner Jeans. Die Festnetznummer meiner Eltern erschien im Display. Ich entschuldige mich bei den anderen und nahm den Anruf im Flur entgegen. Bevor ich mich richtig melden konnte, legte meine Mutter schon los: „Junge! Irgendetwas stimmt mit Mo nicht! Es hört sich an, als ob er weint und schluchzt. Und vorhin hat’s auch gescheppert. Ich habe zwar geklopft und gerufen, aber er hat mir nicht geöffnet.“

„Ich bin in zwanzig Minuten da. Mach dir keine Sorgen. Ist Paps da? Okay!“

Ich teilte meinen Leuten mit, dass ich dringend gebraucht würde und schnell wegfahren müsse.

Die Fahrt dauerte ewig. Was meine Mam sagte, löste doch eine kleine Panik in mir aus. Das passte irgendwie nicht so recht zu Mo, der sonst alles auf die leichte Schulter nahm und nur selten sentimentale Momente zeigte.

Höchstens mal, wenn wir zusammen irgendeinen amerikanischen Heulfilm sahen. Wenn mir die Tränen in Bächen die Wangen herunterliefen (Ich liebe es!), heulte er solidarisch mit. Ohne sich auch nur einmal zu schämen!

Endlich angekommen, stürmte ich sofort ins Dachgeschoss. Ein leises Wimmern empfing mich an der Wohnungstür. Zuerst klopfte ich vorsichtig, pochte unser schon früher vereinbartes Klopfzeichen an die Tür. Dann etwas heftiger, bis ich schlurfende Schritte, begleitet von einem Schniefen, herannahen hörte.

Es öffnete sich die Tür. Ein elendiger Anblick bot sich mir, als Mo vor mir stand. Mit verquollenen Augen schaute er mich wie ein reumütiger Straßenköter an, bevor er langsam abdrehte und Richtung Wohnzimmer wankte. Ich schloss hinter mir die Türe und folgte ihm.

Es bot sich mir ein Bild des Grauens: eine Batterie von leeren Bierflaschen, eine fast leere Tequilaflasche und eine angefangene Wodkaflasche auf dem Tisch und noch ein paar auf dem weinroten Teppich vom Flohmarkt.

Mo kauerte wie ein Embryo auf seiner Couch. Das Schluchzen war einem Schluckauf gewichen und er heulte leise nach jedem Hickser schmerzvoll auf.

Ich ging um den Tisch herum und griff ihm vorsichtig unter die Schultern. Er murrte beim Aufrichten, leistete aber keinen Widerstand. Ich bugsierte ihn vorsichtig auf eine freie Stelle auf dem PVC-Boden, um ihn in eine Hundestellung zu bringen. Ständig drohte er umzufallen. Ich hielt ihn aber sicher und fest.

„Komm! Schön den Bauch durchhängen lassen und ruhig und tief durchatmen. Dann ist dein Schluckauf bald vorbei. Mach schön mit, Mo!“

Er hing wie ein nasser Sack in meinen Armen. Aber die Intervalle seines Schluckaufs wurden immer länger, bis er schließlich total vorüber war.

„Mir is schlecht, ich glaub’, ich muss gleich … Boooaaaah, ch ch ch, booaaaaach!!!“

Gut, dass sich PVC super reinigen lässt. Ich hielt ihm mit der Rechten die Stirn und ließ ihn sich weiter übergeben. Ein süßsäuerlicher Geruch, vermischt mit Bier- und Tequilanote breitete sich im Zimmer aus. Bei jedem anderen wäre es mir auch hochgekommen. Eigenartigerweise machte es mir bei ihm überhaupt nichts aus. Nach Rückfrage, ob er jetzt fertig sei, nickte er beschämt mit rollenden Augen.

Mit meiner Mithilfe gelangte er wieder auf die Couch. Ich setzte mich direkt neben ihn. „Was ist eigentlich los mit dir? Was ist denn Schlimmes passiert.“

„Ss alles aus … alles! Auss, auss!“, schwebte in einer Alkoholfahne seine Antwort daher.

„Was ist aus?“, versuchte ich in seinen Nebel vorzudringen.

„Aaaaalles! Mein Job … Urrrg … meine Kohole! Aaaaales! Urrrg!!!“

„Musst du schon wieder? Soll ich einen Eimer holen?“

„Urrrg!“

Vorsichtshalber suchte ich einen Eimer und machte einen Waschlappen nass. Zurück bei Mo hielt ich ihm den Eimer unter und schlang seine Arme drum herum. Mit dem eiskalten Waschlappen wischte ich die Reste ab und wusch ihm das Gesicht. Ich ignorierte seine wütenden Proteste. Als ich einigermaßen sicher war, dass Mo nicht mehr brechen musste, entwand ich ihm den Eimer und warf den Lappen hinein. Sein Kopf fiel auf meine Schulter und seine Hand ungelenk auf meinen Oberschenkel. Ich legte meinen Arm um seine Schulter und drückte ihn fest. Mo grummelte irgendetwas von Rausschmiss, fristlos und Arschloch, als plötzlich sein Handy läutete. Ich schaute aufs Display.

„Ey, Mo! Deine Mutter!“

„Urrrg! Geh du ran … kann grad nicht!“ Ich nahm den Anruf entgegen.

„Nein, der Matz! Ach so, meine Mutter hat sie … mmh … nein, nein! Ist aber nicht nötig, bin ja bei ihm …! ’Ne Magenverstimmung … nee, bestimmt ’ne Magenverstimmung von den ewigen Dönern extra scharf, die er immer in sich reinstopft. Ist gut! Ich kümmere mich um ihn. Nein keine Sorge, ich rufe Sie morgen in der Früh an! Ja gut, dass ich Medizin studiere. Okay, ciao!“

Mo lag inzwischen auf meinem Schoß und murrte vor sich hin. Vorsichtig nahm ich ihn hoch und brachte den ständig einknickenden Jungen ins Schlafzimmer. Ich ließ ihn auf seine SC Freiburg-Bettdecke fallen und entkleidete ihn bis auf die Unterhose.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis ich ihn unter die Decke brachte. Zur Sicherheit holte ich noch den Eimer. Man konnte ja nie wissen. Ich zog mich auch bis zum Slip aus und legte mich hinter Mo an die Wand. Die Nacht war unruhig, denn Mo schnarchte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, wie ein alter Bauer. Sonst schnorchelte er kaum hörbar und das auch selten.

Ein gutes Jahr zuvor hatte das junge Paar gekündigt, weil es Nachwuchs erwartete und dringend eine größere Wohnung benötigte. Sie hätten sofort in Kollnau eine beziehen können, aber der Mietvertrag mit meinen Eltern war noch nicht abgelaufen.

Als ich davon erfuhr, stand ich zuhause eiligst auf der Matte. Bei meinem Vater rannte ich mit meinem Vorschlag offene Türen ein.

„Mensch Mam! Das wäre doch toll, wenn Mo hier einziehen würde. Er will doch schon so lange von zuhause ausziehen. Außerdem kennst du ihn doch schon ewig und du weißt ja nie, wen du dir sonst ins Haus holst“, bekniete ich sie.

Sie schaute hilfesuchend auf meinen Vater.

„Sag doch auch mal was, Paps!“, flehte ich.

„Der Junge hat doch im Prinzip Recht! Meinst du nicht auch, Kathi?“, schnurrte mein Vater.

„Na schön! Zwei gegen eine! Einverstanden. Aber über den Mietpreis müssen wir noch reden“, gab Mam klein bei.

„Cool! Dann zahlt er nur wenig und macht dafür die Kehrwoche oder was sonst anfällt!“, rief ich begeistert.

„Übertreib mal nicht, junger Mann! Du weißt: kleiner Finger und so. Aber ich denke, es wird sich eine Lösung finden.“

Ich führte einen Freudentanz um meine Mutter auf. Bis sie lachend abwinkte und mir ein Klaps auf den Hintern gab.

Ich schrieb Mo eine SMS, dass er dringend nach Feierabend zu mir kommen sollte, es gäbe Neuigkeiten.

Wir saßen beim traditionellen Five-a-clock Tee (Meine Mam fand das extrem vornehm und chic, und eigentlich konnte ich dieser Mußestunde ehrlicherweise auch etwas abgewinnen), als die Haustürklingel sich stürmisch meldete. Ich sprang auf und drückte den Türöffner. Schon hörte ich jemanden die Treppe hochsprinten und öffnete die Wohnungstür. Selbstverständlich war es Mo.

Keuchend drückte er seine rechte Schulter an meine.

„Ey, Alter! What’s on? Warum sollte ich so dringend bei euch aufkreuzen? Was für Neuigkeiten?“

„Komm mit ins Wohnzimmer, dann wirst du’s erfahren!“

Er keuchte immer noch, als er das Wohnzimmer betrat.

„Hallo Frau Thoma, Tag Herr Thoma!“, grüßte er die jeweilige Hand schüttelnd.

„Ich bin ja so gespannt, welche Neuigkeit mich erwartet, vor allem, was das mit mir zu tun hat!“

„Bevor ich sie dir verrate, musst du mir versprechen keinen solchen verrückten Veitstanz zu veranstalten wie mein geliebter Sohn!“, forderte meine Mutter.

„Okeeei?! Versprochen!“

„Gut! Dann kann ich dir mitteilen, und das hast du vor allem Matz und meinem Mann zu verdanken: Du kannst in unsere Dachgeschosswohnung einziehen!“

Mo war schon so angespitzt, dass er beinahe sein Versprechen vergaß. Stattdessen umarmte er meine Mutter und meinen Vater.

„Cool, cool, cool! Danke, danke, danke!!!“, jubelte er.

Abrupt drehte er sich zu mir um, strahlte mich an und kam auf mich zu.

„Mann, Alter! Boah, das ist ja ’ne Kiste. Lass dich drücken, Buddy!“

Er ging vor mir in eine leichte Beuge, packte mich mit den Armen unter meinen Hintern und hob mich hoch, um mich nach einigen Drehungen und einem Kuss auf die Wange unsanft wieder abzusetzen.

„Meine Güte!“, lachte meine Mutter, „Gut, dass du dich bei uns noch zurückhalten konntest!“

Schon vierzehn Tage später konnte Mo einziehen. Das überglückliche Paar war so froh, keine Doppelmiete zahlen zu müssen, dass es den Rest der Monatsmiete übernahm und die Küche ohne Abstand hinterließ.

Mo war mindestens so glücklich wie die beiden. Seine Eltern sahen das aber ganz anders. Das einzig Beruhigende war, dass er unter der Aufsicht meiner Eltern und auch mir war.

Als der Morgen anbrach und ich mich vorsichtig hinter Mo aus dem Bett schälte, sehnte ich mich nach einer erfrischenden Dusche. Mein Bettgenosse schnarchte nicht nur, sondern schwitzte auch noch dermaßen, dass nicht nur das Bettzeug klitschnass war, sondern auch ich. Außerdem gab es noch einen anderen Grund: Mo hatte sich die halbe Nacht so eng an mich herangekuschelt, dass wir richtig aneinanderklebten. Nach einer kurzen Schlafphase wachte ich durch ein wohliges Grunzen auf. Eine heftige Morgenerektion drückte fast schmerzhaft gegen meinen Oberschenkel. Ich versuchte mich zu lösen. Der Versuch, meine eigene wachsende Erektion zurückzudrängen, schlug fehl. Also suchte ich mein Heil in der Flucht.

Meine Erregung löste sich unter dem lauwarmen, fast kalten Wasser endlich auf.

Ich rubbelte mir die Nacht von der Haut und zog mich leise an. Im Flur ergriff ich die Schlüssel und eilte die Treppe hinunter in mein Zimmer. Dort angekommen, holte ich mir frische Sachen aus meinem Schrank und tauschte sie mit den alten.

Meine Mutter war schon dabei, den Frühstückstisch in der Wohnküche zu richten.

„Morgen, Mam!“

„Morgen, mein Junge! Na, wie geht’s Mo?“

„Weiß nicht. Er schläft noch. Wollte nur fragen, ob du was zum Frühstücken hast. Mos Kühlschrank hat Ebbe.“

„Aha! Er schläft wohl seinen Rausch aus!“, fragte sie mich süffisant lächelnd.

„Mhmh! Sag aber bloß nix seiner Mutter! Für die hatte er nämlich eine arge Magenverstimmung!“, bat ich sie.

„Ist schon gut! Dann richte ich euch mal ein Katerfrühstück“, gab sie mütterlich zu verstehen.

Sie nahm den großen Weidenkorb, mit dem sie sonst auf dem Markt einkaufen ging, und packte ihn fast randvoll mit verschiedenen Sachen. Unter anderem ein Glas mit sauren Heringen und einer Packung Aspirin. Mit den wohlgemeinten Worten: „Und viel trinken!“, stopfte sie noch zwei Flaschen Mineralwasser hinein.

Mein: „Danke Mam. Du bist die Beste!“, quittierte sie mit einem liebevollen Lächeln. Ich machte mich wieder auf den Weg nach oben und hörte hinter mir noch meine Mutter Genesungswünsche nachrufen.

Ich deckte den kleinen Tisch an der Wand mit frischen Brötchen, Bretzeln, Wurst und Käse, selbstgemachter Marmelade, Butter und was sonst der Korb noch zu bieten hatte.

Als ich zum Wecken Mos ins Schlafzimmer ging, bot sich mir ein seltsamer Anblick:

Sein Kopf und die Hälfte seines Oberkörpers hingen zusammen mit seinem rechten Arm über der Bettkante, die Decke kunstgerecht zu einer Kugel gerollt, zwischen seine Beine geklemmt.

Mit einiger Kraftanstrengung und kurzer Gegenwehr schaffte ich es, ihn wieder in eine einigermaßene Normallage zurückzubefördern. Mit einem Schmatzer warf er sich plötzlich auf den Rücken und schob die Deckenkugel von der Matratze. Als ich ihn gerade zudecken wollte, schlug er schlaftrunken blinzelnd die Augen auf.

„Ey!!! Was geht ab?! Autsch, mein Schädel! Was tust du denn hier?“, krächzte er verwundert.

„Morgen, Mo! Alter Suffkopp … alles schon vergessen? Mann, hast du vielleicht einen im Tee gehabt!“, schüttelte ich mit dem Kopf.

„Mein Hirn fährt grad Achterbahn! Kannst du mal leiser … aua … schreien?“, stöhnte er auf, während er seinen Kopf mit beiden Händen drückte.

„Pssst! Ich komme gleich wieder!“, flüsterte ich im Hinausgehen. Als ich zurückkehrte, massierte Mo seinen Lockenkopf und stöhnte leise.

Nachdem er meiner Aufforderung, sich aufzurichten, Folge leistete, gab ich ihm ein Glas mit einer aufgelösten Aspirinbrausetablette. Brav schluckte er glucksend, um nach Leerung herzhaft zu rülpsen. Eine Mischung aus Acetylsalicylsäure und Restalkohol schlug mir entgegen, was mich angewidert umdrehen ließ … bei aller Liebe!

„Bäh, du Pottsau!“, schüttelte ich mich.

„Tschuldigung … oh mein Schädel … mein Hals brennt!“, jammerte er herzerweichend.

„Das eine kommt vom Saufgelage, das andere vom Schnarchen!“, klärte ich ihn auf.

„Wenn du jetzt mal aufstehst und, bitte, BITTE, duschst, dann können wir auch frühstücken.“

„Wenn ich jetzt was esse, kommt’s mir gleich wieder hoch … Urrrgh!“

„Keine Übelkeit vorschützen, duschen geh’n!!!“, herrschte ich ihn an.

Im Umdrehen lockte ich ihn: „Dann gibt’s auch leckeren Kaffee, los jetzt!“

Da Mo nur diesen unsäglichen Instantkaffee im Hause hatte, bat ich meine Mutter um diesen Alukaffeebereiter, den wir vor vielen Jahren als absolutes Must vom Gardaseeurlaub mitbrachten. Sie kramte ihn aus dem hintersten Winkel ihrer unergründlichen Küchenschränke hervor und mahlte mir noch duftend frische „Café-crema-Bohnen“.

Die Sechs-Portionen-Maschine gurgelte und zischte gerade fröhlich vor sich hin, als Mo mit seiner Boxershorts um den linken Knöchel im Schlepptau zum Bad mehr wankte, als ging. Ich hörte, wie die Brause angestellt wurde, und schreckte auf, als ich einen Todesschrei aus der Dusche vernahm. Gefolgt von Flüchen, die ich an dieser Stelle nicht wiederholen möchte.

Rasch eilte ich an den Ort des Geschehens, wo ein nasses, nacktes Rumpelstilzchen seinen Tanz aufführte.

„Verdammt noch mal!!! Wer hat die Temperatur auf Nordpol gestellt?! Wenn ich den erwische, den stopfe ich in die Kühltruhe und setz’ mich drauf!!!“, kreischte ein bibbernder Mo mit hasserfülltem Blick in meine Richtung.

„Na, zumindest bist du jetzt wach! Wenn du dann deinen Nachtschweiß mit warmem Wasser abgeduscht hast, kannst du mit mir frühstücken“, meinte ich versöhnlich.

„In der Kühltruhe, worin ich dich gleich verstaue?“, kam es wütend zurück.

Nach einiger Zeit kam Mo mit bösem Blick ins Wohnzimmer und starrte auf den übervollen Tisch. Sein Badetuch hatte er um die Lenden geschlungen und setzte sich missmutig mir gegenüber. Sein nasses Haar tropfte auf den Teller, was ihn aber nicht zu stören schien. Ich stand nochmal auf, ging ins Bad, um mit einem trockenen Handtuch seine triefenden Locken zu frottieren. Widerwillig stieß er mich weg, ergriff das Handtuch und malträtierte seinen Kopf.

„Kann ich selber, du Mörder!“

Ich musste lauthals lachen, was ihn aber noch wütender zu machen schien. Seine Rubbelbewegungen waren plötzlich noch heftiger, was mit dem Ausruf: „Scheiße verdammt!!! Aua!“, endete.

Ich schenkte uns einen Kaffee in die kitschigen Werbebecher, die aus Mos persönlichem Trödelmarktbesitz stammten. Es war mir auch gelungen, aus heißer Milch und einem Schneebesen, der sich aus unerfindlichen Gründen in einer Küchenschublade befand, so etwas wie Milchschaum zu zaubern.

Mo schaufelte sich eine Unmenge Zucker in seinen Becher, ohne umzurühren, goss Milch ein und löffelte vergnüglich den Milchschaum.

Die Marotte mit dem Zucker hatte Mo schon von Anfang an. Er brachte meine Mutter fast zur Weißglut. Ständig musste sie zum Schluss eine Zuckerpampe in den Schüttstein spülen und damit, wie sie sagte, bares Geld.

Um es ihm abzugewöhnen, versuchte ich, in einem günstigen Moment umzurühren.

Der Erfolg der mehrmaligen Versuche war der, dass Mo sein Getränk in hohem Bogen ausspuckte und angewidert rief: „Uähhh! Das ist ja ekelig süß!!!!“

Resigniert gaben wir auf. Einfach unbelehrbar. Mo hatte wieder mal gewonnen.

Fürsorglich butterte ich ihm ein Laugenbrötchen und reichte es ihm. Dumpf vor sich her brabbelnd, rang er sich ein „Danke“ ab.

„Ein Bismarckhering soll wahre Wunder bewirken bei einem Kater“, versuchte ich die Stimmung zu heben, was mit einem vernichtenden Blick quittiert wurde.

„Ich habe keinen Kater, sondern einen ganz beschissenen besten Freund, der mich hinterlistig vereisen wollte. Was wolltest du mit meiner Leiche tun?! Etwa in eure Pathologie schaffen, zu Studienzwecken?!“, nörgelte er herum.

„Natürlich nicht! Das macht man mit seinem besten Freund doch nicht. Nur, um sich an ihm zu vergehen, du Trottel!“, versuchte ich zu scherzen.

„Was, wie?! Hast du etwa … heute Nacht … ich weiß ja von nichts mehr! Du hast nicht!!!“, rief er erschrocken aufspringend, „Oder doch?!“, kam es kleinlaut hinterher, während er sein aufgegangenes Badetuch wieder festzurrte und sich setzte.

„Was glaubst du? Die Gelegenheit war günstig. Und ich bin auch nur ein Mann!“, foppte ich ihn. Was Mo dann von sich gab, verursachte eine Gänsehaut bei mir.

„Nein! Dafür kenn’ ich dich zu lange. Wenn einer meine Situation nicht ausnutzen würde, dann du! Ich vertraue nur einem Menschen in meinem Leben, und der … der heißt Matthias!“

Ich schluckte und versuchte krampfhaft meine Augen trocken zu halten. Matthias sagte er nur zu mir, wenn es ihm sehr ernst oder er böse auf mich war, oder etwas extrem Persönliches, was er mir mitteilen wollte, was unter uns bleiben sollte.

„Mensch, Mo! Entschuldige! Ich wollte dich doch bloß auf den Arm nehmen“, beschwichtigte ich ihn. Mein Versuch zu lächeln scheiterte an dem traurigen Blick von ihm.

„Komm! Lass uns einfach friedlich frühstücken und nachher reden wir darüber, was dich gestern so aus der Kurve getragen hat.“

Mo nickte stumm und verleibte sich mit verzerrtem Gesicht einen Hering ein. Ich leistete ihm solidarisch Beistand und verschlang ebenfalls mit einer Grimasse den sauren Fisch. Also, mein Ding war so etwas am Morgen nicht. Aber Mo musste plötzlich lachen und es hatte den Anschein, als ob sich seine Laune wieder besserte.

Es schien, als hätte Mo seit Tagen nichts mehr gegessen. Er konnte zwar schon einiges vertilgen, aber dieses Katerfrühstück war von ihm ratzeputz abgeräumt worden. Selbst die Bismarckheringe mussten bis auf einen kleinen Rest dranglauben.

Als er sich zufrieden zurücklehnte, wagte ich mich vor: „Also? Was war los?!“

„Ich muss mich erst anziehen, bevor ich mit dir rede. Mir wird langsam kalt“, zögerte Mo die Aussprache hinaus. Nachdem er sich umständlich angezogen hatte (natürlich in diese ausgeleierten Schlabberhosen, undefinierbarer Farbe, und entsprechendem Sweatshirt), kauerte er sich auf dem Sofa zurecht. Ich hatte inzwischen den Tisch abgeräumt und gesellte mich zu ihm.

„Geht’s dir wieder besser?“, versuchte ich nach einiger Zeit ins Gespräch zu kommen.

„Beschissen! Mein Kopf dröhnt und ich bin arbeitslos!“, antwortete er kleinlaut.

„Wie … arbeitslos?!“, setzte ich mit Stirnrunzeln nach. Aber bevor er etwas sagen konnte, ging sein Handy.

„Morgen Mama. Nee, ganz gut! … Nein keine Sorge! Was ich habe?“, Mo schaute hilfesuchend in meine Augen und gestikulierte, dass ich irgendeine plausible Antwort finden soll. Ich ließ meine Hand um den Unterbauch kreisen.

„Ich hatte Darmprobleme!“

Ich schüttelte heftig den Kopf und kreiste etwas höher auf meinem Bauch.

„Äh … ich meine, ich hatt’s irgendwie im Magen … äh und dann im Darm. Durchfall und so! … Nicht nötig, Matz ist bei mir und versorgt mich. Er hat uns sogar ein tolles Ka … äh Frühstück gemacht! … Ach ja, gestern, telefoniert mit Matz. Ja, ja! Gut, dass er Medizin studiert! … Melde mich, ciao!“

Tief ausatmend legte er das Handy zur Seite. Erleichtert wuschelte er in seiner unnachahmlichen Art durch seine Locken, um dann in Schweigen zu verfallen.

„Wir waren beim Thema Arbeitslos!“, drängte ich ihn. Fast widerwillig richtete er sich auf und starrte auf den Tisch, um jeden Augenkontakt mit mir zu vermeiden.

„Die Schweine haben mich entlassen! Ganz einfach gefeuert! Nur weil ich dieses perverse Schwein bei der Geschäftsleitung angeschwärzt habe. Innerhalb einer Stunde hatte ich die Kündigung in der Hand. Fristgemäß! Mit sofortiger Beurlaubung, bei vollen Bezügen!“, klagte er.

„Mann Junge! Was hast du denen denn erzählt?“

„Wie’s eben war! Und dass er nicht nur uns Lageristen verfolgte, sondern auch Außenstehende. Zum Beispiel einen Bewerber. Ich Idiot! Ich wusste doch, dass es keinen wirklichen Bewerber gab, bloß dich! Aber als ich nachdachte, war es schon heraus und zu spät!“, knickte er in sich ein.

„Das war wirklich eine Wahnsinns-Aktion! Aber typisch mein chaotischer Mo, der immer erst handelt, bevor er denkt.“

„Blablabla! Hilft mir das jetzt weiter? Als ich nochmals bei der GL war, holte ich mir noch einen Anschiss ab: Ich sei das Unverfrorenste, was in dieser Firma je gearbeitet habe. Einen verdienten Mitarbeiter, der fast dreißig Jahre hervorragende Arbeit abliefere, sich nie etwas zuschulden kommen ließ und außerdem integer sei, so zu denunzieren. Man habe ihn befragt und wisse nun, dass ich ein unzuverlässiger Kollege sei und mich nur für Wenkes Ermahnungen und Kritiken rächen wollte. Selbst meine Kollegen hätten alles abgestritten und mich der Lüge bezichtigt. Ich sei unhaltbar für die Firma und unzumutbar für die Kollegen und Vorgesetzten. Dass sich meine Jungs so fies entpuppt haben, ist meine größte Enttäuschung. Wollte doch bloß helfen und die fallen mir so in den Rücken!“

„Hattest du ihnen von deiner Kündigung erzählt?“, fragte ich interessiert nach.

„Na klar habe ich das! Habe die Kündigung auch rumgezeigt. Und dann wurde die ganze Mannschaft nach oben befohlen.“

„Okay! Dann kannst du dir ja denken, weshalb die eingeknickt sind. Pure Angst! Die wollten einfach keine solchen Schwierigkeiten wie du haben.“

„Trotzdem sind das Kameradenschweine!“, kam es weinerlich von der Seite.

„Das Ganze hat ja auch etwas Gutes!“

„Hä?!“

„Du kriegst einige Wochen Kohle und musst nichts dafür tun!“, versuchte ich etwas Ermunterndes beizutragen.

„Um so einen Schwachsinn zu reden, hast du Abi gemacht und studierst jetzt?“, entrüstete er sich, „Und dann? Wenn alles rum ist, stehe ich auf der Straße, weil ich meine Miete nicht mehr zahlen kann. Oder noch schlimmer: Ich muss zurückziehen zu meinen Eltern und denen auf der Tasche liegen. Nee, das packe ich nicht.“

„Jetzt mal langsam! Erstens gibt’s ein Arbeitsamt, wo man sich melden kann. Und zweitens kann ich mit meinen Eltern reden, ob sie in diesem Fall die Miete stunden.“

„Hey, hey, hey! Liest du eigentlich noch Zeitung? Wenn ja, dann müsstest du wissen, dass da draußen Tausende arbeitslos sind und keine Arbeit mehr bekommen! Die haben gerade auf einen gewartet, der nix gelernt hat. S’war schon schwierig, an diesen Job zu kommen.“

„Jetzt sieh’ doch nicht so schwarz. Wir finden schon eine Lösung. Wenn nicht heute, dann morgen.“

Mo sprang auf und rannte ins Bad. Die Flasche Wasser, die er vorher fast in einem Zug ausgetrunken hatte, forderte wohl ihren Tribut. Ein lautes Plätschern aus dem Bad bestätigte meine Vermutung. Aber auch, dass Mo wieder mal im Stehen pinkelte.

Mit erzieherischer Stimme rief ich in seine Richtung: „Hinsetzen beim Pinkeln!“

Die Antwort kam postwendend: „Erstens bin ich ein Kerl und zweitens ist das mein Klo!“

Da hatte er natürlich recht. Trotzdem empfand ich es als Sauerei. Aber er musste sein Bad auch schließlich selber reinigen. Er kehrte zurück, nachdem er sich zumindest die Hände gewaschen hatte.

„Aber unhygienisch isses! Und ich hab’ keine Lust in deine Pisse zu treten!“

„Ich kann zielen. Da geht nix daneben!“

„Hast du ’ne Ahnung, wie weit die Tröpfchen spritzen, die du gar nicht siehst? Bis zu eineinhalb Meter im Umkreis!“

„Hugh! Der Medizinmann hat gesprochen!“, lachte Mo wieder ein wenig und schwang seine Füße auf die Tischplatte. Er hatte endlich mal intakte Socken angezogen.

„Komm! Lass uns den Korb runterbringen und ’ne Runde joggen!“, forderte ich ihn auf. Worauf er mit den Achseln zuckend aufstand und seine Sneakers anzog. Ich schnappte den Korb. Den übriggebliebenen Rest des wenigen Inhalts hatte ich in Mos Kühlschrank verstaut.

Unten zog ich schnell noch meine Trainingssachen an, während Mo sich in der Küche mit meiner Mutter unterhielt. Ich verstand zwar nicht, was sie redeten, aber es klang entspannt und fröhlich. Gott sei Dank! Dann war sein Stimmungstief überwunden.

Schon vor der Haustüre tänzelte Mo herum, während ich meine losen Schnürsenkel nachspannte, und boxte mich auf den Oberarm, als ich mich aufrichtete.

„Auf, du Schlappschwanz! Heute zieh’ ich dich ab, dass dir schwindlig wird!“

Als hätte es einen Startschuss gegeben, düste er in Richtung Stadtrainsee ab.

Am Marktplatz überquerten wir den Zebrastreifen und bewegten uns Richtung See. Beinahe stürzte ich über eine Hundeleine, die sich wie aus dem Nichts vor mir spannte, mit einem (vermutlichen) Hund an der einen und eine ältere, aufgeregte Dame auf der anderen Seite. Der Hund versuchte der Gefahr zu entgehen und raste hinter mir zu seinem Frauchen. Als er abrupt von der nun kürzeren Leine gestoppt wurde, huschte er kläffend vor mir vorbei, um sich seine Freiheit zurückzuholen. Das führte dazu, dass ich gefesselt von einem kleinen kläffenden Handfeger und einer nun kreischenden älteren Dame gefangen innehielt. Alarmiert von dem Gekreische und Gekläffe drehte sich Mo um und lief lachend zu mir. Irgendwie gelang es uns, mich wieder zu befreien. Eine neue, später gern erzählte Anekdote war geboren. Vor allem in der ausgeschmückten Version von Mo war es der „Brüller“, wie er sie stets einführend ankündigte. Er hatte mitunter ein sehr schlichtes Gemüt, wie mir schien.

Nach der zweiten Runde um den See hätte ich gerne am Kiosk ein Wasser geholt. Doch Mo war nicht zu bremsen.

„Los! Keine Übelkeit vorschützen!“, zitierte er mich: „Nächste Station: Heldenkreuz!“

Das Heldenkreuz thront hoch über Waldkirch am Waldrand. Um es zu erreichen, muss man eine enorme Steigung hinter sich bringen. Erst ab dem Schänzle, die Straße, die oben endet, wird’s dann leichter.

Keuchend erreichten wir das Kreuz und ließen uns ins Gras plumpsen. Ich hatte Seitenstechen und unterwegs ein paar Mal fast den Anschluss an Mo verloren. Er zog sein verschwitztes Sweatshirt über den Kopf und machte eine Rolle daraus. Mit einem Seufzer bettete er seinen Nacken darauf. Völlig aus der Puste war uns nicht nach Konversation. Mo schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Ich beobachtete seinen Brustkorb, wie kontrolliert, tiefatmend er sich langsam auf und ab bewegte. Mo war sehr gut trainiert. Seine Muskelpartien entsprechend gut gebaut. Eine Andeutung von einem Sixpack zeichnete sich unter seiner leicht flaumigen Bauchhaut ab.

„Das gefällt dir, gell?!“

Erschreckt blickte ich Mo ins Gesicht. Er feixte frech und ein wenig herablassend.

„Tja! Hättest du so hart trainiert wie ich, hättest du keine solche Schlaffi-Figur.“

„Ich hab’ … doch nur … ich meine, ich wollte bloß mal …!“, stammelte ich ertappt.

„Dich an mir aufgeilen, du Schlampe! Willste mal anfassen?“, provozierte er mich und massierte seine Brust. Ich drehte mich auf die Seite und merkte nicht, dass Mo zum Angriff überging. Seine Hände befanden sich plötzlich unter meinem Shirt und fingen an mich durchzukitzeln.

„Komm, du Schlampe! Ich zeig’s dir jetzt! Jetzt bist du fällig!“, alberte er herum. Ich wand mich unter ihm, ohne Chance mich zu befreien. Auf der einen Seite hielt ich die Kitzelei fast nicht mehr aus, auf der anderen genoss ich seine Berührungen. Endlich ließ er von mir ab und wir regenerierten wortlos unter den harzig duftenden Tannen.

Zuhause angekommen, schlüpften wir aus den verschwitzten Klamotten und sprangen unter die Dusche. Früher endete so was in einer Wasserschlacht mit dem Brausekopf. Es kam aber eine Zeit, da fanden wir’s albern und kindisch und ließen es bleiben. Meistens jedenfalls. Wir waren nun Anfang zwanzig und für solche Spielereien wohl doch zu erwachsen. Dachte ich! Mo hingegen hatte an diesem Tag, nach seinem Ausrutscher, nicht nur Bismarckheringe hinuntergeschlungen, sondern wohl auch einen Clown gefrühstückt.

Plötzlich griff er nach dem Brausekopf und spritzte mir ins Gesicht, was ich mir natürlich nicht gefallen ließ. Ich entwand ihm die Brause und richtete sie nun meinerseits in sein Gesicht. Ein regelrechter Ringkampf hatte sich entsponnen. Ich freute mich über Mos kindliches Kreischen und Lachen. Auch über die Unbefangenheit der Tatsache gegenüber, dass sich im Kampf immer wieder unsere nassen, nackten Körper berührten. Er schien vergessen zu haben, dass ich schwul bin und einmal sehr in ihn verliebt war.

Anschließend rubbelten wir uns gegenseitig an den unzugänglichen Stellen trocken und gingen kichernd, wie kleine Jungs, ins Schlafzimmer, wo ich mir ein paar Klamotten von Mo aussuchte. Einige passable waren ja vorhanden. Er zog aus der Kommode eine Boxershorts mit Comicfiguren zu und wies mich an, diese anzuziehen. Als ich seinem Befehl folgte, krümmte er sich vor Lachen.

„Mann, Mann, Mann! So etwas Scheußliches würde ich im Leben nie anziehen. Bei dir sieht’s aber voll cool aus!“, prustete es aus ihm heraus. Er hatte mich reingelegt und kostete die Situation weidlich aus: „Zieh’ bloß keine Hose an. Ich genieße diesen Anblick!“

Brüderlich teilten wir anschließend die vom Morgen übriggebliebene Flasche Wasser, wozu wir traditionell keine Gläser benötigten.

„Du, Mo! Hättest du etwas dagegen, wenn wir heute Abend mit meinen Eltern über deine Sache reden?“

„Mit deinen vielleicht. Mit meinen auf gar keinen Fall!!!“

Er hatte sich im Schneidersitz aufs Sofa gesetzt und spielte mit seinen Fingern. Das tat er immer, wenn er unentschlossen oder ratlos war.

„In einer Stunde gibt’s bei uns Abendessen. Lass uns nachher einfach runtergehen und die Sache ansprechen. Du weißt ja, in unserer Familie machen wir das immer so. Und niemand steht vom Tisch auf, bevor die Sache geregelt ist. Außer meine Mam. Die muss ja schließlich abräumen. Okay?“

„Okay! Aber mit allen Details und so?“

„Mit allen Details und so!“

Mo pustete mit vollen Wangen aus, als sei es ihm nun doch lästig.

„Ich sag’ unten Bescheid und du kommst in ’ner halben Stunde nach. Zieh dir was über. Im Slip kämst du nicht so gut rüber!“

Mo winkte müde ab, nickte aber, dabei die Augen verdrehend.

Pünktlich eine halbe Stunde später stand Mo vor der Türe. Richtig herausgeputzt hatte er sich. Mir war, als stünde ein Fremder vor mir.

„Hi! Komm durch in die Küche. Abendessen ist noch nicht ganz fertig. Aber ein kühles Zäpfle steht schon bereit!“, empfing ich ihn.

„Hör mir auf mit Zäpfle! Für die nächsten Jahre habe ich damit ausgesorgt.“

Ich grinste und ging voraus. Mein Vater saß schon essensbereit am Küchentisch und begrüßte Mo überschwänglich. Was der nicht wusste, ich hatte meine Eltern schon präpariert. Sie sollten sich aber nichts anmerken lassen. Mo musste selbst damit herauskommen.

„Na, mein Junge? Geht’s deinem Magen wieder besser? Ich habe gehört, du hast unseren Matz gehörig durch die Gegend gescheucht. Aber das tut unserem Herrn Studiosus sicherlich gut, sich das Gehirn ordentlich durchpusten zu lassen“, begann mein Vater das Gespräch jovial.

„Oh! Er hat sich wacker geschlagen! Aber der Brüller war die Sache auf’m Marktplatz und mit dem Hund!“

„Moho! Nicht jehetzt! Das interessiert hier keinen!“, unterbrach ich mit einem fordernden Singsang.

„Doch, doch! Erzähl ruhig weiter, Mo! Ich bin gespannt“, spitzte er ihn an.

Mo konnte es nicht lassen die Geschichte episch breit und mit einigen nicht stattgefundenen Details ausgeschmückt zu erzählen, welche zugegeben recht amüsant, für mich aber dennoch peinlich waren. Zum Schluss bin ich in Mos Geschichte von der Hundeleine gefesselt ins Stolpern geraten, und zwar direkt in einen Hundehaufen. Mein Vater klatschte sich johlend auf die Schenkel, was sonst nicht seine Art war. Selbst meine Mutter kicherte im Hintergrund. Natürlich sagte ich niemandem, dass die Geschichte so nie stattgefunden hatte. Die diebische Freude in Mos Gesicht ließ dies einfach nicht zu. Mein Vater meinte, noch einen draufsetzen zu müssen.

„Das hat unserem Matz wohl mächtig gestunken! Hahaha … Hohoho!“ Mo platzte fast über diesen „gelungenen“ Scherz.

Meine Mutter rettete mich und bat mich doch den Tisch einzudecken und die beiden Spinner sich selbst zu überlassen. Wortwörtlich „Spinner“ sagte sie. Ungewöhnlich!

Klappernd deckte ich den Tisch und warf das Besteck vor Mo hin. Er verstand sofort und verteilte es an die Plätze. Natürlich falsch herum. Aber die DER-DIE-DAS-Regel war ihm nicht geläufig: DER Löffel, DIE Gabel, DAS Messer!

Mam korrigierte ihn nicht und lächelte mich nur leise an.

„Boah! Schäufele mit Kartoffelsalat! Wahnsinn! So was gibt’s zuhause nur bei festlichen Gelegenheiten“, rief Mo begeistert. Mam schaute mich achselzuckend schuldbewusst und Entschuldigung heischend an. Ich legte ihr meine Hand auf den Arm und nickte ihr zu. Alles in Ordnung!

„Dann lasst es euch schmecken. Guten Appetit!“, warf sie erleichtert in die Runde. Nach knapper Erwiderung langte jeder kräftig zu. Mo schaufelte sich das Essen rein, als ob es seine letzte Mahlzeit gewesen wäre, unterbrochen nur von den Beteuerungen, niemals so lecker gegessen zu haben. Als er sich den dritten Nachschlag geholt hatte, verlangsamte sich sein Schaufeln (vielleicht hieß das gepökelte Schweinefleisch deshalb Schäufele, und nicht weil es vom Schulterblatt, das an eine Schaufel erinnert, stammt!).

Nachdem wir alle restlos gesättigt waren, räumte meine Mutter den Tisch ab. Mo sprang sofort auf und half. Mir wäre das nie eingefallen. Er drehte seinen Kopf in Richtung Tisch und gab zu verstehen: „Ich bin’s so von zuhause gewohnt!“

Als er an den Tisch zurückkam, fragte ich gespielt entrüstet: „Und weshalb musste ich heute Morgen den Frühstückstisch alleine abräumen?“

„War ich vielleicht krank?!“

Ich knuffte ihn in die Seite, worauf ein „Autsch!“ ertönte.

Meine Mutter servierte noch einen Flan mit Karamellsauce, so wie sie ihn beim Kochkurs im Elsass gelernt hatte. Für Mo die Offenbarung. Schnell holte meine Mutter noch einen für ihn.

„So wollte ich mal verwöhnt werden, Mam!“, gab ich beleidigt von mir.

„War Mo vielleicht krank?!“, kam es von ihr zurück.

„Deine Mutter hat dich nicht nur zeitlebens verwöhnt, sondern auch verzogen!“, scherzte mein Vater.

„Valentin! Das stimmt doch gar nicht!“, schimpfte meine Mutter, brachte ihm aber trotzdem seinen Kaffeepott.

Genüsslich nahm er seinen ersten Schluck.

„Und, Mo! Wie läuft’s bei der Arbeit? Viel zu tun, was?“, kumpelte er ihn an.

„Nun ja. Da gibt’s ein paar Probleme“, antwortete Mo kleinlaut.

„Wie Probleme?! Erzähl!“, interessierte sich mein Vater, während er seine Hand auf Mos Schulter legte.

Mit belegter Stimme erzählte Mo, was geschehen war. Manchmal stockte er und schwieg. Ich sprang dann ein und drängte ihn zwischendurch, weiter zu berichten.

Als er beendet hatte, gab es ein längeres Schweigen. Meine Mutter hatte sich inzwischen auch mit einem Pott Kaffee zu uns gesetzt und hörte erschüttert zu.

Mo hatte feuchte Augen, was meinem Vater nicht entgangen war. Er nahm Mos Hände in seine und schaute ernst in dessen Augen.

„Eine, wie sagt ihr immer? Eine krasse Story! Ich habe zwar noch keine Idee, wie ich dir helfen kann, aber ich lasse dich auf keinen Fall hängen. Und das mit der Miete kriegen wir auch geregelt. Aber, ganz wichtig: Deine Eltern sollten auch wissen, was passiert ist!“

Mo ließ seinen Kopf hängen und nickte kurz.

„So, jetzt gehen wir ins Wohnzimmer und unterhalten uns über angenehmere Dinge!“

Meine Mutter scheuchte uns auf. Es sollte doch noch ein für alle Beteiligten, angenehmer Abend werden. Mein Eindruck war, dass Mo sich sichtlich geborgen fühlte. Der Abend dauerte ziemlich lange an. Als ich Mo zur Türe begleitete, legte er seinen Arm um meine Schulter und drückte mich fest zum Abschied.

Ich hatte schon mehrere Vorlesungen versäumt. Deshalb stand ich früh auf, trank eine schnell gebrühte Tasse Kaffee aus dem Kaffeeautomaten in der Küche. Meine Eltern schliefen noch und ich schlich mich unbemerkt hinaus. Die Morgenluft erfrischte mich und ich eilte zu meinem gebrauchten Smart, den ich von meinem Vater beim Einzug in die WG in Freiburg bekam. Ich musste noch dort vorbei, duschen, Klamotten wechseln und meine Skripte mitnehmen.

Die erste Vorlesung brachte mich fast zum Einschlafen. Der Anatomie-Prof. dozierte so dröge, dass fast jeder Kommilitone lieber auf seinem Laptop herumfingerte, Mails auf dem i-Phone checkte oder Facebook konsultierte.

Der Prof. blickte zufrieden ins Auditorium, weil er dachte, die Hörer machten sich auf ihren elektronischen Geräten Notizen und Mitschriften. Sein Assi saß gelangweilt in der Ecke neben der verschmierten Mammuttafel, die sicherlich bessere Zeiten erlebt hatte.

Die Vorlesung schien kein Ende zu nehmen. Der Assi schreckte hoch, weil ihm der Kopf nach hinten kippte.

Schleppend langsam ging aber auch diese Vorlesung vorbei und wenig gesittet verließen wir Studenten das Audimax. In der Cafeteria erstand ich den berühmt labberigen Kaffee, den ich mit einem Automatenespresso aufpeppte (Tipp der Zweisemestrigem an die Frischlinge). Ich nahm noch einen Donut, der nach altem Fett und angeranztem Zuckerguss schmeckte. Egal! Ich hatte Hunger und der Rest des Angebotes war mindestens genauso schäbig.

Meine nächste Vorlesung versetzte mich wieder in eine bessere Stimmung. Der junge Prof, der uns versuchte die Innere zu vermitteln, sah aus wie George Clooney in sehr Jung. Emergency room in Freiburg! Er verstand es, mit gezielten Witzen die Studenten aufs Thema zu lenken. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Kollegen die Witze aufschrieben oder die vermittelten medizinischen Inhalte.

Der Vormittag war gerettet. Zusammen mit Ratz, Thorsten und Franny machte ich mich auf den Weg zur Mensa. Penne Bolognese war akzeptabel. Auch wenn der bereitgestellte Parmesankäse eher an Sägemehl erinnerte. Zumindest die konfektionierte Apfelschorle konnte nicht verhunzt werden, da sie es ohnehin schon war. Daniel musste mal wieder mit seiner Flamme Tatjana (inzwischen allerdings Veganerin!) Sushi essen gehen, ihr Lieblingsessen, aber bitte ohne Fisch. Tati, wie Daniel sie nannte, litt unter anderem an Laktoseintoleranz, bekäme von jeder Form von Nüssen, Glutenhaltigem, Tomaten und Erdbeeren, rohen Zwiebeln, Knoblauch in jeder Form und vor allem Ananas innerhalb von Sekunden heftigen Ausschlag im Gesicht und Dekolleté, der so stark jucke, dass sie sich blutig kratzen würde. Daniel hatte, seit er sie kannte, noch niemals eine derartige Reaktion bei ihr wahrgenommen und konnte ergo nichts davon verifizieren. Wir anderen waren uns einig: Schizo! Und Daniel? Wachs in ihren zehnmal am Tag desinfizierten und eingecremten Händen mit natürlichen, ohne Tierversuche getesteten Produkten.

Einmal war sie bei unserer Lerngruppe mit dabei. Ihr wurde rasch langweilig und suchte meine Mitbewohner in der Küche heim. Hinterher wurde ich gebeten, diese Tussi auf keinen Fall je wieder hereinzulassen. Mein Versprechen habe ich dann auch wirklich eingehalten. Selbst Daniel war damit zufrieden.

Seit unserem Gespräch zuhause hatte ich Mo nur telefonisch kontaktiert. Er war ständig unterwegs. Wie er mir freudig mitteilte, hatte mein Vater bei verschiedenen befreundeten Firmeninhabern aus dem Tennisclub angefragt, ob sie vielleicht eine offene Stelle für Mo hätten. Schon bei vier Unternehmen war er vorstellig. Bei zweien hatte er sogar ein gutes Gefühl, dass es klappen könnte. Die Bewerbungsmappe hatte er mit meinem Vater zusammengestellt. Er führte auch Bewerbungsgesprächsübungen mit ihm durch. Es schien gefruchtet zu haben.

Da ich am Freitag vorlesungsfrei hatte, fuhr ich schon am Donnerstag nachhause. Meine WG war etwas konsterniert, da wir für Samstag eine Party geplant hatten. Aber auf einen mehr oder weniger kam es an solchen Abenden eh nicht an. Es kamen ohnehin immer hunderte von Leuten, ob eingeladen oder nicht. Beim Studentenbuschfunk machte es schnell die Runde, wo und wann irgendwo etwas stieg.

Man ging einfach hin und schaute, was los war. Eintritt war aber nur möglich, wenn man ’ne Flasche Alk oder Futteralien mitbrachte. Sonst wäre solch eine Fete auf der Sandbank gelandet.

Nach einem Begrüßungskuss meiner Mutter kam mein Vater auf mich zu und umarmte mich so herzlich wie immer.

„Du solltest, glaube ich, gleich hochgehen! Mo hat dir bestimmt etwas zu erzählen. Sehen wir uns zum Abendessen?“

„Klar! Bis nachher!“, bejahte ich, während ich ihm in die inzwischen breiteren und weicher werdenden Hüften zwickte (sollte ich ihn mal zum gemeinsamen Joggen mit Mo und mir einladen?).

Mo musste mich schon die Treppe erklimmen gehört haben, denn bevor ich noch unser Klopfzeichen „tok … toktoktok … tok“ an die Türe pochen konnte, tat sie sich schon auf. Mit breitem Grinsen und galanter Verbeugung, einer ausladenden, wie einladenden Armbewegung komplimentierte er mich herein.

Der Couchtisch war gedeckt mit Sektgläsern, die mich verdächtig an die meiner Eltern erinnerten, einem Sektkübel, aus dem ein mit weißer Serviette umschlungener Flaschenhals herausragte. Einige Antipasti (Hä? Etwa selbstgemacht?!), waren auf kunterbunten Schälchen und Tellerchen verteilt. Sogar an Servietten hatte er gedacht.

Wir setzten uns und Mo schenkte ungelenk einen Geldermann Sekt ein, was mit einem schäumenden Fußbad endete.

„Lass uns anstoßen! … Auf meinen neuen Arbeitsvertrag!“

„Glückwunsch Alter! Und bei wem?“, fragte ich neugierig.

„Bei Sick im Lager!“, triumphierte Mo. Eine gute Sache, fand ich. Schließlich war es wirklich eine renommierte Firma. Ein Aushängeschild für die Stadt, wie früher die Uhrenfabrik Blessing, die mechanische Uhren in alle Welt lieferte. Mein Vater war noch Auszubildender dort, bevor die Firma in Konkurs ging.

„Das ist ja ’ne tolle neue Nachricht!“, freute ich mich für ihn.

„Nicht nur das! Schau dir erstmal mein Anfangsgehalt an!“, sprudelte es aus Mo heraus. Er zog einen Umschlag unter dem Kissen hervor und holte ein mehrseitiges Schriftstück heraus.