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In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 wurde der Geograph, Diplomat und Schriftsteller Albrecht Haushofer von SS-Männern erschossen – nachdem er monatelang als Gefangener der Gestapo im Gefängnis Berlin-Moabit eingesessen hatte. Sein ebenfalls gefangener Bruder Heinz fand bei dem Toten eine Sammlung von achtzig Sonetten, die zu den bedeutendsten und wirkungsmächtigsten Zeugnissen literarischen Widerstands gegen Nazi-Deutschland gehören.
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Albrecht Haushofer
MOABITER SONETTE
Nach der Originalhandschrift herausgegeben von Amelie von Graevenitz
Biographisches Nachwort von Ursula Laack
C.H.BECK textura
In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 wurde der Geograph, Diplomat und Schriftsteller Albrecht Haushofer (1903 in München geboren) unmittelbar vor der Einnahme Berlins durch die Rote Armee von SS-Männern erschossen, nachdem er monatelang als Gefangener der Gestapo im Gefängnis Berlin-Moabit eingesessen hatte. Sein ebenfalls gefangener Bruder Heinz fand bei dem Toten eine Sammlung von achtzig Sonetten, die zum Bedeutendsten und Wirkungsmächtigsten der Zeugnisse literarischen Widerstands gegen Nazi-Deutschland gehören. Darüber hinaus sind die in ihrer stimmigen Schlichtheit oft ergreifenden Sonette des weltbürgerlich gebildeten deutschen Konservativen, der sich und seine Haltung in diesen Gedichten auch selbstkritisch erforscht, ein ewiges Beispiel für die Widerstandskraft der Poesie, die durch ihre Dichte, Präzision und ihren Bedeutungsreichtum gerade für autoritäre und diktatorische Regime immer eine Provokation dargestellt hat.
Albrecht Haushofer, 1903 in München geboren, 1945 in Berlin-Moabit erschossen, Geograph und Historiker, zunächst Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin und Berater der Dienststelle Ribbentrop, später Professor für Geographie an der Berliner Universität, suchte seit Beginn des Zweiten Weltkriegs verstärkt den Kontakt zum Deutschen Widerstand, dem Kreisauer Kreis, der Gruppe um Carl Friedrich Goerdeler und Mitgliedern der Roten Kapelle. Seit 1941 politisch verfolgt und zeitweilig inhaftiert, wurde er 1944 nach dem Attentat auf Hitler in Bayern verhaftet und ins Gefängnis Berlin-Moabit gebracht, in dessen Nähe er kurz vor der Einnahme Berlins durch die Rote Armee von SS-Männern liquidiert wurde.
MOABITER SONETTE
IN FESSELN
NÄCHTLICHE BOTSCHAFT
TIBETISCHES GEHEIMNIS
WELLENRUFE
AN DER SCHWELLE
DER SCHIERLINGSBECHER
BARBARENTUM
RUNDMARSCH DER GEFANGNEN
DIE WÄCHTER
LAWINEN
GERÄUSCHE
SYLVESTERSEGEN
MASCHINENSKLAVEN
DIE TIGERAFFEN
QUI RESURREXIT
OM MANI PADME HUM
DIE MÜCKE
SPATZEN
GEIGENSPIEL
BEETHOVEN
FIDELIO
GEFÄHRTEN
HEIMAT
ACHERON
OLYMPISCHES FEST
VISION DER FACKEL
ARENA
ASTI SPUMANTE
DER FREUND
MUTTER
DER SCHWANENRING
PARTNACHALM
ABSCHIED
HONIG
DER ARZT
NACHBARN
DER BRUDER
DER VATER
SCHULD
VERHÄNGNIS
RATTENZUG
DIE GROSSE FLUT
VERBRANNTE BÜCHER
ALEXANDRIEN
GOTTVERTRAUEN
UNTERGANG
DIE GROSSEN TOTEN
DAS ERBE
BOMBENREGEN
NEMESIS
WANDLUNG
ENTFESSELUNG
MYTHOS
DEM ENDE ZU
SESENHEIM
MEMPHIS
KÖNIG AMENEMHAT
PAIDEIA
WISSEN
KASSANDRO
DIE BEIDEN FRÖSCHE
PERSISCHE LEGENDE
KARDINAL BALUE
BOËTHIUS
SIR THOMAS MORE
BHAGAVADGITA
FRITHJOF NANSEN
ALBERT SCHWEITZER
KOSMOS
OMAR KHAJJAM
DER FASAN
PAOLO E FRANCESCA
TRAUMGESICHT
KAMI
MIYAJIMA
WAHRSAGE
WIND VOM MEER
JAN MAYEN
VAL TUOI
ZEIT
ANHANG
ANMERKUNGEN ZU EINZELNEN SONETTEN
BIOGRAPHISCHES NACHWORT VON URSULA LAACK
I
II
III
IV
ANMERKUNGEN
EDITIONSBERICHT
Zur Entstehung der «Moabiter Sonette»
Zu den Ausgaben der «Moabiter Sonette»
Zur Textgestalt dieser Ausgabe
I
IN FESSELN
Für den, der nächtlich in ihr schlafen soll,
So kahl die Zelle schien, so reich an Leben
Sind ihre Wände. Schuld und Schicksal weben
Mit grauen Schleiern ihr Gewölbe voll.
Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt,
Ist unter Mauerwerk und Eisengittern
Ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern,
Das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.
Ich bin der erste nicht in diesem Raum,
In dessen Handgelenk die Fessel schneidet,
An dessen Gram sich fremder Wille weidet.
Der Schlaf wird Wachen wie das Wachen Traum.
Indem ich lausche, spür ich durch die Wände
Das Beben vieler brüderlicher Hände.
II
NÄCHTLICHE BOTSCHAFT
Noch andre Botschaft rieselt aus der Nacht
In meines Wesens kaum bewusste Schichten.
Im Wellengang von Tönen und Gesichten
Wird mir von Toten letzter Sinn gebracht.
Zu deuten, was ich fühle, bleibt versagt.
Die Toten rufen uns in eigner Weise
Mit Klängen wie von einer Sternenreise.
Nur Eines weiss ich, da der Morgen tagt.
So wenig in den stoffgebundnen Reichen,
Seit Schöpfertum im Sonnenkreis begann,
Ein Körnchen Staub verlorengehen kann,
So wenig darf ein Seelenhauch entweichen.
Wohin er weht, wenn er dem Leib entflieht –
Die Frage scheut, wer keine Grenze sieht.
III
TIBETISCHES GEHEIMNIS
In jenem Land, wo klare Winterstürme
Die höchsten Gipfel dieser Welt umwehn,
Soll man auf seltne Künste sich verstehn,
Geborgen in den Schutz der Klostertürme.
Die Weisesten der Weisen leben dort,
In Zellen eingemauert, ihrem Denken.
Der Seele streng beherrschte Strahlung lenken
Sie Andern zu, gelöst von Zeit und Ort.
Was Fugenspiel und Symphonie dem Tauben,
Was Rot und Grün dem Farbenblinden scheinen,
Gilt solche Kunst für stoffgebundnes Meinen.
Wo Geistes-Wunder, sonst ein scheues Glauben,
Schon hohes Können ist, verwandelt sich
Ins grosse Du hinein das kleine Ich.
IV
WELLENRUFE
Ich weiss vielleicht schon mehr von diesen Dingen
Als Taube von Musik; vielleicht so viel,
Wie einer hört von fernem Flötenspiel,
Der Wachs im Ohr hat: ein gedämpftes Klingen,
Doch immerhin genug, um einen Wert
Aus diesem oder jenem Ton zu hören,
Genug, den Spieler nicht im Spiel zu stören,
Genug, den Sinn zu wecken, der verehrt.
So lausch ich heute mit gebundnen Händen
Auf manches, was an viele schon sich wendet,
Auf manches, was an mich allein gesendet –
Und rufe selber aus des Kerkers Wänden,
Ob ungelenk und schwach, dem Nächsten zu:
Sei nicht in Sorge – Leben wirst auch Du!
V
AN DER SCHWELLE
Die Mittel, die aus diesem Dasein führen,
Ich habe sie geprüft mit Aug und Hand.
Ein jäher Schlag – und keine Kerkerwand
Ist mächtig, meine Seele zu berühren.
Bevor der Posten, der die Tür bewacht,
Den dicken Klotz von Eisen sich erschlösse,
Ein jäher Schlag – und meine Seele schösse
Hinaus ins Licht – hinaus in ferne Nacht.
Was Andre hält an Glauben, Wünschen, Hoffen,
Ist mir erloschen. Wie ein Schattenspiel
Scheint mir das Leben, sinnlos ohne Ziel.
Was hält mich noch – die Schwelle steht mir offen.
Es ist uns nicht erlaubt, uns fortzustehlen,
Mag uns ein Gott, mag uns ein Teufel quälen.
VI
DER SCHIERLINGSBECHER
Man will noch in Athen den Ort bezeugen,
Wo Sokrates gewartet haben soll,
Bis jene Frist der frommen Feste voll,
Um sich dem tötlichen Gesetz zu beugen.
Ich ging vorüber an der dunklen Schwelle,