Mobilität und Kommunikation in der Moderne - Roland Wenzlhuemer - E-Book

Mobilität und Kommunikation in der Moderne E-Book

Roland Wenzlhuemer

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unsere aktuelle Lebenswelt wird tiefgreifend geprägt von großer überregionaler Mobilität und schneller Kommunikation. Das Buch stellt zentrale Entwicklungen in der Geschichte von Mobilität und Kommunikation in der Moderne vor und untersucht deren Bedeutung in Vergangenheit und Gegenwart. Dabei führt es in die Arbeitsweisen, die Methodik und die Denkweisen der Geschichtswissenschaft ein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 409

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



UTB 5470

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Wien · Köln ·

Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto

facultas · Wien

Wilhelm Fink · Paderborn

Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen

Haupt Verlag · Bern

Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn

Mohr Siebeck · Tübingen

Ernst Reinhardt Verlag · München

Ferdinand Schöningh · Paderborn

transcript Verlag · Bielefeld

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlag · München

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen

Waxmann · Münster · New York

wbv Publikation · Bielefeld

Einführungen in die Geschichtswissenschaft

Neuere und Neueste Geschichte

Herausgegeben von Julia Angster und Johannes Paulmann

Band 2

Roland Wenzlhuemer

Mobilität und Kommunikation in der Moderne

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Roland Wenzlhuemer ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: SS Great Eastern, Poster. akg-images/ LIBRARY OF CONGRESS/SCIENCE PHOTO LIBRARY

Korrektorat: Weingärtner, Gründau

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Nr. 5470

ISBN 978-3-8252-5470-4

Vorwort zur Reihe

Die in dieser Reihe erscheinenden Einführungen in die Geschichtswissenschaft behandeln zentrale Themen der europäischen Geschichte vom ausgehenden 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert in einer nationsübergreifenden Perspektive. Die Grundidee für die Reihe ist aus einer Erfahrung entstanden, die wir im Alltag der akademischen Lehre gemacht haben: Einführungsliteratur für Bachelor- oder Masterstudiengänge stellt in der Regel entweder Faktenwissen oder einen theoretischen Ansatz in den Mittelpunkt. Wir wünschten uns hier eine Verbindung zwischen diesen Ebenen, die wir in der akademischen Lehre ja regelmäßig leisten müssen. Die „Einführungen in die Geschichtswissenschaft“ sollen daher beides miteinander verknüpfen: Die Bände bieten jeweils anhand spezifischer Gegenstände eine Einführung in die Geschichtswissenschaft, also in die Arbeitsweise, die Methodik und die Denkweisen des Fachs. Geschichtswissenschaft als universitäres Fach soll zum wissenschaftlichen Arbeiten befähigen, also dazu, selbst Fakten zu analysieren, sie zu deuten und darzustellen. Es geht darum, selbständig Erkenntnisinteressen zu formulieren, und hierfür ist ein Überblick über die Pluralität und den Wandel der Zugänge des Fachs, über die Theorieentwicklung und die jeweils angemessenen Methoden unabdingbar. Diese Arbeitsweise lässt sich jedoch am besten am konkreten Beispiel vermitteln. Die Reihe bietet daher eine problemorientierte Vermittlung von Inhalten und einen theoriegeleiteten Zugang zu wichtigen historischen Themen. Ihr Ziel ist eine Einführung in wissenschaftliche Zugänge und Methoden, in Forschungsstand und Forschungskontroversen und damit in die Arbeitsweise und das Wesen von Geisteswissenschaft. Gedacht ist diese Reihe jedoch durchaus auch für Lehrende als Handreichung zur Vorbereitung von Seminaren oder einzelnen Sitzungen. Der Aufbau der Bände folgt daher jeweils der möglichen Struktur einer Seminarveranstaltung und bietet eine argumentative oder analytische Gliederung, die nach einer kurzen thematischen Einführung zunächst Kontroversen und Theorien der Forschung behandelt, Leitfragen entwickelt und diese dann an Beispielen in mehreren Kapiteln systematisch anwendet. Wir hoffen, damit einen sinnvollen Beitrag zu Lehre und Studium zu leisten.

Julia Angster und Johannes Paulmann

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Reihe

IEinleitung

IIPerspektiven auf Mobilität und Kommunikation

1Mobilitätsgeschichte

2Technikgeschichtliche Perspektiven

3Wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven

4Kulturgeschichtliche Perspektiven

5Globalgeschichtliche Perspektiven

IIIThemen und Untersuchungsgegenstände

1Verregelmäßigung

2Dematerialisieung

3Kommodifizierung

4Standardisierung

5Kanalisierung

6Kollektivierung und Individualisierung

7Visualisierung

8Digitalisierung

IVSchluss

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Register

I. Einleitung

Mord in der Eisenbahn

Franz Müller hatte sich seine Ankunft in New York wahrscheinlich anders vorgestellt. Er hatte sich am 15. Juli 1864 in London auf der Victoria eingeschifft. Am Abend des 25. August erreichte der Segler schließlich die Lower Bay vor New York. Während der Fahrt durch die Bucht in Richtung Staten Island begegnete die Victoria einem Ausflugsschiff, dessen Passagiere sich im Vorbeifahren lautstark nach dem „Mörder "Müller“ erkundigten.[1] Dieser bekam das aber wohl nicht mit. Genauso wenig schien sich Franz Müller über die tausenden Schaulustigen zu wundern, die den Strand von Staten Island säumten und die Victoria begrüßten. Umso erstaunter war der junge Mann, als er schließlich noch an Bord des Segelschiffs von zwei Polizisten – einem Sergeant von Scotland Yard und einem Beamten der New Yorker Polizei – festgenommen wurde. Als Müller fragte, was ihm vorgeworfen werde, hörte er, dass man ihn in London des Mordes an dem Bankangestellten Thomas Briggs verdächtigen würde.

Der Fall hatte Anfang Juli in London und weit darüber hinaus für großes Aufsehen gesorgt.[2] Am Abend des 9. Juli 1864 hatte der 69-jährige Thomas Briggs am Bahnhof Fenchurch in der City of London einen Zug der North London Railway Richtung Hackney genommen. Nur wenige Minuten später stiegen in Hackney Wick zwei jüngere Bankangestellte zu und fanden Blut am Boden des Abteils, an den Fenstern und der Tür vor. Sie informierten den Schaffner. Das Abteil wurde abgesperrt, der Wagon abgehängt und in den Hauptbahnhof der North London Railway in Bow geschickt, während der Rest des Zuges schließlich weiter nach Hackney fuhr. Die Polizei stellte im Abteil Briggs Gehstock und seine leere Ledertasche sowie einen Hut sicher, der offensichtlich nicht ihm gehört hatte. Den schwer verletzten, nicht ansprechbaren Thomas Briggs fand man neben den Gleisen zwischen den Bahnhöfen Bow und Hackney Wick. Briggs war auf den Kopf geschlagen worden. Danach hatte man ihn einfach aus dem Zugfenster geworfen. Er verstarb, kurz nachdem man ihn gefunden hatte.

Schon früher hatte es immer wieder Verbrechen in der Eisenbahn gegeben. Reisende waren bestohlen, in manchen Fällen auch ausgeraubt, bedroht oder belästigt worden. Nun aber war das erste Mal in der britischen Eisenbahngeschichte ein Mord in einem Zug passiert. Viele Reisende und Pendler waren entsprechend beunruhigt. Unter anderem auch deshalb setzte Scotland Yard viel daran, das Verbrechen schnell aufzuklären. Inspektor Richard Tanner wurde mit dem Fall betraut. Der Täter hatte Briggs goldene Taschenuhr und – wohl versehentlich – auch Briggs Hut mitgenommen. Die eigene Kopfbedeckung hatte er am Tatort zurückgelassen. Die Polizei konnte die Uhr bald bei einem Juwelier mit dem klingenden Namen John Death sicherstellen. Death hatte sie nach eigener Aussage von einem bleichen jungen Mann gekauft, den er für einen Deutschen hielt. Wohl auch angespornt durch die ausgeschriebene Belohnung von £300 meldete sich bald ein Kutscher namens Jonathan Matthews, der den auffälligen Hut des Täters wiedererkannt haben wollte. Durch seine Aussage fand die Polizei Namen und Adresse des Verdächtigen heraus. In seiner Unterkunft fand sie ihn aber nicht vor. Nach Auskunft seiner Vermieterin hatte sich Franz Müller bereits auf dem SegelschiffVictoria nach Amerika aufgemacht.

Eine funktionierende Telegrafenverbindung über den Atlantik sollte erst zwei Jahre später in Betrieb genommen werden. Wollte er den Verdächtigen nicht entkommen lassen, so hatte Inspektor Tanner nur die Möglichkeit, sich auf einem schnelleren Schiff nach New York aufzumachen. Gemeinsam mit dem Sergeant, der später auch die Verhaftung vornehmen sollte, und den beiden Zeugen Death und Matthews bestieg der Inspektor am 20. Juli – also fünf Tage nach Abfahrt der Victoria – das DampfschiffCity of Manchester und kam in New York sogar drei Wochen vor Müller an. Während der Wartezeit verbreitete sich in Nordamerika die Kunde über den spektakulären Mordfall in London, die transatlantische Verfolgungsjagd und die bevorstehende Ankunft des Mordverdächtigen in New York. Der Kapitän der Victoria wurde bei Einfahrt in die Lower Bay von einem Lotsen über seinen Passagier informiert. Gleichzeitig telegrafierte man vom Leuchtturm in Sandy Hook nach New York, dass die Ankunft des Seglers kurz bevorstehe – daher die Rufe vom Ausflugsschiff und die Schaulustigen am Strand von Staten Island. Franz Müller wurde schließlich von den USA an das Vereinigte Königreich ausgeliefert, zurück nach London gebracht und dort im Old Bailey vor Gericht gestellt. Seine Verteidigung übernahm ein Anwalt, der von der German Legal Protection Society gestellt wurde. Dennoch wurde Müller des Mordes für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und schließlich am 14. November 1864 öffentlich erhängt.

Die britischen Medien berichten zwischen Juli und Oktober 1864 ausführlich über den Fall, der aus Sicht der Zeitgenossen sicherlich zu den aufsehenerregendsten Mordfällen im Großbritannien der 1860er-Jahre gezählt werden darf. Der Fall hatte alles, was es für eine spektakuläre Berichterstattung brauchte: einen brutalen Mord an einem ungewöhnlichen Ort, einen ausländischen Tatverdächtigen, eine transatlantische Verfolgungsjagd und jede Menge diplomatischer Verwirrungen – sowohl im Rahmen des Auslieferungsgesuchs an die Vereinigten Staaten wie auch hinsichtlich des Interventionsversuchs von Seiten des preußischen Königs Wilhelm, der mittels Telegramm an Königin Victoria erfolglos versuchte, die Hinrichtung Müllers verschieben zu lassen. Jenseits des zeitgenössischen Sensationalismus, der später in Kapitel III.3 im Zusammenhang mit der penny press nochmals kurz aufgegriffen wird, bietet diese ungewöhnliche Episode aber auch einen guten Einstieg für eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Mobilität und Kommunikation im langen 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Der Fall führt viele zentrale Aspekte der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte zusammen und macht sie in ihrer Bedeutung und Prägekraft für die zeitgenössischen Gesellschaften spürbar.

Mobilität und Kommunikation

Schauen wir zunächst einmal auf Franz Müller selbst. Er wurde im Jahr 1840 in einem kleinen Ort im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach geboren. Müller lernte das Schneiderhandwerk und war als Geselle hochgradig mobil. Im Mai 1859 kam er nach München, zog 1861 aber weiter nach Köln. Im März des Jahres 1862 machte er sich nach London auf, wohl schon mit der Absicht, von dort nach Amerika auszuwandern, sobald er die notwendigen finanziellen Mittel zusammen haben würde. Franz Müller steht damit stellvertretend nicht nur für unzählige Wandergesellen, die sich nach ihren Lehrjahren oft für einige Jahre auf Wanderschaft in fremde Länder und Regionen aufmachten. Er war zugleich einer von mehreren Millionen Deutschen und anderen Europäern, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit oder einfach einem besseren Leben verließen und anderswo – häufig in Nordamerika – ihr Glück suchten.[3]

Dann ist da natürlich der besondere Tatort, an dem Thomas Briggs angegriffen und ausgeraubt wurde. Sowohl das Mordopfer wie auch die beiden Bankangestellten, die das Blut entdeckten, waren Berufspendler. Sie arbeiteten in der Londoner Innenstadt, wohnten aber wie viele andere am Stadtrand oder in den Vororten. Dieses tägliche Pendeln über vergleichsweise lange Strecken wurde in größerem Maßstab überhaupt erst durch die Verfügbarkeit eines verlässlichen, regelmäßigen und bezahlbaren Verkehrsmittels wie der Eisenbahn möglich (siehe Kapitel III.1 und III.6). Seit den 1840er-Jahren entstanden in großen Teilen Europas und Nordamerikas Eisenbahnnetze, die den Personen- und Warenverkehr auf eine gänzlich neue logistische Basis stellten. In Großbritannien vollzog sich dieser Wandel besonders schnell und tiefgreifend. Die Eisenbahn wurde für viele Menschen schnell zu einem festen Bestandteil ihres Alltags – hinsichtlich ihres Berufslebens ebenso wie im Rahmen ihrer Freizeitgestaltung. Die gesellschaftliche Bedeutung des Zugverkehrs wird auch an der öffentlichen Beunruhigung über den so genannten Eisenbahnmord und die Diskussion über die Sicherheit von Eisenbahnreisen deutlich. Der Fall hatte am Ende sogar unmittelbare Auswirkungen auf die staatliche Regulierung des Eisenbahnwesens. Der 1868 verabschiedete Regulation of Railways Act sah neben vielen anderen Punkten auch vor, dass Passagiere an Bord eines Zuges die Möglichkeit haben mussten, in einem Notfall das Zugpersonal zu kontaktieren.[4]

Nicht zu vergessen ist zudem die Verfolgungsjagd über den Atlantik, die eines der narrativen Kernelemente der medialen Begleitung des Falles darstellte. Franz Müller schiffte sich für die Überfahrt nach New York auf dem SegelschiffVictoria ein. Bis die Polizei ihm auf die Spur kam, hatte er bereits mehrere Tage Vorsprung und wäre mit einem anderen regulären Transatlantiksegler wohl kaum einzuholen gewesen. Müller wäre in New York von Bord gegangen, und wenn er sich geschickt angestellt hätte, wäre es sehr schwer geworden, seiner habhaft zu werden. Inspector Tanner und seine Begleiter aber nahmen mit der City of Manchester einen Dampfer nach New York. Seit den 1840er-Jahren fanden immer mehr Dampfschiffe Verwendung im transatlantischen Linienverkehr (siehe Kapitel III.1). Diese waren unabhängiger von Wind und Strömung und konnten daher oft kürze Routen zwischen ihren Anlegeorten fahren. Mitte der 1860er-Jahre war die Dampfschifftechnik soweit fortgeschritten, dass die City of Manchester trotz späterer Abfahrt etwa drei Wochen vor der Victoria ihr Ziel erreichte und die Polizisten dort in aller Ruhe Vorbereitungen für Müllers Verhaftung treffen konnten. Trotz ihres gut funktionierenden Dampfantriebs war aber auch die City of Manchester wie praktisch alle Dampfschiffe dieser Zeit zusätzlich mit Segeln ausgestattet. Gegen Ende ihres Dienstes wurde der Dampfantrieb ausgebaut und das Schiff noch einige Jahre unter Segeln betrieben.[5] Die City of Manchester ist damit ein typisches Beispiel für die Gleichzeitigkeit verschiedener Mobilitätsformen.

Nur zwei Jahre später wäre die Verfolgung über den Atlantik nicht mehr nötig gewesen und wohl in dieser Form auch nicht mehr durchgeführt worden. Nach mehreren gescheiterten Versuchen seit den späten 1850er-Jahren ging 1866 eine dauerhafte telegrafische Verbindung über den Atlantik in Betrieb. Scotland Yard hätte ab dieser Zeit die amerikanischen Kollegen relativ einfach per Telegramm über die bevorstehende Ankunft eines Mordverdächtigen informieren können. Aber auch im tatsächlichen Geschehen ist der Telegraf als Kommunikationsmittel präsent. So wird die Ankunft der Victoria vom Leuchtturm in Sandy Hook telegrafisch nach New York weitergegeben. Eine solche Vorankündigung ankommender Schiffe war im 19. Jahrhundert eine weit verbreitete Praxis, für die in anderen Fällen auch optische Telegrafensysteme oder Boten eingesetzt wurden. Aber auch die oben bereits erwähnte Intervention des preußischen Königs bei der royalen Verwandtschaft in London, mit der Wilhelm einen Aufschub von Müllers Hinrichtung erwirken wollte, erfolgte per Telegramm. Bereits in diesen beiden Zusammenhängen offenbaren sich die Kernqualitäten dieses damals noch jungen Mediums (siehe Kapitel III.2 und Kapitel III.8). Eine telegrafische Nachricht erreichte New York von Sandy Hook aus schneller als das Schiff, von dessen Ankunft berichtet wurde. Und mit einem Telegramm ließ sich angesichts einer drohenden Hinrichtung rasch zwischen Berlin und London kommunizieren.

Schließlich ist da noch die ausführliche Berichterstattung über den Mordfall, der über viele Monate nicht nur die britischen, sondern auch viele amerikanische und kontinentaleuropäische Zeitungen und ihre Leserschaft beschäftigte. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Europa und Nordamerika nicht nur eine dichte, ausdifferenzierte Zeitungslandschaft, die sich schrittweise immer neue Leserschichten erschloss, sondern auch neue Formen der Berichterstattung und des Journalismus, die unter anderem auch auf Sensationen und Spektakel setzten (siehe Kapitel III.3). Gleichzeitig erreichte mit dem Aufkommen von professionellen Nachrichtenagenturen der weltweite Handel mit Neuigkeiten bisher unerreichte Höhen. Nachrichten waren endgültig zur Ware geworden. Der Kampf um die Aufmerksamkeit der Menschen sollte gute Absatzmärkte für diese Ware schaffen.

Der Aufbau des Buches

Schon diese fünf exemplarischen Punkte, die allesamt in der Geschichte von Franz Müller zusammenlaufen, verweisen auf die zentrale Bedeutung von Mobilität und Kommunikation in der Geschichte der Moderne und auf den tiefgreifenden Wandel, der diese Lebensbereiche in jener Zeit erfasste. Hier setzt auch dieses Buch an. Es will die gesellschaftliche Prägekraft mobiler und kommunikativer Praktiken verdeutlichen und die vielschichtigen technischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen dahinter beleuchten. Die Struktur des Buches spiegelt diesen Anspruch wider. Auf diese Einleitung folgt zunächst ein theoretischer Abschnitt, der verschiedene wissenschaftliche und gesellschaftliche Perspektiven auf menschliche Mobilität und Kommunikation aufzeigen und anhand dessen auch Fragestellungen und Erkenntnisinteressen, die eine historiografische Untersuchung dieser Lebensbereiche betreffen, entwickeln will. Im Kern beschäftigt sich dieses Kapitel mit der Frage, warum man sich aus geschichtswissenschaftlicher Sicht überhaupt mit Mobilität und Kommunikation beschäftigen sollte und wie eine solche Beschäftigung aussehen könnte.

Die folgenden acht Kapitel widmen sich dann dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Anstatt sich chronologisch oder entlang technologischer Entwicklungen durch das Thema zu arbeiten, folgen die einzelnen Abschnitte acht transformativen – teilweise disruptiven – Großprozessen, die die Geschichte menschlicher Mobilität und Kommunikation im Untersuchungszeitraum und darüber hinaus entscheidend geprägt haben. Diese übergreifenden Prozesse hängen zumeist nicht an einzelnen Medien, Praktiken oder technologischen Errungenschaften, sondern verweisen auf die tieferen qualitativen Veränderungen im Bereich von Mobilität und Kommunikation und damit letztlich im Kontext menschlichen Zusammenlebens.

Einen ersten solchem Prozess stellt die zunehmende Verregelmäßigung und die damit einhergehende bessere Planbarkeit von vielen Kommunikations- und Transportabläufen dar. Verkehrsmittel wie die Kutsche oder später das Dampfschiff und die Eisenbahn operierten immer stärker auf festen Routen und zu festgelegten Zeiten. Sie verkehrten nach Fahrplan, wurden dadurch berechenbarer und fügten sich in logistische Ketten ein. Eine wesentliche Rolle in diesem Zusammenhang spielte die Nutzbarmachung der Dampfkraft für das Verkehrswesen.

Der folgende Abschnitt beleuchtet den Prozess der Dematerialisierung von Informationsflüssen und die damit verbundene Entkoppelung von Kommunikation und Transport. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fand man effiziente Wege, um Informationen in optische oder elektrische Signale zu encodieren und zu verschicken. Diese Inhalte konnten sich frei von den Beschränkungen materiellen Transports bewegen und waren daher zumeist schneller als dieser. Das eröffnete unter anderem neue Möglichkeiten zur Kontrolle von Verkehrsmitteln wie der Eisenbahn oder dem Dampfschiff.

Einen dritten zentralen Prozess der modernen Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte stellt die zunehmende Kommodifizierung von Informationen dar. Nachrichten wurden mehr und mehr zu Waren, mit denen man handeln konnte. Gleichzeitig wurde dieser Nachrichtenhandel, der seinen Anfang bereits in der Frühen Neuzeit genommen hatte, immer globaler. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Zusammenhang nicht nur das Zeitungswesen, sondern auch die im 19. Jahrhundert entstehenden Nachrichtenagenturen, die bald den weltweiten Nachrichtenhandel dominieren sollten.

Solche überregionalen, oft globalen Austauschprozesse machten eine zunehmende Standardisierung ihrer Normen und Grundlagen notwendig. Was Ende des 18. Jahrhunderts im revolutionären Frankreich mit der Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten begann, ergriff bald auch die Bereiche Kommunikation und Transport, die durch ihren verbindenden Charakter ganz besonders auf geteilte Standards angewiesen sind. Unter anderem die im ersten Abschnitt besprochene Verregelmäßigung von Transportprozessen machte zudem auch eine Vereinheitlichung der Zeitmessung wünschenswert.

Ein fünfter Abschnitt untersucht Prozesse der Kanalisierung von Mobilität und Kommunikation. Um immer größere Ströme von Personen und Waren überblicken und effektiv kontrollieren zu können, mussten diese entlang bestimmter Routen und Kontrollpunkte geleitet werden. So ermöglichte ein Bauwerk wie etwa der Sueskanal einerseits höhere Mobilität, erlaubte gleichzeitig aber auch einen verbesserten Zugriff auf die sich bewegenden Waren und Menschen. Die Kontrollen dienten unter anderem dem Schutz und der Selbstvergewisserung der in dieser Zeit entstehenden Nationalstaaten.

Schwerer in einen einzigen prozessualen Begriff zu fassen sind die Entwicklungen, die im darauffolgenden Abschnitt behandelt werden. Es geht um die scheinbar gegenläufigen und doch eng miteinander verzahnten Prozesse von Kollektivierung und Individualisierung,um Masse und Individuum. Sowohl Mobilitäts- wie auch Kommunikationspraktiken waren im Untersuchungszeitraum geprägt von beiden Phänomenen: Massenverkehr und Massenkommunikation auf der einen Seite, Individualverkehr und Einzelkommunikation auf der anderen.

Der siebente Abschnitt spürt der Visualisierung nach. Neben Texten spielten im Untersuchungszeitraum vermehrt auch bildliche Inhalte in Kommunikationsprozessen eine wichtige Rolle. Fortschritte in der Drucktechnik und das Aufkommen der Fotografie machten das technisch möglich. Bilder wirkten anders als Worte und erfüllten gänzlich andere Kommunikationsbedürfnisse. Sie konnten über große Distanzen hinweg eine gefühlte Nähe herstellen und vermittelten Authentizität und Glaubhaftigkeit.

Ein letzter Abschnitt widmet sich dem hochaktuellen Prozess der Digitalisierung und versucht dieses gegenwärtige Phänomen historisch zu verorten. Digitalisierung ist im Kern nichts anderes als die Überführung von Informationen in zählbare Werte und deren rechnerische Weiterverarbeitung. Nach bescheidenen Anfängen im 19. Jahrhundert, erlangte dieser Prozess nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Dynamik und begann eine ungeahnte gesellschaftliche Prägekraft zu entfalten, die im Wesentlichen von der Entwicklung leistungsfähiger Rechenmaschinen und deren sukzessiver Vernetzung getragen wurde und auch heute noch wird.

Ein solcher Fokus auf transformative Prozesse hat natürlich auch blinde Flecken. Wichtige Inhalte und Themen der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte haben in diesem Zugang nicht den ihnen vielleicht zustehenden prominenten Platz gefunden und hinterlassen unbefriedigende Leerstellen. Beispielsweise konnten Migrationsbewegungen, die eine so prägende Rolle in der Geschichte der Moderne einnehmen, nicht wirklich systematisch erörtert werden. Sie tauchen an vielen Stellen im Buch auf, nehmen analytisch aber keine zentrale Position ein. Zudem wird kaum einmal gezielt über den sich im 19. Jahrhundert intensivierenden Tourismus gesprochen oder über die damit oft in Verbindung stehende Praxis des Reiseberichts, der auch in seiner Funktion als historische Quelle Beachtung verdient hätte. Überhaupt kommen Reiseerfahrungen, die unter anderem in kulturhistorischen Zugängen zur Mobilität zentral sind,[6] in diesem Buch zu kurz. Und auch zu einzelnen Trägertechnologien oder Mobilitätserscheinungen hätte man viel mehr sagen können: über die Bedeutung des Straßenbaues, über das nordenglische Kanalsystem[7] oder vielleicht über das Grand Hotel.[8] Zusätzlich dazu werden jeder Leserin und jedem Leser entlang der eigenen Interessen weitere Leerstellen auffallen. All diese Auslassungen sind schmerzlich, ließen sich aber aus dem prozessualen Zugang des Buches heraus schwerlich vermeiden. Umso weniger kann und will diese Einführung einen Anspruch auf eine vollständige Abbildung der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte der Moderne erheben.

Untersuchungsrahmen

Jedes der acht thematischen Kapitel beginnt mit einem anschaulichen, manchmal außergewöhnlichen Beispiel, dessen Ziel es ist, den Kern des besprochenen Großprozesses freizulegen. Diese historischen Episoden stammen aus dem Repertoire des Autors und spiegeln dementsprechend dessen partikulare Expertise und Forschungsinteressen wider. Sie stammen zu einem überwiegenden Teil aus einem britischen oder einem britisch-imperialen historischen Zusammenhang (vom nur forschungsbiografisch zu erklärenden Übergewicht telegrafischer Beispiele einmal ganz zu schweigen) und sind damit in ihrer Auswahl ebenso wenig repräsentativ für die gesamte moderne Geschichte von Mobilität und Kommunikation wie der Inhalt der Kapitel selbst. Es kann allerdings auch nicht der Anspruch dieses dünnen Bandes sein, sich möglichst umfassend mit dem in seiner Gesamtheit kaum zu überblickenden Untersuchungsgegenstand zu beschäftigen. Vielmehr soll dieser in seiner historischen Bedeutung erfassbar und zugänglich gemacht werden. In diesem Licht ist auch die Auswahl der acht Großprozesse zu sehen. Auch hier hätte man natürlich andere Prozesse und Entwicklungen auswählen können. Es handelt sich bei den acht ausgewählten Zugängen nicht um eine abgeschlossene Liste oder – schlimmer noch – um einen wie auch immer gearteten Kanon der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte. Vielmehr spiegelt die Auswahl den Versuch, nachvollziehbare und analytisch sinnvolle Schneisen in einen schwer zu überblickenden Gegenstand zu schlagen und dadurch dessen umfassende gesellschaftliche Bedeutung besser nachvollziehbar zu machen, wider.

Das Buch betrachtet seinen Gegenstand in einem zeitlich wie auch räumlich begrenzten Untersuchungsrahmen. Es fokussiert auf die Geschichte von Mobilität und Kommunikation in einem weitgehend europäischen, europäisch-kolonialen oder – wie zum Beispiel im Fall der Vereinigten Staaten – europäisch-postkolonialen Kontext. Entwicklungen außerhalb dieser Regionen und Kulturen bleiben in der vorliegenden Darstellung weitgehend unberücksichtigt. Ebenso eng umrissen ist der Betrachtungszeitraum. Dieser liegt hauptsächlich im so genannten „langen 19. Jahrhundert“, das grob den Zeitraum von den Atlantischen Revolutionen im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschreibt. Bisweilen blickt das Buch aber auch ganz bewusst über diesen zeitlichen Fokus hinaus – besonders deutlich etwa in Kapitel III.3 zu Fragen der Kommodifizierung von Information oder in Kapitel III.8 zu Digitalisierungsprozessen.

Die Festlegung sowohl des räumlichen wie auch des zeitlichen Rahmens ist somit aus dem Blick auf die europäische Geschichte abgeleitet. Dies ist eine bewusste Eingrenzung des Gegenstands, die zum einen den professionellen Limitationen des Autors Rechnung trägt. Andererseits kann dieser analytische Eurozentrismus hoffentlich einen noch schädlicheren normativen Eurozentrismus verhindern. Viele der größeren Entwicklungen, die dieses Buch im Bereich von Mobilität und Kommunikation untersucht, sind in der Art und Weise, wie sie hier betrachtet werden, Ausprägungen einer spezifischen europäischen Moderne, die nicht ohne weiteres auf andere Weltregionen oder Kulturen umgelegt werden kann. Dieses Buch will durch seinen Fokus auf die europäische Geschichte keinesfalls europäische Idee, Praktiken und Entwicklungen zu einem Maßstab erhöhen, an dem sich andere messen lassen müssen.

[1] New York Sun, 26.08.1864.

[2] Eine detaillierte und dennoch gut lesbare Rekonstruktion des Mordfalls findet sich u. a. bei: Colquhoun; eine Erörterung des Falls auf Basis des Gerichtsprozesses wurde schon vor längerer Zeit hier vorgenommen: Knott u. Irving; Zudem sind die Unterlagen des Verfahrens auch einsehbar: Trial of Franz Muller.

[3] Hoerder, Migrations and Belongings; ders, Geschichte der deutschen Migration; ders. u. Moch, European Migrants; Bade.

[4] Regulation of Railways Act 1868, III. Provisions for Safety of Passengers.

[5] Gibbs, S. 116.

[6] Zum Beispiel Schivelbusch, S. 51‒66; Krajewski, S. 25.

[7] Bagwell, S. 15‒34.

[8] Knoch.

II. Perspektiven auf Mobilität und Kommunikation

1. Mobilitätsgeschichte

Dieses Kapitel versucht zu vermitteln, auf welchen theoretischen Zugängen die historiografische Beschäftigung mit Mobilität und Kommunikation beruht bzw. beruhen kann. Es will verschiedene Fragestellungen und Erkenntnisinteressen im Zusammenhang der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte vorstellen und dieses Feld damit vor allem im größeren Rahmen der Geschichtswissenschaft verorten. Genau dazu dienen theoretische Überlegungen in der Wissenschaft. Idealerweise bilden sie den Übergang vom Kleinen ins Große, vom Spezifischen zum Allgemeinen. Sie verweisen darauf, welche Rolle ein Untersuchungsgegenstand in einem größeren, gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang spielt. Sie machen deutlich, an welche grundlegenden Fragen und Problemstellungen eine Arbeit anschließen will und kann, zu welchen breiteren Diskussionen sie einen Beitrag leistet. Theorie ist also, um eine Mobilitätsmetapher zu bemühen, eine Brücke – eine Brücke zwischen dem Forschungsgegenstand und dem größeren gesamtgesellschaftlichen Rahmen.

Theorie leitet Forschung und verortet die Forschungsergebnisse. Um das zu gewährleisten, müssen theoretische Überlegungen weder besonders ausführlich noch besonders abstrakt oder kompliziert formuliert sein. Sie sollen schlicht dafür sorgen, dass die Bearbeitung eines bestimmten Gegenstandsbereichs auch zur Beantwortung von Fragen außerhalb des eng abgesteckten Beobachtungsrahmens beitragen kann. Im Zusammenhang der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte tauchen dabei unter anderem folgende grundlegenden Fragen auf: Was ist eigentlich die Rolle kommunikations- oder mobilitätshistorischer Studien in einem größeren geschichts- oder kulturwissenschaftlichen Zusammenhang? Aus welcher Perspektive blicken wir auf historische Transportmittel, Mobilitätsformen oder Kommunikationsweisen? Jenseits einer reinen Beschreibung historischer Sachverhalte: Was wollen wir eigentlich wissen? Welche Aspekte betonen wir, welche vernachlässigen wir? Welchen Gültigkeitsbereich haben die Ergebnisse, die wir erhalten? Zu welchen gesellschaftlichen Diskussionen können sie beitragen?

Das sind zunächst einmal keine komplizierten Fragen, die zweckdienliche Auseinandersetzung mit ihnen kann aber wissenschaftlich durchaus herausfordernd sein und braucht eine enge Abstimmung zwischen theoretischem Anspruch und empirischem Vorgehen. Dieses Kapitel will den forschungsleitenden Charakter von theoretischen Zugängen zur Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte anhand konkreter Beispiele herausarbeiten. Dazu wird es in einem ersten Schritt einen gerafften Überblick über die Entwicklung der historiografischen Beschäftigung mit Transport und Kommunikation geben und im Zuge dessen auch das in diesem Buch verwendete Verständnis von Mobilitätsgeschichte skizzieren. Im Anschluss greift das Kapitel vier historisch-theoretische Zugänge zum Thema Mobilität und Kommunikation heraus und stellt deren spezifische Erkenntnisinteressen vor. Exemplarisch behandelt werden in dieser Hinsicht technik-, wirtschafts-, kultur- und globalgeschichtliche Ansätze. Diese Auswahl stellt weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch auf exakte Trennschärfe. Die verschiedenen Zugänge überlappen sich in ihren Fragen und Interessen, und natürlich sind auch andere Perspektive auf Mobilität und Kommunikation genauso valide. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch, dass die ausgewählten Ansätze analytisch nicht notwendigerweise auf derselben Stufe stehen. So informieren technikhistorische Fragestellungen nach der Rolle von Technologien in historischen Gesellschaften alle anderen Ansätze implizit oder explizit mit, da Transport und Kommunikation zumeist in ihrer technisch vermittelten Form untersucht werden. Ähnliches gilt in gewisser Weise für die Globalgeschichte, die nach der historischen Bedeutung von transregionalen oder transkulturellen Verbindungen fragt und damit in der Mobilitätgeschichte ein natürliches Untersuchungsfeld findet.

Mit dem Aufkommen globalhistorischer Forschungsinteressen und sicherlich auch aus aktuellen gesellschaftlichen Globalisierungserfahrungen heraus stehen Themen wie menschliche Mobilität oder Kommunikation seit einigen Jahren vermehrt im Fokus der Geschichtswissenschaft. Insgesamt ist dieses Interesse aber noch verhältnismäßig jung.[1] Das gesamte 20. Jahrhundert hindurch hat sich das Fach hauptsächlich für klar Umgrenztes, Stabiles, Gegebenes interessiert. In dieser Zeit stellte der Nationalstaat den maßgebenden Forschungsrahmen dar. Fragen nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Bewegung von Menschen, Waren und Ideen spielten aus dieser Perspektive heraus – insbesondere, wenn sie nationale Grenzen überschritten – eine untergeordnete Rolle. Das heißt aber nicht, dass sich die Geschichtswissenschaft in dieser Zeit überhaupt nicht für Verkehr und Transport interessiert hätte. Im Gegenteil, die Verkehrs- bzw. Transportgeschichte (vgl. in der englischsprachigen Forschung transport history) entwickelte sich bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts schrittweise zu einem eigenständigen Subfeld der Disziplin. Sie fokussierte dabei aber weniger auf die Bewegung von Menschen oder Waren, war also wenig an Mobilität im eigentlichen Sinn interessiert, sondern nahm vor allem einzelne Verkehrsmittel aus technik- oder wirtschaftshistorischer Perspektive in den Blick. Das heißt, die Verkehrsgeschichte fragte vor allem nach der technischen Entwicklung von Transportmitteln und nach deren wirtschaftlicher Bedeutung. Und sie tat dies üblicherweise in einem nationalstaatlichen bzw. nationalökonomischen Rahmen. Im Laufe der Zeit kamen unternehmensgeschichtliche und zum Teil auch sozialgeschichtliche Fragestellungen hinzu. Die Verkehrsgeschichte orientierte sich dabei vor allem an der Angebotsseite von Mobilität und nutzte das jeweilige Verkehrsmittel als ihren zentralen analytischen Zugang. Ein Hauptaugenmerk galt dabei traditionell der Eisenbahngeschichte, der etwa auch im wichtigsten Fachorgan der englischsprachigen Forschung – dem Journal of Transport History – der bei weitem größte Teil aller Publikationen gewidmet war.[2] Die Geschichte der Eisenbahn wurde in diesem Zusammenhang zumeist in einem nationalstaatlichen Kontext verortet. Das zweite große Interessenfeld neben der Eisenbahn, die maritime history, begann in den 1970ern allerdings, diesen engen nationalen Beobachtungsrahmen allmählich aufzubrechen.

Der nach Transportmitteln kompartmentalisierte Blick der Verkehrsgeschichte gepaart mit einem nationalgeschichtlichen Zuschnitt und hauptsächlich technik- und wirtschaftshistorischen Erkenntnisinteressen weist einige blinde Flecken auf, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts immer deutlicher hervorzutreten begannen. Ein zentrales Problem war die Tendenz der Verkehrsgeschichte, aus ihrer speziellen Perspektive heraus implizit oder explizit eine reine Fortschrittsgeschichte von Transport und Kommunikation zu schreiben. Das heißt, dass viele transportgeschichtliche Studien auf der Annahme beruhten, dass Verkehrsmittel immer wieder fast zwangsweise von besseren und schnelleren Alternativen abgelöst würden. Ein solcher Ansatz bleibt für das Nebeneinander und vor allem für das Miteinander verschiedener Transport- und Kommunikationsmittel blind. Er ignoriert einerseits, dass in der Geschichte immer Technologien ganz unterschiedlichen Zuschnitts parallel zueinander existiert und ganz andere gesellschaftliche Rollen gespielt haben. Er kann demnach die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ nicht adäquat abbilden. Zudem anerkennt ein solcher Ansatz auch nicht das Ineinandergreifen verschiedener Verkehrsmittel zum Beispiel in logistischen Ketten. In dieser Form leistete die Verkehrs- bzw. Transportgeschichte häufig einem unhinterfragten Technikdeterminismus Vorschub, der auch in der klassischen Technikgeschichte lange Zeit eine häufige Erscheinung war. Das heißt, dass der analytische Fokus auf die technische Seite von Mobilität, kombiniert mit einem ausgeprägten Fortschrittsglauben, Technologien – in diesem Fall Verkehrstechnologie – zu Taktgebern der gesellschaftlichen Entwicklung macht. Aus einer solchen Perspektive führen neue Verkehrsmittel und technische Verbesserungen zu sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen. Die Nutzer haben hier kaum Wahl- oder Einflussmöglichkeiten. Die kulturelle Bedeutung und Wirkung von Mobilität und Kommunikation spielt keine Rolle. Schließlich ignorierte die traditionelle Verkehrsgeschichte auch weitgehend, dass verschiedene Gruppen von Menschen zur gleichen Zeit unterschiedliche Bedürfnisse nach Mobilität und auch unterschiedliche Zugänge zu Transport- und Kommunikationsmitteln hatten. Sie kann damit Valeska Hubers in Anlehnung an Shmuel Eisenstadt formulierter Idee der multiple mobilities nicht gerecht werden.[3]

Manche dieser Schwächen und auch einige andere Punkte – wie zum Beispiel die Tatsache, dass ein verkehrsmittelzentrierter Blick Mobilitätsformen wie etwa das Zu-Fuß-Gehen nicht adäquat berücksichtigen kann – hat die Verkehrs- bzw. Transportgeschichte vor allem in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts selbst erkannt und adressiert. So konnte man im Feld zunehmend Schritte hin zu einer so genannten „integrierten Verkehrsgeschichte“ erkennen, die verschiedene Verkehrsformen auch in ihrem Verhältnis nebeneinander und zueinander untersucht. Diese Entwicklung ging vielen Mobilitätshistorikern aber nicht weit genug. Daher wurden zu Beginn des 21. Jahrhunderts vermehrt Forderungen nach einer neuen Form der historiografischen Beschäftigung mit Transport und Kommunikation laut. Der Automobilhistoriker Gijs Mom hat diese im Jahr 2003 im Journal of Transport History selbst formuliert und anstatt einer Verkehrs- bzw. Transportgeschichte nach einer Mobilitätsgeschichte verlangt, die sich nicht mit Mitteln des Transports, sondern mit der Bewegung von Menschen und Gütern als kulturelle Praxis auseinandersetzen soll.[4] Begünstigt auch durch die Popularität globalhistorischer Forschungsinteressen ist dieses Verständnis der Mobilitätsgeschichte in den letzten eineinhalb Jahrzehnten auf breite Resonanz gestoßen und hat sich als äußert produktiv erwiesen. Zunehmend lösen sich hier nun auch die Grenzen zwischen der Transport- und der Kommunikationsgeschichte auf, die in älteren Ansätzen noch klar gezogen waren. Es ist dieses Verständnis der jüngeren Mobilitätsgeschichte, das dem vorliegenden Buch zugrunde liegt; ein Verständnis, das die technische und ökonomische Seite sicherlich nicht ignoriert, Mobilität gleichzeitig aber als soziokulturelle Praxis sieht; ein Verständnis, das Transport und Kommunikation nicht getrennt denkt, sondern in ihrer wechselseitigen Beziehung (wie beispielsweise in Kapitel III.2 anhand des Prozesses der Dematerialisierung besonders deutlich wird); ein Verständnis, das die Idee multipler Mobilitäten ernst nimmt und versucht, diese auch adäquat abzubilden.

Dieses Konzept einer breit angelegten Mobilitätsgeschichte hat sich mittlerweile in der Geschichtswissenschaft als analytisch produktiver Zugang fest etabliert. Innerhalb dieses integrativen Ansatzes gibt es aber natürlich auch weiterhin ganz unterschiedliche Problemstellungen und Erkenntnisinteressen, die entsprechend unterschiedliche Gewichtungen in ihrer Betrachtung von historischer Mobilität vornehmen. Sie interessieren sich für jeweils eigene Aspekte der Geschichte von Transport und Kommunikation und setzen dabei entweder auf etablierten Zugängen auf oder entwickeln eigene Fragestellungen. Es handelt sich dabei allerdings nicht um klar voneinander abgrenzbare Strömungen mit klar umrissenen Vorgaben und Problemen, sondern um sich überlappende Perspektiven, die – zumindest aus der Sicht der heutigen Mobilitätsgeschichte – nicht ohneeinander zu denken sind. Im Folgenden werden vier solche Blickwinkel exemplarisch herausgegriffen und vor allem hinsichtlich ihres Erkenntnisinteresses und Erklärungspotentials kurz vorgestellt. Es handelt sich dabei um technik-, wirtschafts-, kultur- und globalgeschichtliche Fragestellungen. In ihrer Zusammenschau bilden diese vier die gesellschaftliche Bedeutung von Mobilität eindrucksvoll ab. Die Zusammenstellung ist aber sicherlich nicht vollständig. Viele Fragen jenseits dieser Bereiche sind ebenso lohnend.

[1] Huber, Multiple Mobilities, S. 317.

[2] Mom, S. 126.

[3] Huber, Multiple Mobilities.

[4] Mom, S. 132.

2. Technikgeschichtliche Perspektiven

Was bedeutet es eigentlich für Reisende wie Reeder, dass Dampfmaschinen lange einen vergleichsweise geringen Energieeffizienzgrad hatten und daher viele Dampfschiffe im 19. Jahrhundert auf weiten Überfahrten Kohle nachladen mussten? Wie wirkt sich der Umstand, dass lange Zeit nur Textinhalte per Telegraf übermittelt werden konnten, auf die Kommunikationspraxis aus? Welche Inhalte wurden so privilegiert, welche mussten mit anderen Medien übermittelt werden? Kurz, welche Rolle spielen eigentlich die technischen Grundlagen von Mobilität und Kommunikation in der Vergangenheit? Diese und ähnliche Fragen interessieren die Technikgeschichte.

Der Mensch ist ein Werkzeugmacher und -nutzer, ein homo faber. Er nutzt seit jeher technische Hilfsmittel, um bestimmte Dinge zu tun oder bestimmte Ziele zu erreichen. Technik umgibt uns, sie ist im menschlichen Leben omnipräsent. Ein hölzerner Stock, der uns als Armverlängerung dient, gehört ebenso dazu wie die jüngste Computertechnologie. Sobald man mit Hilfe einer Gabel oder eines Tellers isst, sobald man Kleidung trägt, sobald man nachts sein Haupt weich bettet, greift man bereits auf technische Hilfsmittel zurück – häufig ohne das bewusst als Techniknutzung wahrzunehmen. Tatsächlich gibt es kaum Tätigkeiten, die ohne technische Hilfsmittel auskommen. Aufgrund der Allgegenwärtigkeit von Technik kann es helfen, den Begriff negativ zu definieren, um zu präzisieren, was man darunter versteht. Nach einer solchen Definition würden nur ausschließlich mentale oder biologische Aktivitäten keine Technik benötigen – und selbst hier, so gibt die Technikhistorikerin Martina Heßler zu bedenken, ist üblicherweise ein technischer Kontext vorhanden.[5]

Technik, so kann man in jedem Fall festhalten, ist für die menschliche Geschichte von größter Bedeutung. Ihre Betrachtung spielt demnach auch in der Geschichtswissenschaft allgemein eine wichtige Rolle – insbesondere, aber nicht nur im Feld der so genannten Technikgeschichte, die ihren Blick auf das Verhältnis von Technologie und Gesellschaft in einem historischen Kontext richtet. Darüber, was genau der Begriff Technik im Rahmen einer solchen Beschäftigung aber umfasst, wurde unter Fachleuten viel diskutiert. Ein enger Technikbegriff fokussiert auf technische Artefakte, auf Apparate und Maschinen, und stellt sie in den Mittelpunkt der Betrachtung. Hier ist man sehr nahe an einem umgangssprachlichen Verständnis von Technik, das hauptsächlich an deren materielle Manifestationen denkt. Am anderen Ende des Spektrums steht eine Definition von Technik, die sich am altgriechischen techné (τέχνη) als Fertigkeit bzw. Praxis orientiert und damit die Anwendbarkeit des Begriffs auf menschliche Handlungen erweitert (z. B. im Sinne von Lesetechniken, Sprungtechniken etc.). Letztlich stellt sich ein zwischen diesen beiden Polen liegendes Verständnis von Technik wohl als die analytisch produktivste Herangehensweise heraus. Hier wird das technische Artefakt „in den Kontext seiner Herstellung und seines Gebrauchs“[6] gestellt. Das heißt, all jene Handlungen, die sich auf ein technisches Artefakt beziehen, gehören ebenfalls zur Technik. In der aktuellen Technikgeschichtsforschung hat sich dieses Verständnis weitgehend durchgesetzt. Bei aller Berücksichtigung menschlichen Handelns bleibt aber auch dieser Ansatz letztlich auf das technische Artefakt konzentriert und betrachtet die darauf bezogenen Aktivitäten in der Forschungspraxis als darum gruppiert.

Die Technikgeschichte beschäftigt sich im Kern mit technologischem Wandel und dessen Wechselwirkung mit der Gesellschaft. Das heißt, sie fragt zum einen also danach, wie zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Bedingungen neue Technologien geplant, entwickelt und angewendet wurden, welche gesellschaftlichen Vorbedingungen dafür nötig waren. Sie will in dieser Hinsicht die Genese von Technologien verstehen und erklären. Zweitens geht die Technikgeschichte aber natürlich auch der gesellschaftlichen Bedeutung von Technologien nach und fragt nach den Auswirkungen neuer Entwicklungen. Das Verhältnis von Technik und Gesellschaft wird demnach in beide Richtungen untersucht. Das prinzipielle Verständnis dieses Verhältnisses hat sich dabei im Laufe der Zeit aber grundlegend gewandelt. Viele technikhistorische Arbeiten interessierten sich lange Zeit vornehmlich für die Geschichte einzelner Erfinder bzw. deren Erfindungen und blieben historiografisch an diesen haften. Ein solcher Ansatz vernachlässigt entweder das genannte Verhältnis zwischen Technik und Gesellschaft zugunsten einer ausgeprägten Konzentration auf biografische oder im engeren Sinne technische Details. Oder aber es liegt ein stark vereinfachtes, oft monokausales Verständnis dieses Verhältnisses vor. Typische Beispiele dafür wären etwa ein diffusionistisches Verbreitungsmodell von Technik oder ein explizit oder implizit formulierter Technikdeterminismus. Unter ersterem versteht man die Idee, dass sich bessere oder effizientere Technik mehr oder minder automatisch ausbreitet, Anwendung findet und in diesem Zusammenhang ältere Techniken überschreibt oder verdrängt. Diese Idee ist häufig Teil eines breiteren Technikdeterminismus, der davon ausgeht, dass technische Entwicklungen soziale und kulturelle Veränderungen verursachen und technischen Wandel so zu einer zentralen gesellschaftlichen Triebfeder macht.

Diese Art der Technikgeschichte ist im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend in die Kritik geraten. Erstens haben Technikhistoriker wie etwa David Edgerton eine Rekalibrierung des Untersuchungsfokus weg von der Phase der Erfindung hin zur Anwendung von Technologien gefordert. Edgerton hat dafür den Begriff der technologies-in-use geprägt und argumentiert schlüssig, dass das Verhältnis zwischen Technik und Gesellschaft nur in der Phase breiter Anwendung untersuchbar wird.[7] Solche Anwendungsphasen könnten sich zeitlich und räumlich deutlich vom Kontext der Erfindung unterscheiden. Edgerton benennt dafür unter anderem auch Beispiele aus der Mobilitätsgeschichte wie etwa das Fahrrad und seine aktuelle, weltweite Nutzung.[8] Edgerton führt treffend ins Feld, dass die Vorstellung eines technologischen Determinismus, wenn überhaupt, dann nur für die Nutzungsphase einer Technologie konzeptuell überhaupt Sinn machen würde.[9] Aber auch die Grundidee, dass Gesellschaften ursächlich von technischen Entwicklungen geprägt werden, wird mittlerweile in der Technikgeschichte zugunsten eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes zurückgewiesen. Da sich vor allem englischsprachige Historikerinnen und Historiker mit der Entwicklung dieses Zugangs beschäftigt haben, spricht man abgekürzt auch häufig von SCOT (Social Construction of Technology). Man geht davon aus, dass Technologien nicht strikt nach objektivem Bedarf und reinen Effizienzkriterien entwickelt werden und sich dann entsprechend durchsetzen, sondern dass es sich dabei um soziale Prozesse handelt. Das heißt, dass in der Technikentwicklung und -anwendung nicht nur technikinterne, sondern maßgebend soziale Kriterien zur Entfaltung kommen. So spiegeln sich in der Entwicklung des Automobils eben nicht nur technische Notwendigkeiten, sondern beispielsweise auch soziale Bedürfnisse. Man denke an das Auto als Statussymbol.[10] Die breite fachliche Anerkennung dieses sozialkonstruktivistischen Zugangs soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl in der öffentlichen wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion über Technik deterministische Interpretationen weiterhin zumindest implizit erkennbar sind.

Weitgehend parallel zum Aufkommen eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes hat sich auch ein leichter Wandel im Erkenntnisinteresse der Technikgeschichte eingestellt. Lange Zeit waren technikhistorische Arbeiten hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle von neuen Technologien hauptsächlich wirtschaftshistorisch orientiert. Ihre Fragen drehten sich also darum, wie wirtschaftliche Bedürfnisse technische Entwicklungen beeinflussten und vor allem wie sich neue Technologien wirtschaftlich niederschlugen. Mit der Etablierung kulturgeschichtlicher Ansätze in der Geschichtswissenschaft insgesamt setzte auch ein langsamer Wandel in der Technikgeschichte hin zu einer Kulturgeschichte der Technik[11] bzw. der Geschichte der technischen Kultur ein. Man fragte nun auch nach der kulturellen Bedeutung von Technologie, nach ihrer Symbolfunktion und kulturellen Codierung. Diese Idee einer kulturhistorisch anschlussfähigen Technikgeschichte hat sich im Feld mittlerweile weitgehend durchgesetzt.

Die Technikgeschichte hat sich schon immer auch mit Verkehr, Transport und Kommunikation beschäftigt. Schließlich handelt es sich dabei in der Regel um technisch vermittelte Prozesse (selbst Fußgänger nutzen in den allermeisten Fällen Schuhe oder angelegte Wege). Technische Artefakte spielen demnach eine zentrale Rolle im Bereich der Mobilität. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Fragen nach der Wechselwirkung zwischen Transport- bzw. Kommunikationstechnologien und ihren Trägergesellschaften in der Technikgeschichte seit langem fest etabliert sind und damit auch das Erkenntnisinteresse der Verkehrs- und Transportgeschichte entscheidend geprägt haben. Auch wenn die heutige Mobilitätsgeschichte über diesen technikhistorischen Ansatz inzwischen weit hinausgeht und beispielsweise Erfahrungen, Praktiken oder Möglichkeiten von Mobilität ebenso in den Blick nimmt, so bleibt die Frage nach der Rolle der Technologie selbst praktisch immer präsent. Die soziale und kulturelle Praxis von Mobilität bezieht sich eben auch entscheidend auf die vermittelnde Technik. Daher spielen immer dann, wenn sich Mobilität und Kommunikation technischer Hilfsmittel bedienen, technikhistorische Fragestellungen eine mal vordergründige und mal hintergründige Rolle. Ein grundlegendes Verständnis technikgeschichtlicher Erkenntnisinteressen ist im Feld der Mobilitätsgeschichte daher auch nach der kulturgeschichtlichen Neuorientierung unabdingbar.

Was sind nun typische Fragestellungen der Technikgeschichte an den Bereich der Mobilität und Kommunikation? Da ist einmal die Frage danach, wie sich die technischen Spezifika und Notwendigkeiten einer bestimmten Technologie gesellschaftlich niedergeschlagen haben. Nehmen wir als Beispiel den zunehmenden Einsatz der Dampfkraft im Transportwesen, der eingehender im folgenden Kapitel thematisiert wird. Zwar minderte die neue Kraftquelle die Abhängigkeit von menschlicher, tierischer oder anderweitig der Natur gewonnener Energie, gleichzeitig entstand aber eine neue Notwendigkeit der Brennstoffversorgung. Daher waren Dampfmaschinen im großen Stil zunächst nur in der Nähe von Brennstoffvorräten einsetzbar. In späterer Folge wirkte sich diese Abhängigkeit ganz massiv auf die Förderung und logistische Verteilung von fossilen Brennstoffen aus. Man denke beispielsweise an das Anlegen von Kohledepots entlang der wichtigsten Dampfschiffrouten. Solche Fragen nach den Auswirkungen technischer Abläufe in Mobilitätstechnologien interessieren die Technikgeschichte.

Sie will aber ebenso wissen, warum sich bestimmte Technologien in eine bestimmte Richtung entwickelt haben, warum sie sich durchsetzen konnten oder aber wieder verschwanden. Ein gutes Beispiel aus der Mobilitätsgeschichte findet sich diesbezüglich in der Arbeit des niederländischen Historikers Wiebe E. Bijker, der wesentlich an der Entwicklung eines sozialkonstruktivistischen Zugangs zur Technikgeschichte beteiligt war. Bijker hat sich unter anderem mit der Geschichte des Fahrrads beschäftigt und gefragt, warum sich das praktische und sichere Niederrad – also das Fahrrad, wie wir es auch heute kennen – über den Umweg des unpraktischen und unsicheren Hochrads entwickelt hat, wenn doch alle technischen Voraussetzungen für das Niederrad zuvor bereits gegeben gewesen seien. Er findet die Antwort auf seine Frage eben in der sozialen Konstruktion von Technologien, die Abwägungen der Praktikabilität und Sicherheit hier zugunsten soziokultureller Faktoren wie etwa der Unterstreichung von Mut, Männlichkeit und sozialem Status in den Hintergrund rücken lässt (siehe Kapitel III.6).[12]

Schon in diesen exemplarischen Fragestellungen aus technikhistorischer Perspektive wird deutlich, dass sich diese nicht trennscharf von anderen Erkenntnisinteressen unterscheiden lassen. Blickt man auf den Brennstoffbedarf der Dampfmaschine, so landet man ebenso schnell in der Wirtschaftsgeschichte wie in der Globalgeschichte. Fragt man nach dem Hochrad, so gibt es kein Vorbeikommen an der Kulturgeschichte. Wie bereits erwähnt, sind die genannten Zugänge daher nicht als jeweils separate Felder zu betrachten, sondern lediglich als unterschiedlich gelegte Gewichtungen.

Jürgen Osterhammel ist in seinem umfassenden Werk zur Verwandlung der Welt im langen 19. Jahrhundert auch auf die Rolle von Transport- und Kommunikationstechnologien eingegangen. Er hält im Abschnitt über die Dampfschifffahrt einleitend fest, dass „[i]n der Geschichte des Verkehrs […] oft kein Weg an einem milden technologischen Determinismus“ vorbeiführt. Neue Verkehrsmittel würden nicht auftreten, weil sie „kulturell ersehnt werden, sondern weil jemand auf die Idee kommt, sie zu bauen“.[13] Obwohl diese Auslegung des Begriffs nicht ganz dem technikhistorischen Verständnis von technologischem Determinismus entspricht, so ist Osterhammel im grundlegenden Befund wohl zuzustimmen. Angesichts der übergeordneten Vernetzungs- und Globalisierungsprozesse der Moderne, haben viele neue Transport- und Kommunikationstechnologien ihre Trägergesellschaften tatsächlich auf eine Art und Weise geprägt, die man im Sinne eines „sanften Determinismus“ interpretieren kann. Diese Idee geht auf Thomas P. Hughes zurück, der sich konzeptuell mit großen technischen Systemen auseinandergesetzt hat und schreibt: „Large systems with high momentum tend to exert a soft determinism on other systems, groups, and individuals in society.“[14] Da Mobilitäts- und Kommunikationstechnologien häufig in solchen großen, vernetzten Systemen organisiert sind, ist die Idee eines „sanften Technikdeterminismus“ in einer technikhistorischen Betrachtung von Mobilität und Kommunikation durchaus zu berücksichtigen.

[5] Heßler, S. 18.

[6] Ebd., S. 17.

[7] Edgerton, From Innovation to Use.

[8] Ebd., S. 116; ders., Shock of the Old, S. 45‒47.

[9] Ders., From Innovation to Use, S. 120f.

[10] Gleitsmann, Kunze u. Oetzel, S. 36.

[11] Heßler.

[12] Bijker, S. 19‒100.

[13] Osterhammel, Verwandlung, S. 1012.

[14] Hughes, S. 54f.

3. Wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven

Welche Bedeutung hatte die Telegrafie für die Geschichte internationaler Finanzmärkte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts? Welche Rolle spielte der Ausbau von grenzübergreifenden Transportinfrastrukturen für den globalen Handel? In welchem Ausmaß werden Transport- und Kommunikationsmittel wie beispielsweise das Automobil oder das Mobiltelefon selbst zu wichtigen globalen Handelsgütern? Die Geschichte von Mobilität und Kommunikation ist kaum losgelöst von wirtschaftshistorischen Fragestellungen zu denken.

Menschen haben verschiedenste Bedürfnisse, manche grundlegender als andere, mit deren Befriedigung sie einen Gutteil ihres Lebens beschäftigt sind. Unter dem Begriff Wirtschaft versteht man die Gesamtheit aller Einrichtungen und Aktivitäten, die in einer Gemeinschaft auf die Herstellung und Verteilung von Ressourcen zur Bedürfnisbefriedigung (üblicherweise Waren oder Dienstleistungen) zielen. Diese Begriffsdefinition mag seltsam trocken und etwas artifiziell klingen. Sie hat aber den Vorteil, ganz unmittelbar klarzumachen, dass Wirtschaft nicht nur mit Fabriken und Hochfinanz, mit Banken und globalem Handel zu tun hat, sondern der Mensch als soziales Wesen immer wirtschaftet. Ähnlich wie dies auch im vorherigen Abschnitt zur Technik deutlich wurde, ist menschliches Denken und Handeln ohne ein Grundverständnis für die jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht zu verstehen. Die Wirtschaftsgeschichte ist dementsprechend ein wichtiger, seit langem fest etablierter Bereich der Geschichtswissenschaft (wie im Übrigen auch der Wirtschaftswissenschaft), dessen Ziel es ist, die Geschichte des menschlichen Wirtschaftens zu beleuchten. Sie will in diesem Zusammenhang Entwicklungslinien, Organisationsformen und Handlungslogiken verstehen und erklären und tut dies auf ganz unterschiedlichen Ebenen: zum Beispiel mit einem Fokus auf einzelne Menschen oder kleine Gruppen von Menschen, auf der Ebene von Haushalten bzw. Erwerbsgemeinschaften, auf Unternehmensebene oder auch mit Blick auf ganze Volkswirtschaften oder sogar globale Wirtschaftszusammenhänge.

In der Geschichtswissenschaft sind wirtschaftshistorische Fragestellungen seit etwa Ende des 19. Jahrhunderts wichtig geworden. Die entscheidenden Impulse kamen vor allem aus der Volkswirtschaftslehre. Insbesondere im Deutschen Bund beschäftigte sich seit Mitte des Jahrhunderts die Historische Schule der Nationalökonomie mit der Wirtschaftsgeschichte. Ihre Anhänger um Wilhelm G. Roscher (1817–1894) oder in späteren Jahren Gustav von Schmoller (1838–1917) waren davon überzeugt, dass zur Lösung aktueller wirtschaftlicher Probleme – wie zum Beispiel der so genannten „sozialen Frage“ – ein Studium der Geschichte der Wirtschaft wichtige Parameter liefern würde. Erklärtes Ziel war es, aus empirisch erhobenen historischen Daten induktiv ökonomische Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, denen man zwar nicht universelle Gültigkeit zusprach, aber an denen man sich in ähnlichen aktuellen Lagen zumindest orientieren konnte. Je mehr sich die Geschichtswissenschaft zur Jahrhundertwende und in den Folgejahrzehnten weg von einer reinen politischen Geschichte hin zu einer breiteren Gesellschaftsgeschichte entwickelte, desto gefragter wurde solche ökonomisch-historischen Ansätze auch im Fach selbst.[15] Im Deutschen Reich erfolgten in dieser Zeit die ersten Zeitschriftengründungen, die explizit die Wirtschaftsgeschichte im Namen trugen. Der wohl wesentlichste Impuls für den Ansatz kam aber nach dem Ersten Weltkrieg aus Frankreich. Marc Bloch (1886–1944) und Lucien Febvre (1878–1956) legten dort in den 1920er-Jahren die wissenschaftlichen Fundamente für die so genannte Schule der Annales. Diese wandte sich ganz explizit der Untersuchung sozialer und ökonomischer Fragestellungen in der Geschichte zu, erschloss dazu neues, quantitatives Quellenmaterial und entwickelte neue Methoden zu dessen Auswertung. Die Annales legten in diesem Zusammenhang besonderes Augenmerk auf langfristige Entwicklungen und die Herausbildung langlebiger Strukturen. Ihre Fragestellungen und Gewichtungen spielen in der Geschichtswissenschaft bis heute eine große Rolle.

In den 1950er- und 1960er-Jahren entstand zunächst in den Vereinigten Staaten von Amerika die so genannte New Economic History , die in der deutschsprachigen Wissenschaft vor allem als Kliometrie bekannt wurde. Zentrales Merkmal dieses neuen wirtschaftshistorischen Zugangs war es, ökonomische Theorien und Methoden auch auf historisches Material anzuwenden. Dazu musste das erhobene historische Datenmaterial besonders dicht sein. Bekannte Vertreter dieser Forschungsrichtung, die sich ab ca. den 1970er-Jahren auch im deutschsprachigen Raum etablierte, waren etwa die US-amerikanischen Ökonomen Robert W. Fogel (1926–2013) und Douglass C. North (1920–2015), die für ihre einschlägigen Arbeiten im Jahr 1993 gemeinsam mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurden. In den letzten drei Jahrzehnten hat die Wirtschaftsgeschichte zunehmend Impulse aus der so genannten Neuen Institutionenökonomik – einer volkswirtschaftlichen Theorie, die vor allem die Rolle institutioneller Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln betont und untersucht – und aus der Kulturgeschichte aufgenommen. Fragen der kulturellen Prägung wirtschaftlichen Handelns spielen nun zunehmend eine Rolle. Mit dieser Aufnahme kulturhistorischer Ansätze, die auch in der Neuen Institutionenökonomik mit angelegt ist, hat sich auch der traditionell starke Fokus der Wirtschaftsgeschichte auf die Entstehung moderner Wirtschaftssysteme geweitet. Während das Fach lange einen Schwerpunkt auf die Untersuchung der wirtschaftlichen Voraussetzungen und Konsequenzen beispielsweise der Industriellen Revolution gelegt hat, erfahren mittlerweile verschiedenste Formen des Wirtschaftens in den unterschiedlichsten Zeiten und Räumen analytische Aufmerksamkeit.

Wirtschaftsgeschichte wird oft in Kombination mit Sozialgeschichte genannt, zum Beispiel in der Benennung von Lehrstühlen oder Fachbereichen. Sozialgeschichte im ursprünglichen Sinn bezeichnet die historiografische Untersuchung ganzer Gesellschaften und ihrer Organisation oft mit einem speziellen Fokus auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und ihr Verhältnis zueinander. In den 1950er-Jahren entstand in Deutschland um die Historiker Otto Brunner (1898–1982) und Werner Conze (1910–1986) eine neue Ausprägung der Sozialgeschichte, der es hauptsächlich um die Analyse langlebiger Strukturen gesellschaftlicher Organisation ging, wie das in weniger expliziter Form auch in den Annales angelegt war. Die Analyse wirtschaftlicher Strukturen spielte dabei eine zentrale Rolle.

Über dieses Interesse an gesellschaftlichen Strukturen, das sowohl der Wirtschafts- wie auch der Sozialgeschichte