Moderne Philosophiedidaktik -  - E-Book

Moderne Philosophiedidaktik E-Book

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Beschreibung

Dieses Buch zeigt in umfassender Weise das ganze Spektrum an Ansätzen in der modernen Philosophie-Didaktik. Neben den beiden »klassischen« Texten von Immanuel Kant (›selber denken‹) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (›nach-denken‹) sind (nahezu) alle Ansätze versammelt, die seit der berühmten Martens-Rehfus-Debatte in den Siebzigerjahren das Feld der Didaktik der Philosophie bereichert haben. Insgesamt werden 16 neue Ansätze vorgestellt: der konstitutive Ansatz von Ekkehard Martens, der bildungstheoretisch-identitätstheoretische von Wulf D. Rehfus, der lerntheoretische von Karl Leeuw und Pieter Mostert, der transformative von Johannes Rohbeck, der dialektische von Roland Henke, der sokratische von Gisela Raupach-Strey, der kulturtechnische von Ekkehard Martens, der literarische von Johannes Rohbeck, der narrative von René Torkler, der kompetenzorientierte von Anita Rösch, der kulturphilosophische von Volker Steenblock, der kanonische von Vanessa Albus, der problemorientierte von Markus Tiedemann, der wissenschaftstheoretische von Bettina Bussmann sowie der experimentelle von Markus Bohlmann. Die Herausgeber, Martina und Jörg Peters, führen in die unterschiedlichen Ansätze ein und zeigen deren Bedeutung für das unterrichtliche Geschehen auf. Das Buch schließt mit einem Literaturverzeichnis, in dem eine Übersicht über die aktuelle didaktische Landschaft gegeben wird.

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Martina und Jörg Peters

Moderne Philosophiedidaktik

Basistexte

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4560-1

eISBN (ePub) 978-3-7873-4561-8

3., überarbeitete Auflage 2024

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

Hinführung

Martina Peters, Jörg Peters

Der »Selber-denken«-Ansatz

Immanuel Kant

Der »Nach-denken«-Ansatz

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Der dialogisch-pragmatische Ansatz

Ekkehard Martens

Der bildungstheoretisch-identitätstheoretische Ansatz

Wulff D. Rehfus

Der transformative Ansatz

Johannes Rohbeck

Der dialektische Ansatz

Roland W. Henke

Der Sokratisch zentrierte Ansatz

Gisela Raupach-Strey

Der kulturtechnische Ansatz

Ekkehard Martens

Der literarische Ansatz

Johannes Rohbeck

Der kompetenzorientierte Ansatz

Anita Rösch

Der bildungstheoretische Ansatz

Volker Steenblock

Der kanonische Ansatz

Vanessa Albus

Der problemorientierte Ansatz

Markus Tiedemann

Der wissenschaftsorientierte Ansatz

Bettina Bussmann

Der experimentelle Ansatz

Markus Bohlmann

Der narrative Ansatz

René Torkler

Quellennachweise

Auswahlbibliographie

Praxis Philosophie & Ethik (2015 – 2021)

Thematische Schwerpunkte der Zeitschrift Ethik & Unterricht (1990 – 2018)

Thematische Schwerpunkte der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (1979 – 2018)

Verzeichnis der Jahrbücher für Didaktik der Philosophie und Ethik (2010 – 2018)

Hinführung

Martina Peters, Jörg Peters

Philosophiedidaktik steht momentan hoch im Kurs. In letzter Zeit häufen sich in diesem Bereich Publikationen in einem Maße, dass es kaum mehr möglich ist, einen Überblick zu behalten. Aus diesem Grund wird mit dem vorliegenden Buch der Versuch unternommen, Orientierung zu bieten, indem eine Fokussierung auf die zentralen und aktuellen Ansätze der Philosophiedidaktik geboten wird.

Bis vor ein paar Jahren hatte man im Grunde nur die Möglichkeit, sich zwischen zwei philosophiedidaktischen Alternativen zu positionieren, denn die dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik von Ekkehard Martens und die bildungs- und identitätstheoretische Philosophiedidaktik von Wulff D. Rehfus beherrschten maßgeblich die Szenerie.1 Auch heute, (fast) vierzig Jahre nach dem Beginn der didaktischen Kontroverse kennen noch nahezu alle Lehramtsstudierenden des Faches Philosophie die sogenannte Martens-Rehfus-Debatte. In dieser Auseinandersetzung geht es schwerpunktmäßig um die Frage, was der Philosophieunterricht eigentlich leisten soll. Soll er Schülerinnen und Schüler zum (selber) Philosophieren animieren (Martens) oder soll in ihm das Erlernen von Philosophie (Rehfus) im Zentrum stehen?

Zwar hat sich seit dieser Debatte die auf die Unterrichtspraxis bezogene Philosophiedidaktik nicht grundlegend erneuert, aber immerhin hat sie sich seit der Zeit der Millenniumswende mannigfach erweitert. Ein nicht ganz unwesentlicher Grund für diese Ausweitung dürfte in der Einführung des Faches Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen zu suchen sein. 1996 entschied sich das Bundesland, einen Schulversuch in einem philosophisch geprägten Fach in der Sekundarstufe I durchzuführen. Der Schulversuch begann 1997 und mündete 20032 in das reguläre Unterrichtsfach Praktische Philosophie.3 Mit der Einrichtung dieses Faches, das an allen Schulformen – mit Ausnahme der Primarstufe – nach demselben Kernlehrplan unterrichtet wird,4 war es auf einmal unumgänglich, neue Methoden für den philosophischen Unterricht mit Kindern und Jugendlichen im Alter von zehn bis sechzehn Jahren zu entwickeln. Die altbekannten Arbeitsweisen waren nämlich nur auf Oberstufenschülerinnen und -schüler bzw. Studierende zugeschnitten.

Es wurde schnell evident, dass sich die neuen Methoden nicht nur für den Unterricht in der Sekundarstufe I eigneten, sondern auch Potenzial für den Unterricht in der Sekundarstufe II aufwiesen. Das auf einmal für beide Sekundarstufen stark erweiterte Methodenspektrum verlangte nach einer didaktischen Legitimation. Es galt zu begründen, inwieweit die modernen Vorgehensweisen einen Beitrag dazu leisteten, Kindern und Jugendlichen philosophisches Denken, aber auch philosophische Ideen, Konzepte oder Theorien näherzubringen. Aus der Auseinandersetzung mit diesen Fragen entstanden im Laufe der Zeit unterschiedliche didaktische Ansätze, die sich heute für einen zeitgemäßen Philosophieunterricht als unentbehrlich erweisen und folglich nicht mehr wegzudenken sind.

Das Konzept

Die für diesen Band ausgewählten Aufsätze bzw. Auszüge aus Monographien sind allesamt – wie dem Titel des Buches zu entnehmen ist – Basistexte der modernen Philosophiedidaktik. Um das Konzept des Bandes zu verstehen, ist es sinnvoll, den Titel genau unter die Lupe zu nehmen und seine Bestandteile näher zu erläutern. Neben den Begriffen »modern«, »Philosophiedidaktik« und »Basistext« soll auch der Terminus »Ansatz« kurz umrissen werden, weil er für die Philosophiedidaktik eine wesentliche Rolle spielt.

Der Begriff »modern«

»Modern« bezieht sich im vorliegenden Fall nicht auf das, was in der Philosophie unter Moderne verstanden wird, und damit auch nicht auf Aufklärung und Emanzipation.5 Vielmehr ist der Begriff ganz profan aufzufassen, denn er soll hier hauptsächlich den Zeitraum der philosophiedidaktischen Ansätze kennzeichnen, die im Anschluss an die Martens-Rehfus-Debatte bis heute publiziert worden sind. Wenn darauf hingewiesen wird, dass es sich bei den modernen Ansätzen der Philosophiedidaktik primär um jene handelt, die in den letzten dreißig Jahren erschienen sind, dann legt diese Formulierung schon nahe, dass auch Ausnahmen zu verzeichnen sind. Solche stellen zweifelsohne die grundlegenden philosophiedidaktischen Überlegungen dar, die Kant in seiner Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765 – 1766 formuliert hat, sowie die Ausführungen Hegels in Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien. Privatgutachten für den Königlich Bayrischen Oberschulrat Immanuel Niethammer! (1812). Verkürzt und vereinfacht formuliert kann man davon sprechen, dass Kant in seinem Entwurf eine induktive Vorgehensweise präferiert, während der von Hegel dargelegte Vorschlag deduktiv ausgerichtet ist.

Nahezu alle philosophiedidaktischen Ansätze (zumindest) seit Martens und Rehfus lassen sich schwerpunktmäßig auf die Theorien von Kant bzw. Hegel zurückführen oder beinhalten gar Elemente beider Lehren. Aus diesen Gründen müssen die Auffassungen der beiden deutschen Philosophen als Fundament für die Auseinandersetzung mit modernen philosophiedidaktischen Ansätzen auch in der heutigen Diskussion Berücksichtigung finden.

Es steht außer Frage, dass es sogar eine noch frühere Philosophiedidaktik gab, die in diesem Buch aber außen vor bleiben muss. Sie lässt sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen. So formuliert Volker Steenblock im Anschluss an Horst Rumpf, dass es sich bei dem platonischen Dialog Menon wohl um die »erste Lehrprobe der Welt«6 handeln dürfte. Platons Sprachrohr Sokrates nimmt im Anschluss an die Unterweisung reflektierend Bezug auf das gesamte Lehrgespräch, indem er es sowohl didaktisch einschätzt als auch kommentiert. Aber Platons Einfluss auf die Philosophiedidaktik ist verschwindend gering und spielt somit in der Diskussion um einen modernen Philosophieunterricht – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Das trifft auch für viele andere Philosophen wie beispielsweise Cicero, Quintilian, Thomas von Aquin, Vico, Descartes, Fichte, Schelling, Schlegel oder Schleiermacher7 zu, die sich alle der Kunst der Vermittlung von Philosophie gewidmet haben.

Auch die Philosophiedidaktik, die mit dem Aufkommen des modernen Gymnasiums im 19. Jahrhundert einsetzt, ist für den modernen Philosophieunterricht nur geschichtlich von Bedeutung. Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist sie primär von der Frage um die Legitimation des Faches geprägt,8 denn zwischen 1816 und 1972 wird das Fach Philosophie immer wieder wegen Curriculumrevisionen aus dem Kanon der Schulfächer gestrichen oder wieder aufgenommen und ist daher nur diskontinuierlich, mal obligatorisch, mal fakultativ, vertreten.9 Nach dem zweiten Weltkrieg wird das Fach Philosophie an Gymnasien erneut eingeführt und kann in den sechziger Jahren in mehreren Bundesländern entweder als Pflichtfach oder Wahlpflichtfach belegt werden. Zu Beginn der siebziger Jahre, insbesondere im Zuge der Reform der gymnasialen Oberstufe, mehren sich die philosophiedidaktischen Ansätze, wobei vor allem die Frage, was – nicht wie – die Schülerinnen und Schüler inhaltlich lernen sollen, in den Blick genommen wird. So vertritt Rudolf Lassahn die Auffassung, dass im Philosophieunterricht nicht die klassischen kanonischen Texte behandelt werden sollen, sondern aktuelle gesellschaftliche und politische Fragen, die für Schülerinnen und Schüler besonders ansprechend seien.10 Wolfgang Deppe kritisiert Lassahns Ausführungen dahingehend, dass dem einseitigen Interesse der Schülerinnen und Schüler zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werde. Deppe hält ein bloßes Ausgerichtetsein auf aktuelle Probleme für ebenso falsch wie eine ausschließliche Betrachtung der Vergangenheit, wie dies etwa Heinrich Hahne vorschlagen hatte.11 Die Behandlung klassischer philosophischer Texte sei – so Deppe – allerdings insofern unumgänglich, als durch ihr Verständnis aktuelle Zusammenhänge erst in Gänze, d. h. in ihrer Kontinuität erschlossen werden können.12

Neben der Diskussion um den zu vermittelnden Unterrichtsstoff werden auch erste didaktische Überlegungen zur Vermittlung von Unterrichtsinhalten geäußert. So betrachtet Karl Püllen das Fach Philosophie nicht nur als reine »Denkschulung«,13 sondern auch als »Erlebnis«, »Einführung in das Problemdenken« und als »Hinführung zum Fachwissen«. Diese Auffassung mutet auf den ersten Blick modern an, wenn Püllen nicht ausführen würde, dass die anzustrebenden Ziele primär durch das Dozieren der Lehrenden und einen an das sokratische Vorgehen angelehnten fragend-entwickelnden Unterrichtsstil erreicht werden sollen.14 Die hier angeführten Beispiele veranschaulichen, dass die Didaktik der Philosophie vor der Martens-Rehfus-Debatte völlig anders akzentuiert und weit davon entfernt war, als »modern« bezeichnet werden zu können, auch wenn Lassahn schon die Vision vorschwebte, dass es sinnvoll wäre, mit dem Philosophieunterricht an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anzuknüpfen: »Philosophie in der Schule wird nur dann eine Chance haben, wenn es ihr gelingt, einen Gegenstandsbereich zu bearbeiten, der für unser Leben notwendig ist, wo offene Fragen liegen, die sich unabweisbar einstellen«.15 Bis diese Vorstellung allerdings durchgängiges Prinzip und State of the Art wurde, sollten noch einige Jahrzehnte vergehen.

Der Begriff »Philosophiedidaktik«

Um deutlich zu machen, was in diesem Band mit Philosophiedidaktik gemeint ist, ist es sinnvoll, sie vor dem Hintergrund der und in Abgrenzung zur Allgemeinen Didaktik zu betrachten.

Der Begriff Didaktik stammt von διδάσκειν ab und bezeichnet sowohl die Kunst des Unterrichtens, Unterweisens und Lehrens als auch die des Belehrt-Werdens, Lernens oder des Sich-Aneignens. Innerhalb der Didaktik gibt es in Bezug auf die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung zwei große Bereiche, die Allgemeine Didaktik und die Fachdidaktik. Die Allgemeine Didaktik gehört zu den zentralen Disziplinen der Pädagogik und wird sowohl universitär als auch in überfachlichen Seminaren in der zweiten Phase der Lehrerausbildung, dem Referendariat, behandelt. Die Fachdidaktik wird ebenfalls an den Universitäten, allerdings nicht in der Pädagogik, sondern in den für die Lehramtsausbildung vorgesehenen Fächern und in der an das Studium anschließenden fachlichen schulpraktischen Ausbildung vermittelt.

Die Allgemeine Didaktik beschäftigt sich nach Hilbert Meyer und Werner Jank mit der Frage, »wer was, wann, mit wem, wo, wie, womit, warum und wozu lernen soll«.16 Bei der Beantwortung dieser Frage folgen sie ihrem akademischen Mentor Herwig Blankertz, dem es um die Begründung didaktischer Modelle geht. Wie er verstehen die beiden Pädagogen unter didaktischen Modellen ein »auf Vollständigkeit zielendes Theoriegebäude zur Analyse und Planung didaktischen Handelns in schulischen und nichtschulischen Lehr- und Lernsituationen«.17

Die Fachdidaktik unterscheidet sich von der Allgemeinen Didaktik dadurch, dass sie sich nicht mit den generellen Fragen auseinandersetzt, sondern sich der Vermittlung und dem Erwerb spezifischer Kompetenzen und fachlicher Inhalte zuwendet.18

Die Didaktik in den deutschsprachigen Ländern ist primär auf Schulfächer ausgerichtet, so dass jedes Fach seine eigene Didaktik hat: Es gibt beispielsweise eine Didaktikder Chemie, des Englischen oder der Philosophie. Darüber hinaus existieren noch sogenannte Bereichsdidaktiken, die mehrere Fächer in einer gemeinsamen Didaktik zusammenfassen, wie dies beispielsweise bei der Didaktik der Naturwissenschaften (Chemie, Biologie und Physik) oder in der Fremdsprachendidaktik der Fall ist. Auch wenn dies lange Zeit anders war, so erheben sich heutzutage viele Fachdidaktiken über eine rein fachmethodische Forschung. Sie stellen eigene Teildisziplinen der Fachwissenschaft dar und sind nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Forschungsgebiete eine ernst zu nehmende Größe. Fachdidaktiken konzentrieren sich nicht allein auf das Unterrichten von Inhalten ihres Faches, sondern widmen sich beispielsweise auch der Erforschung von fachbezogenen gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen u.v.m.

Eine Expansion des zu erforschenden fachdidaktischen Spektrums lässt sich auch im Bereich der Philosophiedidaktik konstatieren. Stand noch vor wenigen Jahren primär die Unterrichtspraxis im Vordergrund der Diskussion, so ist diese Domäne nur noch eine – wenngleich immer noch vorrangige – Sektion der philosophiedidaktischen Auseinandersetzung, die – je nach Sichtweise – derzeit aus drei bzw. vier Säulen besteht. Bei den Säulen handelt es sich um: 1. Philosophische Bildungsforschung, 2. Interdisziplinäre Zugänge, 3. Philosophie und Unterrichtspraxis und – mit besonderem Blick auf Österreich19 – 4. Philosophie und Psychologie.20

Wenn im Folgenden von Didaktik der Philosophie bzw. Philosophiedidaktik die Rede ist, dann ist grundsätzlich die dritte Säule der Philosophiedidaktik, nämlich die Vermittlung von philosophischen Inhalten im Unterricht an Schulen (Unterrichtspraxis), gemeint. In Anlehnung an Jonas Pfister wird auch hier die Auffassung vertreten, die Aufgaben der Allgemeinen Didaktik und der philosophischen Fachdidaktik seien im normativen Bereich identisch. Dementsprechend ist es Aufgabe der Philosophiedidaktik, sich in Bezug auf den schulischen Unterricht insbesondere um folgende Fragen zu kümmern: 1. Wozu soll Philosophie gelehrt und gelernt werden? (Frage nach der Legitimation des Faches Philosophie); 2. Was soll gelehrt und gelernt werden? (Frage nach der Bestimmung von Inhalten); 3. Wie soll gelehrt und gelernt werden? (Frage nach der Methodik und Gestaltung von Philosophie-Unterricht) und 4. Wie soll geprüft werden, ob das Gelehrte gelernt wurde? (Frage nach der Überprüfbarkeit von philosophischen Erkenntnissen).21

Die Begriffe »Basistext« und »Ansatz«

In der schulischen Philosophiedidaktik sind die beiden Begriffe Basistext und Ansatz eng miteinander verknüpft. Bildungssprachlich versteht man unter einem Basistext einen Text, der die Grundlage für eine bestimmte Auffassung oder Richtung bildet, auf die man sich stützen oder auf die man weiter aufbauen kann. In Sinne dieser Bestimmung spiegeln die vorliegenden Texte allesamt das derzeitige Fundament der philosophischen Fachdidaktik wider, nach der – zumindest in Deutschland – das Fach Philosophie an Schulen unterrichtet wird. So können auf dieser Basis sowohl der eigene Unterricht legitimiert als auch unterrichtliche Konzeptionen weiter auf- bzw. ausgebaut werden. Die Umsetzung von Konzeptionen und damit verbunden auch die Legitimation des eigenen Unterrichts können aber nur dann erfolgreich gelingen, wenn die Basis keinen modellhaften Charakter besitzt, sondern sich als Ansatz erweist.

Anders als beispielsweise bei Roger Hofer wird hier ein Unterschied zwischen einem Modell und einem Ansatz zugrunde gelegt.22 Dieser besteht darin, dass ein Modell in sich abgeschlossen, unveränderbar und statisch ist, während sich ein Ansatz als flexibel, erweiter- und sogar veränderbar darstellt.

Betrachtet man etwa das von Crick und Watson erstellte Modell der DNA-Struktur, so zeigt sich, dass die beiden Molekularbiologen an ihrem Modell so lange Veränderungen vornahmen, bis es schlüssig in Form einer Doppelhelix vorlag. Die Struktur des Modells wurde – weil es sich sozusagen um die Abbildung von Wirklichkeit handelt – seitdem nicht mehr verändert.23 Vergleicht man analog dazu z. B. das Bonbon-Modell von Rolf Sistermann, so erweist sich auch dieses Modell als in sich kohärent und festgelegt: Es hat sich in der Unterrichtspraxis bewährt, weil nach ihm sowohl einzelne Unterrichtsstunden als auch Unterrichtsreihen sinnvoll strukturiert bzw. phasiert werden können. Die methodischen Ausführungen, die Sistermann in Bezug auf das Bonbon-Modell publiziert hat, machen deutlich, dass es keine Veränderung der unterrichtlichen Struktur geben kann, sondern diese Struktur vielmehr prinzipiell dem Modell unterliegt.24 Ein Modell kann also unter anderem dazu verwendet werden, die Wirklichkeit abzubilden, wie dies Crick und Watson mit ihrem DNA-Modell getan haben. Es kann aber auch dazu benutzt werden, wünschenswerte Strukturen für die Unterrichtspraxis bereitzustellen. Ein Modell bleibt, wie Markus Tiedemann herausstellt, somit immer »idealtypisch«,25 was zur Folge hat, dass es aus seinem engen Korsett nicht entfliehen kann und damit statisch bleibt.

Ein Ansatz dagegen muss immer wieder neu überdacht werden. Fachdidaktikerinnen und -didaktiker veröffentlichen ihre Überlegungen nicht nur einmal,26 sondern entwickeln ihre Theorien ständig weiter, stellen sie immer wieder auf den Prüfstand und überarbeiteten sie, um eventuelle Fehler zu eliminieren, um Verbesserungen vorzunehmen oder um neue wissenschaftliche Erkenntnisse einzuarbeiten. Insofern steht ein Ansatz im philosophiedidaktischen Sinn den oben angeführten Modellen der Allgemeinen Didaktik entgegen.

Zur Auswahl der Texte

Zum Schluss sei noch ein Blick auf die Überschriften der einzelnen Beiträge und auf die Auswahl der Texte geworfen.

Wenn die Beiträge dieses Buches plakativ als ***-Ansatz gekennzeichnet sind, so bedeutet dies nicht, dass dort ausschließlich der angekündigte Ansatz vorgestellt wird. Die Überschriften bringen lediglich das jeweilige Kernanliegen zum Ausdruck. Da im Bereich der Philosophiedidaktik Ansätze aber in aller Regel Mischformen darstellen, lassen sich in den meisten Anteile verschiedener Ansätze finden.

Einige Leserinnen und Leser mögen in diesem Buch den einen oder anderen philosophiedidaktischen Beitrag vermissen, auch wenn nahezu alle didaktischen Ansätze der letzten drei Jahrzehnte vertreten sind. Andere wiederum werden sich fragen, warum bestimmte Texte in diesen Band aufgenommen worden sind. Die Gründe – sowohl für die eine als auch für die andere Frage – sind vielfältig:

Wenn sich mehrere Autorinnen bzw. Autoren zum selben Thema geäußert haben, wie dies z. B. auf die Experimentelle Philosophiedidaktik (Bohlmann, Rohbeck, Tiedemann/Applis) zutrifft, dann wurde ausschließlich der Beitrag der Hautvertreterin bzw. des Hauptvertreters dieser Richtung berücksichtigt.

Der Ansatz der beiden niederländischen Didaktiker Karel van der Leeuw und Pieter Mostert

27

ist nicht aufgenommen worden, weil er eher methodisch als didaktisch ausgerichtet ist.

Der systemische Ansatz von Matthias Bublitz fällt hinter die

Martens-Rehfus-Debatte

zurück und kann daher nicht zu den modernen Ansätzen gerechnet werden.

28

Sowohl beim literarischen als auch beim narrativen Ansatz könnte die Frage aufkommen, ob die beiden Ansätze nicht eher in den Bereich der Methodik als in den der Didaktik einzuordnen sind. Da beide Ansätze aber als didaktisches Prinzip eingeführt werden, gehören sie in den Bereich der Fachdidaktik.

Die Experimentelle Philosophiedidaktik wurde lange Zeit kritisch beäugt, aber mittlerweile hat sie einen festen Platz in der Fachdidaktik gefunden. Der von Johannes Rohbeck ausgesprochenen Befürwortung der Experimentellen Philosophie kann man zustimmen, weil sie nicht nur an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anknüpft, sondern auch in dieser verweilen kann, um über sie zu reflektieren.

29

Darüber hinaus muss die Philosophiedidaktik beachten, dass sie sich weder der allgemeinen Tendenz verschließen darf, interdisziplinär zu arbeiten, noch Überheblichkeit an den Tag legen und die empirische Forschung außer Acht lassen darf: »Die Verengung der Philosophie auf reine Gedankenarbeit ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Davor haben die Philosophen mit ihrer spezifischen Perspektive versucht, die menschliche Natur zu verstehen – mit Experimenten und ohne. Zu dieser Philosophie […] müssen wir zurück«.

30

Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass die Beiträge in zeitlich chronologischer Abfolge angeordnet sind. Alle anderen Varianten einer Zusammenstelllung hätten große Probleme verursacht (beispielsweise die Frage nach der Gewichtung der Texte im Hinblick auf deren Bedeutung oder Aktualität), die sich durch diese Entscheidung vermeiden ließen.

1 Zwar legte Johannes Rohbeck 1992 mit der didaktischen Transformation einen dritten Ansatz vor, aber es sollte noch einige Zeit dauern, bis dieser sowohl in der Schule als auch in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung ankam.

2 Mit Beschluss des Landtags und der Änderung des Schulordnungsgesetzes SchOG §34 (2) im Jahr 2003 wird das Fach Praktische Philosophie zwar zum Schuljahr 2003/2004 als reguläres Schulfach eingeführt, aber zunächst nur für die Jahrgangsstufen 9 und 10. Ab dem Schuljahr 2007/2008 darf das Fach aufgrund der Änderung des Schulgesetzes vom 27.06.2006 in allen Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I an allen Schulformen des Landes NRW unterrichtet werden (vgl. Wiesen, Bernd: Praktische Philosophie. Entstehung und Wirkungen des neuen Schulfaches in Nordrhein-Westfalen, Philosophie und Bildung, Bd. 12, LIT Verlag, Münster/Berlin 2009, S. 52–53 und S. 54).

3 Das Fach Praktische Philosophie ist zugleich Religionsersatzfach. Alle Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, müssen als Ersatz das Fach Praktische Philosophie belegen. Muslimische Schülerinnen und Schüler können alternativ auch – sofern an ihrer Schule angeboten – am religionskundlichen Islamunterricht teilnehmen.

4 Bis heute gibt es für das Fach Praktische Philosophie nur einen einzigen Kernlehrplan, der nicht nach Schulformen differenziert ist. Er gilt daher gleichermaßen für Gymnasien, Gesamt-, Real-, Sekundar-, Haupt- und Förderschulen.

5 Markus Tiedemann: Ethische Orientierung für Jugendliche. Eine theoretische und empirische Untersuchung zu den Möglichkeiten der praktischen Philosophie als Unterrichtsfach in der Sekundarstufe I, Bildung und Philosophie, Bd. 2, LIT Verlag, Münster 2004, S. 29.

6 Volker Steenblock: »Die erste Lehrprobe der Welt. Didaktische Überlegungen im Anschluss an Platons Menon«, in: ders.: Philosophie und Lebenswelt II. Beiträge zu Bildung und Lebenswelt, Siebert Verlag, Hannover 2018, S. 111–121 (zuerst erschienen in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 36, 2014, Heft 3: Didaktische Herausforderungen und Visionen, S. 79–89).

7 Vgl. dazu Helmut Girndt/Ludwig Siep (Hrsg.): Lehren und Lernen der Philosophie als philosophisches Problem, Sophia – Schriften zur Philosophie, Bd. 1, Verlag Die Blaue Eule, Essen 1987 und Helmut Girndt (Hrsg.): Philosophen über das Lehren und Lernen der Philosophie, Akademia Verlag, Sankt Augustin 1996.

8 Vgl. Ingrid Stiegler: »Philosophiedidaktik von ca. 1800–1972 – Findung, Konsolidierung und Modifikation ihrer ›pädagogisierten‹ Identität«, in: Wulff D. Rehfus/Horst Becker (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, Pädagogischer Verlag Schwann-Bagel GmbH, Düsseldorf 1986, S. 20–37: S. 35–36 und vgl. Peter Vogel: »›Wissenschaftspropädeutik‹ und ›Alltagsorientierung‹ – die philosophiedidaktische Diskussion nach der Reform der gymnasialen Oberstufe«, in: Rehfus/Becker (Hrsg.): Handbuch des Philosophie-Unterrichts, a.a.O., Düsseldorf 1986, S. 38–50: S. 42–43.

9 Vgl. Peter Vogel: »Die Geschichte des gymnasialen Philosophieunterrichts in Deutschland – Bemerkungen zum Forschungsstand«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 2, 1980, Heft 4: Menschenrechte, S. 252–256: S. 252–253 und vgl. Ingrid Stiegler: Philosophie und Pädagogik – Der Weg der Philosophie zum gymnasialen Unterrichtsfach, Veröffentlichungen der Forschungsgruppe Didaktik der Philosophie, Duisburg, Verlag der sozialwissenschaftlichen Kooperative, Duisburg 1983 (zgl. Diss.), S. 285–290.

10 Vgl. Rudolf Lassahn: »Zum Philosophieunterricht am Gymnasium. Einige Anmerkungen und Thesen«, in: Aufgaben und Wege des Philosophieunterrichts, N.F., Heft 4: Beiträge zu verschiedenen philoso phischen Themen, 1972, S. 1–20: S. 16.

11 Vgl. Heinrich Hahne: Probleme des Philosophie-Unterrichts, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1959, S. 66.

12 Vgl. Wolfgang Deppe: »Bedarf der Philosophieunterricht einer neuen Begründung?«, in: Aufgaben und Wege des Philosophieunterrichts, N.F., Heft 6: Didaktische Möglichkeiten der Philosophie 1973, S. 47–52: S. 49.

13 Karl Püllen: »Zielsetzungen der philosophischen Unterweisung auf der höheren Schule«, in: Helmut Stoffer (Hrsg.): Aufgabe und Gestaltung des Philosophie-Unterrichts. Handreichungen für den Philosophielehrer, Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main/Berlin/Bonn o.J., S. 32.

14 Vgl. Karl Püllen: »Methodische und didaktische Einzelprobleme«, in: Stoffer (Hrsg.): Aufgabe und Gestaltung des Philosophie-Unterrichts, a.a.O., S. 73–74.

15 Lassahn: »Zum Philosophieunterricht am Gymnasium«, a.a.O., S. 15.

16 Werner Jank/Hilbert Meyer: Didaktische Modelle, Cornelsen Scriptor, Frankfurt am Main 31994, S. 16.

17 Ibid., S. 17.

18 Vgl. Jonas Pfister: Fachdidaktik Philosophie, UTB 3324, Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/Wien 2010, S. 112 und vgl. Werner Wiater: Ethik unterrichten. Einführung in die Fachdidaktik, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2011, S. 78–79.

19 In Österreich wird nicht das Fach Philosophie, sondern das Fach Psychologie und Philosophie unterrichtet, das eigene Strukturen aufweist und dementsprechend in der fachdidaktischen Auseinandersetzung besondere Berücksichtigung finden muss.

20 Vgl. beispielsweise die von Bettina Bussmann organisierte und geleitete Tagung »Lebenswelt und Wissenschaft im Philosophie- und Ethikunterricht« vom 18.–19. Mai 2018 in Salzburg. Dort wurden fachdidaktische Vorträge zu genau diesen vier Säulen gehalten und ein Workshop durchgeführt.

21 Vgl. Pfister: Fachdidaktik Philosophie, a.a.O., S. 101–105: S. 103 und S. 117.

22 Vgl. Roger Hofer: »Philosophiedidaktische Modelle im Überblick«, in: Jonas Pfister/Peter Zimmermann (Hrsg.): Neues Handbuch des Philosophie-Unterrichts, UTB4514, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 437–461: S. 437.

23 Vgl. das von Watson und Crick gebaute Modell der Doppelhelix, in: James D. Watson: Die Doppelhelix, übers. von Wilma Fritsch, eingel. von Heinz Haber, rororo sachbuch 6803, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1988 (76.–79. Tausend), S. 160.

24 Vgl. Rolf Sistermann: »Robinson, das Universum und die Feiertage der Religionen nach dem ›Bonbon‹-Modell«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 33, 2011, Heft 1: Philosophieren im 5./6. Schuljahr, S. 22–33; vgl. auch ders.: »Der Sinn des Lebens. Eine problemorientierte Unterrichtsreihe nach dem Bonbonmodell« in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 34, 2012, Heft 4: Sinn, S. 296–306 und vgl. ders.: »Das Bonbonmodell im problemorientierten Philosophieunterricht«, in: Information Philosophie 44, 2016, Heft 4, S. 202–107.

25 Markus Tiedemann: »Problemorientierte Philosophiedidaktik«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 35, 2013, Heft 1: Außerschulische Lernorte, S. 85–96: S. 93.

26 Nahezu alle Autorinnen und Autoren haben mindestens zwei oder drei verschiedene Versionen ihres Ansatzes publiziert. Um einen genaueren Überblick zu erhalten, sei auf die Auswahlbibliographie verwiesen.

27 Karel van der Leeuw/Pieter Mostert: Philosophieren lehren. Ein Modell für Planung und Analyse und Erforschung des einführenden Philosophieunterrichts, Eburon, Delft 1988.

28 Matthias Bublitz: Essay zu einer systemisch-historischen Philosophiedidaktik, Edition Octupus im Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster 2006.

29 Johannes Rohbeck: »Experimentelle Philosophiedidaktik«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 36, 2014, Heft 2: Didaktische Herausforderungen und Visionen, S. 3–9: S. 5.

30 Dies sagte der amerikanische Philosoph und Begründer der Experimentellen Philosophie Joshua Knobe 2015 auf einer Tagung in Bochum. Vgl. dazu Manuela Lenzen: »Verbrennt die Lehrstühle«, in: Neue Züricher Zeitung, vom 05. Dezember 2015, auf: https://www.nzz.ch/feuilleton/verbrennt-die-lehnstuehle-1.18657799 (Stand: 11. November 2018).

Der »Selber-denken«-Ansatz

Immanuel Kant

Alle Unterweisung der Jugend hat dieses Beschwerliche an sich, dass man genötigt ist, mit der Einsicht den Jahren vorzueilen, und, ohne die Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse erteilen soll, die nach der natürlichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten Vernunft könnten begriffen werden. Daher entspringen die ewige Vorurtheile der Schulen, welche hartnäckichter und öfters abgeschmackter sind als die gemeinen, und die frühkluge Geschwätzigkeit junger Denker, die blinder ist, als irgend ein anderer Eigendünkel und unheilbarer als die Unwissenheit. Gleichwohl ist diese Beschwerlichkeit nicht gänzlich zu vermeiden, weil in dem Zeitalter einer sehr ausgeschmückten bürgerlichen Verfassung die feinere Einsichten zu den Mitteln des Fortkommens gehören, und Bedürfnisse werden, die ihrer Natur nach eigentlich nur zur Zierde des Lebens und gleichsam zum Entbehrlich-Schönen desselben gezählt werden sollten. Indessen ist es möglich, den öffentlichen Unterricht auch in diesem Stücke nach der Natur mehr zu bequemen, wo nicht mit ihr gänzlich einstimmig zu machen. Denn da der natürliche Fortschritt der menschlichen Erkenntnis dieser ist, dass sich zuerst der Verstand ausbildet, indem er durch Erfahrung zu anschauenden Urtheilen und durch diese zu Begriffen gelangt, dass darauf diese Begriffe in Verhältnis mit ihren Gründen und Folgen durch Vernunft und endlich in einem wohlgeordneten Ganzen vermittelst der Wissenschaft erkannt werden, so wird die Unterweisung eben denselben Weg zu nehmen haben. Von einem Lehrer wird also erwartet, dass er an seinem Zuhörer erstlich den verständigen, dann den vernünftigen Mann, und endlich den Gelehrten bilde. Ein solches Verfahren hat den Vortheil, dass, wenn der Lehrling gleich niemals zu der letzten Stufe gelangen sollte, wie es gemeiniglich geschieht, er dennoch durch die Unterweisung gewonnen hat, und, wo nicht vor die Schule, doch vor das Leben geübter und klüger geworden.

Wenn man diese Methode umkehrt, so erschnappet der Schüler eine Art von Vernunft, ehe noch der Verstand an ihm ausgebildet wurde, und trägt erborgte Wissenschaft, die an ihm gleichsam nur geklebt und nicht gewachsen ist, wobei seine Gemütsfähigkeit noch so unfruchtbar wie jemals, aber zugleich durch den Wahn von Weisheit viel verderbter geworden ist. Dieses ist die Ursache, weswegen man nicht selten Gelehrte (eigentlich Studirte) antrifft, die wenig Verstand zeigen, und warum die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt schicken als irgendein anderer Stand des gemeinen Wesens.

Die Regel des Verhaltens also ist diese: zuvörderst den Verstand zu zeitigen und seinen Wachstum zu beschleunigen, indem man ihn in Erfahrungsurtheilen übt und auf dasjenige achtsam macht, was ihm die verglichene Empfindungen seiner Sinne lehren können. Von diesen Urtheilen oder Begriffen soll er zu den höheren und entlegnern keinen kühnen Schwung unternehmen, sondern dahin durch den natürlichen und gebähnten Fußsteig der niedrigern Begriffe gelangen, die ihn allgemach weiter führen; alles aber derjenigen Verstandesfähigkeit gemäß, welche die vorhergehende Übung in ihm notwendig hat hervorbringen müssen, und nicht nach derjenigen, die der Lehrer an sich selbst wahrnimmt, oder wahrzunehmen glaubt, und die er auch bei seinem Zuhörer fälschlich voraussetzt. Kurz, er soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, dass er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll.

Eine solche Lehrart erfordert die der Weltweisheit eigene Natur. Da diese aber eigentlich nur eine Beschäftigung für das Mannesalter ist, so ist kein Wunder, dass sich Schwierigkeiten hervortun, wenn man sie der ungeübteren Jugendfähigkeit bequemen will. Der den Schulunterweisungen entlassene Jüngling war gewohnt zu lernen. Nunmehro denkt er, er werde Philosophie lernen, welches aber unmöglich ist, denn er soll jetzt philosophieren lernen. Ich will mich deutlicher erklären. Alle Wissenschaften, die man im eigentlichen Verstande lernen kann, lassen sich auf zwei Gattungen bringen: die historische und mathematische. Zu den erstern gehören, außer der eigentlichen Geschichte, auch die Naturbeschreibung, Sprachkunde, das positive Recht etc. etc. Danun in allem, was historisch ist, eigene Erfahrung oder fremder Zeugnis, in dem aber, was mathematisch ist, die Augenscheinlichkeit der Begriffe und die Unfehlbarkeit der Demonstration etwas ausmachen, was in der Tat gegeben und mithin vorrätig und gleichsam nur aufzunehmen ist: so ist es in beiden möglich zu lernen, d. i. entweder in das Gedächtnis, oder den Verstand dasjenige einzudrücken, was als eine schon fertige Disziplin uns vorgelegt werden kann. Um also auch Philosophie zu lernen, müsste allererst eine wirklich vorhanden sein. Man müsste ein Buch vorzeigen und sagen können: sehet, hier ist Weisheit und zuverlässige Einsicht; lernet es verstehen und fassen, bauet künftighin darauf, so seid ihr Philosophen: bis man mir nun ein solches Buch der Weltweisheit zeigen wird, worauf ich mich berufen kann, wie etwa auf den Polyb, um einen Umstand der Geschichte, oder auf den Euklides, um einen Satz der Größenlehre zu erläutern: so erlaube man mir zu sagen: dass man des Zutrauens des gemeinen Wesens missbrauche, wenn man, anstatt die Verstandesfähigkeit der anvertrauten Jugend zu erweitern, und sie zur künftig reifern eigenen Einsicht auszubilden, sie mit einer, dem Vorgeben nach, schon fertigen Weltweisheit hintergeht, die ihnen zu gute von andern ausgedacht wäre, woraus ein Blendwerk von Wissenschaft entspringt, das nur an einem gewissen Orte und unter gewissen Leuten für ächte Münze gilt, allerwärts sonst aber verrufen ist. Die eigenthümliche Methode des Unterrichts in der Weltweisheit ist zetetisch, wie sie einige Alte nannten (von ζητειν), d. i. forschend und wird nur bei schon geübterer Vernunft in verschiedenen Stücken dogmatisch, d. i. entschieden. Auch soll der philosophische Verfasser, den man etwa bei der Unterweisung zum Grunde legt, nicht wie das Urbild des Urtheils, sondern nur als eine Veranlassung, selbst über ihn, ja so gar wider ihn zu urtheilen, angesehen werden, und die Methode, selbst nachzudenken und zu schließen, ist es, deren Fertigkeit der Lehrling eigentlich sucht, die ihm auch nur allein nützlich sein kann, und wovon die etwa zugleich erworbene entschiedene Einsichten als zufällige Folgen angesehen werden müssen, zu deren reichem Überflusse er nur die fruchtbare Wurzel in sich zu pflanzen hat.

Vergleicht man hiermit das davon so sehr abweichende gemeine Verfahren, so lässt sich verschiedenes begreifen, was sonst befremdlich in die Augen fällt. Als z. E. warum es keine Art Gelehrsamkeit vom Handwerke giebt, darin so viele Meister angetroffen werden, als in der Philosophie, und, da viele von denen, welche Geschichte, Rechtsgelahrtheit, Mathematik u. d. m. gelernt haben, sich selbst bescheiden, dass sie gleichwohl noch nicht gnug gelernt hatten, um solche wiederum zu lehren: warum andererseits selten einer ist, der sich nicht in allem Ernste einbilden sollte, dass außer seiner übrigen Beschäftigung es ihm ganz möglich wäre etwa Logik, Moral u.d.g. vorzutragen, wenn er sich mit solchen Kleinigkeiten bemengen wollte. Die Ursache ist, weil in jenen Wissenschaften ein gemeinschaftlicher Maßstab da ist, in dieser aber ein jeder seinen eigenen hat. Imgleichen wird man deutlich einsehen, dass es der Philosophie sehr unnatürlich sei, eine Brotkunst zu sein, indem es ihrer wesentlichen Beschaffenheit widerstreitet, sich dem Wahne der Nachfrage und dem Gesetze der Mode zu bequemen, und dass nur die Notdurft, deren Gewalt noch über die Philosophie ist, sie nötigen kann, sich in die Form des gemeinen Beifalls zu schmiegen.

Der »Nach-denken«-Ansatz

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Im Allgemeinen unterscheidet man [ein] philosophisches System mit seinen besondern Scientien und das Philosophiren selbst. Nach der modernen Sucht, besonders der Pädagogik, soll man nicht sowohl in dem Inhalt der Philosophie unterrichtet werden, als daß man ohne Inhalt philosophiren lernen soll; das heißt ungefähr: man soll reisen und immer reisen, ohne die Städte, Flüsse, Länder, Menschen u. s. f. kennen zu lernen.

Vor’s Erste, indem man eine Stadt kennen lernt, und dann zu einem Flusse, andern Stadt u. s. f. kommt, lernt man ohnehin bei dieser Gelegenheit reisen, und man lernt es nicht nur, sondern reist schon wirklich. So, indem man den Inhalt der Philosophie kennen lernt, lernt man nicht nur das Philosophiren, sondern philosophirt auch schon wirklich. Auch wäre der Zweck des Reisenlernens selbst nur, jene Städte u. s. f., den Inhalt kennen zu lernen.

Zweitens enthält die Philosophie die höchsten vernünftigen Gedanken über die wesentlichen Gegenstände, enthält das Allgemeine und Wahre derselben; es ist von großer Wichtigkeit, mit diesem Inhalt bekannt zu werden, und diese Gedanken in den Kopf zu bekommen. Das traurige, bloß formelle Verhalten, das perennirende inhaltslose Suchen und Herumtreiben, das unsystematische Raisonniren oder Spekuliren hat das Gehaltleere, das Gedankenleere der Köpfe zur Folge, daß sie nichts können. […] Das unsystematische Philosophiren ist ein zufälliges, fragmentarisches Denken, und gerade die Konsequenz ist die formelle Seele zu dem wahren Inhalt.

Drittens. Das Verfahren im Bekanntwerden mit einer inhaltsvollen Philosophie ist nun kein anderes als das Lernen. Die Philosophie muß gelehrt und gelernt werden, so gut, als jede andere Wissenschaft. Der unglückselige Pruritus, zum Selbstdenken und eigenen Produciren zu erziehen, hat diese Wahrheit in Schatten gestellt; – als ob, wenn ich, was Substanz, Ursache, oder was es sey, lerne, – ich nicht selbst dächte, als ob ich diese Bestimmungen nicht selbst in meinem Denken producirte, sondern dieselben als Steine in dasselbe geworfen würden; – als ob ferner, indem ich ihre Wahrheit, die Beweise ihrer synthetischen Beziehungen, oder ihr dialektisches Uebergehen einsehe, nicht selbst diese Einsicht erhielte, nicht selbst von diesen Wahrheiten mich überzeugte, – als ob, wenn ich mit dem pythagoräischen Lehrsatz und seinem Beweise bekannt geworden bin, nicht ich selbst diesen Satz wüßte und seine Wahrheit bewiese. So sehr an und für sich das philosophische Studium Selbstthun ist, eben so sehr ist es ein Lernen; – das Lernen einer bereits vorhandenen, ausgebildeten, Wissenschaft. Diese ist ein Schatz von erworbenem, herausbereitetem, gebildetem Inhalt; dieses vorhandene Erbgut soll vom Einzelnen erworben, d. h. gelernt werden. Der Lehrer besitzt ihn; er denkt ihn vor, die Schüler denken ihn nach. Die philosophischen Scientien enthalten von ihren Gegenständen die allgemeinen wahren Gedanken; sie sind das resultirende Erzeugniß der Arbeit der denkenden Genie’s aller Zeiten; diese wahren Gedanken übertreffen das, was ein ungebildeter junger Mensch mit seinem Denken herausbringt, um eben so viel, als jene Masse von genialischer Arbeit die Bemühung eines solchen jungen Menschen übertrifft. Das originelle, eigenthümliche Vorstellen der Jugend über die wesentlichen Gegenstände ist Theils noch ganz dürftig und leer, Theils aber in seinem unendlich größern Theile Meinung, Wahn, Halbheit, Schiefheit, Unbestimmtheit. Durch das Lernen tritt an die Stelle von diesem Wähnen die Wahrheit. Wenn einmal der Kopf voll Gedanken ist, dann erst hat er die Möglichkeit selbst die Wissenschaft weiter zu bringen und eine wahrhafte Eigenthümlichkeit in ihr zu gewinnen; darum aber ist es in öffentlichen Unterrichtsanstalten, vollends in Gymnasien, nicht zu thun, sondern das philosophische Studium ist wesentlich auf diesen Gesichtspunkt zu richten, daß dadurch etwas gelernt, die Unwissenheit verjagt, der leere Kopf mit Gedanken und Gehalt erfüllt, und jene natürliche Eigenthümlichkeit des Denkens, d. h. die Zufälligkeit, Willkür, Besonderheit des Meinens vertrieben werde. […]

Der Jugend muß zuerst das Sehen und Hören vergehen, sie muß vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden, auf diesem Boden sehen, Bestimmungen festhalten und unterscheiden lernen. […]

Man kann nämlich entweder vom Sinnlichen, Konkreten anfangen wollen, und dieses zum Abstrakten durch Analyse heraus und hinaufpräpariren, so, – wie es scheint, – den naturgemäßen Gang nehmen, wie auch so vom Leichtern zum Schwerern aufsteigen. Oder aber man kann gleich vom Abstrakten selbst beginnen, und dasselbe an und für sich nehmen, lehren und verständlich machen. Erstlich, was die Vergleichung beider Wege betrifft, so ist der erste gewiß naturgemäßer, aber darum der unwissenschaftliche Weg. Obwohl es naturgemäßer ist, daß eine das Runde ungefähr enthaltende Scheibe aus einem Baum stamme, durch Abstreifen der ungleichen, herausstehenden Stückchen nach und nach abgerundet worden sey, so verfährt doch der Geometer nicht so, sondern er macht mit dem Zirkel oder der freien Hand gleich einen genauen abstrakten Kreis. Es ist der Sache gemäß, weil das Reine, das Höhere, das Wahrhafte natura prius ist, mit ihm in der Wissenschaft auch anzufangen; denn sie ist das Verkehrte des bloß naturgemäßen, d. h. ungeistigen Vorstellens; wahrhaft ist jenes das Erste und die Wissenschaft soll thun, wie es wahrhaft ist. – Zweitens ist es ein völliger Irrthum, jenen naturgemäßen, beim konkreten Sinnlichen anfangenden und zum Gedanken fortgehenden Weg für den leichtern zu halten. Er ist im Gegentheil der schwerere; wie es leichter ist, die Elemente der Tonsprache, die einzelnen Buchstaben, auszusprechen und zu lesen, als ganze Worte. – Weil das Abstrakte das Einfachere ist, ist es leichter aufzufassen. Das konkrete sinnliche Beiwesen ist ohnehin wegzustreifen; es ist daher überflüssig, es vorher dazu zu nehmen, da es wieder weggeschafft werden muß, und es wirkt nur zerstreuend. Das Abstrakte ist als solches verständlich genug, so viel nöthig ist; der rechte Verstand soll ja überdieß erst durch die Philosophie hineinkommen. Es ist darum zu thun, die Gedanken von dem Universum in den Kopf zu bekommen; die Gedanken aber sind überhaupt das Abstrakte. […]

Hält man sich nun bloß an die abstrakte Form des philosophischen Inhalts, so hat man eine (sogenannte) verständige Philosophie; und indem es auf dem Gymnasium um Einleitung und Stoff zu thun ist, so ist jener verständige Inhalt, jene systematische Masse abstrakter gehaltvoller Begriffe, unmittelbar das Philosophische als Stoff, und ist Einleitung, weil der Stoff überhaupt für ein wirkliches, erscheinendes Denken das Erste ist. Diese erste Stufe scheint daher das Vorherrschende in der Gymnasial-Sphäre seyn zu müssen.

Der dialogisch-pragmatische Ansatz

Ekkehard Martens

Der Methode kommt im Philosophieunterricht ein Primat zu. Damit soll keine Beliebigkeit der Inhalte behauptet werden, sondern die Inhalte sollen durch das methodische Vorgehen gerade aus der bloßen Beliebigkeit in eine von allen Beteiligten durchschaubare und akzeptable, zumindest überprüfbare Form gebracht werden. Somit könnte die Entfremdung von Wissenden und Gewusstem aufgehoben werden. Die Methode der dialogischen Rechtfertigung zur Ermittlung des Wissenswerten muss nicht nur auf der Planungsebene angewandt, sondern vor allem im Unterricht selbst vollzogen werden, jedenfalls wenn man Philosophie als problemorientierten Verständigungsprozess praktizieren möchte.

Die Einheit der drei Dialogmethoden

Philosophieunterricht als Vermittlung von Subjektivität und Objektivität, Emotionalität und Rationalität verbietet sowohl einen bloßen Nachvollzug von Vorgegebenem als auch eine bloße Reproduktion des Ausgangsnichtwissens der Beteiligten. Das dialogische Prinzip muss daher als Einheit von drei dialogischen Momenten praktiziert werden: als offenes Unterrichtsgespräch zur Klärung der eigenen Interessen und Vormeinungen, als Hinzuziehen von Dialogpartnern durch das Zuhören bzw. Lesen von Texten und schließlich als Realisierung des dabei erhaltenen Dialogangebots durch Rückfragen, Reformulierung und Problematisieren. Dieser Dreierschritt, eine dialektische Spiralbewegung, ist prinzipiell unabgeschlossen und hat keinen fixierbaren Anfang und Abschluss, sondern er ist situativ verschieden anzusetzen.

Bei aller Flexibilität im Methodeneinsatz kann der dialogische Dreierschritt jedoch als Strukturierungs- und Rechtfertigungshilfe für die jeweilige didaktische Situation dienen. Vor allem kann er einige Scheingegensätze überwinden, etwa Textarbeit versus Unterrichtsgespräch, Ganzschriften versus Textauszüge, Selbstdenken versus Nachvollzug. Abzulehnen ist ferner eine bloß scheinbare Dialogbewegung, bei der etwa das freie Unterrichtsgespräch lediglich zum »Dampfablassen« oder als motivationaler »Aufhänger« dient, während »der Text« dann die eigentliche Lösung bringt. Umgekehrt muss auch ein Bruch zwischen beiden Phasen vermieden werden, indem etwa die Textinterpretation in ihrer Bedeutung für den gemeinsamen Problemlösungsprozess nicht gesehen oder sogar als störend empfunden wird. Die drei Dialogmomente sollen nun nacheinander genauer entfaltet werden.

Der offene Dialog (1) folgt der Maxime des Selbstdenkens, die Kant in seiner Vorlesungsankündigung von 1765/66 folgendermaßen definiert: »Kurz, er (der Philosophiestudent, E. M.) soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, dass er in Zukunft von sich selbsten zu gehen geschickt sein soll.«1 Diese Maxime führt Kant in seiner Anthropologie-Schrift näher aus: »1) Selbst denken. 2) Sich (in der Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes anderen zu denken.« Das erste Prinzip nennt er die »zwangsfreie«, das zweite die »liberale, sich den Begriffen anderer bequemende Denkungsart«, die er drittens mit der »konsequenten (folgerechten)« verbindet: »3) Jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.« Zusammen ergibt sich daraus die »wichtigste Revolution im Innern des Menschen« als Ausgang von der eigenen Erfahrung.2

Dem offenen Dialog widerspricht keineswegs eine gelenkte Gesprächsführung (Kant: erotematisch-katechetische Lehrart), wenn man nicht die von Nelson aufgelöste pädagogische Paradoxie von angestrebter und vorausgesetzter Autonomie durch heteronome Hilfestellung einfach ignorieren will. Dem gleichberechtigten partnerschaftlichen Gespräch (Kant: erotematisch-dialogische Lehrart) sind in der Schule nicht nur durch den Entwicklungsstand der Schüler Grenzen gesetzt, sondern auch durch die institutionellen Vorgaben, etwa den Zwang zu überprüfbaren Lernerfolgen und die Notengebung. Dennoch ist seine Idee als Handlungsmaxime für die Entwicklung der Schüler zum Selbstdenken wirksam.3

Autonomiefähigkeit ist nicht nur auf den rationalen Bereich als Bildung eines eigenen Urteils beschränkt, sondern beinhaltet auch die vor- oder nicht-bewussten emotionalen Bereiche des »Selbst«. Autonomiefähigkeit als Ziel des Philosophieunterrichts ist daher nicht ohne Kreativität erreichbar, die als »Beliebigkeit« des »freien Unterrichtsgesprächs« einen systematischen Ort im Prozess der Selbstfindung hat. Sie beugt der Gefahr vor, nur bestimmte, »orthosprachlich« normierte Aussagen oder »vernünftige Gedanken« zuzulassen. In Kants Aufklärungsmaxime ist vom »Mut«, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, die Rede. Dieser Mut sollte den Schülern nicht durch die Verpflichtung auf eine Denk- und Sprechdisziplinierung der akademisch geschulten Lehrenden genommen oder als zweifellos bereits vorhandene Angst der Artikulation auch noch verstärkt werden. Ein derartiger Dialog wäre nicht »sanktionsfrei« (Kambartel). Vielmehr muss das Eigenrecht der umgangssprachlichen Kommunikationsformen mit ihren latenten Denk- und Handlungsmustern im Philosophieunterricht von allen Beteiligten ausgeübt werden, etwa im Durchspielen von Denkmöglichkeiten oder im »ungeschützten« Sprechen. Nur so werden alternative Möglichkeiten des »Selbstdenkens« sichtbar: »Ein Lernen, in welchem Bewusstsein nur geübt, bereichert und vervollkommnet, aber nicht neues Bewusstsein hervorgebracht wird, erfüllt nicht seinen Sinn«.4 Den besonderen Wert der sokratischen Aporie sieht Krings in ihrer Provokation zur Kreativität. Kreative Einfälle müssen sich jedoch im Zusammenspiel mit anderen Handlungs- und Kommunikationspartnern bewähren, sollen sie nicht zu einer »Methode der Autorität« zur Festlegung gemeinsamer Überzeugungen umschlagen. An dieser Stelle wäre die Autonomiefähigkeit auch des Einzelnen gefährdet. Daher ist die Beliebigkeit der ersten Einfälle, die bereits unter der Minimalbedingung der Verständlichkeit für andere steht, mit dem Prinzip der dialogischen Überprüfbarkeit zu verbinden. Beide Prinzipien zusammen aber sind unverzichtbar.

Die Stelle, an der ein Übergang vom offenen Dialog zum Nachvollzug (2) eines vorgegebenen Gedankenganges in Form von Textlektüre oder als Zuhören bei einem Referat zu geschehen hat, lässt sich nicht vorweg markieren. Es bleibt der jeweiligen didaktischen Situation vorbehalten festzustellen, wann alle Argumente der Lerngruppe erschöpfend genannt und diskutiert wurden, so dass zum Weiterkommen eine »Expertenbefragung« nützlich sein könnte. Zum Übergang müssen die gesammelten Argumente und die genaue(n) Frage(n) für das Zuhören deutlich gemacht werden. Nur durch eine derartige Forderung kann »der philosophische Verfasser, den man etwa bei der Unterweisung zum Grunde legt, nicht wie das Urbild des Urteils, sondern nur als eine Veranlassung, selbst über ihn, ja sogar wider ihn zu urteilen, angesehen werden«, wie Kant gegen die zeitgenössische Handbuch-Methode in seiner Vorlesungsankündigung von 1765/66 fordert.5 Der »innere Dialog in der Seele«6 als Mitdenken des Zuhörers oder Lesers setzt jedoch einen »dialogischen Monolog« voraus, einen argumentativen, überprüfbaren Aufbau und eine verständliche Sprache. Nach Adorno ist der nachzuvollziehende Monolog sogar das Moment der Andersheit, an der sich die bloße Subjektivität dialektisch abarbeiten muss: »Zu interpretierende und zu kritisierende Texte stützen darum unschätzbar die Objektivität des Gedankens«.7

Als Minimalanforderungen an die Verständlichkeit eines geschriebenen oder gesprochenen Textes kann man verlangen, dass sachlich unangemessene Sprachschwierigkeiten wie verschachtelter Satzbau, unübersichtliche Gliederung, überflüssige und unbekannte Fremdwörter sowie ein bildungssprachliches Vorwissen mit undefinierten »großen Worten«, Eigennamen und ganzen Theorieansätzen vermieden werden sollten.8 Die Verständlichkeitsforderung ist keineswegs mit der Forderung nach »didaktischer Rücksichtnahme«9 zu verwechseln, einer ungerechtfertigten Anpassung an bequemes Denken. Denn die Schwierigkeiten in der Wiedergabe philosophischer Gedankengänge kann man nicht beliebig verringern.10 In der Philosophie lässt sich die Sache nicht von ihrer Darstellung trennen, wie Josef König in seinem Aufsatz »Das spezifische Können der Philosophie als εὖ λέγειν« darlegt: Der philosophische Gegenstand ist immer schon sprachlich vermittelt. Daraus folgt für die philosophische Tätigkeit: »Der Philosophierende als solcher, als wahrhaft Philosophierender ist nicht zunächst Philosophierender und will außerdem noch gut und verständlich sprechen; vielmehr ist er sozusagen nichts als der gut und verständlich Sprechen-Wollende«.11 Da dies jedoch nur mit Mühe durchführbar sei, hält auch König die Unterscheidung zwischen vermeidbarer und unvermeidbarer Schwerverständlichkeit für erforderlich.

Der Stufe der Rezeption eines Monologs, die bereits eine dialogische Tätigkeit darstellen kann, folgt eine Überprüfung der nachvollzogenen Gedankengänge als Realisierung des Dialogangebotes (3). Dieses Angebot muss nicht explizite Absicht des Verfassers oder Vortragenden gewesen sein, ist aber eine Konsequenz der dialogischen Denkstruktur im Unterschied zu dem etwa von Peirce in The Fixation of Belief (1877) kritisierten Intuitionismus oder Dogmatismus. Der vollzogene Dialog kann auch gerade einen derartigen Dogmatismus aufdecken. Natürlich muss die Fähigkeit der Schüler zum Dialog entwickelt oder gefördert werden: durch Mut zur Konfrontation mit den eigenen, spontanen Erfahrungen und ihrer interpretativen Verarbeitung, durch klare inhaltliche Informationen und durch klares Denken und Sprechen. Der Umgang mit (gesprochenen oder geschriebenen) Texten (philosophischen und nicht-philosophischen) sollte die Form eines argumentativen Gespräches haben, kurz: es sollte philosophisch sein. Man kann die Informationen und Auffassungen eines Autors einfach zur Kenntnis nehmen oder unbesehen nachreden, man kann aber auch versuchen, mit dem Autor wie mit einem Gesprächspartner umzugehen. Im Unterschied zum bloßen Behaupten und Nachsprechen besteht ein Gespräch darin, dass man gemeinsam die aufgestellten Behauptungen sachlich und fair überprüft, sofern man sie für wichtig hält. Ein Gespräch wäre demnach gemeinsames Rechenschaftgeben oder Argumentieren.

Allerdings erfordert der argumentative oder philosophische Textumgang, dass man einige (hermeneutische) Regeln beachtet. Im mündlichen Gespräch kann man den anderen normalerweise ohne große Mühe um Erläuterungen bitten, wenn man etwas nicht verstanden hat, und man kann mit ihm diskutieren, wenn man eine andere Auffassung als er vertritt. Auch mit dem Autor eines Textes kann man ein Gespräch führen, wenn es auch ohne Antwortmöglichkeiten des Partners bleibt und daher nur ein einseitiges »Gespräch innerhalb der Seele«12 ist.

Hierzu muss man einige Regeln beachten. Diese überschneiden sich zum Teil mit denen eines mündlichen Gesprächs und sind nicht ausschließlich auf philosophische Lektüre oder Gesprächsführung anwendbar.

Wer freiwillig mit jemandem ein Gespräch führt, ist daran interessiert zu hören, was der andere zu sagen hat. Wer dagegen jemandem gezwungenermaßen zuhört, bringt dieses Interesse kaum auf – schon gar nicht im institutionellen Rahmen der Schule. Zwar kommt der Appetit oft erst mit dem Essen und das Interesse stellt sich oft erst bei näherer Beschäftigung mit einem Thema ein. Ohne jedes Anfangsinteresse ist diese Beschäftigung jedoch mühsam und wenig sinnvoll. Daher sollte man zunächst überlegen, inwiefern einem das angesprochene Thema wichtig ist und was man selber dazu sagen und fragen könnte. Der Inhalt von Texten ist nicht unmittelbar an sich gegeben, sondern erschließt sich erst durch Fragen, oft sogar durch »ganz dumme Fragen« als radikales Weiterdenken. Nur durch genaues Zuhören kann man sich darüber Klarheit verschaffen, welche Behauptung genau zur Diskussion steht. Daher sollte man:

den Text sorgfältig, möglichst mehrmals lesen;

unklare Ausdrücke und Argumente notieren (mit Seiten- und Zeilenangaben);

unbekannte Fremdwörter, Fachausdrücke und Eigennamen in Lexika nachschlagen oder gemeinsam klären; die Bedeutung von Fachausdrücken ist jedoch oft aus dem Textzusammenhang heraus zu erarbeiten;

sofern es sich bei den Unklarheiten um strittige Sachfragen handelt, sollten diese für die anschließende Diskussion festgehalten werden;

Kernstellen und Schlüsselbegriffe hervorheben;

vor allem bei längeren Texten Abschnitte markieren (die nicht immer mit den Abschnitten im Druck übereinstimmen) und diese mit Überschriften bzw. mit einer kurzen Inhaltsangabe versehen;

unterscheiden, ob der Autor mit seinen Äußerungen etwas anzweifelt, zur Diskussion stellt oder behauptet;

feststellen, ob der Autor lediglich etwas vermutet, mit einiger Sicherheit oder mit absoluter Überzeugung behauptet;

mögliche Absichten oder Interessen des Autors herausfinden: Was will er ausdrücklich oder unausdrücklich mit seinen Äußerungen erreichen?

den Rede- oder Schreibstil kurz charakterisieren: Ist er vorwiegend überredendrhetorisch oder überzeugend-argumentativ?

mit eigenen Worten mündlich oder schriftlich wiedergeben, welche Behauptungen der Autor aufstellt und wie er sie begründet;

die eigene Auffassung von der des Autors sorgfältig zu unterscheiden versuchen.

Durch den Gebrauch unklarer Ausdrücke kann man leicht aneinander vorbeireden. Welcher Ausdruck jeweils wichtig und deshalb besonders zu überprüfen ist, hängt vom jeweiligen Zusammenhang innerhalb des Textes und von der Sprecher-Hörer-Situation ab. Alltagssprache, Vertragstexte und wissenschaftliche Abhandlungen verlangen unterschiedliche Genauigkeit und je nach Hörer oder Leser unterschiedliche Klärung.13

Je nach dem erzielten Ergebnis eines Gesprächs oder einer Lektüre sollte man sich überlegen, wie man weiter verfährt, d. h. wie man das behandelte Problem besser lösen könnte oder welche Fragen man nun besprechen möchte. Dabei kann man entweder seinen bisherigen Gesprächspartner (oder Autor) um weitere Darlegungen zu demselben Thema und (oder) zu neu aufgekommenen Fragen bitten (und weitere Schriften von demselben Autor lesen) oder man kann bei anderen mehr zu lernen versuchen. Vor allem nach einer Textlektüre kann auch die Arbeitsform durch Erarbeitung von Protokollen, durch Diskussionen (mit Pro- und Contra-Gruppen) und Referate gewechselt werden.

Nur durch die drei unterschiedenen Dialog-Formen zusammen, die keinen Stufengang darstellen, ist der bloße Monolog des Lehrenden wie der Lernenden vermeidbar. Zwischen beiden Monologen ist das Kontinuum der Dialogmöglichkeiten eingespannt. Die Markierungen innerhalb dieses Kontinuums müssen situativ von der jeweiligen Lerngruppe selbst vorgenommen werden.

1 Immanuel Kant: »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765–1766«, in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 2: Vorkritische Schriften II (1757–1777), Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1912, S. 303–113, S. 306.

2 Immanuel Kant: »Anthropologie in pragmatischer Absicht abgefaßt«, in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 7: Der Streit der Fakultäten – Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1917, S. 117–333, S. 228–229.

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