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"Glaubst du, etwas so Unwichtiges wie der Tod könnte mich davon abhalten, dich zu lieben?" Als Hexe verschrien, ist Ruth Elston gezwungen, ihre Heimat Cracklewood zu verlassen. Einmal wieder. Sie landet im winterlichen Prag, wo sie sich mit alten Bekannten, eifersüchtigen Irrlichtern und mysteriösen Tongestalten herumschlagen muss. (Dabei will sie doch nur ihre Decke fertig häkeln. Ist das denn zu viel verlangt?) Zum Glück ist sie nicht allein. Begleitet wird sie von ihrem Freund Simon, der sich - langsam, ganz langsam - an sein Dasein als Geist zu gewöhnen scheint. Leider tut er das ausgerechnet in einer Stadt, in der die anderen Geister nach und nach zu verschwinden drohen. Ruth muss also herausfinden, wer dahintersteckt - bevor dieses Schicksal auch Simon ereilt und ihr damit das einzige Stück Cracklewood entrissen wird, das ihr noch geblieben ist. Fortsetzung der Cozy-Fantasy-Reihe für Erwachsene.
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Seitenzahl: 265
Veröffentlichungsjahr: 2025
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An meine Leserinnen und Leser,
willkommen zurück! Ich hoffe, ihr seid alle den Rabenfedern gefolgt. Wie lieb von euch, dass ihr mich wieder nach Cracklewood begleitet – und es mit mir zusammen dieses Mal auch verlasst, denn es geht für uns nach Tschechien und ins mysteriös-winterschöne Prag.
Aber Achtung! Die Geschichte, die euch erwartet, behandelt die unterschiedlichsten Themen.
Der Text beinhaltet dabei auch Beschreibungen von Tod, Blut, (Körper-)Verletzungen, Mobbing, Freiheitsberaubung, Untreue, sexuellen Praktiken und von Zerstörung durch eine Umweltkatastrophe. Bitte behaltet dies im Hinterkopf, sollte etwas davon euch Unbehagen machen, und passt auf euch auf!
Eure Sabrina Döbel
P.S. Einige der Charaktere sprechen Tschechisch miteinander. Im Tschechischen wird der Vokativ benutzt – das bedeutet, der Name des direkt Angesprochenen wird mit einer Endung versehen, um ihn an den Fall anzugleichen. Aus Tomáš wird so ein Tomáši, aus Jarek (eine Koseform von Jaromír) wird Jarku.
Um den Lesefluss im Deutschen nicht zu stören, wurde innerhalb der Geschichte jedoch gänzlich auf den Vokativ verzichtet.
Für meinen Ehemann Christian, der in einen furchtbar stickigen Reisebus gestiegen ist, um mich in Prag zu besuchen. Und das, obwohl er Busfahrten
wirklich, wirklich hasst.
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Epilog
Für eine Geisterbeschwörung brauchte man Süßigkeiten und an diesem Morgen entschied sie sich für Lakritze.
Ein riskanter Entschluss, das war ihr klar - denn so gut wie jeder hatte eine Meinung zu Lakritze, doch nicht jede davon fiel positiv aus. Sie war lange vor dem nur halb vollen Regal gestanden. „Fünfzig Prozent Rabatt auf alle übrig gebliebenen Halloween-Naschwaren!“, hatte Roland vom Delikatessenladen ihr zugerufen und sie hatte genickt. Der erste November war eben ein guter Tag für eine Beschwörung. Schade, dass sie sich keinen Vorrat würde anlegen können. Es war wichtig, nicht verdächtig zu wirken.
„Hast du keinen Karamell mehr da?“, hatte sie, über ihre Schulter hinweg, gerufen und Roland hatte sich ungeniert gestreckt.
„Längst leer. Morgen kriege ich neuen. Dann aber zum vollen Preis.“
„Auch wenn er für eine Freundin ist?“
„Gerade wenn er für eine Freundin ist.“ Sie hatte, genervt von ihrem eigenen Verständnis, erneut genickt und mit den Fingerspitzen über die unter dem Supermarkt-LED-Licht bunt knisternden Verpackungen gestrichen. War es wirklich so wichtig gewesen? Er hatte sich doch bereits entschieden. Er wollte zurückkommen. Wollte zu ihr und fort, fort, fort mit ihr. Eine wirklich angenehme Abwechslung, das musste sie zugeben.
Sie hatte also nach der größten Packung gegriffen - und die war nun mal voller Lakritze gewesen. Lang und gesalzen. Sie ging damit zur Kasse.
Es war Morgen in Cracklewood, der Gruselhauptstadt der Region, das von all seiner surreal gefeierten Schaurigkeit nun verkatert schien. Es war zu spät für die Massen an Berufstätigen, diesem ganzen Departement eingerichteter und in Baumwollhemden verpackter Pünktlichkeit. Es war aber außerdem zu früh für alle Mütter und Väter, die sich einen Happen oder einen Schluck Brause für ihren Spaziergang besorgen wollten. Noch träumten die dazugehörigen Kleinen, die nur wenige Stunden davor hatten Superhelden und Ballerinas und Dinosaurier sein dürfen, in ihren Bettchen. (Sie hatten sogar ein Kleinkind verkleidet als Ketchupflasche gesehen. (Die Eltern waren passenderweise die Mayonnaise und der Senf gewesen.) Sie hatte sein ehrliches Lachen immer noch imOhr.)
Sie war die einzige Kundin im Laden. Roland grinste und seine Angestellten kicherten. „Man hat sich nach dir erkundigt“, sagte er, während er die Süßigkeiten über die Kasse zog. Es piepte.
„Ach tatsächlich?“
„Ja. Ein Fremder, mit Akzent. Habe ihn dann zu dir rüber geschickt. Blond war er. Und groß.“ Roland zog an dem Vokal, bis er fast so lang war wie die Beine des Mannes, um den es hier ging. Sie stöhnte und das entging den Anwesenden nicht. Sie stürzten sich auf diesen Laut, allesamt.
„Dann kennt ihr euch?“, fragten sie gackernd. „Woher?“
„Wo man jemanden eben zufällig so trifft.“
Der Drucker ratterte und bearbeitete nach und nach ihren Bon. Noch immer hielt Roland ihren Einkauf und sie damit gefangen. „Ich hab es euch doch gesagt: Sie wird nicht reden“, sagte er.
„Muss sie auch nicht“, entgegnete eine Kassiererin salopp. Sie pflückte eine übergroße Ratte aus Gummi von einer Regalkante. „Dafür redet Cassandra umso mehr. Er hat ein Zimmer bei ihr in der Pension gemietet. Ist nur zum Frühstück runter, hat etwas Rührei gegessen und dann alle Feierlichkeiten ignoriert, stellt euch das vor.“
„Das heißt, er ist nicht mal zur großen Tombola?“
„Nein. Auch nicht zum Feuerwerk. Oder zur Riesen-Popcornmaschine. Dabei konnte die dieses Jahr salzig und süß! Der hatte nur an einer Sache Interesse: an der Hexe von Cracklewood.“
Sie griff etwas zu fest und mit weißen Knöcheln nach dem Band ihres Umhängebeutels. Münzen und ein Stück altes Brot für die Raben wurden darin durcheinander geworfen. „Nennt mich nicht so!“, rief sie ungehalten.
„Ach komm. Wir ärgern dich doch nur ein wenig.“ Mit einem Ratschen wurde der Bon von der Rolle gerissen. Roland hielt ihr ihren Einkauf wie eine Friedenspfeife entgegen. Sie beschloss, sie zu akzeptieren und einen Zug zu nehmen.
Womöglich war es die Nostalgie, gemischt mit der Aufregung, doch in diesem Moment war sie sich sicher, dass ihr diese grenzüberschreitenden, unverschämten Gespräche bald fehlen würden. Hier war klar, was sie würde zurücklassen müssen. Das war bei Weitem nicht in allen Bereichen so. Nach seinem Verschwinden hatte sie versucht, sich ihrem Schrank zu widmen, nur um festzustellen, dass sie eindeutig zu viele paillettenbesetzte Kleidungsstücke besaß. Die alle mitzunehmen, war unmöglich. „Außerdem ist es offensichtlich. Er mag dich. Du hast den Kerl umgehauen.“
Stimmt, dachte sie sich. Und das nicht nur einmal. Trotzdem steht er immer wieder auf.
„Er könnte auch Angestellter eines Inkasso-Unternehmens sein und Schulden bei mir eintreiben wollen“, hielt sie entgegen. „Oder er ist ein Auftragsmörder.“
„Bitte nicht. Wir brauchen nicht noch eine Verhaftung. Ein Verehrer ist uns lieber.“ Delikatessen-Roland stand auf und ging auf sie zu. Freundschaftlich legte er ihr seine Hand auf die Schulter. „Das ist eine gute Sache. Du hast dir das verdient“, sagte er.
Sie musste schwer schlucken. Vor einigen Jahrzehnten war dieser Markt eine Werkstatt gewesen, sie erinnerte sich noch genau. Sie hatte den Geruch von Beton und Benzin noch in der Nase, denn er war tief in den Kunststein eingedrungen und hatte sich wie ein Mantel um die Körnung gelegt. Sie nieste und er ließ sie los.
„Und trotzdem. Ein Fremder ist ein Fremder und vor denen muss man sich in Acht nehmen.“
„Ich war auch mal eine Fremde“, erinnerte sie ihn.
„Nein, das warst du nicht. Du hast hier schon immer her gepasst.“
Sie wusste nicht, ob sie ihm da zustimmen konnte. Sie sah durch das Fenster hinaus auf die altbekannte Hauptstraße. Auf den Spielplatz mit dem Hickorybaum. Auf die Bushaltestelle. Und all ihre Leben zogen an ihr vorbei.
Roland nahm wieder seinen Platz hinter der Kasse ein und durchbrach dann die tiefe Stille des Morgens. „Soll heißen: Pass auf dich auf, Ruth.“
Sie spürte, dass sie lächelte, obwohl es doch so schwer war. Ruth klemmte sich die Lakritze unter den Arm, bereit zum Aufbruch und bereit für den blonden Mann mit seinen langen Beinen, mit denen er schon so oft vor ihr geflüchtet war. Wieso sollte es dieses Mal anders ausgehen? War sie denn wahnsinnig?
Wahrscheinlich, denn sie sagte mit Bedauern: „Ihr auch.“
Und dann ging sie, denn sie hatte noch viel zu tun. Die Glöckchen über der Tür bimmelten.
Sie nahm einen tiefen Atemzug. Der Schwarzpulvermief war schon fast verflogen und die Kälte pustete durch ihren Kopf. Es musste sein. Die Jahre waren vergangen. Sie war bereit. Bereit zu packen.
Und bereit für andere, schwere, doch leider unausweichliche Paillettenentscheidungen.
Vor der Pension standen Putzeimer in unterschiedlichen Größen, Essiglösungen, ein Wischmopp und Allzweckreiniger. Dazwischen standen gähnende Leute, Gäste wohl, die Füße in Sandalen und die Hände voller ausgedruckter Flugtickets. Einige von ihnen hatten Kissen mitgebracht. Sie warteten. Es war, als habe man sie weggekehrt. Reliquien einer durchgemachten Nacht, die man nun müde und möglichst schnell loswerden wollte.
Ruth stieg über einen Laubhaufen und griff nach der Tageszeitung, die auf der Türschwelle lag. Sie gönnte sich einen kurzen Blick auf die Nachrichten, überblätterte das Regionale, den Sport und das Feuilleton. Hängen blieb sie am Internationalen, auf der Suche nach etwas Unerklärlichem. Sie fand nichts. War das gut oder verdächtig?
Ruth rollte die Zeitung zusammen, klopfte ihren Mantel aus und sah sich um. Die Rezeption war unbesetzt und über und über beklebt mit Seeglas. Trübes Lila, Grün, Türkis und Blau. Wie zur Beruhigung fuhr sie mit den Fingerspitzen darüber. Das Glas war glatt und so kühl wie der Ozean, aus dem es stammte.
„Hallo?“, rief Ruth, während sie auf die Rezeptionsglocke drückte und der helle Ton durch den Eingangsbereich hallte. Der Boden war frisch gewischt, wie sie erst jetzt feststellte. Erschrocken sah sie ihre eigenen Stiefelabdrücke an - klebte an ihren Schuhen etwa noch Friedhofsdreck? - und murmelte einen schnellen Reinigungszauber.
„Jemand da?“, versuchte sie es erneut, dieses Mal etwas lauter, und Ruth war sich schließlich nicht sicher, ob das eine gute Idee oder ein Fehler gewesen war. Denn die Antwort, die sie erhielt, war pikiert. Und zeternd.
„Natürlich ist jemand hier. Ich bin immer hier. Ich bin nur nicht Ihre persönliche Assistentin, wer auch immer Sie sind.“ Cassandra, die Inhaberin der Pension, kam aus einer Tür auf der linken Seite - dahinter befand sich, wie Ruth wusste, die Küche. (Sie hatte hier schon einige Hochzeitsfeste besucht. Runde Geburtstage. Taufen. Und Stadtjubiläen.)
Sie hielt eine große Keramikschüssel in den Händen, die bemalt war mit Fliegenpilzen und Efeugirlanden. Etwas zu bestimmt und etwas zu energisch ließ Cassandra einen Kochlöffel darin kreisen. Je mehr sie rührte, umso mehr Teigtropfen flogen durch den Eingangsbereich. Sie blieben an Ruths Brillengläsern hängen.
„Oh, Ruth, du bist es!“, rief sie, den Teig dabei jedoch immer noch malträtierend.
„Tut mir leid, wirklich. War nicht so gemeint. Die Gäste kosten mir nur die letzten Nerven. Was bin ich froh, dass jetzt die Nebensaison kommt.“
Da konnte sie ihr nicht zustimmen. Gestern hatte sie sich gewünscht, die Nacht möge niemals enden.
„Ich habe deine Zeitung vor einem Dutzend Paaren trampelnder Füße gerettet“, sagte sie, die Gedanken beiseiteschiebend, und hielt ihr das Blatt entgegen. „Ich habe außerdem nicht vor, dich lange zu behelligen, keine Sorge. Ein Bekannter von mir ist bei dir untergekommen. Jetzt brauche ich nur noch die Zimmernummer, dann bin ich auch schon wieder weg.“
„Bekannter“, wiederholte Cassandra. Ihre Augen begannen zu funkeln. „Ich denke, ich weiß, von wem du sprichst. Er hat sich heute noch nicht blicken lassen. Sag ihm, dass das die letzten Pfannkuchen für heute sind. Er sitzt im Zimmer Sieben, erster Stock.“
„Das werde ich tun. Danke.“
„Jetzt bin ich aber doch neugierig. Wo hast du den denn aufgegabelt?“
Ruth seufzte, denn natürlich wusste sie es noch ganz genau. 1761, so lange war es bereits her. Die tieforangene Sonne war zuerst die einzige Lichtquelle im sonst so düsteren böhmischen Wald gewesen. Sie hatte geglaubt, allein zu sein, mit dem Geruch verwesenden Holzes und verwesender Beziehungen in der Nase, und so war für ihn ein leichtes gewesen, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Es war für ihn nicht gut ausgegangen. Und, wenn Ruth ehrlich war: für sie auch nicht.
Sie war sein Untergang. Und er der ihre.
„Tschechien“, antwortete sie der Pensionsbesitzerin schließlich schlicht.
„Ach, ein Kommunist!“, rief Cassandra und Ruth hob eine Augenbraue. „Hab’s mir ja fast gedacht. Er hat einen ganz schwierigen Namen, dein Freund, mit Strichen auf den Buchstaben.“
„Die spricht man lang aus.“
Cassandra schüttelte den Kopf. „Was du alles weißt.“
„Ich hab im Laden noch einen Tschechischsprachkurs, mit Buch und Sprachdateien. Er ist kaum benutzt. Wenn du magst, bringe ich ihn dir vorbei. Ist ein Geschenk.“
„Nein, nein, das geht nicht. Du brauchst den sicher noch. Und außerdem werde ich für so etwas langsam zu alt. Es kann sich nicht jeder so gut halten wie du.“
Ruth lächelte. „Man ist nie zu alt für Neues“, sagte sie. Oder zu tot, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Womöglich hast du recht. Was, wenn er nun öfter kommt? Man will sich ja unterhalten können.“ Der Teig schlug langsam Blasen. „Aber die Hochzeitsfeier findet hier statt, hörst du? Ich weiß, dass du die Marchbanks magst, aber das Café hat nicht genug Platz für alle Leute, die du einladen musst.“
Ruth legte die Zeitung auf die Theke, neben einigen noch nicht aufgehängten Schlüsselbünden. „Niemand heiratet hier irgendwen. Unmöglich“, antwortete sie so bestimmend, wie sie konnte.
Doch Cassandra schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Ring an seinem Finger gesehen. Oder ist er dir etwa zu jung?“
Ganz im Gegenteil, dachte sie. Er ist älter als ich. Älter als die Menschheit und älter als ihre Städte und ihre Hierarchien und ihre Träume und vielleicht ist das der Grund, weshalb ihn erste faszinieren und er auf letzteren herumtrampelt. Denn er ist so alt wie das flüsternde Gras und die grölende See und die stummen Berge selbst.
Doch auch das war etwas, das Ruth nicht würde erklären können. Wie auch? Und so machte sie sich auf den Weg in den ersten Stock, wie immer allein. Der dicke Teppichboden schluckte jedes Trittgeräusch. Alles war still, alles verstummt, und dennoch musste sie nicht klopfen. Sie hätte sich nicht anschleichen oder sich umentscheiden können. Die Tür von Zimmer Sieben stand offen. Er wartete bereits auf sie.
„Ich wusste, dass du kommen würdest“, sagte er, mit einem unverschämten Grinsen im Gesicht. Ruth wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Für sie war er gerade wie ein Bär am Fluss, der seelenruhig darauf warten konnte, bis der Fisch ihm in die Tatzen sprang.
Dieser dumme, dumme Fisch.
Doch was blieb ihr anderes übrig? Sie kannte nur diesen Weg. Kannte nur diesen Wasserfall.
Sie schob sich an ihm vorbei, hinein in einen dunklen Raum. Dessen Bewohner hatte wohl den Morgen verpasst. Es wunderte sie nicht: Licht mochte kein Licht. Es brauchte Schatten, um zu leuchten.
Ruth sah sich um. Sein Koffer stand offen und neben dem Schrank. Er hatte ihn nicht ausgeräumt. Alles stand unangetastet an seinem Platz, die Wasserflasche, die Kleiderbügel, die Fernbedienungen. Nur das Bett war unordentlich. Auf der dicken rot-braun karierten Tagesdecke und dem Spitzenkissen verteilt lagen unterschiedliche Dokumente. Mr. Procházka war auf einem zu lesen.
„Dein Ernst?“, entfuhr es ihr. Er hob eine Augenbraue. „Ein anderer Nachname ist dir nicht eingefallen?“
„Was ist an diesem denn auszusetzen?“
„Procházka bedeutet Spaziergänger, oder?“
„Ja. Und?“
„Du bist ein Irrlicht“, erinnerte sie ihn. „Irrlichter töten Spaziergänger!“
„Moore töten Spaziergänger, Ruthie. Nicht ich. Moore und Wälder. Ich führe sie nur hin. Außerdem ist er nur für vorübergehend.“
Das war eine irrsinnige Diskussion, das war ihnen beiden klar. Langsam schloss er die Tür und sie sah ihm dabei zu. „Wieso hast du dich bei meinen Nachbarn nach mir erkundigt?“, fragte sie schroff. „Jetzt bist du ihnen suspekt. Das war unnötig. Und töricht. Du hättest meiner Magiespur folgen können.“
Er stimmte ihr zu. „Das hätte ich tun können, ja. Deiner Magie entkommt man nicht. Sie erschlägt einen, kaum hat man einen Fuß über die verdammte Ortsgrenze gesetzt. Sie klebt überall.“ An der Decke drehte sich der Ventilator träge. Er keuchte und erst jetzt erkannte Ruth, dass er schwitzte. „Es ist ziemlich anstrengend.“
„Oh Jaromír.“ Sie verstand. Erbost rief sie: „Wieso lungerst du herum, anstatt mich um Hilfe zu bitten?“
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so ein Problem ist.“
„Cracklewood ist eine verfluchte magische Wüste. Du und dein enormes Ego dachtet wirklich, eine Wüste sei kein Problem?“
„Nicht, wenn du deren Sonne bist.“ Er wurde leiser. „Ich habe unterschätzt, wie sauer du auf mich bist.“
Sauer war sie tatsächlich, sauer wie ranzige Butter, das musste sie zugeben, doch nicht sauer genug, um ihn leiden zu lassen. Dafür war zu viel geschehen und zu viel verpufft seit seinem Verrat. Seit ihnen beiden. Da waren Freundschaften gewesen und Zusammenhalt und Trauer. Bücher und Häkelabende und Straßenfeste. Renovierungen und Neueröffnungen. Ein Katzenjunges aus dem lokalen Tierheim. Vereins-und Gemeinderatskollegen. Und Simon. Da war Simon gewesen.
„Komm her“, forderte sie Jaromír schließlich auf. „Das kann so nicht bleiben.“
Das fand er offenbar auch, denn er gehorchte. Er trug keine Schuhe, weshalb er trotz seiner Müdigkeit leichtfüßig war. Er machte einen federnden Schritt und noch einen und stand dann direkt vor ihr. Sie sah zu ihm hoch und hatte sich noch nicht wieder an diese Ansicht gewöhnt. Er könnte überall sein, doch er war hier. Sie hatte ihn so oft gebeten und nun war er da. Nach über zwei Jahrhunderten.
Ruth griff in ihren Beutel und streckte dann die Hand aus. Sie berührte sein Schlüsselbein - seine Haut, die sich darüber spannte, war warm unter ihren Fingerspitzen. Seit Atem ging schnell. Sein Adamsapfel hüpfte. Lange hatte sie keine andere Magie mehr gespürt. Ruth hatte deshalb keine Probleme, sie zu entdecken, auch wenn sie sich in sein tiefstes Innerstes zurückgezogen hatte, ganz zusammengesunken.
Sie konzentrierte sich auf dieses bisschen. Und stieß zu.
Sie schob. Drückte ihre eigene Magie in ihn hinein und füllte so aus, was er selbst aktuell nicht ausfüllen konnte. Sie hörte ihn japsen. Die Münze, nun unbrauchbar, landete hinter ihm auf einem Beistelltischchen.
Jaromír stolperte vorwärts und zog an der Verbindung, dieser Starthilfe, die Ruth zwischen ihnen kreiert hatte. „So hatte ich mir das gedacht. Geteilte Energie!“, hauchte er. „Danke.“
„Gewöhn dich nicht dran. Sobald wir weg sind, wird das gekappt. Ich brauche meine Kraft für andere Dinge.“
„Andere Dinge, so so.“ Er grinste wieder und fast bereute sie es, ihm geholfen zu haben. Er ließ sich zurück auf das Bett sinken und schlug die Beine übereinander. Seine nur halblange Hose rutschte dabei hoch und legte mehr schweißnasse Haut frei, als Ruth heute hatte zu Gesicht kriegen wollen. Er trug ein Blau, das zu der dunklen Umgebung passte. Noch leicht keuchend klopfte er neben sich. „Setz dich, Ruthie“, sagte er. „Wir haben einiges zu besprechen.“
Eine Einladung, ganz klar. Die würde er bereuen. Hatte er etwa nicht gesehen, dass sie zuvor zwei Münzen hervorgeholt hatte?
Sie ignorierte deshalb den ihr angebotenen Platz - und stürzte sich stattdessen auf ihn. Überwältigt hatte sie ihn schnell und mit ihren Knien auf seinen Armen blieb sie sitzen. Er wollte also reden? Dann würden sie reden. „Ich dachte, dir geht es um die Golems“, knurrte sie.
Er wandte sich unter ihrem Zauber. „Tut es auch.“
„Wieso stolzierst du dann wie ein Gockel durch meine Heimat?“
„Du bist mein Mädchen. Ich finde, das darf ruhig jeder wissen.“ Sie drückte ihn noch etwas fester in die Matratze. Er kreischte. „Aufhören!“
Das tat sie nicht. Stattdessen wartete sie, auf eine Erklärung, auf ein Geständnis. „Ich liege gerade inmitten deines neuen Lebens, Ruth“, sagte er.
„Bitte was?“
Eine Kopfbewegung und Ruth verstand, dass er die Papiere meinte. „Du hast eine neue Geburtsurkunde samt Sozialversicherungsnummer. Einen neuen Personalausweis, einen neuen Reisepass. Ein Bankkonto. Eine Krankenversicherung. Schulzeugnisse. Ich habe mich um alles gekümmert. Du musst nur mit mir mitkommen.“ Er wehrte sich nun nicht mehr. Sah sie abschätzend an. „Das ist keine große Sache. Du weißt doch, wie das geht. Das wievielte Mal wäre es?“
„Erst das vierte.“
„Und wie ist es sonst ablaufen? Wie hast du’s getan?“
„Einmal bin ich angeblich umgezogen, das war noch vor der Erfindung des Telefons. Da ging das noch.“
„Und danach hast du deinen Tod vorgetäuscht?“, schlussfolgerte Jaromír richtig und Ruth nickte. Weshalb interessierte ihn das plötzlich? Worauf wollte er hinaus? „Und die Leichen?“
„Der Ort ist umgeben von Rübenfeldern. Ich habe mir einen kleinen Teil der Ernte geborgt und ihn verhext, mit einem Illusionszauber.“
„Kannst du froh sein, dass sie nicht auf eine Obduktion bestanden haben. Aber dann ist uns zumindest beiden klar, was passieren muss. Ruth, diese Ruth, muss verschwinden.“ Er versuchte, sich aufzusetzen. „Womöglich hat ihr Verschwinden etwas mit diesem mysteriösen Unbekannten zu tun, der Tage zuvor aufgetaucht ist.“
Sie krabbelte rückwärts, fast bis zu der Bettkante. Schlug er gerade tatsächlich vor, was sie glaubte, dass er vorschlug? Bot er ihr nicht nur einen Ausweg an, sondern gleich das benötigte Fluchtfahrzeug? Hatte er sogar vor, dieses zu fahren? Mit quietschenden Reifen und schmelzendem Gummi? „Du willst eine Fährte legen“, hauchte sie. Blinzelte. „Du wolltest verdächtig wirken.“
Er lächelte wieder und dieses Mal erkannte Ruth das eindeutige Komplizenlächeln. Sie sollte endlich, endlich aufhören, ihn zu unterschätzen. Der Schreck, der saß tief. Sie schälte sich aus ihrem Mantel, denn plötzlich wurde auch ihr enorm heiß.
Jaromír, weiterhin auf dem Rücken liegend, war das egal. Gelassen fuhr er fort. „Ich habe ein passendes Ehepaar ausfindig machen können. Sie Amerikanerin, er Tscheche. Sie haben sich kennengelernt, nachdem der eiserne Vorhang gelüftet wurde. Sie waren kinderlos. Dank mir sind sie es nun nicht mehr. Du bist jetzt ihre Tochter.“
Ruth schluckte und tastete nach der falschen Geburtsurkunde. „Was sind das für Leute?“, wollte sie wissen.
Jaromír zuckte mit den Schultern. „Tot“, sagte er. Natürlich: Da machte sie schon Veränderungen durch und dennoch blieb alles, wie es war. Sie war verwaist. Elternlos. Mutterseelenallein. War es tatsächlich so schwer, jemand Lebendigen zu finden? Jemanden, den man einweihen konnte und der sie trotzdem aufnehmen würde? Jemanden, der sie zu Nachmittagskaffee einladen würde, zu brösligem Kuchen auf kleinen Tellern mit welligem Rand und abgewaschenem Blumenmuster? Der sie morgens anrufen würde, nur um kurz zu plaudern? Der ein Schnappschuss von ihr an die Wand hängen würde, selbst wenn es einer von der verwackelten, überbelichteten Sorte sein sollte?
Sie hatte es nie geschafft, die Gräber ihrer echten Eltern ausfindig zu machen. Ihr blieb es nur zu hoffen, dass sie ihren Frieden gefunden hatten, irgendwo. Irgendwie.
Sie zitterte und es war ihr so kaum möglich, das Dokument in ihren Händen zu lesen. Jaromír hatte das bemerkt. Schließlich schob er ein Bild davor. „Sie hatten ein Haus auf dem Land. Du hast es geerbt. Natürlich muss man etwas Arbeit reinstecken, aber…es gehört nun dir“, sagte er sanft. Er deutete auf die absplitternden Fensterläden, die Gänseblümchen und den Löwenzahn und die Butterblumen auf dem Rasen, den zugeklappten Sonnenschirm und die ausgeblichenen Gartenmöbel. Es gehörte ihr. All das gehörte ihr. Und war gestohlen. „Wenn in der Hauptstadt wieder Ruhe eingekehrt ist, können wir die Wochenenden dort verbringen. Was hältst du davon, Ruthie?“
Er kam wieder näher und näher, rieb sich die geschundenen Arme und ließ Gelenke krachen. Er roch nach schwarzem Kaffee und Unausgeschlafenheit. Sie antwortete nicht, deshalb versuchte er es mit einer weiteren Frage. „Was soll eigentlich die dreckige Brille?“, wollte er wissen.
„Findest du sie nicht gut?“
„Doch, sicher. Ist nur ungewohnt.“
„Es kann nun mal nicht alles so bleiben, wie es mal war.“ Ihre Stimme war rau, kratzend wie das Grammophon, zu dessen Musik sie einst getanzt hatten.
„Nicht alles, da hast du recht. Aber manche Dinge, die ändern sich nie. Die sind für die Ewigkeit.“ Woher nahm er diese Selbstverständlichkeit? Selbst sein Haar war anders, noch immer ungezähmt, aber kürzer als sie es in Erinnerung hatte. Früher, da hatte er es sich mit einem dünnen, schwarzen Samtband zusammengebunden. Wieso fiel ihr das auf? Und wieso war es ihr so wichtig, was er von ihrem Äußeren hielt? Vorsichtig betastete Ruth ihr Gestell mit den Brillengläsern, die noch voll waren von klebrigen Teigresten. Schließlich nahm sie es ab.
„Morgen gegen Nachmittag geht unser Flieger. Wir nehmen einen Direktflug, das ist angenehmer. Ich muss nur noch dafür sorgen, dass dein kratzbürstiger Kater auch angemeldet ist - so wie ich dich einschätze, möchtest du den nämlich mitnehmen, nicht wahr?“ Er plapperte und plauderte weiter, sprach von Dingen, die er ihr zeigen wolle, von seiner Wohnung und seiner Elektronik und seiner Sauna und seinem beheizten Whirlpool, während sie an die Gräber hinter ihrem Häuschen dachte und an die Seele der Kleinstadt, die er manipuliert, aber nie wirklich verstanden hatte.
Genauso wenig, wie er sie damals verstanden hatte. Und genauso wenig, wie er sie in diesem Moment verstand. „Das interessiert dich alles herzlich wenig, nicht wahr?“, murmelte er. „Du kommst aber trotzdem mit, oder?“
„Natürlich komme ich mit.“ Über ihre Verbindung konnte sie Jaromírs Erleichterung spüren. Langsam, ganz langsam, normalisierte sich sein Puls und er gewöhnte sich an die Umgebung und an die wenige Magie an diesem magischen Platz. Entschlossen griff Ruth nach ihrer übergroßen Packung Lakritz. Sie atmete tief ein.
„Aber nicht allein.“
Die meisten Menschen brachten Blumen mit auf den Friedhof, Kerzen und Erinnerungsstücke, laminierte Fotos oder Rosenkränze. Ruth hingegen brachte eine Thermoskanne. Eine leere Thermoskanne, wohlgemerkt. Was schade war, denn der Abend war trüb und trostlos und hätte sicher etwas Tee vertragen können.
Ruth saß auf einer Bank im Schatten einer Trauerweide und wartete. Die langen, nackten Zweige des Baumes schwangen vor ihr hin und her, verdeckten jedoch kaum das Mausoleum. Es war alt, das Schloss entsprechend rostig, nur die Namensplakette ganz außen war noch fleckenlos. Jemand hatte sie vor Kurzem poliert und war ihr damit zuvorgekommen. Erst ein Jahr war seit seinem Todestag vergangen, alles war noch frisch, der Aktionismus entsprechend groß.
Ruth lauschte dem Wind und den Gemeindearbeitern, die in schreiend orangenen Jacken durch das Unkraut stapften, an den Weißdornbüschen vorbei, und den letzten Müll zusammenkehrten. Das gusseiserne Tor des Friedhofs quietschte, als auch sie endlich verschwanden und Ruth aufspringen und sich an die Arbeit machen konnte. Kurz sah sie hin, während sie sich die Hände rieb - das Metall bildete Alpha und Omega, umgeben von Rosen.
Die Erde war zu fest, um das Zeichen in den Boden zu ritzen. Nach vier Versuchen gab sie auf. Sie musste sich anders behelfen.
Ruth stellte deshalb ihre Kanne ab und ging gebückt die geschlängelten Wege zwischen den Gräbern entlang. Sobald sie einen geeigneten Kieselstein fand, pustete sie diesen ab und steckte ihn in die Tasche ihres Schürzenkleides. Und obwohl diese voller und voller wurde, wurde Ruth immer nervöser. Es ging ihr nicht schnell genug. Das Klackern der Steine klang wie Knochenklappern. Sie wollte ihn zurückholen. Wollte ihn sprechen, musste ihn sprechen, und sich selbst beweisen, dass sie sich ihn nicht eingebildet hatte.
Das Pentagramm war bereits fertig, was noch fehlte, waren die Münzen und die Süßwaren an den Spitzen (die waren schnell platziert), und ein Kreis aus Erde (der war, mit einer Handvoll, schnell gezogen). Sie hob ihre schmutzigen Hände, sprach die Beschwörungsformel und webte seinen Namen in den Zauber. Wie ein Goldfaden war dieser nun. Zu ihren Füßen schmolz die Lakritze. In der Nähe schrie ein Kauz, ansonsten waren nur Ruths Befehle zu hören: Löse dich. Kehre zurück.
Ihre Heimat hatte schon viele Geschöpfe beherbergt, hatte viele Seelen berührt. Ruth hatte deshalb die Auswahl und musste sich anstrengen, um nicht versehentlich den falschen Geist heraufzubeschwören. Wie viele Marchbanks wohl bereits über diesen Boden gewandelt waren?
Angestrengt kniff Ruth die Augen zusammen. Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen und jedem klar zu machen, dass sie nur Interesse an diesem speziellen Teil des Jenseits hatte. Sie konzentrierte sich auf ihre jüngsten Erinnerungen an ihn und rief sich dann ihre erste Begegnung ins Gedächtnis. Wenn sie doch nur geahnt hätte, was passieren sollte! Ihr Haar war voller Staub gewesen. Ob sie nun ein schöneres Bild abgab?
Sie hatte damals begonnen, den Laden zu bestücken. Die ersten Reinigungszauber hatte sie schon hinter sich gebracht, Böden und Wände und Treppen auf Vordermann gebracht. Nur sich selbst hatte sie an diesem Tag vergessen.
Sie war gerade von der Post gekommen, hatte ihre erste Lieferung in den Armen und ihren Schlüssel bereits in der Hand gehabt, als sie eine Gestalt auf ihren Eingangsstufen entdeckte, deren Gesicht von einer Kapuze verdeckt gewesen war.
Wie hatte sich gefragt, wie sie nun reagieren sollte. Mit einem Fluch oder einem Hilfezauber? Hilfe oder Verderben? Es war ein kleiner Dezembermorgen gewesen, zum Erfrieren kalt, und der Winter hatte sich über Cracklewood gelegt. Die gesamte Hauptstraße war schneebedeckt gewesen, das Kopfsteinpflaster nicht mehr auszumachen, und an den Regenrinnen hatten die Eiszapfen geglitzert. Spontane-Waffen-scharf.
„Hallo?“ Ruth hatte das Paket abgestellt und nach ihrem Besen gegriffen. Mit dem Stiel und dem resultierenden Sicherheitsabstand hatte sie den Fremden angestupst. War er betrunken gewesen? Verletzt? Tot gar? „Kann man dir helfen?“
Erleichtert hatte sie beobachtet, wie er sich die Augen rieb und die Kapuze nach hinten schob. Und sogar das folgende entsetzte Aufspringen hatte sie ihm verziehen, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, gar nicht wahrgenommen. Seine Haut war blass gewesen und seine Augenringe furchtbar tief. Doch der Rest? Der war überraschend entzückend gewesen. (Natürlich hatte Ruth ihren treuen Hexenbesen dennoch nicht losgelassen. Auch entzückende Personen neigten dazu, jemanden in den Rücken zu fallen.)
Seine Locken hatten neben dem vielen Weiß um sie herum noch dunkler gewirkt.
Erinnere dich daran, murmelte Ruth, höchstkonzentriert. An seine Locken. Seine Locken waren dunkel.
Er hatte eine Jeans getragen und schwere Winterschuhe, farblich hatte nichts zusammengepasst, mustertechnisch auch nicht. „Was soll das?“ Er hatte sich beschwert und sich die Seite gerieben. „Das tat weh!“
„Na, das will ich doch hoffen! Wer herumlungert, wird weggekehrt.“
„Ich lungere nicht!“
„Nein? Was tust du sonst?“
„Ich warte auf den Bus. Muss zum College.“ Eine kurze Pause. „Und ich weiß wirklich nicht, warum ich dir das erzähle.“
Ruth hatte skeptisch über ihre Schulter geblickt. „Die Bushaltestelle ist da hinten“, hatte sie gesagt,
„Ja, ich weiß.“ Er hatte sich die Nasenwurzel massiert. „Aber die Sitzplätze waren alle besetzt. Ich wollte nur eine kurze Pause einlegen und muss eingeschlafen sein. Die Nacht war lang.“
Also war er doch ein Trunkenbold! Ruth hatte den Besen gehoben, um ihn beim Randalieren zu hindern, und der Fremde daraufhin abwehrend seine Hände. „Nicht in diesem Sinne lang!“, hatte er gerufen. Seit Atem waren zu wolligen Wölkchen geworden, die ihr entgegen geflattert waren. „Meine Prüfungen stehen an, dafür muss ich ziemlich büffeln. Und die Laborberichte schreiben sich leider auch nicht von allein und bald ist Abgabe. Vor dem Howell-Haus störe ich doch niemanden.“
„Du störst mich.“
„Das tut mir ehrlich leid.“ Er hatte gegähnt und dieses Gähnen hatte fast die Scham in seinem Gesicht verschluckt. Schließlich hatte er, mit dämmerungsrosafarbenen Ohren, nach einem Rucksack neben sich gegriffen. Erinnere dich. Erinnere dich daran. „Ich verschwinde ja schon. Mein Bus kommt ohnehin in wenigen Minuten.“
Tatsächlich? Die Kirchenglocken hatten zur vollen Stunde geschlagen und Ruth hatte mit dem Kopf geschüttelt. „Eher in zwei Stunden.“
„Das ist nicht dein Ernst! Ich habe doch nicht etwa den Morgenbus verpasst?“
„Ich befürchte doch.“
Alarmiert war er die Treppenstufen heruntergesprungen, was den Pulverschnee aufgewirbelt hatte. „Dann ist meine Lerngruppe auch schon weg!“
Ein Fluchen, leise, erschöpft und wie in Kleinbuchstaben, und Ruth hatte beschlossen, dass es an der Zeit gewesen war, ihren ersten Gast einzuladen. Ihr Vorgarten war zu dieser Jahreszeit und frostverdorrt wirklich kein Ort zum Verweilen gewesen. „Möchtest du mit reinkommen?“, hatte sie ihn - nun nett - gefragt.
„Was?“ Er hatte gestockt. „Wofür? Was wird das? Eine Mutprobe?“
„Eher eine Kanne Tee. Du solltest dich dringend aufwärmen.“
„Tee?“, hatte er wiederholt. „Im Howell-Haus? Sicher nicht. Du wirst da drin nur Motten finden. Es steht so lange ich denken kann leer.“
„Tut es nicht.“ Sie hatte die Schlüssel in ihren Händen klimpern lassen. „Nicht mehr. Ich habe es gekauft.“
„Hast du?“ Zitternd hatte er zu ihren trüben Fenstern emporgesehen und sie hatte die Tür geöffnet. Sich. Ihm. „Wieso das denn?“
„Ich möchte eine Buchhandlung eröffnen.“
„Wir haben hier noch keine“, hatte er gesagt. „Ist mir aufgefallen. Das müssen wir ändern.“
Viel hatte sich noch nicht in dem großen Raum befunden. Nur leere Regale, noch verschlossene Umzugskartons, eine alte Waschmaschine und eine Heizung, die vor sich hingeblubbert hatte. In der Ecke waren noch die vergilbten Zeitungsseiten gelegen, mit denen sie Jahrzehnte zuvor die Fenster abgeklebt hatte. (Die kaum mehr entzifferbaren Nachrichten? Ein gewisser Kennedy war zum fünfunddreißigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden.) Ruth hatte sie hastig zusammengeknüllt und dann begonnen, ihren Wasserkocher zu suchen.
„Ich habe leider keinen losen Tee da. Du musst mit Beuteln vorlieb nehmen“, hatte sie dem Fremden zugerufen. „Ich hoffe, du magst Pfefferminze.“
