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Beschreibung

Sechs Moorleichen und ein über Jahrzehnte gehütetes Geheimnis …
Der spannende erste Fall für das Cold Case Ermittlerduo Montag und Effi Lu

Lukas Bauer findet im „Toten Moor“ am Steinhuder Meer zwei vor Jahrzehnten versenkte Autos – mit fünf Leichen darin. Kurz darauf muss er selbst mit seinem Leben bezahlen. Und eins steht fest: Unfälle waren das nicht. Die Kofferräume sind voller Steine und die Fahrersitze leer. Kriminalhauptkommissar Montag, Spitzname Monday, und Effi Lu, die einzigen Mitglieder der Cold Case Unit Niedersachsen nehmen sich dem Fall an. Doch sie müssen schnell feststellen, dass der Mörder noch heute über Leichen geht, um sein Geheimnis zu schützen …

Erste Leser:innenstimmen
„Hochspannend und atmosphärisch erzählt, große Empfehlung für Krimi-Fans!“
„Monday und Effi sind sympathische sowie authentische Ermittler, die man sehr gerne beim Lösen des geheimnisvollen Falls begleitet.“
„Liest sich schnell und flüssig weg, da der Schreibstil angenehm und die Handlung durchgehend fesselnd ist!“
„Spannender Kriminalroman mit unvorhergesehenen Wendungen.“

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Seitenzahl: 345

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Über dieses E-Book

Lukas Bauer findet im „Toten Moor“ am Steinhuder Meer zwei vor Jahrzehnten versenkte Autos – mit fünf Leichen darin. Kurz darauf muss er selbst mit seinem Leben bezahlen. Und eins steht fest: Unfälle waren das nicht. Die Kofferräume sind voller Steine und die Fahrersitze leer. Kriminalhauptkommissar Montag, Spitzname Monday, und Effi Lu, die einzigen Mitglieder der Cold Case Unit Niedersachsen nehmen sich dem Fall an. Doch sie müssen schnell feststellen, dass der Mörder noch heute über Leichen geht, um sein Geheimnis zu schützen …

Impressum

Erstausgabe November 2022

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-627-7 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-980-3 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-625-3

Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © oraziopuccio, © Michael Lektorat: Birgit Förster

E-Book-Version 05.07.2023, 10:10:40.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Moorgrab

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Moorgrab
Eva-Maria Silber
ISBN: 978-3-98637-625-3

Sechs Moorleichen und ein über Jahrzehnte gehütetes Geheimnis …Der spannende erste Fall für das Cold Case Ermittlerduo Montag und Effi Lu

Das Hörbuch wird gesprochen von Urs Remond.
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Kapitel 1

Der Notruf ging um 15.36 Uhr am Sonntag, dem 9. August 2020, ein, wie später im Einsatzleitrechner der „Hanno”, der neuen Einsatzleitstelle in der Waterloostraße in Hannover, stand. Die Stimme des älteren Mannes war kaum zu verstehen. Doch ihr Klang, das Hecheln und die Stimmlage deuteten auf nichts Gutes, wie der leitende Beamte vom Dienst Gottlieb Franke, seines Zeichens Kommissar vom Lagedienst, an diesem Hochofensommertag erkannte. Er schob seit zwanzig Jahren Dienst in der Einsatzleitstelle. Früher war er Streifenpolizist gewesen. Es half bei der Einschätzung eines Notrufes, wenn man den Job auf der Straße gemacht hatte. Noch nie hatte er sich bei der Beurteilung der Brisanz eines Notrufes geirrt.

Auf seinem Bildschirm erschien die Straßenkarte. Auch wenn er den Einsatzort noch nicht kannte, so konnte er zumindest den nächsten Funkmast in der Nähe des Anrufers orten. Es lebe die Zeit des Mobilfunks. Dieser kam aus der Nähe von Mardorf am Steinhuder Meer.

„Sind Sie in Gefahr? Soll ich einen Rettungswagen schicken?“, fragte Franke.

„Nein … Gassi … Hand … tot …“

Schlecht, ganz schlecht, dachte Franke. Er spürte es in allen Gliedern, mit allen Sinnen, obwohl er nur die Stimme des Anrufers im Ohr hatte. 

„Wo genau sind Sie?“, fragte er nochmals. Seine erste Frage danach war unbeantwortet geblieben. Ob das an der schlechten Verbindung lag oder an der Aufregung des Anrufers, wusste er nicht.

„Totes … Wasser …“

Franke starrte konzentriert auf den Bildschirm. Der Mann schien sich nordöstlich vom Steinhuder Meer zu befinden, zwischen Mardorf und Schneeren. An der Straße zwischen den Orten lag ein See. Meinte er den mit „Totes Wasser”? Oder meinte er damit das Moor, Brackwasser? Schließlich lag Mardorf am Rande des Toten Moors. Er vergrößerte die Karte auf seinem Bildschirm. Am Moorweg entdeckte er ein paar kleinere Tümpel. Auch möglich. Oder befand sich der Anrufer direkt am Steinhuder Meer? Eher nicht, seinem Gefühl nach. Dann wäre bestimmt das Wort „Meer” gefallen. Das war in der Gegend einmalig, jeder würde es zur Lagebeschreibung verwenden. Oder auch nicht, wie sich Franke eingestehen musste.

„Sind Sie an einem See oder Tümpel oder am Steinhuder Meer direkt?“

Vielleicht konnte er doch noch ein paar genauere Infos aus dem Mann herausholen.

„Mo…“

Das klang weder nach See noch nach Tümpel oder Meer. Sondern nach Moor. Also befand er sich doch wohl eher im Moor östlich von Mardorf.

„Bleiben Sie ganz ruhig, ich schicke gleich eine Streife vorbei.“

Wieder schaute er auf die Karte. Irgendwo zwischen Mardorf und Neustadt am Rübenberge musste der Anrufer stecken. Dort gab es jede Menge Entwässerungskanäle und Moortümpel.

Herbert und Effi Lu, die Neue, frisch verbeamtet, vom Polizeistützpunkt Neustadt-Mardorf waren in der Nähe. Nur im Hochsommer und zur Hauptsaison war eine Streifenbesatzung vor Ort im Stützpunkt an der weißen Düne stationiert. Na, da würde es hinterher wieder eine nach Kotze stinkende Uniform geben. Auch dafür hatte er meistens den richtigen Riecher.

Er gab den Einsatzbefehl im Computer ein, sodass die beiden auf dem Display im Streifenwagen alles über ihren Einsatz lesen konnten. Wie erwartet kam bei den dürftigen Angaben zum Einsatzort gleich die Nachfrage per Funk.

Doch er konnte ihnen auch nicht mehr sagen.

Eine Viertelstunde hatten sie gebraucht, bis sie den wild winkenden älteren Mann mit pummeliger, ebenfalls älterer Frau an der Hand und Hund an der Leine neben einem Wasserloch an der Rote-Kreuz-Straße entdeckten. Nicht am Schneerener See und auch nicht im Toten Moor, sondern am Ortsrand von Mardorf.

Die Frau hatte den Kopf an die Schulter des Mannes gelehnt, schien zu vibrieren. Dadurch wirkte ihr Anblick verschwommen. Nur ihre für eine Frau in den Sechzigern erstaunlich kurze Shorts stach grellbunt und glasklar heraus. Blümchenmuster. Offenbar der Versuch, dem vermasselten Sommerurlaub am Steinhuder Meer statt auf dem Ballermann ein wenig südländisches Flair zu verleihen.

Effi Lu war aufgeregt. Endlich klang ein Einsatz spannend. Kein entlaufener Hund, besoffener Anwohner oder Taschendieb. Endlich konnte sie beweisen, was sie draufhatte. Sie wusste, dass die Kollegen sie nicht ernst nahmen. Mit Ach und Krach hatte sie die eins dreiundsechzig Mindestgröße für den Polizeidienst erreicht. Auch die Dicke ihrer Brillengläser war von der Kommission kritisch beäugt worden. Doch eine waschechte Chinesin mit deutscher Staatsbürgerschaft, die fließend Mandarin, Wu, Xiang und Kantonesisch sprach, war bei den wachsenden Touristenzahlen aus China nicht zu verachten. Und sie hatte den Bachelor an der Polizeiakademie als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Nun lechzte sie danach, ihr Können im wahren Leben zu beweisen.

Der Mann hechelte, als er, mit zitternder Stimme und ausgestrecktem Zeigefinger auf einen kleinen Tümpel, vielleicht fünfzig Meter entfernt, deutend, etwas von einer Hand erzählte. Einer Hand. Nur Hand? Nur eine? Im Tümpel? Effi Lu schluckte. Egal, was sie gleich zu sehen bekommen würde, ihr durfte nicht übel werden. Sie würde sich nicht übergeben. Auf gar keinen Fall. Herbert wartete nur darauf, dass sie eine Schwäche zeigte. Dass sie versagte. Er hatte ein Riesentheater veranstaltet, als sie ihm als Besatzung für den Stützpunkt den ganzen Sommer über zugewiesen worden war. Hatte sich lustig über sie gemacht und war selbst von den Kollegen als Kindermädchen gehänselt worden. Was er ihr persönlich übel nahm. Das ließ er sie spüren. Die ganzen zwei Wochen schon, die sie gemeinsam Dienst schoben.

Auch heute hatte er noch kein Wort mit ihr gewechselt, und als sie am Kiosk am Steinhuder Meer ihren Pausenstopp eingelegt hatten, hatte er sie allein stehen lassen. Damit würde Effi klarkommen, sie hatte schon Schlimmeres erlebt. Aber wenn etwas schier unbegrenzt war, dann ihre Geduld. Zudem hatte sie eine harte Schale. Die ihr niemand, der sie so sah, zutraute. Sie würde es ihm schon noch zeigen. Der Moment würde kommen, und sie würde ihn nutzen.

Wie es aussah, war es jetzt so weit. Die erste echte Leiche in ihrem Berufsleben. Nein, im ganzen Leben. Also wenn man von Großmutter Li absah. Aber die war friedlich im Bett eingeschlafen.

Herbert, der sie wie immer ignorierte, wenn er sie nicht gerade belehrte, beruhigte den Mann und wies ihn an, an Ort und Stelle zu bleiben, bis sie zurückkämen. Das würde er tun. Er war so einer, der jeder Anweisung der Polizei Folge leistete. Mit seinen knielangen Piratenhosen, dem am Bauch zu engen Polohemd und der orangefarbenen Basecap stellte er den Prototyp des deutschen Urlaubers dar, fand Effi Lu. Davon hatte sie sich in den beiden Wochen am Meer, das keins war, überzeugen können.

Nebeneinander gingen sie in die gewiesene Richtung über die Wiesenkämpe zu dem Tümpel, der mehr einem Morast glich: Schwarzes Wasser verdichtete sich am Ufer zu Schlamm. Der Teich war nicht groß, aber rundum stark bewachsen. Weiden neigten ihre Kronen weit über das Wasser, und Wasserlilien hatten sich am Rand des Gewässers ausgebreitet. Zwischen der Straße und dem Ufer wucherten Brennnesseln. Über einen Meter hoch. Die Luft vibrierte vom Summen der unzähligen Stechmücken, die sich auf den stark schwitzenden Herbert stürzten. Der schlug wild um sich, konnte aber nicht verhindern, dass drei auf seinem Nacken saßen. Effi würde ihn nicht warnen.

Hinter sich hörten sie den Mann „Weiter, weiter“ rufen. Also gingen sie an der Seite entlang, bis sie eine freigetrampelte Stelle entdeckten, an der sie bis zum Ufer gelangen konnten. Ein Warnschild wies darauf hin, dass das Betreten der Wasserfläche lebensgefährlich sei. Effi Lu unterdrückte ein Schmunzeln. Zu gerne würde sie das Schild mit ihrem Handy fotografieren und auf Instagram posten.

Effi Lu schaute zurück zu dem Mann, der heftig nickte. Sie stolperte hinter Herbert her, der das Ufer bereits erreicht hatte und aufstöhnte, sich abwandte und übergab. Das würde Effi Lu nicht passieren. Sie schob ihren Kollegen beiseite und trat an den Rand des Morastes. Da entdeckte sie sie: eine Hand, die aus dem schwarzen Moorwasser gen Himmel ragte – mit einer schwarzen Kugel in der Größe eines Tennisballs darin.

Effi Lu würde sich nicht übergeben. Nein, sie nicht!

Effi Lu hatte sich tapfer in den Schlick gestürzt. Schließlich könnte der Mensch, zu dem die Hand gehörte, trotz allem noch leben. Doch sie kam nicht weit. Der Schlick setzte sie fest, Herbert musste sie herausziehen. Die Hand hatte sie gar nicht erst erreicht. Das Schild war doch nicht so absurd, wie Effi Lu geglaubt hatte. Sie würde es nicht posten.

Auch ihre herbeigeeilten Kollegen vom Polizeikommissariat Neustadt schafften es nicht, bis zu der Hand zu gelangen. Sie mussten die freiwillige Feuerwehr Mardorf zu Hilfe rufen. Sie selbst hatte mit ihren schwarz eingefärbten Beinen ein müdes Lächeln bei den Kollegen hervorgerufen, das Hemd von Herbert erstaunte Blicke. Bei ihr waren nur die Beine verdreckt. Darauf war sie stolz!

Mühsam hatten zwei Feuerwehrleute mithilfe eines Schlauchbootes die Leiche erreicht und ins Boot hineingezogen. Der Albtraum jeder Spurensicherung. Zusammengekrümmt mit ausgestrecktem Arm ähnelte der Tote mehr einer in absurder Haltung erstarrten dunkelhäutigen Schaufensterpuppe als einem Menschen, so ebenmäßig schwarz, wie der Morast ihn freigegeben hatte.

Zurück auf festem Boden erkannten sie sofort, dass sie die große Besetzung rufen mussten. Der Hinterkopf der Leiche war weggesprengt.

Während Herbert, inzwischen trotz der unerträglichen Hitze mit Uniformjacke über dem vollgekotzten Hemd, sich schon einmal das Paar, das sich aus Neugier näher herangetraut hatte, vornahm und die Kollegen aus Neustadt den See weiträumig absperrten, war Effi Lu von dem Ball in der Hand des Toten fasziniert. Er war erstaunlich sauber geblieben. Seine glatte, matte Oberfläche hatte eine orange Rille um seinen Äquator und war weiß beschriftet. Also kein gewöhnlicher Ball. Aber was dann? Auch wenn sie es besser wusste, konnte sie sich nicht bremsen. Herbert war abgelenkt, die Kollegen auf der anderen Seite des Sees außer Sichtweite. Also ging sie ganz dicht ran an das Teil. Beäugte es von allen Seiten.

Und dann fiel der Groschen. So etwas hatte sie schon einmal in irgendeiner Netflix-Serie gesehen: Es handelte sich um ein Sonargerät zum Angeln.

Jetzt wird es spannend, dachte Effi Lu. Ein vorsichtiger Blick zu Herbert zeigte ihr, dass er noch immer abgelenkt war. Da sie ohnehin stets ihre Chirurgenplastikhandschuhe trug, war ihr schlechtes Gewissen eher formal, als sie das Gerät aus der Hand des Toten nahm und es begutachtete. An ihm war noch der Rest eines Nylonfadens befestigt. Damit konnte man das Sonar an der Angel anbinden und weit über dem See nach Fischen suchen, erinnerte sie sich. Doch wo war die Angel? Und wo die Fische? In diesem schwarzen, toten Gewässer würden die wohl kaum einen Tag überleben. Also wonach hatte der Tote dann mit dem Sonar in dem Tümpel gesucht?

Sie sah sich um, bis sie einen langen Holzstock in den Schwertlilien entdeckte. Gerade etwas außerhalb ihrer Reichweite. Aber was machte das noch aus? Ihre Schuhe und Hose waren ohnehin ruiniert. Sie setzte sich auf ihren Po und ließ die Beine vorsichtig in den Wasserschlick gleiten. Einen halben Meter vom sicheren Ufer entfernt, hatte sie noch festen Boden unter den Füßen. Vorsichtig streckte sie sich nach der Rute, an deren dickem Ende ein rechteckiger Gegenstand befestigt war, und zog die Konstruktion zu sich heran und mit sich ans Ufer.

Das Display des mit Panzerklebeband an den Stock getapten Handys war noch eingeschaltet, aber im Energiesparmodus. Effi Lu aktivierte den Bildschirm und scrollte sich durch das Menü, bis sie die Aufnahmen fand, die der Mann vor seinem Tod von dem Tümpelgrund gemacht haben musste.

Und erstarrte, als sie darauf ein großes, scharf abgegrenztes Rechteck entdeckte.

Kapitel 2

Kriminalhauptkommissar Montag hatte sich wie verrückt auf den Urlaub gefreut. In drei Tagen sollte es losgehen nach Florida, in die Everglades und zum Baden nach Key West. Tropische Nächte mit eiskalten Longdrinks an einer Bar unter Palmen, die im Bett neben Svetlana enden sollten. So weit der Plan. Lange hatte er dafür gespart. Zum Hochzeitstag hatte er sie damit überrascht. Und nun das.

Da hatte er endlich im dritten Versuch die Frau seines Lebens gefunden, mit der er es bisher sage und schreibe fünfzehn Jahre ausgehalten hatte, ein Rekord. Die erste Ehe endete, weil er fremdgegangen war, die zweite endete, weil er fremdgegangen war. Mit dieser Frau hatte er alt werden wollen. Doch sie war nicht da. Nicht zu Hause, wo sie eigentlich sein sollte. Es war weit nach Mitternacht, und er hatte sie im Bett vermutet.

Er hätte ihr Fehlen nicht einmal bemerkt, wäre er nicht mitten im Dienst umgekippt. Einfach so. Erst hatte es in seiner Brust gebrannt, dann war ihm die Luft ausgegangen. Angina Pectoris, wie der Arzt im St.-Josefs-Hospital bescheinigte. Vorstufe zum Herzinfarkt, hatte er gesagt. Nach Hause hatte der ihn geschickt und ihn angewiesen, in den nächsten Tagen einen Kardiologen aufzusuchen. Was Montag natürlich nicht machen würde. Schließlich wollte er in Urlaub fliegen.

Das alles war schlagartig vergessen gewesen, als er statt seiner treusorgenden Gattin eine leere Wohnung vorgefunden hatte. Aufs Sofa vor den Fernseher hatte er sich gefläzt, sich Talkshow um Talkshow reingezogen, bis sie morgens um vier endlich heimgekommen war.

Aufgeregt hatte sie sich, dass er sauer war. Nur weil sie mal mit ein paar Freundinnen ausgegangen war, hatte sie sich empört. Wo er doch so häufig nachts dienstlich unterwegs war. Und sie immer zu Hause auf ihn warten musste.

Er wäre ein schlechter Ermittler, wenn er nicht nachgebohrt hätte. Und das war er nicht. Im Gegenteil. Lange hatte sie nicht standgehalten, bis ihr der erste Hinweis rausgerutscht war, dass auch ein Mann dabei gewesen war. Wer, hatte sie nicht gesagt. Trotz allem Nachbohrens. Obwohl er all seine Techniken angewandt hatte, die er sich im Laufe der Jahre als Kripobeamter angeeignet hatte. Was ihn noch misstrauischer gemacht hatte. Ihr musste es mehr als wichtig sein, dass er nicht herausfand, mit wem sie unterwegs gewesen war.

Erst war er sprachlos, dann fassungslos und zum Schluss nur noch sauer gewesen. Wie hatte er nur übersehen können, dass seine Frau abglitt, wegdriftete aus ihrem schönen, gemeinsamen Leben? Sicher, ihm war aufgefallen, dass sie neuerdings nicht immer auf ihrem Handy erreichbar war. Ihre Erklärungen hatten aber plausibel geklungen. Dass sie nicht mehr so begeistert beim Sex mit ihm war. Er schob es auf die beginnende Menopause. Und überhaupt war er viel zu beschäftigt damit gewesen, das Geld heranzuschaffen, mit dem sie sich kaufen konnte, was immer sie wollte. Und nun das. Nicht einmal erkundigt hatte sie sich, warum er schon zu Hause war. Als er die Reise angesprochen hatte, hatte Svetlana ihn nur mit leerem Blick angesehen.

Am Morgen, als er aus der halben Ohnmacht erwacht war, die ihn sanft hinweggetragen hatte aus diesem Schlamassel, war sie fort gewesen. Ebenso wie ihr Koffer, ihre beste Kleidung und sein Wagen. Na gut, ihr gemeinsamer Wagen. Den er ihr überlassen hatte. Er radelte immer mit seinem Rennrad zur Dienststelle, damit sie mehr Freiheiten hatte.

Das hatte er nun davon. Ein anderer Mann. Dabei war doch er der chronische Fremdgänger gewesen. Zumindest früher. Vor Svetlana. Er war noch immer fassungslos. In aller Ruhe, zu der er sie gar nicht für fähig gehalten hatte, hatte sie ihm erklärt, dass sie Abstand brauche nach dem Drama, das er gerade veranstaltet hatte.

Dass sie das so wörtlich gemeint hatte, hatte er in der Nacht nicht geglaubt. Nun musste er das.

Er zwang sich zur Dienststelle, schließlich musste er als Leiter der Ermittlungsgruppe des zentralen Kriminal- und Ermittlungsdienstes der Polizeiinspektion Osnabrück ein gutes Vorbild sein. Die Kollegen tuschelten bei seiner Ankunft mehr als sonst. Irritiert schaute er sich um. Heimliches Grinsen hinter vorgehaltener Hand, ein Kichern hinter seinem Rücken. Normalerweise schauten die Kollegen kaum hoch, wenn er die Dienststelle betrat. Doch nun war ihr Verhalten anders. Seltsam. Erwartungsfroh.

Ihn traf fast der Schlag, als er sich an seinen Schreibtisch setzte: Vor ihm lagen Fotos, mindestens zehn. Alle zeigten Svetlana mit Harald, seinem muskelbepackten Möchtegern-Schwarzenegger-Kollegen. Eng aneinandergeschmiegt beim Tanz in irgendeiner finsteren Kaschemme. Auf dem Absatz machte er kehrt, stürmte in die Zentrale.

„Wo ist er?“, brüllt er alle an. Das heimliche Kichern wich schallendem Gelächter. Er erblasste, spürte, wie ein Übermaß an Farbe zurück in sein Gesicht strömte. Seine Brust wieder eng wurde und er kurz vor der Schnappatmung stand.

„Wo ist der Drecksack?“, presste er mühsam beherrscht durch seinen fast geschlossenen Mund hervor. Er hatte Angst zu schreien, wenn er ihn weiter aufmachen würde.

Bernd, ein anderer Kollege, wies mit dem Zeigefinger dicht an ihm vorbei. Montag drehte sich um und sah sich dem breit grinsenden Muskelprotz gegenüber, einen halben Kopf größer und dank stundenlangem Training zwar doppelt so breit in den Schultern wie er, doch im Gegensatz zu ihm mit keinem Gramm Fett zu viel.

Natürlich klingelte sein Telefon genau in dem Moment, in dem er sein Büro betrat, das Nokia mit der gedrückten Kurzwahl zum Handy seiner Frau in der Hand. Ein interner Anruf. Gerade war er aus dem Duschraum der Wache gekommen, wo er sich das Blut, das nach dem gezielten Schlag dieses Drecksackes aus seiner Nase getrieft war, abgewischt hatte. Das Blau um sein rechtes Auge hatte er nicht abwaschen können. Ebenso wenig wie die Schmach, dass Harald ihn mit einem einzigen gezielten Schlag ausgeknockt hatte. Und das vor allen Kollegen.

Am Apparat war Petra von Amsfeld, Polizeipräsidentin der Polizeidirektion. „Was ist denn da bei Ihnen los?“, blökte sie ohne Begrüßung ins Telefon.

Die Frage konnte er eindeutig nicht beantworten. Jeder Versuch würde alles noch schlimmer machen. Er wunderte sich nicht, dass sie schon davon wusste. Dabei war die Prügelei keine zehn Minuten her. Solche Geschichten machten schneller die Runde, als er an diesem Morgen denken konnte.

„Haben Sie eine Erklärung dafür, die mir die Möglichkeit gibt, Sie nicht aus dem Dienst zu entfernen, damit Ruhe in die Abteilung einkehrt?“

Hatte er nicht. Ihre Frage und das Warten auf eine Antwort waren ohnehin rein formal. Er war auf Harald losgegangen, gefilmt von mindestens fünf Handys und ganz sicher schon auf Twitter gepostet.

„Gut, dann machen wir das Beste aus diesem Debakel. Wie es der Zufall so will, kam gerade ein Rundfax der KFI 1 Hannover, wo man dringend eine Cold-Cases-Gruppe bilden muss. Es sind Sommerferien, die Dienststellen sind unterbesetzt. Und sechs Leichen auf einen Schlag, zum Großteil uralt, sind kein Pappenstiel. Ich denke, dass Sie schon immer so etwas machen wollten, aus dem Nichts eine besondere Truppe bilden, richtig?“

Er wusste, was er zu antworten hatte. Seine Position hier war unhaltbar geworden. Trotzdem …

„Aber ich habe einen Urlaub gebucht, übermorgen soll es losgehen nach Florida.“

„Kein Aber. Papperlapapp. Stellen Sie sich nicht so an, hier ist es auch heiß, hochofenheiß. Es ist schließlich Hochsommer. Was wollen Sie da in einem noch heißeren Land? In diesen Alligator-verseuchten Sümpfen? Unsinn. Alles andere wird von mir ohnehin nicht akzeptiert. Ich schulde Henner noch was. Fahren Sie nach Hause, packen Sie Ihren Koffer, und los geht’s. Die brauchen wirklich dringend Unterstützung. Die Stornokosten für die Reise übernehmen wir.“

Das hatte den Ausschlag gegeben. Blöderweise hatte er an der Reiserücktrittsversicherung gespart. Was sollte er allein in den Everglades? Ohne Svetlana? Ohne schwülheiße Nächte mit ihr im Doppelbett?

Er wusste zwar nicht, wer Henner ist, aber ein Wechsel zu einer Cold-Cases-Gruppe in einer anderen Kriminalfachinspektion für Mord und Totschlag klang deutlich besser, als einsam und verlassen auf Svetlanas Rückkehr zu warten. Die, wie es aussah, nicht so bald stattfinden würde.

Zurück in der gemeinsamen Wohnung hatte er im Dauermodus ihre Handynummer gewählt, bestimmt hundert Mal. Und ihre Mailbox vollgequatscht. Bis er endlich begriffen hatte, dass seine Frau, seine Svetlana, wie er gedacht hatte, nicht rangehen würde. Nicht mit ihm reden wollte. In eine andere Welt abgetaucht war, in der es keinen Platz mehr für ihn gab.

Irgendwann legte er frustriert sein Handy beiseite und schaute sich um, nahm zum ersten Mal wieder seine Wohnung bewusst wahr. Seit ihrer Hochzeit lebten sie hier, hatten sie nach ihren gemeinsamen Vorstellungen immer weiter verschönert. Bis er dachte, dass es nicht mehr besser werden könnte.

In einer einzigen Nacht hatte sein Zuhause seine Wärme und Behaglichkeit verloren. So schnell ging das. Da musste nur einer gehen. Ihm war das Zurückbleiben unerträglich. Allein hier und Svetlana weg? Nein, das würde er nicht aushalten. Nicht ertragen.

Er dankte Gott, dass er sich für den Auftrag entschieden hatte. Dass er nicht hierbleiben musste. Lieber hätte er Gott, an den er in diesem Moment nicht wirklich glauben konnte, dafür gedankt, wenn das alles nur ein schlechter Traum gewesen wäre.

Doch dieses Glück hatte er nicht. Jetzt musste er zusehen, wie er die nächste Zeit überstand. Bis die Zeit, dieser Quacksalber, seine schlimmsten Wunden heilen würde.

Sechs Leichen? Das sollte genügen, um sich abzulenken. Er schnappte seinen für Florida gepackten Koffer, rief ein Taxi und zog die Tür hinter sich zu.

Kapitel 3

Kriminaloberrat Henner Lehn, Leiter der Kriminalfachinspektion 1 in Hannover, zuständig für die Aufklärung von Kapitalverbrechen, hasste Schlendrian, Illoyalität, Angeberei und Flecken auf der Uniform und weißen Westen seiner Mitarbeiter.

Nun also KHK Montag. Er hatte schon viel von ihm gehört. Ein Weiberheld, der seine Meisterin gefunden hatte, wie es schien. Und einem Nebenbuhler in der Dienststelle, den er versucht hatte, zu verprügeln. Was seinem Aussehen nach nicht wirklich geklappt hatte, ihm aber eine Menge Ärger einbringen konnte. Deshalb war er nun in Hannover gelandet.

Aber auch ein brillanter Denker, fast schon hochsensitiv. Einer, der sich in Menschen und Situationen geradezu hellsichtig einfühlen konnte. Nicht immer überkorrekt, wenn er sich in einen Fall verbissen hatte, aber immer loyal. Es sei denn, einer seiner Kollegen überschritt die Grenze.

Dagegen war nichts einzuwenden. Falsch verstandener Korpsgeist konnte leicht in die Illegalität führen. Fehlverhalten musste geahndet werden, das hatte nichts mit Illoyalität zu tun. Auch wenn das für Unruhe in der Truppe sorgte.

Nun, damit konnte er gut leben. Dann würde er es eben mit ihm versuchen. Musste er es versuchen, denn seine Auswahl an fähigen Ermittlern mit Führungskompetenz war wegen der chronischen Unterbesetzung der Dezernate, die sich durch die Sommerferien noch deutlich verschärft hatte, gering. Nein, sie ging gegen null. Er war dankbar für jede Hilfe, die er bekommen konnte. Auch wenn er dafür den Gefallen, den ihm Petra schuldete – einen großen Gefallen –, einlösen musste.

Er hatte sich schon lange dafür stark gemacht, eine Cold-Cases-Einheit dauerhaft bei seiner Behörde zu etablieren.

„Es ist auch ein Zeichen an die Familien der Opfer, dass wir nicht aufgeben“, hatte er der Presse gebetsmühlenartig immer wieder verkündet.

Gleichzeitig sei es auch ein Zeichen an die Täter, sich nie in Sicherheit wiegen zu können, sich nicht einzubilden, ungestraft davonzukommen.

Alle anderen Landeskriminalämter hatten längstens spezielle Ermittlungsgruppen für alte Mord- und Vermisstenfälle gegründet. Nur sie hinkten hinterher. Bisher war die Gründung immer wegen der Kosten abgelehnt worden.

Nun sah er seine Chance gekommen. Die neue Ermittlungsgruppe, die er schon vor ihrer Gründung „Cold Case Unit” getauft hatte, würde er bei seiner Kriminalfachinspektion andocken. Geplant war, sieben Kripobeamte dafür abzustellen. Sie sollten die Ermittlungsakten von ungeklärten Tötungsdelikten aus ganz Niedersachsen durchsehen und dabei neue Ansätze zur Lösung der Fälle erarbeiten. Oder neu aufgefundene alte Leichen identifizieren und klären, ob sie durch ein Kapitalverbrechen ums Leben gekommen waren. So hatte er es seinen Vorgesetzten und der Presse immer wieder heruntergebetet.

Zudem rechtfertige sich die Einrichtung der Cold-Case-Einheit aus der Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten. Endlich könnte von einem am Tatort gefundenen Haar, dem die Wurzel fehlte, eine DNA-Spur gewonnen werden, was jahrzehntelang unmöglich gewesen wäre. Daraus könnte sich unter Umständen die Bewertung mancher alten Fälle völlig ändern, hatte er argumentiert.

Das war sein Traum gewesen, seit er die Stelle in Hannover vor einem Dutzend Jahren angenommen hatte. Immer war er vertröstet worden. Doch jetzt war auf einen Schlag alles anders.

Er schaute den gut einen Meter achtzig großen Mann Anfang fünfzig vor sich an. Seine Nase war geschwollen und das rechte Auge lila umrandet. Petra hatte ihn vorgewarnt und darauf hingewiesen, dass sie ihm sonst niemals ihren fähigsten Ermittler abtreten würde. Für ihn war das Drama in der Dienststelle in Osnabrück ein großes Glück, wer sonst hätte ihm wohl ausgeholfen?

„Wir müssen noch einen kleinen Moment warten. Ihre neue Kollegin wird gleich hier sein.“

Passend zu seinen Worten wurde er von einem zaghaften Klopfen an der Tür unterbrochen, die sich auf seine Aufforderung einen Spaltbreit öffnete. Um die Ecke lugte schwarzes Haar, eine überdimensionierte Brille, die die dahinterliegenden braunen Augen unnatürlich vergrößerte, und ein schüchternes Lächeln. An der winzigen Person – wie hatte sie es nur in den Polizeidienst geschafft bei der Größe? – schlackerte die Uniform. Wahrscheinlich war sie die dünnste Polizistin in ganz Niedersachsen.

Montag warf ihm einen verblüfften Blick zu, den er zu ignorieren versuchte. Er hätte sich auch erfahrenere Kripobeamte gewünscht. Aber die Zeiten waren schlecht.

„Nehmen Sie Platz, junge Dame“, begrüßte er die Frau, die in Anbetracht des Mindesteinstellungsalters für Polizeibeamte deutlich älter sein musste, als sie aussah.

„Wo bleiben die anderen?“, fragte Montag.

Henner räusperte sich. Jetzt kam der schwierige Teil.

„Tja, ich fürchte, das ist ein Problem. Sie wissen schon, Sommerferien und so weiter.“

Der Mann warf einen fassungslosen Blick neben sich, wo die Asiatin Platz genommen hatte, dann zu ihm.

„Soll das heißen, dass wir allein die neue Ermittlungsgruppe bilden sollen?“

Henner nickte. Was sollte er auch sonst antworten?

Kapitel 4

Montag konnte nicht fassen, dass es Henner Lehn ernst damit meinte. Eine Cold Case Unit bestehend aus ihm und diesem Kind? Und das bei sechs Leichen? Das musste ein Witz sein. War hier irgendwo eine Kamera versteckt? Wollten ihn seine Kollegen mit einem neuen Trick veräppeln?

Aber dem Bürokraten ihm gegenüber fehlte so offensichtlich jeder Humor, dass er den Gedanken sofort wieder verwarf. Nicht das kleinste Lachfältchen zierte seine Augen, und die Mundwinkel schienen chronisch nach unten zu weisen. Obwohl er die sechzig bereits überschritten haben musste, war sein Gesicht bis auf die Stirn erstaunlich glatt. Aalglatt, wie Montag fand. Vielleicht musste man das in seiner Position auch sein.

Nein, das hier war das wahre Leben. Montag fehlten die Worte. Sein Schweigen nutzte der Kriminaloberrat.

„Vielleicht haben Sie aus der Presse mitbekommen, dass wir hier vor drei Tagen einen Leichenfund hatten. War ja heute in allen Blättern auf der Titelseite. Ihre junge Kollegin hier, Effi Lu, war übrigens bei der Streife, die die erste Leiche gefunden hat. Unschöne Sache. Der Tote, ein junger Mann, steckte im Morast in einem Tümpel fest. Allerdings ist noch unklar, ob er bereits tot war, als er in dem Tümpel gelandet ist. Die gerichtsmedizinische Untersuchung findet heute statt. Rausgezogen hat ihn die örtliche freiwillige Feuerwehr. Bei dem Brachialakt sind natürlich alle relevanten Spuren ruiniert worden.“

Er räusperte sich.

„Jedenfalls war sein Hinterkopf weggeblasen. In seiner Hand, die als Einzige aus dem Schlamm ragte, hatte er ein Sonargerät für Angler, wie unsere gewiefte junge Kollegin hier herausfand.“

Er wies mit dem Kopf auf Effi Lu, die puterrot wurde.

„Sie war es auch, die den dazugehörigen Stock mit dem daran befestigten Handy im Schilf fand und die letzten Bilder aufgerufen hat. Leider bevor die Spurensicherung da war“, fügte er mit bösem Blick hinzu.

Die junge Frau neben Montag sackte in sich zusammen. Ein rotes asiatisches Mäuschen, dachte Montag. Na bestens. Nicht nur Anfängerin und klein, nein, auch noch unfähig. Einfach so Beweismaterial in einem Mordfall zu kontaminieren. Auch wenn er selbst mit Sicherheit niemals auf die Idee gekommen wäre, so eine Kugel zu untersuchen, geschweige denn, erkannt hätte, dass es sich um ein Sonar handelte.

„Hm, also mal abgesehen davon, dass sie das Teil einfach aus dem Schlamm gezogen hat, immerhin hatte sie Gummihandschuhe an, warum eigentlich?“, unterbrach sich Henner mit fragendem Blick zu Effi Lu.

Die rote Maus hob etwas den Kopf und zuckte die Schultern. „Die habe ich immer an im Dienst“, verkündete sie akzentfrei.

Wenigstens spricht sie anständig Deutsch, dachte Montag.

„Na, jedenfalls hat sie über das Handy ein Rechteck auf dem Boden des Tümpels entdeckt, richtig so weit?“

Jetzt nickte die rote Maus.

„Na ja, also dann wies Frau Lu die Kollegen, die wegen der Leiche angerückt waren, darauf hin. Ich will ihr mal zugutehalten, dass vielleicht nicht jeder auf die Idee gekommen wäre, diese schwarze Kugel erneut an den Stock zu binden, über den Tümpel zu halten und das Ganze auf das Handy übertragen zu lassen. Weil die Kollegen ihr nicht glaubten, wenn ich das richtig verstanden habe. Die Spurensicherung hat sie damit ein wenig“, er zog die Stirn kraus, was er der Tiefe der dort vorhandenen Querfalten nach regelmäßig machte, „gereizt. Nun ja, jedenfalls wurden die Aufnahmen auf dem Handy bestätigt. Eigentlich wollten die Kollegen nicht da ran, aber sie“, nun warf er ihr einen ungläubigen Blick zu, „hat darauf bestanden. Erstaunlich“, fuhr er mehr zu sich selbst fort.

„Sie mussten ohnehin Taucher hinzuziehen, um nach Beweisen in dem Tümpel zu suchen, und die haben dann auf Effi Lus Anweisung hin auch mitten im See nachgeschaut. Tja, was soll ich sagen? Sie haben tatsächlich einen Personenwagen entdeckt. Mittendrin. Unglaublich. Die Vermutung lag ja nahe, dass es sich um den Wagen des Toten handelt. Daraufhin wurde schweres Gerät geholt. War gar nicht so einfach, das Fahrzeug da rauszuholen.“

Er holte tief Luft und trank einen Schluck Tee. Ihnen hatte er keinen angeboten.

„Aber nein. Als sie es endlich geschafft hatten, ihn rauszuhieven, haben sie schnell festgestellt, dass es sich um ein älteres Fahrzeug handeln muss. Das hat man schon an der Form erkannt. Der Hammer aber war, und deswegen sitzen Sie jetzt hier, dass in dem Fahrzeug drei Tote saßen.“

Montag war fassungslos und schaute zu der jungen Frau, eher Mädchen, neben sich. Sie hatte das durchgesetzt? Durchsetzen können? Durchsetzen müssen? Unglaublich, da musste er Henner Lehn recht geben.

„Damit sind wir bei vier Toten. Weiß man schon mehr über sie?“, hakte er ein.

Lehn schüttelte den Kopf. „Das Fahrzeug muss nach seinem Zustand und dem Zustand der Leichen schon lange, sehr lange im Wasser gelegen haben. Der alte BMW E12, in dem sie saßen, wurde bis 1981 gebaut. Wahrscheinlich war das auch der späteste Zeitpunkt, zu dem er dort im Tümpel gelandet ist. Aber das müssen die Kriminaltechniker noch genauer überprüfen. Sie untersuchen ihn gerade. Eins scheint jedenfalls klar: Der Wagen gehörte nicht zu dem Toten, der zuerst entdeckt wurde.“

„Von Amsfeld hat was von sechs Leichen gesagt.“

Lehn nickte. „Effi Lu scheint ein konsequenterer Mensch zu sein als ihre Kollegen. Sie hat sich einfach wieder das Sonar an der Rute geschnappt und es nochmals über den Tümpel gehalten. Und siehe da, es zeigte ein weiteres Rechteck an. Man muss dem Taucher zugutehalten, dass man da unten in dem völlig verschlammten Wasser, eher zäher Morast, fast nichts sehen kann. Er musste sich regelrecht vortasten. Sie haben ihn also nochmals an dem Seil heruntergelassen, und da hat er ein weiteres Fahrzeug entdeckt, das auf dem Grund im Schlick feststeckte. Diesmal war es ein alter Opel, Baujahr etwa ab Mitte der Neunzehnhundertfünfziger. Der muss unter dem ersten Wagen gelegen haben. Und was soll ich sagen? Darin saßen weitere zwei Leichen.“

„Das gibt’s doch nicht“, konnte sich Montag nicht verkneifen. „Was ist mit diesen Toten? Konnte man die schon identifizieren?“

Henner schüttelte den Kopf.

„Keine Autokennzeichen, keine Fahrzeugidentifikationsnummern? Was ist mit Vermisstenanzeigen?“

„Alles negativ. Zumindest, was wir in der Kürze der Zeit prüfen konnten. Wir haben ja die Fahrzeuge erst am Sonntag entdeckt. Allerdings hat das Moor die Leichen erstaunlich gut konserviert. Mit ein wenig Computer-Hokuspokus können wir sicher Bilder anfertigen lassen, die sehr lebensecht wirken. Gleichzeitig wurden natürlich DNA-Proben genommen und werden noch untersucht. Das dauert aber.“

„Was ist mit der ersten, der frischen Leiche?“

„Die wurde identifiziert. Es handelt sich um einen jungen Mann aus Osterode am Harz, der vor drei Tagen von seiner Mutter als vermisst gemeldet wurde.“

„Vermutlich wird dieser Fall nicht von uns bearbeitet, oder?“, fragte Montag.

„Nein, dafür ist die KFI 1 zuständig. Sie werden mit der Soko Moorleiche zusammenarbeiten.“

„Wieso gehen Sie eigentlich bei den fünf Leichen in den Fahrzeugen von Mord aus? Könnten das nicht einfache Unfälle gewesen sein? Ein bisschen viele Zufälle, zugegeben, aber möglich wäre das doch. Oder führt keine Straße an dem Tümpel vorbei?“

Ein kleines Lächeln erschien auf Lehns Gesicht. Unerwartet, unpassend, unangenehm, fand Montag.

„Eine Straße führt da lang. Ob sie unabhängig voneinander ins Wasser geraten sind? Schon möglich, aber unwahrscheinlich. Beide Kofferräume waren voller Steine, alle Fenster runtergekurbelt und die Fahrersitze leer. Bei beiden Fahrzeugen wohlgemerkt.“

Er ließ diese Worte wirken, bevor er hinzufügte: „Der festgegerbte Gesichtsausdruck der Leichen hat mich die ganze letzte Nacht verfolgt.“

Kapitel 5

Am Tümpel in Mardorf erwartete sie nicht nur ein Großaufgebot an Ermittlern, Gerichtsmedizinern und schwerem Gerät, sondern auch ein Riesenschwarm Stechmücken. Wenigstens keine Malaria übertragenden Moskitos, tröstete sich Montag, während er eine nach der anderen auf seinen Armen und am Hals erschlug. Na ja, die gab es wohl auch nicht in den Everglades. Wie gerne wäre er jetzt dort. Zusammen mit Svetlana.

Er schob den Gedanken an sie und den verpassten Urlaub konsequent beiseite.

Die Hitze flirrte über dem Asphalt der schmalen Straße, die zum Tümpel führte, und die Blätter der Trauerweiden, die an den herabhängenden Ästen über dem Wasser hingen, begannen sich gelb zu verfärben. Ihre Zweige mit den verschrumpelten Blättern, einem filigranen Spitzenvorhang ähnlich, raschelten im Wind. Von Süden her zogen dunkle Wolken mit Regen und elektrisch aufgeladener Luft heran. Offenbar war ein Hitzegewitter im Anzug. Hoffentlich. Doch das Versprechen auf Abkühlung hatte sich seit über einer Woche nicht erfüllt.

Der Geruch nach Brackwasser und toten Fischen, eine Melange aus Salz und faulen Eiern, wehte vom Moor herüber. Montag erfasste eine tiefe Wehmut – wie immer, wenn der Herbst nahte. Und der nahte bereits, wenn der Sommer seinen Zenit erreicht hatte.

Er spürte ein leichtes Tippen auf dem Arm. Neben ihm stand Effi Lu und hielt ihm eine Spraydose Insektenschutzmittel hin. Die Kleine mochte ja unbedarft und winzig sein, aber sie hatte ihre praktischen Seiten. Den Polizeiwagen, einen uralten Mondeo, hatte sie hierherkutschiert. Montag hatte sich nach der letzten Nacht und dem stressigen Morgen zu schlapp und müde gefühlt. Fahren konnte sie und außerdem kannte sie die Strecke. Dankbar nahm er das Spray entgegen und sprühte sich großzügig ein.

Zwei völlig verrostete Autos, deren Farbe sich in Rostbraun, akzentuiert von dem fast schwarzen Schlamm des Tümpels, verwandelt hatte, standen ein Stück die Straße runter. Beim Näherkommen erkannte Montag, dass Rost den Lack hatte aufplatzen lassen und große Löcher in die geöffneten Fahrzeugtüren und Kotflügel gefressen hatte. Eine Kollegin von der Spurensicherung im weißen Overall mit übergezogener Kapuze beugte sich in die geöffnete Tür des Opels, trotz seines Zustandes eindeutig an seiner Form erkennbar. Die Frontscheiben hatten dem Wasserdruck standgehalten, waren aber von Rissen, einem Spinnennetz gleich, durchzogen. Die Seitenfenster, alle an beiden Fahrzeugwracks, waren runtergekurbelt, alle Reifen platt. Wie von Kriminaloberrat Lehn bereits berichtet. Bei dem BMW, der wenige Meter entfernt stand, war die hintere Stoßstange halb abgerissen. Vermutlich hatten sie ihn daran aus dem Morast gezogen.

Montag schüttelte den Kopf. Unglaublich. Er schaute selbst in das Fahrzeuginnere. Verrottete Reste der Polster klammerten sich an die Sitzfedern. Vom Lenkrad des BMW baumelte noch ein Teil der Lederverkleidung, und die Sonnenblenden hingen vor der Scheibe.

Montag schüttelte wieder den Kopf und wandte sich dem erstaunlich leeren Zufahrtsweg zum Tümpel zu. Dann wurde ihm klar, was fehlte: die Presse! Die Wagen waren erst vorgestern gefunden worden und standen hier in der Sonne den Blicken und Kameras preisgegeben. Eigentlich müsste es nur so von Reportern wimmeln.

Er drehte sich zu dem See. Eine einzige schwarze Fläche, in der sich nicht mal das Blau des Himmels spiegelte. Er trat näher heran.

„Der See ist nie klar“, sagte ein Streifenpolizist, der wie er auf das Wasser starrte. „Das ist ein typischer, schlammiger Totes-Moor-Tümpel. An guten Tagen kann man bis zu dreißig Zentimeter tief schauen. Heute ist ein guter Tag.“

Verblüfft ging Montag noch näher an das Ufer. Und tatsächlich, immerhin konnte er klares Oberflächenwasser erkennen, aber darunter war alles tiefschwarz.

Der schwarz eingefärbte Kopf eines Tauchers durchbrach gerade in der Mitte des Sees die Wasser- oder besser Schlammoberfläche. Ohne die Hilfe zweier Feuerwehrmänner in einem Zodiac-Schlauchboot wäre er aus dem Tümpel kaum wieder herausgekommen. Mühsam hievten sie ihn über die Bootswand hinein.

Am Rand, halb im Schlick auf einer Schleifspur, lag ein schwarzer Herrenschuh. Auch er hatte unter der langen Zeit im Wasser gelitten. Trotzdem war das Leder gut erhalten. Ein Polizeifotograf knipste ihn von allen Seiten.

„Hammer, was?“, kommentierte er Montags krausgezogene Stirn.

Montag nickte. „Wieso ist keine Presse da?“

„Die sind mit den Leichen verschwunden und warten jetzt vor der Gerichtsmedizin auf Neuigkeiten.“

Montag wollte gerade antworten, da hörte er es. Fühlte sich schlagartig um vierzehn bis fünfzehn Jahre zurückversetzt. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Erst erstarrte er, dann drehte er sich um, ganz langsam, hin zu dem Pfeifen, und wahrhaftig, da stand sie, die Lippen noch gespitzt für den Refrain von „I don’t like Mondays”.

Musste das sein? Ausgerechnet Karen Austerlitz! „Du?“, fragte er dümmlich, während seine Brust seine Lungenflügel zusammenquetschte, sodass er kaum noch Luft bekam und sein Kiefer sich verkrampfte.

„Ja, ich. Herzlich unwillkommen, Monday. Wie es aussieht, müssen wir hier wohl zusammenarbeiten. Der große Leiter der Cold Cases Unit und die kleine Leiterin der KFI 1. Bilde dir bloß nicht ein, dass alle hier auf dein Kommando hören. Wie ich erfahren habe, tut das ja nicht mal deine Ehefrau.“

Das letzte Wort klang, als würde sie es ausspucken. Natürlich hatten die Kollegen aus Osnabrück nichts Eiligeres zu tun gehabt, als die Mannschaft hier über Svetlanas Fremdgehen zu informieren. Das hätte er sich ja denken können.

„Damit das klar ist: Ich habe hier das Sagen!“, fuhr Karen fort. „Ihr werdet das erfahren, von dem ich will, dass ihr es erfahrt. Aber ihr berichtet mir alles, was ihr herausfindet, klar, Monday?“

„Hast du etwa ein Problem mit mir?“, fragte er betont lässig zurück, nachdem sich seine Brust entspannt und seine Lungenflügel sich wieder mit Luft gefüllt hatten.

Karen wurde rot. Nein, nicht rot. Rosarot. Nein, falsch, eher rot wie der Sonnenuntergang an einem schwülheißen Tag. Besser noch: rot wie ein gekochter Hummer.

„Ich nicht. Aber du!“

Damit ließ sie ihn stehen.

„Nanu? Haben wir ein Problem?“, hörte er die zarte Stimme von Effi Lu. „Warum nennt Karen Sie Monday? Und was hat sie da gepfiffen?“

„Ach, unwichtig“, wiegelte er ab. „Ist nur ein Begrüßungsritual unter alten Kollegen.“

War es nicht. Diese Frau hasste ihn. Sie war der Seitensprung, der seine zweite Ehe beendet hatte. Karen hatte sich wohl erhofft, Frau Montag Nummer drei zu werden. Dummerweise hatte er genau in jener Zeit Svetlana kennengelernt. Das war’s dann gewesen, und er hatte den Spitznamen Monday mit passendem Refrain von ihr verpasst bekommen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte sie es in der Dienststelle gepfiffen und gesungen. Bis alle Kollegen infiziert waren und mitgemacht hatten. Erst Jahre nach ihrer Versetzung nach Hannover hatte es wieder aufgehört.

Und nun fing es wieder an. Sie hatte ihm also noch immer nicht verziehen. Dabei war das ein halbes Leben her. Na ja, fast. Das konnte ja heiter werden.

„Kommst du endlich? Oder interessiert dich nicht, was wir herausgefunden haben, Monday?“, rief Karen ihm lautstark mit besonderer Betonung auf „Monday” zu, damit es auch ja alle hörten. Es schloss sich gepfiffen der Refrain an. Prompt ging ein Kichern durch die Reihen der Kollegen, einige pfiffen den Song mit. Montag hätte Karen dafür umbringen können.

Effi Lu schaute ihn fragend an, er zuckte nur schief grinsend die Schultern. Ein gerades Grinsen brachte er nicht zustande.

Langsam folgte er Karen zu den Autowracks.

„In diesem Wrack haben wir zwei Männer gefunden.“ Karen wies auf den Opel. „Beide hatten die Hände auf dem Rücken gefesselt. Aber das weißt du schon, oder?“

Montag schüttelte den Kopf.

„Beide saßen auf dem Rücksitz.“ Sie wies in den Wagen, als wüsste Montag nicht, wo sich der Rücksitz befand.

Dann nickte sie in Richtung Kofferraum, Montag ging hin, Effi Lu folgte wie ein Schoßhündchen.

Der Kofferraumdeckel stand offen. Ein kurzer Blick hinein zeigte, dass er voller Backsteine war. Montag holte tief Luft.

Karen ging vor ihm her zu dem wenige Meter entfernten alten BMW. „Auch hier waren die Fenster runtergekurbelt und der Kofferraum voller Steine. Unfälle waren das nicht!“

„Sieht wirklich nicht danach aus. Wo lagen die Wagen?“