Niemandsmädchen - Eva-Maria Silber - E-Book

Niemandsmädchen E-Book

Eva-Maria Silber

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Eine neue Kommissarin ermittelt in Ostfriesland – Der erste Fall für Hannah Adams Als Schwester Melanie das Krankenzimmer betritt und der jungen Mutter ihr Neugeborenes überreicht, blickt diese sie nur aus leeren Augen entsetzt an. Kurz darauf sind Mutter und Kind wie vom Erdboden verschluckt. Kriminalkommissarin Hannah Adams macht sich auf die Suche nach den beiden. Unterstützt wird sie dabei von der engagierten Staatsanwältin Leyla Zapatka. Fast zeitgleich kollabieren im ostfriesischen Etzel drei Erdgaskavernen. Während die Bevölkerung im Umkreis der Katastrophe evakuiert wird, versuchen die beiden Frauen, das Baby zu retten – vor seiner eigenen Mutter. Leserstimmen: "Ich kann diesen Krimi nur empfehlen und hoffe sehr, dass diese Autorin noch weitere Bücher veröffentlichen wird. Ein "Must have" für jeden Krimi-Fan." (Jutte Stieber) "Guter Start einer neuen Krimi-Reihe. Sehr zu empfehlen." (Alex K.) "Ich fand den Anfang stark und den Showdown sehr stark. Dazwischen hat die Autorin das Tempo und mich als Leserin sicher bei der Stange gehalten. Guter Thriller." (WilViersen)

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Die AutorinEva-Maria Silber, geboren 1959 in Friedlos bei Bad Hersfeld, studierte in Gießen Jura und arbeitete als Rechtsanwältin und Strafverteidigerin im Großraum Frankfurt am Main, bevor sie 2010 ihren Beruf wegen hochgradiger Schwerhörigkeit aufgeben musste. Nach zwanzig Jahren Pendeln zwischen ihrem Wirkensort und Ostfriesland, lebt sie jetzt endlich mit ihrem Mann an der Nordseeküste in Funnix bei Wittmund, sechs Kilometer vom Meer entfernt. Seit sie nicht mehr ihrem Beruf nachgehen kann, schreibt sie Krimis und Thriller. Ihr Debüt-Roman Endstation A4 erschien 2014, weitere Veröffentlichungen folgten. 2016 belegte sie den zweiten Platz bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb des Chiliverlages.

Das BuchEine neue Kommissarin ermittelt in Ostfriesland – Der erste Fall für Hannah Adams  Als Schwester Melanie das Krankenzimmer betritt und der jungen Mutter ihr Neugeborenes überreicht, blickt diese sie nur aus leeren Augen entsetzt an. Kurz darauf sind Mutter und Kind wie vom Erdboden verschluckt. Kriminalkommissarin Hannah Adams macht sich auf die Suche nach den beiden. Unterstützt wird sie dabei von der engagierten Staatsanwältin Leyla Zapatka. Fast zeitgleich kollabieren im ostfriesischen Etzel drei Erdgaskavernen. Während die Bevölkerung im Umkreis der Katastrophe evakuiert wird, versuchen die beiden Frauen, das Baby zu retten – vor seiner eigenen Mutter.

Eva-Maria Silber

Niemandsmädchen

Ein Ostfriesen-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2016 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95819-090-0  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Bei dem Roman handelt es sich um reine Fiktion. Die Handlung basiert zwar auf tatsächlichen Ereignissen, ist im Übrigen aber frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder tatsächlichen Begebenheiten ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Bin ich tot? Fühlt es sich so an, tot zu sein? Schwerelos, schmerzfrei, ohne Gefühl für mich und die Dinge um mich herum. Alles schwarz. Keine Sorgen mehr. Vor mir erscheint eine klitzekleine Flamme. Während ich hinschaue, wird sie größer, bunter, wird runder und formt sich zum Tunnel. Erst klein, doch die Öffnung vergrößert sich, je näher sie mir kommt. Als würde ich in eine bunte Windhosenröhre blicken.

Dann beginnt sich die Windhose zu drehen, erst langsam, aber sie nimmt Fahrt auf. Nähert sich mir. Doch ich habe keine Angst, im Gegenteil, will in die Öffnung schweben. Erkenne am Ende der Röhre ein weißes Licht, das mich magisch anzieht. Da will ich hin! Ich beginne darauf zu zu schweben, ganz leicht, ganz glücklich …

Ah, der Schmerz ist unerträglich. Was ist das? Woher kommt er? Warum lassen die – wer ist das? – mich nicht in Ruhe schweben, es ist doch so schön hier. Ich will ins Licht.

Wieder dieser furchtbare Schmerz. Weg, lasst mich in Ruhe. Ich will weg, will nicht hier sein, was fällt euch ein? Oh Gott, tut das weh. Dann sinke ich weg.

Ein Brennen und Stechen im Bauch. Was geschieht mit mir? Ich habe Angst. Angst? Wieso habe ich Angst? Ich bin doch tot! Wieder lasse ich mich sanft hinabgleiten in das Nichts, das Schweben.

Als ich das nächste Mal auftauche, irgendwo aus dem Nirgendwo, bin ich nicht mehr schwerelos, sondern wiege Zentner. Mein eigenes Gewicht drückt mich nieder. Wohin? Unter Wasser? Ich bekomme kaum Luft. Wo ist das Licht, in das ich schweben wollte? Und wo sind die Ruhe und die Körperlosigkeit?

Alles tut mir weh. Am schlimmsten ist, dass ich mich nicht bewegen kann. Irgendetwas hält mich fest, drückt mich nieder, presst mir die Beine auseinander. Was geschieht da nur mit mir? Wer ist das? Was macht der mit mir? Ich will das nicht, versuche die Beine zusammenzudrücken, aber es geht nicht. Meine Knie liegen auf einer gepolsterten Lehne und sind festgezurrt.

Explosionsartig setzt der Schmerz wieder ein. Mein ganzer Körper zieht sich zusammen und versucht das, was sich zwischen meinen Beinen befindet, wegzudrücken. Vergebens. Jetzt scheint mein Unterleib zu zerbersten.

Dann dieses Dröhnen. Es presst meinen Schädel zusammen wie ein Schraubstock. Nun kommt auch noch ein beißender Geruch hinzu. Er ist kaum auszuhalten. Irgendetwas scheint meine Luftröhre zu verätzen. Ich versuche zu husten, kann aber nicht. Mein eigenes Gewicht drückt meine Brust so fest zusammen, dass statt eines befreienden Hustens nur ein kleines Röcheln herauskommt. Zu wenig, um mich von dem quälenden Gefühl in meiner Kehle zu befreien.

Erneut versuche ich, das alles wegzuschieben, zurück in den Tunnel zu gelangen. Will nur weg. Aber schon wieder zerrt etwas an mir. Was ist das nur? Und wo ist der Tunnel geblieben?

Da! Da ist es, das weiße Licht. Aber warum habe ich nicht mehr das wohlige Gefühl? Und was drückt da auf mein Gesicht? Nun verfärbt sich das Licht und nimmt Farbe an. Gelb, rot und blau, wie ein Regenbogen, nur nicht so schön. Ich schnappe wieder nach Luft. Die erreicht kaum meine Lunge. Jetzt drückt etwas auf meine Schultern, presst mich noch weiter nach unten. Was geschieht bloß mit mir, warum hilft mir keiner?

Plötzlich ist alles vorbei. Der Schmerz ist weg, aber auch der Tunnel und die Lichter. Undeutlich nehme ich den Schrei in meiner Nähe wahr, laut, verzweifelt. Kommt das Geräusch von mir? Oder wird da noch ein Mensch gequält? Ich versuche, die Augen zu öffnen, werde aber von dem grellen Licht geblendet. Nach einem kurzen Moment sehe ich immerhin undeutliche Umrisse: Vor mir steht eine blutverschmierte weiße Gestalt mit einem tropfenden Bündel in der Hand.

Kapitel 1

26. Mai 2009, 6 bis 11 Uhr

Um sechs Uhr morgens wird in Etzel im Landkreis Wittmund bei einem der Erdgas-Untergrundspeicher der Firmengruppe EAC ein Druckabfall registriert. Die Kaverne, ein unterirdischer Hohlraum, wurde aus dem unter dem Gebiet lagernden viertausend Meter hohen Salzstock mit Wasser ausgespült. Der zigarrenförmige Speicher ist sechshundert Meter hoch und hat einen Durchmesser von siebzig Metern. Sind die Kavernen mit Erdgas gefüllt, hält der Druck des Gases sie gegen den Druck des sie umgebenden Gesteins weitgehend stabil. Werden sie entleert, sacken sie zusammen und der darüber liegende Erdboden gibt nach.

Die Belegschaft kann sich den plötzlichen Druckabfall nicht erklären. Alle Maßnahmen, ihn wieder auf Normal zu bringen, scheitern.

Nach einer Stunde werden die ersten Gasaustritte aus dem Boden festgestellt. Noch hofft die Betreibergesellschaft, das Problem ohne externe Hilfe und vor allem ohne Beunruhigung der Zivilbevölkerung in den Griff zu bekommen.

Das misslingt gründlich. Gegen neun Uhr hat die Konzentration von Erdgas in der Luft beunruhigende Werte angenommen. Endlich entschließt man sich von Werksseite, Havariealarm auszulösen. Die Werksfeuerwehr rückt an. Noch kann man sich nicht dazu durchringen, auch die Feuerwehren der angrenzenden Gemeinde Friedeburg sowie den Gefahrgutzug des Landkreises Wittmund um Hilfe zu bitten.

Gegen zehn Uhr tritt an mindestens zwanzig Stellen Gas aus dem Boden aus. Es entsteht ein Riss in der Erdoberfläche, der immer größer wird. Bereits eine Viertelstunde später hat er eine Länge von einem halben Kilometer erreicht. Seine Breite variiert zwischen wenigen Zentimetern und einem Meter. Die Bildung des Risses ist mit geysirähnlichen Ausbrüchen verbunden. Ein Gemisch aus Erdgas, Schlamm und Wasser erreicht in Fontänen Höhen von bis zu fünf Metern. Es entsteht eine Gaswolke, die gegen elf Uhr eine Ausdehnung von drei Kilometern t.

Endlich werden auch die Feuerwehren der Umgebung beigezogen. Es wird die Anweisung erteilt, die Bevölkerung im Umkreis von zwei Kilometern zu warnen. Mit dem Sirenensignal `eine Minute Heulton´ werden die Anwohner aufgefordert, sich in geschlossene Räume zu begeben und das Radio oder den Fernseher einzuschalten. Doch die wenigsten kennen die Bedeutung des Sirenentons. Sie halten den Warnton für eine Übung.

Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, dass alle Menschen im Umfeld der Kavernen evakuiert werden müssen, da die Konzentration des Gases in der Gaswolke inzwischen hochexplosiv ist. Betroffen sind zunächst die Einwohner von Etzel, Horsten und Marx. Die Fernstraße zwischen Friedeburg und der Autobahn 29 muss wegen des Westwindes mit einer Stärke von 3 auf der Beaufortskala gesperrt werden. Kein Mensch kann vorhersagen, wie weit die Erdgaswolke nach Osten getrieben werden wird.

Die Einwohner der betroffenen Ortschaften werden von Polizeibeamten, die von Tür zu Tür gehen, auf die Gefahr hingewiesen. Panik bricht aus. Viele versuchen, mit ihrem eigenen Fahrzeug die Umgebung der Kaverne zu verlassen. Die Ängste werden weiter geschürt, als die ersten toten Kühe auf Wiesen neben den Kavernenschächten entdeckt werden.

Inzwischen hat die Werksleitung auf Drängen der Werksfeuerwehr eingesehen, dass die Katastrophenschutzzüge aus Wittmund, Jever und Wilhelmshaven angefordert werden müssen. Nachdem sie eingetroffen sind, wird schnell klar, dass auch deren Ausstattung für eine Katastrophe solchen Ausmaßes nicht ausreicht. Deshalb wird zur weiteren Unterstützung der Katastrophenschutzzug der Richthofen-Kaserne in Wittmund um Hilfe gebeten.

***

Christina riss die Augen auf. Wo war sie? Was war passiert? Und wovon war sie aufgewacht? Sie schnappte nach Luft und hielt sich am Bettrahmen fest. Neben ihrem Bett entdeckte sie eine Krankenschwester. Eine Krankenschwester?

»Da sind Sie ja, na endlich. Ich dachte schon, sie wollen gar nicht mehr aufwachen. Wollen Sie jetzt gleich das niedliche Püppchen sehen, das Sie heute Nacht zur Welt gebracht haben?«

Christina verstand kein Wort. Was für ein Püppchen? Hilflos sah sie die weiß gekleidete fremde Frau an, die in wirren Worten mit ihr sprach.

»Sind Sie noch ein bisschen durcheinander? Das ist ganz normal, war ja auch eine schwierige Geburt. Fast wäre es schief gegangen mit Ihnen. Und ein bisschen zu früh ist die Kleine auch gekommen. Wir alle bekamen einen Riesenschreck, als Sie mit dem Rettungswagen eingeliefert wurden. Sogar fixieren mussten wir Sie am Ende, so haben Sie um sich geschlagen. Muss ein ganz schön mieser Alptraum gewesen sein, in dem Sie sich verheddert hatten. Aber dann hat doch noch alles prima geklappt.«

Wovon sprach die?

»Na, nun gebe ich Ihnen erst mal die Kleine, dann ist die Welt wieder in Ordnung. Hat Ihnen bestimmt eine Heidenangst gemacht, die Geburt, was?« Mit diesen Worten drückte die Schwester ihr ein weißes Bündel in den Arm. Als Christina genauer hinsah, entdeckte sie das rote Gesicht eines Affen zwischen den zurückgeschlagenen Tüchern. Vor Schreck stieß sie es weit von sich.

»Was machen Sie denn?«, schrie die Schwester auf. »Fast hätten Sie das Püppchen fallen gelassen!«

Angewidert starrte Christina in das Affengesicht und fragte sich, was daran ein Püppchen sein sollte. Ihre Puppe hatte ein rosiges Gesicht, große blaue Augen und wunderschönes, langes blondes Haar besessen. Damit hatte das hier nicht das Geringste zu tun.

»Nun stellen Sie sich nicht so an, das wird doch nicht Ihr Erstes sein. Also, schön Arme aufhalten, dann lege ich Ihnen die Kleine so, dass Sie ihr die Brust geben können. Hat schon mächtig Hunger, die Süße.«

Mit diesen Worten zog ihr die Schwester das hinten offene Nachthemd vom Oberkörper und legte den Affen an ihre Brust. Mit einem schmatzenden Geräusch zog er sogleich an der Brustwarze. Christina schrie auf und stupste dieses widerliche, sabbernde Monster weg.

Die Krankenschwester blickte sie entsetzt und hilflos an, bevor sie mit der Bemerkung: »Ich hole mal eben einen Arzt« zusammen mit dem Monsteraffen das Zimmer fluchtartig verließ.

Endlich war es ruhig. Eine Wohltat. Doch sie musste sich konzentrieren, herausfinden, was hier los war. Versuchen, klar zu denken. Was also war passiert? Inzwischen war ihr klar, dass sie sich in einem Krankenhaus befinden musste. Nur den Grund verstand sie nicht. Was wollte die verrückte Krankenschwester mit dem Affen von ihr? Was war heute überhaupt für ein Tag? Und wie war sie hierher gekommen?

Oh Gott, die Schwester hatte von letzter Nacht gesprochen. Sie hatte nicht den geringsten Schimmer, was da passiert war. Nur eins wusste sie ganz genau: Wenn sie nach Hause käme, würde ihr der Mann eine Tracht Prügel verpassen.

Weiter kam sie nicht mit ihren Gedanken, denn ein weiß bekittelter Mann mit einem Stethoskop um den Hals betrat das Zimmer. Er sah aus wie der personifizierte Weihnachtsmann. Kurz vor siebzig, dominierten ein schneeweißer Vollbart und gütige Augen hinter dicken Brillengläsern das Gesicht.

»Na, was haben wir denn hier? Sie haben die arme Schwester ganz schön erschreckt.«

Christina sah ihn stumm an und harrte der Dinge, die da kommen würden und denen sie nicht ausweichen konnte – nicht hier in diesem Zimmer.

»Mir scheint, Sie sind noch ein bisschen durcheinander. Können Sie sich daran erinnern, dass Sie letzte Nacht ein gesundes, bildhübsches kleines Mädchen zur Welt gebracht haben?«

Sie schüttelte wortlos den Kopf. Wie sollte das denn passiert sein? Sie war doch gar nicht schwanger gewesen. Auch der redete wirr. Ihr schwirrte der Kopf von dem Quatsch, den die hier verzapften. Außerdem wurde ihr langsam übel. Der typische Krankenhausgeruch nach Desinfektionsmitteln, Stuhl und Urin drehte ihr den Magen um. Oder war es das, was der alte Mann behauptete?

»Na, dann will ich Ihnen mal auf die Sprünge helfen. Sie wurden heute Nacht auf dem Radweg zwischen Asel und Wittmund ohnmächtig aufgefunden. Sie sind mit dem Fahrrad gestürzt. Im Rettungswagen stellten die Rettungsassistenten dann fest, dass bei Ihnen Wehen eingesetzt hatten. Daraufhin brachte man Sie auf meine Station. Die Beule an Ihrem Hinterkopf ist nicht weiter schlimm. Haben Sie Schmerzen?«

Wieder schüttelte Christina den Kopf, obwohl ihr der Schädel brummte und schwummerig war.

»War ganz schön leichtsinnig von Ihnen, in Ihrem Zustand kurz vor der Geburt noch Rad zu fahren. Was haben Sie sich bloß dabei gedacht? Na egal, ist ja gerade noch mal gut gegangen. Leider hatten Sie keine Ausweispapiere bei sich, so dass wir Ihren Mann nicht herbeirufen konnten. Können Sie mir Ihren Namen und Adresse geben?«

Erneut schüttelte sie den Kopf. Alles, nur das nicht.

Stirnrunzelnd sah sie der Weihnachtsmann an.

»Wollen oder können Sie mir Ihren Namen nicht geben?«

Sie sah ihn nur stumm an.

»Was ist los mit Ihnen? Sie können sich mir anvertrauen. Ich will Ihnen doch bloß helfen.«

Helfen wollte er ihr? Fast hätte sie laut losgelacht. Ihr konnte niemand helfen. Sie musste hier weg, und zwar ganz schnell. Wo war sie hier überhaupt?

»Wissen Sie eigentlich, wo Sie sind?«, kam nun von dem Weihnachtsmann, als habe er ihre Gedanken gelesen.

Ein erneutes Schütteln des Kopfes war alles, was Christina zustande brachte.

»Das ist übel. Ich glaube, ich ziehe gleich mal einen Kollegen, der Neurologe ist, hinzu. Vielleicht kann der Ihnen weiterhelfen.«

Noch ein Arzt? Um Gottes willen, sie musste hier raus und nach Hause. Jetzt hatte sie noch eine – wenn auch geringe – Chance, dass ihr Mann nichts gemerkt hatte. Vielleicht, oder besser hoffentlich, lag er mal wieder sturzbetrunken im Bett und hatte gar nicht mitbekommen, dass sie weg war. Das konnte schon mal passieren. Ansonsten stand eine Tracht Prügel an. Wieder einmal. Grün und blau würde er sie schlagen, wenn sie das diesmal überhaupt überlebte. Noch nie war sie eine ganze Nacht weggeblieben, im Gegensatz zu ihm.

Aber was sollte sie mit dem Affen machen? Ganz klar. Irgendjemand wollte ihr da was anhängen. Leichte Panik stieg in ihr auf. Ihr Kopf war leer. Schlagartig erkannte sie, dass sie von hier verschwinden musste und zwar so schnell wie möglich. Niemand durfte wissen, dass sie hier gewesen war. Den Affen musste sie mitnehmen, so widerlich er ihr war. Der Affe könnte sie verraten, irgendwie. Im Fernsehen schafften sie es auch immer, aus den kleinsten Details soviel herauszubekommen, dass am Ende alle geschnappt wurden. Das musste sie verhindern.

Und wo kam er überhaupt her? War er aus ihr rausgekrochen? Hatte sie wegen dem die ganze letzte Zeit höllische Unterleibsschmerzen gehabt und noch mehr zugenommen, so dass ihr die alten Stretchhosen nicht mehr gepasst hatten? Aber nein, das konnte nicht sein, es handelte sich sicherlich um eine Verwechslung. Aber im Grunde war das egal, solange die Anderen glaubten, es wäre ihr Affe. Der musste verschwinden, und zwar ganz schnell und endgültig.

***

Dr. Erwin Volkers strich sich über seinen langen weißen Rauschebart. Was war bloß los mit dieser Frau? Eine heiße Tasse Kaffee dampfte auf dem Schreibtisch seines Arztzimmers im dritten Stockwerk des Wittmunder Krankenhauses vor sich hin. Nachdenklich ließ er die zweite Tüte Zucker in die Tasse rieseln. So was war ihm in seinem ganzen langen Berufsleben noch nicht untergekommen.

Ein Jahr noch, fiel ihm ein, dann konnte er in den wohlverdienten Ruhestand treten. Bis dahin hatte er die Verluste aus den Finanzgeschäften mit dieser dubiosen spanischen Immobiliengruppe ausgeglichen. Wurde ja auch Zeit, jetzt, wo er der Siebzig immer näher rückte. Endlich so viel und oft Golf spielen, wie er Lust hatte.

Sicherlich würde ihm die Arbeit fehlen. Es war schon was, einer jungen Mutter ein gesundes Kind in die Arme zu legen. Das Strahlen der Väter, wenn sie erfuhren, dass alle Arme, Beine, Hände und Füße dran waren.

Da waren aber auch die anderen Fälle, in denen sie trotz schnellem Eingreifen nicht verhindern konnten, dass ein Baby tot zur Welt kam. Gottlob kam das nicht allzu oft vor. Die Angst in den Augen der werdenden Mutter, wenn sie merkte, dass sich das Kind in ihrem Bauch nicht mehr bewegte. Wenn die Schwangeren plötzlich wieder dünner wurden, braunes Fruchtwasser abging und er ihnen sagen musste, dass er nicht mehr helfen konnte. Schlimm waren auch die Fälle, in denen die Eltern nach der Geburt die mandelförmigen Augen des Babys entdeckten. Er atmete schwer aus.

Ihm kam die seltsame Frau von letzter Nacht wieder in den Sinn. Da hatten sie ihr ein wunderbares Baby, ein niedliches kleines Mädchen, ein perfektes Wesen, in den Arm gelegt und sie stieß es weg, als handele es sich um ein Monster. Was war nur los mit der Frau, die kein Wort sprach? Er hatte schon häufiger Fälle von Kindbettdepression erlebt. Doch die hatten alle gesprochen, häufig geweint. Das Schweigen der unbekannten Frau war ihm unheimlich.

Ach ja, er wollte doch seinen Kollegen Winterstein anrufen. Vielleicht litt sie tatsächlich unter Gedächtnisverlust. So ein Fall war ihm noch nicht untergekommen. Besser, er holte sich kollegialen Rat. Irgendetwas stimmte da nicht, ganz und gar nicht.

***

Als Schwester Melanie Zimmer wieder betrat, sah sie in das freundlich lächelnde Gesicht der komischen Frau, die heute Nacht dieses niedliche Mädchen zur Welt gebracht hatte. Na, endlich war sie normal geworden.

»Ist alles okay? Soll ich Ihnen Ihre süße Kleine bringen?«

Die Frau nickte. War sie stumm? Das gabs doch nicht, dass die kein Wort sagte.

»Können Sie sprechen?«, hakte Schwester Melanie nach. Nach einem kleinen Zögern schüttelte die Frau den Kopf. Das also war das Geheimnis, sie konnte nicht reden. Das musste sie gleich Dr. Folkers berichten. Natürlich war der nicht selbst darauf gekommen. Aber so war das eben mit diesen uralten Ärzten. Konnten einfach nicht aufhören zu arbeiten und wurden nachlässig. Melanie seufzte. Ob es wohl stimmte, dass er große Schulden hatte und deswegen nicht aufhören konnte? Im Schwesternzimmer wurde schon lange darüber getuschelt.

Aber das war nun wahrlich nicht ihr Problem. Erst würde sie der Frau ihr Kind bringen und dann gleich die zwei Stockwerke rauf zu Dr. Folkers rennen. Sie hatte schon lange aufgegeben, ihn anzurufen. Entweder führte er Dauertelefonate – mit wem er wohl die ganze Zeit sprach – oder stand mit einer Tasse Kaffee auf dem Flur und hielt mit einem Schwätzchen die Schwestern von der Arbeit ab. Früher war er mal eine Koryphäe als Geburtsarzt gewesen, aber inzwischen war die Luft raus. Er sollte wirklich langsam aufhören und in den Ruhestand treten.

***

Das hatte gut geklappt. Christina wäre nie selbst auf die Idee gekommen, dass man sie für stumm halten könnte. Aber das war die Lösung. Dann brauchte sie nicht zu antworten und konnte sich auch nicht verraten. Zumal Reden noch nie ihre Stärke gewesen war.

Sofort erschien ein Strahlen auf dem Gesicht der Schwester, als sie den Affen halten wollte. Na prima, wenigstens war deren Welt wieder in Ordnung. Obwohl es ihr schwer fiel, nahm sie den Affen entgegen und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. Dabei war ihr das Wesen zuwider, das sie gezwungen war zu halten.

Christina hatte Riesenglück, dass sie alleine in dem Zimmer lag. Mühsam quälte sie sich aus dem Bett, kaum dass die Schwester wieder verschwunden war. Das Bündel, das sie ihr in den Arm gedrückt hatte, legte sie auf den Stuhl daneben. War ihr doch egal, wenn der Affen runterfiel.

Vorsichtig schlurfte sie zum Schrank. Etwas wackelig war ihr schon. Aber sie tröstete sich damit, dass es ihr bestimmt gleich besser gehen würde. Sie war hart im Nehmen, hatte nie etwas anderes gekannt.

Im Schrank entdeckte sie tatsächlich ihre alte Hose, die sie am Bund aufgeschnitten hatte, als ihr Bauch immer runder geworden war. Auch das weite bunte T-Shirt, das sie bei der Arbeit trug, hing darin. Ihre Crocs entdeckte sie unter dem Bett. Schnell schlüpfte sie hinein und schnappte sich das Bündel, das glucksende Geräusche von sich gab. Im Vorbeigehen erhaschte sie im Spiegel einen Blick auf sich selbst. Vor Schreck blieb sie stehen. Ihr Haar war fettig nach dieser Nacht und dunkle Ringe unter den Augen ließen sie älter erscheinen, als sie war. Wie gerne hätte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Doch sie musste weg, ganz schnell raus aus diesem Zimmer und verschwinden.

Vorsichtig öffnete Christina die Tür. Der Gang war bis auf einen jungen Mann leer, der zappelig vor einer großen Scheibe stand. Der war so fixiert auf das, was sich hinter der Scheibe abspielte, dass er nicht wahrnahm, dass sie die Tür zum Treppenhaus aufstieß.

Die eine Treppe zum Hauptausgang des Krankenhauses brachte Christina mühsam hinter sich. Sie stöhnte bei jedem Schritt leise auf und musste sich den Schweiß aus den Augen wischen. Schon sah sie den Ausgang vor sich, als sie von hinten angesprochen wurde.

Als sie sich umdrehte – warum bloß hatte sie den Ruf nicht einfach ignoriert – sah sie Ännchen Tjardes vor sich. Entsetzt drückte sie das glucksende Bündel fest an sich. Schon hörte das Glucksen auf. Beide Arme darüber verschränkend, versuchte sie, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. An der Mine von Ännchen erkannte sie jedoch, dass ihr das gründlich misslang.

»Was machen Sie denn hier? Geht es Ihnen nicht gut?«

»Doch, doch«, brachte sie mühsam heraus.

»Sind Sie auf dem Weg nach Hause? Dann können wir Sie mitnehmen. Ich habe meine Untersuchung hinter mir und bin fertig. Der Hermann holt gerade den Wagen, damit ich nicht so weit laufen muss. Der Bruch im Mittelfuß verheilt gut, sagt der Arzt. Die Schiene haben sie schon abgenommen.«

Christina schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Muss mein Fahrrad mitnehmen und noch im Combi einkaufen.«

So einfach ließ sich ihre neugierige Nachbarin jedoch nicht abschütteln. Ausgerechnet Ännchen Tjardes, diese Dorftratsche, musste ihr hier begegnen.

»Das trifft sich gut, wir müssen auch noch einkaufen«, erwiderte Ännchen. Dabei starrte sie auf Christinas Bauch – und das Bündel, das diese immer fester an sich drückte. Erst hatte es noch gezappelt, doch nun regte es sich schon eine ganze Weile nicht mehr. Wenn es jetzt losschrie, wäre alles verloren. Also versuchte sie, das Bündel noch fester an sich ran zu quetschen.

»Nein, nein, brauch’ nachher noch das Fahrrad, um zur Arbeit zu kommen. Muss dann mal los.« Damit drehte sich Christina um. Fast wäre sie gegen die geschlossene Glastür gerannt, die sich erst im letzten Moment automatisch öffnete.

Sofort schlug ihr eine Wand schier unerträglicher Bullenhitze entgegen, die ihr den Atem raubte. Schon seit Wochen hielt diese frühsommerliche Hitzewelle an, die die Erde ausgetrocknet hatte und aufplatzen ließ wie einen überreifen Kürbis. So ein Wetter war für Ostfriesland völlig ungewöhnlich. Tagtäglich berichteten die Zeitungen darüber und über die Folgen des Klimawandels. Dabei stritten die Experten noch über die Frage, ob es sich um eine Folge der globalen Erwärmung oder um einen normalen, etwas verfrühten mitteleuropäischen Sommer handelte.

Christina eilte im Laufschritt in Richtung des Parkplatzes. Aus den Augenwinkeln erkannte sie den alten Mercedes von Hermann Tjardes um die Ecke biegen und auf sich zukommen. Schnell drehte sie sich zur Seite, in der Hoffnung, dass er sie nicht gleich erkennen möge.

Ihr Manöver ging auf, ohne zu zögern fuhr er an ihr vorbei zum Eingangsportal. Schnell rannte sie um die nächste Ecke. Kaum ließ sie das Bündel vor ihrem Bauch etwas lockerer, spürte sie ein Zucken durch den kleinen Körper fahren und schon ging das Geschrei los.

Die wenigen Leute auf dem Parkplatz warfen ihr mitleidige Blicke zu. Vorsichtshalber legte sie sich das Bündel so vor die Brust, dass es einigermaßen normal aussah. Doch was war schon normal, wenn man einen Affen mit sich rumschleppen musste?

Rasch überquerte Christina den Parkplatz, eilte den Fußweg zum Landkreisgebäude entlang und vorbei am Amtsgericht über den Marktplatz in die Fußgängerzone von Wittmund.

Just in diesem Moment brach hinter ihr die Hölle los. Von weiter hinten nahten zwei Rettungswagen vom noch nahen Krankenhaus. Links hinter sich erkannte sie bei einem Blick über die Schulter ein Fahrzeug des Katastrophenschutzes, das sich am Gebäude der Landkreisverwaltung in Bewegung gesetzt hatte. Weiter links sah sie mehrere Polizeifahrzeuge vom Hof der Polizeistation losfahren, alle mit laut heulendem Martinshorn und rotierendem Blaulicht.

Christina geriet in Panik. Sollten die alle hinter ihr her sein? Mitten auf dem Fußweg blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte auf die sich nähernden Fahrzeuge. Doch zu ihrer Erleichterung bogen sie kurz vor ihr ab auf die Isumser Straße und entfernten sich wieder. Keiner der Insassen schaute auch nur in ihre Richtung.

Etwas beruhigt drehte sie sich um und hastete weiter in die Fußgängerzone. Dort wurde sie langsamer, wollte nicht auffallen. Endlich kam sie zum Luftholen. Doch viel Zeit blieb ihr nicht dafür. Sie musste ganz schnell nach Hause, das war ihr klar. Dort könnte sie alles Weitere regeln. Aber wie sollte sie dahin kommen?

***

Als Dr. Folkers zusammen mit Schwester Melanie das Zimmer der stummen Frau betrat, blieben beide wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Sie war weg, zusammen mit dem kleinen Mädchen, einfach weg. Fassungslos starrten sie auf das leere Bett, bevor Schwester Melanie durch das Zimmer zur Badezimmertür hastete, die nur angelehnt war. Hilflos und fragend drehte sie sich um, als sie erkannte, dass sich die Frau nicht im Bad befand.

Doch auch er wusste nicht weiter. Es war beunruhigend gewesen, als sein Kollege gesagt hatte, es könnte sich natürlich um einen einfachen Gedächtnisverlust handeln. Es könnte aber auch etwas Schlimmeres sein. Sie sollten auf jeden Fall gut auf das Baby aufpassen, es könnte in akuter Gefahr schweben. Und nun war die Frau weg und hatte das hilflose Mädchen, dieses niedliche und perfekte Wesen, mitgenommen. Was sollte er nur machen?

Am besten ging er sofort zu Dr. Winterstein und fragte ihn, was er mit der Bedrohung für das Kind gemeint hatte und was zu tun sei.

Nicht zum ersten Mal spürte er, wie alt er war.

***

Dr. Winterstein fuhr erschrocken auf. Er war es nicht gewohnt, dass jemand ohne anzuklopfen und auf sein »Herein« zu warten sein Arztzimmer betrat.

Als er seinen Kollegen Dr. Folkers erkannte, zog er erstaunt die Augenbrauen bis zu seinen untersten Sorgenfalten auf der Stirn hoch. Eigentlich sollte der alte Zausel mit seinen fast siebzig längst im Ruhestand sein. Was wollte der denn schon wieder? Sie hatten doch eben erst telefoniert.

Noch bevor er reagieren konnte, sprudelte es aus Dr. Folkers heraus: »Sie ist weg und hat es mitgenommen, einfach so.«

»Wer ist weg?«

»Na die Frau, die sich nicht erinnern konnte. Warum sagten Sie, dass wir auf das Baby aufpassen sollen?«

Entgeistert sah er seinen alten Kollegen an. Dann fiel der Groschen. »Die Frau, die sich an nichts erinnern konnte, aber das Baby weggeschubst hat, als wäre es ihr zuwider? Die ist weg und hat das Baby mitgenommen?«

»Das sag ich doch die ganze Zeit. Warum haben Sie mich gewarnt? Was soll ich denn jetzt nur machen?«

Als hätte sich soeben die schlechtere der beiden denkbaren Alternativen bestätigt, nickte Dr. Winterstein besorgt. »Das ist nicht gut, überhaupt nicht gut. Ich hatte gehofft, dass ich mich irre. Aber da sie tatsächlich verschwunden ist, sollten wir schnellstens die Polizei rufen und nach ihr suchen lassen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Das ist eine reine Verdachtsdiagnose, schließlich habe ich die Frau noch nicht mal gesehen. Aber sicher ist sicher. Wir dürfen nichts riskieren.«

Ganz grau im Gesicht ließ sich Dr. Folkers unaufgefordert auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch sinken und hörte zu, als sich Dr. Winterstein mit dem zuständigen Kommissariat verbinden ließ.

***

Kommissarin Adams,seit einem Vierteljahr in der Polizeistation Wittmund, bekam wieder die undankbarste Aufgabe zugewiesen. Alle anderen waren zur Rettung der Etzeler Bevölkerung eingesetzt. Das wäre ganz nach Adams Geschmack gewesen. Sie jedoch musste ins Wittmunder Krankenhaus. Weil irgendsoeine durchgeknallte junge Mutter mit ihrem Baby nach Hause marschiert war, ohne sich ordentlich abzumelden. Klasse. Als ob sie das nicht dürfte.

Und dann musste sie auch noch ihren Assistenten Lemberger mitschleppen, diesen muskelbepackten Volltrottel. Diese elfte Plage Gottes, die nur dazu geboren war, ihr das Leben zur Hölle zu machen.

Obwohl alle in Hektik waren, ging das übliche hämische Kichern und Geifern durch den Raum, als dieser Idiot in Armani hinter ihr her eilte, wie immer very busy, wie immer gewollt lässig. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, woher er das Geld für solche Klamotten hatte. Und überhaupt. Womit hatte sie den nur verdient? Mit der Versetzung in dieses Kuhdorf am Arsch der Welt war sie doch gestraft genug, da musste man ihr nicht auch noch diesen Möchtegern Mister Universum aufhalsen. Sie stöhnte.

Doch was blieb ihr anderes übrig, als ihn mitzuschleppen, wenn sie nicht schon wieder Stress mit ihrem Chef, Edzard van Hülsen, riskieren wollte. Nach dem Gau in Hannover musste sie ganz vorsichtig sein. Noch so eine Blamage und sie war weg vom Fenster und das für alle Zeiten.

Kapitel 2

Dienstag, der 26.05.2009, 11 Uhr bis 13.30 Uhr

Gegen 11.30 Uhr gerät das erste Bohrloch außer Kontrolle. Durch ein Leck treibt nun ungehindert Erdgas aus dem kollabierten Untertagespeicher mit Schallgeschwindigkeit nach oben. Das Gas, mit vielen Tonnen Rückstoßkraft, setzt wie ein Raketentriebwerk die Sperrventile außer Funktion. Die Blow-out-Rate beträgt 500.000 Kubikmeter pro Stunde. An der Oberfläche entzündet sich der Brennstoff durch Schlagfunken. Weithin sichtbar lodert eine gelbliche Feuersäule zweihundertfünfzig Meter hoch. Rot glühende Stahlrohre der Gasbetriebsanlage Etzel knicken ein, Betriebsanlagen schmelzen.

Das größte Risiko besteht derzeit darin, dass die Gasleitung, durch die russisches Erdgas ungereinigt nach Etzel transportiert wird, leckschlägt. Dann ist das Gasgemisch nicht nur hochexplosiv, sondern auch noch hochgiftig, weil das russische Gas den nach faulen Eiern riechenden Schwefelwasserstoff enthält. Diese giftigen Beimengungen werden erst in Etzel herausgefiltert. Außerdem befürchten die inzwischen eingetroffenen Experten, dass weitere Kavernen wegen des nachgebenden Untergrunds ebenfalls kollabieren könnten.

Die Bevölkerung ist inzwischen gewarnt und die Evakuierung, die größte in der Geschichte Ostfrieslands, hat begonnen. Panik bricht unter der Bevölkerung aus. Da hilft es auch nicht, dass ein Einsatzfahrzeug der Polizei durch die Straßen fährt und versucht, die Leute per Lautsprecherdurchsage zu beruhigen.

Die Bauern der Umgebung versuchen, ihr Vieh in die Ställe bringen, um es zu retten. Doch die Polizei hält sie davon ab. Jetzt gilt es, alle Menschen im Umkreis zu schützen, für das Vieh und die Haustiere ist weder Zeit noch Platz. Das führt dazu, dass sich einige Anwohner weigern, in die inzwischen vorgefahrenen Busse zu steigen, weil sie ihre Haushunde und Katzen zurücklassen müssten. Andere verweigern das Zurücklassen ihrer Habseligkeiten, die sie rasch in Koffern zusammengerafft haben. Doch die Polizei greift energisch durch. Schließlich gehen Menschenleben vor. Dafür ist jeder Quadratmeter in den organisierten Bussen dringend erforderlich.

Die Einsatzleitung hat aufgrund der sich immer weiter ausbreitenden Gaswolke und der Windrichtung aus West beschlossen, nun auch Dangast zu evakuieren. Wegen des guten Wetters ist der Campingplatz voll belegt und die Hotels sind ausgelastet. Da die Zufahrtsstraße zu dem Badeort am Jadebusen teilweise nur über eine Fahrtspur verfügt, gestaltet sich die Räumung äußerst schwierig. Außerdem nehmen die meisten Urlauber die Warnungen nicht ernst oder bestehen darauf, ihre Wohnwagen oder -mobile mitzunehmen. Schließlich herrscht wunderbares Wetter und die Gefahr aus Etzel ist abstrakt. Man sieht zwar vom Strand aus eine Rauchsäule im Westen, doch die scheint weit weg. Erst als die inzwischen mit Schutzanzügen bestückten Polizisten anrücken, verstehen die Urlauber den Ernst der Lage.

Inzwischen wird die Räumung des Nordwest Krankenhauses Sanderbusch thematisiert. Doch sofort ist klar, dass die zur Verfügung stehenden Rettungs- und Krankenwagen bei weitem nicht ausreichen, um alle Patienten zeitnah aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Außerdem ist die Verlegung der schwerkranken Patienten riskant. Noch hoffen die Verantwortlichen, diese Maßnahme vermeiden zu können. Alle stationären Patienten werden nach Hause geschickt oder an andere Krankenhäuser außerhalb der Gefahrenzone verwiesen.