Mord am Usedomer Fischerstrand - Elke Pupke - E-Book

Mord am Usedomer Fischerstrand E-Book

Elke Pupke

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Beschreibung

Trügerische Idylle. Tante Berta freut sich, ihre alte Freundin Tilda wiederzutreffen, die in Bansin Strandkörbe vermietet. Dann erfährt sie vom Tod einer alten Dame, der sich kurz darauf als Mord erweist. Und bald darauf liegt ein weiterer Toter am Bansiner Strand. Um die Morde aufzuklären, muss die alte Pensionswirtin Tilda einige Familiengeheimnisse entlocken. Erneut ermittelt Berta am Stammtisch im Kehr wieder und wieder gibt es viele Verdächtige, was die Aufklärung nicht einfacher macht. Ist das Motiv bei einem begehrten Baugrundstück zu fi nden? Spielt das Nobelrestaurant Morris, das Tildas Tochter geerbt hat, eine Rolle? Oder vielleicht die lukrative Vermietung von Strandkörben? Als Tante Berta nach einem weiteren Mord einen Verdacht hegt und dem Täter eine Falle stellt, gerät sie selbst in eine gefährliche Situation.

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Elke Pupke

MORDAM USEDOMER FISCHERSTRAND

HINSTORFF

Inhalt

Prolog: 20 Jahre vorher

Sonnabend, 4. Juni

Sonntag, 05. Juni

Dienstag, 07. Juni

Freitag, 10. Juni

Sonnabend, 11. Juni

Sonntag, 12. Juni

Montag, 13. Juni

Dienstag, 14. Juni

Freitag, 17. Juni

Sonnabend, 18. Juni

Sonntag, 19. Juni

Montag, 20. Juni

Freitag, 24. Juni

Sonnabend, 25. Juni

Montag, 27. Juni

Dienstag, 28. Juni

Freitag, 1. Juli

Sonntag, 03. Juli

Montag, 04. Juli

Dienstag, 05. Juli

Donnerstag, 07. Juli

Sonnabend, 09. Juli

Montag, 11. Juli

Mittwoch, 13. Juli

Donnerstag, 14. Juli

Sonnabend, 16. Juli

Sonntag, 17. Juli

Dienstag, 19. Juli

Donnerstag, 21. Juli

Freitag, 22. Juli

Sonnabend, 23. Juli

Montag, 25. Juli

Dienstag, 26. Juli

Mittwoch, 27. Juli

Freitag, 29. Juli

Epilog: Montag, 1. August

Unsere Autorin

Bereits erschienen

Pressestimmen

Prolog

20 Jahre vorher

Doreen Förster kann nicht schlafen. Es ist drückend heiß im Schlafzimmer. Seit Stunden dreht sie sich von einer Seite auf die andere, knüllt das Kopfkissen zusammen und glättet es wieder, legt sich mal auf die Bettdecke und dann wieder darunter und beneidet ihren Mann, der ruhig und gleichmäßig atmet und hin und wieder leise schnarcht. Dann stößt sie ihn an, er dreht sich auf die Seite und schläft weiter. Sie würde gern das Licht einschalten und den Krimi weiterlesen, aber dann wird er wach und schnauzt sie an. Er muss früh aufstehen, jetzt im Sommer verlässt er schon um sechs Uhr morgens das Haus. Ohnehin ist er dauernd gereizt, die Arbeit auf der Baustelle ist schwer, bei dieser Hitze besonders. Trotzdem macht er Überstunden, sie brauchen das Geld, um die Kreditraten für das Haus zu zahlen.

Aber schließlich war es seine Idee, dieses Haus zu kaufen, sie hätte lieber eine Mietwohnung gehabt, vielleicht in Strandnähe. Jetzt wohnen sie einen Kilometer vom Strand entfernt, das geht noch, aber am Waldrand, wo es viele Mücken gibt und Wildschweine, die sie fürchtet. Karsten meinte, wenn er schon Förster heiße, müsse er am Wald wohnen. Sie findet das kein bisschen lustig.

Er wollte unbedingt etwas Eigenes, am liebsten ein altes Haus, das er ja selbst umbauen und modernisieren kann. Na ja, das hat er ja jetzt. Zu tun gibt es reichlich, nur hat er im Moment weder Zeit noch Kraft dazu. Und das Geld reicht nie.

Doreen nimmt den Wecker vom Nachttisch und versucht, die Zahlen zu erkennen. Kann es tatsächlich schon drei Uhr sein? Dann hat sie wohl doch ein paar Stunden geschlafen.

Sie legt sich zurück, findet endlich eine bequeme Lage. Heute muss sie mit dem Kleinen einkaufen fahren, er braucht unbedingt neue Schuhe, eigentlich auch Hosen, er wächst jetzt so schnell aus allem raus. Ob der Sommerschlussverkauf schon begonnen hat?

Dass sie langsam in den Schlaf sinkt, merkt sie erst, als sie daraus aufgeschreckt wird. Es donnert, ein sehr lauter, kurzer Knall, dann noch einmal, ein längeres Grollen.

Endlich! Seit Tagen sehnt sie das Gewitter herbei, das diese unerträgliche Schwüle beendet. Dann wird sie auch wieder besser schlafen. Sie schließt die Augen, dann fällt ihr ein, dass die Kissen noch draußen auf den Gartenmöbeln liegen. Wenn die nass werden, dauert es ewig, bis sie wieder trocknen. Sie steht auf, tastet sich im Dunkeln aus dem Zimmer.

Das Wohnzimmer befindet sich an der anderen Seite des Hauses. Hier ist es hell. Natürlich, es ist Vollmond. Noch ein Grund dafür, dass sie so schlecht schläft. Ohne das Licht einzuschalten, geht Doreen durch die Terrassentür in den Garten. Es ist nur eine kleine Rasenfläche zwischen ihrem Haus und dem Zaun zum Nachbargrundstück. Eine hohe Hecke bildet die Grenze und bietet Sichtschutz. Mit dem Nachbarn wollen sie nichts zu tun haben. Ein unangenehmer Mensch. Laut und primitiv, gibt ungebetene Ratschläge, wenn er nüchtern ist und pöbelt, wenn er betrunken ist, was häufig vorkommt.

Sie erschrickt und stolpert, als es wieder donnert, jetzt noch lauter, das Gewitter ist ganz nahe. Ein Blitz zuckt auf. Plötzlich wird es dunkel, eine Wolke hat sich vor den Mond geschoben.

Sie hätte wohl doch das Licht auf der Terrasse einschalten sollen. Aber nun ist sie schon an der Sitzecke, ertastet einen Stuhl und nimmt die Auflage herunter.

Dann hört sie das Geräusch hinter der Hecke. Einen Moment lang lauscht sie. Ein Tier? Nein. Es klingt, als würde Metall auf einen Stein treffen. Ruhe. Sie hält den Atem an. Da – wieder. Jetzt leiser. Kein Zweifel, da gräbt jemand in der Erde. Am Tage hätte sie das Geräusch nicht überrascht. Sie weiß, dass dahinter ein Garten ist, ziemlich vernachlässigt, die meisten Beete sind von Unkraut überwuchert.

Aber nicht mal ihre Nachbarn sind so verrückt, dass sie mitten in der Nacht ihren Garten umgraben.

Kurz zögert sie, steht mit dem Kissen in der Hand da und lauscht. Dann siegt die Neugier über ihre Furcht. Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Lautlos schleicht sie durch das kurze Gras bis an die Hecke. Dort ist die Stelle, wo man hindurchsehen kann.

Jetzt donnert es wieder, ein Blitz folgt kurz darauf. Er beleuchtet für den Bruchteil einer Sekunde das Loch neben dem Johannisbeerstrauch und die Gestalt, die den Spaten in die Erde stößt.

Für einen Moment glaubt Doreen, eine Frau zu erkennen. Aber es muss ihr Nachbar sein, der verrückte Trautmann, der hier mitten in der Nacht in seinem Garten buddelt. Dem möchte sie schon am Tag nicht gern begegnen und ganz sicher nicht in der Nacht.

Leise schleicht sie zurück, vergisst beinahe, weshalb sie eigentlich in den Garten gegangen ist. Sie ist schon an der Terrasse, als sie den ersten Regentropfen spürt und schnell zurückgeht, um die Kissen einzusammeln.

Bevor sie das Küchenfenster schließt, lauscht sie noch einmal nach draußen. Aber jetzt sind nur noch das Donnern und der heftige Regen zu hören.

Als Doreen erwacht, ist ihr Mann schon aus dem Haus. Ihr dreijähriger Sohn steht an ihrem Bett und erzählt, dass es draußen regnet: »ganz doll«.

»Das ist schön, mein Schatz«, murmelt sie und steht mühsam auf, um dem Kleinen sein Frühstück zu bereiten. Erst unter der Dusche fällt ihr das nächtliche Erlebnis wieder ein. Oder hat sie es geträumt?

Am Nachmittag, als der Regen etwas nachlässt, geht sie zur Hecke und sieht hindurch. Tatsächlich, wenn man genau hinsieht, erkennt man neben dem Johannisbeerstrauch eine Stelle, an der das Unkraut nicht wächst, sondern nur hingeworfen wurde. Darüber liegt ein großer, vertrockneter Ast.

›Hat der Idiot da wirklich mitten in der Nacht ein Loch gegraben? Wozu? Was hat er da verbuddelt?‹

Karsten Förster vermutet, dass seine Frau zu viel Fantasie hat und außerdem nicht ausgelastet ist. Vielleicht ist sie auch zu viel allein mit dem Kind. »Fang jetzt bloß nicht an, den Nachbarn hinterherzuspionieren«, warnt er sie. »Was geht uns das an, was die in ihrem Garten machen. Ich will mit dem Trautmann nichts zu tun haben.«

Wochen später erfährt Doreen von einer anderen Nachbarin, dass Trautmann Mutter, Ehefrau und Tochter verlassen hat, um nach Australien auszuwandern. »Wahrscheinlich mit irgendeiner Schlampe, die er im Sommer hier aufgerissen hat«, vermutet sie.

Försters ist es egal. Sie sind froh, dass Trautmann weg ist. Jetzt ist es so viel ruhiger in der Nachbarschaft.

Als sie an einem stillen, warmen Septembernachmittag in ihrem Garten sitzt und dem Kleinen beim Spielen zusieht, denkt Doreen darüber nach, wann genau ihr Nachbar eigentlich verschwunden ist. Hat sie ihn nach dieser Gewitternacht noch einmal gesehen? Nein, wahrscheinlich nicht.

Die Nachbarin hat erzählt, er wäre nach dem großen Krach verschwunden, der in der ganzen Umgebung zu hören war. Trautmann hat im Haus und auf dem Hof herumgebrüllt, Türen zugeknallt und mit Gartenmöbeln um sich geschmissen. Die hätte er nach seiner Frau geworfen, behauptete die Nachbarin, und auch, dass er diese geschlagen habe. Zuzutrauen wäre es ihm. Auch Tildas Wutgeschrei war diesmal zu hören gewesen. Ungewöhnlich für die eigentlich ruhige Frau.

Diesen Wutausbruch hatte er an dem Abend vor dem Gewitter, fällt Doreen jetzt ein. Oder? Ja natürlich, das war ja auch ein Grund dafür, dass sie so schlecht schlafen konnte. Sie hatte sich über Trautmann aufgeregt und dann mit ihrem Mann gestritten, weil sie die Polizei rufen wollte und er es ihr schlichtweg verboten hatte. Wie immer wollte Karsten sich aus allem heraushalten.

Und dann diese fürchterliche Hitze. Sie waren alle gereizt und sie dachte noch, dass man bei dem Wetter ja durchdrehen muss, wenn man Alkohol trinkt.

Aber was war das dann in der Nacht? Hatte sie das nur geträumt? Es kommt ihr jetzt so unrealistisch vor. Vielleicht hat er aber auch wirklich etwas vergraben, bevor er abgehauen ist, um es vor seiner Familie zu verstecken? Sie beschließt, bei Gelegenheit – wenn weder ihr Mann noch die Trautmanns zu Hause sind – nachzusehen. Sie ist jetzt sehr neugierig.

Es ergibt sich aber einfach keine Gelegenheit. Oma Rosi ist eigentlich immer da. Sie sitzt in ihrem Stuhl am Tor oder am Fenster, von dem aus sie in den Garten sehen kann. Doreen überlegt, sich im Dunkeln auf das Nachbargrundstück zu schleichen, aber sie traut sich nicht. Die Trautmanns haben einen Hund, der es bewacht. Und wie peinlich wäre es, erwischt zu werden. Dann vergisst sie ihre Beobachtung.

Sonnabend, 4. Juni

»Haben Sie meinen Sohn gesehen?« Die Stimme der blonden jungen Frau klingt schrill, leicht hysterisch und sie hat die Augen weit aufgerissen.

»Nein, ist er nicht in ihrem Zimmer?« ›Blöde Frage‹, denkt Sophie, direkt nachdem sie sie gestellt hat. ›Da hätte seine Mutter ihn ja wohl gesehen.‹ Sie sieht sich um. Gerade haben die letzten Urlauber die Gaststätte, die auch als Frühstücksraum für die Pension dient, verlassen. Auf einem Tisch steht noch benutztes Geschirr, das Büfett ist schon zum Teil abgeräumt. Tante Berta kommt aus der Küche, nimmt eine Wurstplatte in die Hand und stellt sie gleich wieder ab, als sie die Gesichter der beiden Frauen sieht.

»Ist was passiert?«

»Nein – ich weiß nicht – mein Junge – ich war nur kurz im Bad und dann war er plötzlich weg.«

Die Wirtin sieht auf die offene Tür, die zur Strandpromenade führt und dann hilfesuchend zu ihrer Tante. Die schüttelt den Kopf. »Was soll ihm denn passiert sein? Wahrscheinlich ist er zum Strand gelaufen und buddelt da im Sand.« Sie sieht den kleinen blonden Lockenkopf, vier oder fünf Jahre alt, vor sich, wie er gestern stolz seine neue Schaufel und einen kleinen roten Eimer durch die Gaststätte getragen hat.

»Aber – wenn er nun ins Wasser läuft!« Die junge Mutter rennt los und wäre beinahe die Treppe hinuntergefallen.

Berta seufzt. »Geh lieber hinterher und hilf ihr suchen, falls sie ihn nicht gleich findet. Sonst dreht sie noch völlig durch.«

Sophie stöhnt und verdreht die Augen, geht dann aber doch zögernd los. Langsam, in der Hoffnung, dass ihr die Urlauberin mit dem Kind an der Hand entgegenkommt. Eigentlich hat sie überhaupt keine Zeit für so etwas, aber natürlich hat Tante Berta recht, wie meistens. Die Suche nach einem Kind ist wichtiger, als die Salate in den Kühlschrank zu stellen.

Das tut Berta inzwischen. Sie ist mit ihren 82 Jahren zwar schon lange im Ruhestand, aber da sie sich sowieso den ganzen Tag in der Pension aufhält und nur zum Schlafen nach Hause geht, hilft sie ganz selbstverständlich mit, wo sie kann und will.

Jetzt räumt sie das Frühstücksbüfett ab, stellt auch noch Wurst, Butter und Käse kalt, holt das letzte benutzte Geschirr in die Küche und wechselt die Tischdecke. Dann sieht sie sich zufrieden um, der Gastraum ist in Ordnung. Um die Küche kümmert sie sich nicht weiter, sondern setzt sich an den Stammtisch in der Ecke, der von der Rezeption verdeckt wird und schlägt die Ostseezeitung auf.

Sie liest die erste Seite, dreht die Zeitung dann um und beginnt, sie von hinten zu lesen. Nach einer Weile wird sie unruhig und sieht immer wieder zur Tür. Sophie sollte schon längst zurück sein. Sie war ganz sicher, dass der kleine Junge auf dem kürzesten Weg zum Strand gegangen ist und dort im Sand spielt.

Berta legt ihre Brille auf die aufgeschlagene Zeitung und schiebt sich etwas mühsam zwischen Sitzbank und Tisch hindurch. Sie ist kaum mittelgroß und in der Körpermitte ziemlich rund, trägt aber trotzdem Jeans, deren Hosenbeine sie einfach umgekrempelt hat.

›Ich sollte mit dem Essen ein bisschen aufpassen, sonst komme ich eines Tages gar nicht mehr hinter dem Stammtisch raus‹, denkt sie. ›Außerdem kneift die Hose neuerdings.‹

»Und du hast Schuld daran«, erklärt Berta der verblüfften Köchin, die gerade hereinkommt.

»Was? Woran hab ich nun wieder Schuld?«

»Dass ich über Winter so fett geworden bin. Du kochst einfach zu gut. Und zu fett.«

»Ja, ja. Du nimmst über Winter immer zu. Es dauert jetzt nur länger, dass du wieder abnimmst. Sonst bist du um diese Zeit schon schwimmen gegangen und viel mehr am Strand herumgelaufen.«

»Ja, hast wohl recht. Ich glaube, ich werde langsam alt.«

»Du doch nicht, Berta. Du bleibst ewig jung.« Renate stößt die Schwingtür zur Küche auf und verschwindet dahinter. Ihre Bemerkung hat sie völlig ernst gemeint.

Niemand würde Berta Kelling ihr Alter ansehen. Ihr Gesicht ist zwar voller geworden, dadurch aber auch wieder ziemlich glatt, die immer noch dichten grauen Haare sind zu einer modischen Kurzhaarfrisur geschnitten. Besonders die wachen, strahlend blauen Augen lassen sie jünger wirken.

Sie tritt aus der Tür und bleibt oben an der großen Freitreppe stehen. Über die Dünen hinweg kann sie auf den Strand und die Ostsee blicken. Es sind noch nicht viele Menschen dort unten, die Strandkörbe stehen verschlossen und ordentlich aufgereiht, nur dicht am Ufer sind einige Spaziergänger unterwegs, ein paar Kinder spielen mit einem Ball. Aber es sind größere, der kleine Urlauberjunge, der von seiner Mutter gesucht wird, ist nicht dabei.

Auch auf der Strandpromenade kann Berta ihn nicht entdecken. Sie sieht nach rechts bis zum Musikpavillon, dann nach links zu den Fischerhütten. Von dort kommt Sophie.

»Wir haben ihn nicht gefunden«, sagt sie atemlos, als sie die Treppe hinaufkommt. »Seine Mutter sucht noch am Strand, aber sie will, dass ich die Polizei anrufe. Soll ich?«

Ihre Tante zuckt unschlüssig mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Sicher finden wir ihn selbst, aber wenn seine Mutter es will – vielleicht hat er sich verlaufen, der kleine Kerl. Blöd, dass die Rettungstürme noch nicht besetzt sind.«

Während der Saison hört man am Strand oft Lautsprecherdurchsagen, dass Kinder ihre Eltern suchen oder umgekehrt. Aber noch sind kaum Rettungsschwimmer im Dienst, auch hier herrscht Personalmangel.

»Ruf mal sicherheitshalber Fred Müller an«, rät Berta. »Er kann ja mal vorbeikommen, dann kann er selbst entscheiden, was er macht.«

Der Ortspolizist ist ein guter Bekannter, den sie schon seit seiner Kindheit kennt und dessen Ruhe und Besonnenheit sie schätzt.

»Und dann bleibst du hier und ich geh mal zu Paul runter, vielleicht haben die Fischer den Kleinen gesehen. Er könnte ja auch bei den Booten sein, die sind doch interessant für kleine Jungs.«

Während Berta auf der Promenade entlang in Richtung Fischerstrand geht, erschrickt sie kurz bei dem Gedanken, das Kind könnte ins Wasser gelaufen sein. Aber nein, unmöglich, das wäre jemandem aufgefallen. Die Ostsee ist noch kalt, es badet kaum jemand.

Sie hätte die Mutter fragen sollen, ob der Kleine seine Schaufel mitgenommen hat und wie er bekleidet ist. Sie geht zwischen den Fischerbuden und dann zwischen den Dünen hindurch. Die Augen leicht zusammengekniffen, blickt sie am Strand entlang und auf das in der Sonne glitzernde Wasser. Nur Erwachsene sind zu sehen: eine Joggerin, ein junges Paar mit Hund, eine ältere Frau, die ihre Schuhe in der Hand trägt und vorsichtig durch das flache Wasser watet. Kein Kind, auch nicht zwischen den Strandkörben.

Berta erschrickt, als sie plötzlich angesprochen wird. »Hallo! Kennst du mich nicht mehr?«

Einen Moment stutzt sie. »Tilda! Was machst du denn hier? Ich hab dich gar nicht gesehen.«

Neben ihr in einem Strandkorb sitzt eine Frau und kriegt sich gerade gar nicht wieder ein vor Lachen. »Ich bin doch nun wirklich nicht zu übersehen, oder?«

Nein, das ist sie eigentlich nicht. Die ältere Frau füllt den Strandkorb beinahe völlig aus, sie ist groß und breit, hat einen mächtigen Busen und der Bauch darunter wackelt beim Lachen. Dass sie ein quergestreiftes, blau-weißes T-Shirt trägt, ist ihrer Figur nicht zuträglich, macht aber auch nichts mehr.

»Liegt vielleicht daran, dass du Tarnkleidung trägst«, erwägt Berta. »War von dem Strandkorbstoff noch was übrig geblieben?«

Tilda lacht noch lauter. Jetzt hüpft auch ihr Busen auf und ab und der ganze Strandkorb wackelt.

Erst als sie das Klappern hört, fällt Berta auf, dass sich innen im Strandkorb, links von Tilda ein großes Schlüsselbrett befindet. Bevor sie fragen kann, steckt ein kleiner blonder Junge neugierig seinen Kopf hinter dem Korb hervor, neben ihm taucht ein struppiger braun-weißer Mischlingshund auf.

Berta fällt ein Stein vom Herzen. »Mensch, Junge – wie heißt du eigentlich? – deine Mutter sucht dich. Du kannst doch nicht einfach – ach was, komm schnell.« Sie nimmt ihn an die Hand und dreht sich im Weggehen noch einmal zu Tilda um. »Ich komm nachher gleich wieder, lauf nicht weg!«

Eine halbe Stunde später hat sich die Aufregung gelegt. Fred Müller, der Polizist, wehrt die Entschuldigung der jungen Mutter ab, er ist genauso erleichtert wie alle anderen, dass der kleine Lockenkopf wieder da ist. Der versteht die ganze Aufregung nicht. »Ich hab doch nur mit dem Hund gespielt«, erklärt er. »Der heißt Schörti – Mama, krieg ich auch einen Hund? Bitte!«

Berta verschiebt die Zeitungslektüre auf später, jetzt will sie wissen, was Tilda Trautmann da am Strand macht. Sie hat sie vorher noch nie dort gesehen.

Erst einmal geht sie aber in die Fischerhütte, wo ihr Freund Paul Plötz lustlos an einem Netz herumflickt. Erleichtert legt er es weg, als Berta hereinkommt.

»Na endlich – hier ist kein Mensch mehr, mit dem man reden kann«, knurrt er. »Nu setz dich doch hin, was stehst du da in der Tür rum?«

»Tach Paul. Du, ich wollte mir eigentlich nur den Klapphocker holen, den leichten, weißt, mit dem Stoffbezug. Wo hast du den?«

Er zeigt mürrisch in eine Ecke. »Wo willst du damit hin?«

»Zu Tilda Trautmann. Die sitzt da unten in einem Strandkorb. Komisch, nicht?«

»Weiß nicht, was daran komisch ist. Brauchst dich nicht zu beeilen, die wird wohl noch den ganzen Sommer da sitzen.«

»Was?« Berta schüttelt erstaunt den Kopf, beschließt dann aber, die Frau selbst zu befragen.

»Na, das ist doch wunderbar«, stellt Berta fest, als sie den Grund für Tildas Strandaufenthalt erfahren hat. »Dann wirst du also jetzt mit 65, wo andere in Rente gehen, wieder berufstätig.«

»Genau.« Tildas Bauch wackelt schon wieder. »Und einen Traumjob hab ich. Ich kann den ganzen Sommer hier am Strand sitzen und mit den Leuten reden. Du glaubst gar nicht, wie mir das gefehlt hat.«

Berta wird ernst. »Doch, das glaub ich dir.«

Sie kennt ihre Gesprächspartnerin schon deren ganzes Leben lang, sie sind beide Bansinerinnen. Und beide haben, wie die meisten Einheimischen, im Tourismus gearbeitet, oft sogar im gleichen Haus. Berta als Köchin, Tilda als Serviererin oder auch mal als Zimmerfrau. Aber in den letzten zehn Jahren hat Tilda zu Hause ihre Schwiegermutter gepflegt.

»Zuletzt ging es gar nicht mehr, sie war dement und wurde richtig bösartig. Ich hätte sie bald in ein Heim geben müssen. Ich sollte es wohl nicht sagen, aber es war eine Erleichterung für alle, auch für sie, dass sie gestorben ist. Sie war immerhin 98.«

Berta nickt verständnisvoll. »Das kannst du ruhig sagen. Du hast nun wirklich getan, was du konntest.«

›Warum eigentlich?‹, fragt sie sich kurz. Aber das wird sie schon noch herausbekommen, der Sommer ist lang.

»Und dein komischer Hund heißt also Schörti?«, fragt sie jetzt. »Was ist denn das für ein Name?«

Tilda lässt ihren Bauch wieder hüpfen. »Störtebeker heißt der«, erklärt sie dann und streichelt dem Tier, das sich neben ihr im Strandkorb zusammengerollt hat, liebevoll über den Kopf. »Ich nenn ihn meistens Störti.«

»Na, wie ein Pirat sieht er nun wirklich nicht aus«, stellt Berta kritisch fest.

»Was für ein Pirat?«, wundert sich Tilda. »Er heißt so wie mein Lieblingseisbecher. Gemischtes Eis mit Sahne und Schokosoße. Weißt du noch?«

»Stimmt!« Berta betrachtet den Hund, dessen wuscheliges weißes Fell mit braunen Flecken auf dem Rücken tatsächlich an Schlagsahne mit Schokoladensoße erinnert und lacht. »Den Eisbecher mochte ich auch am liebsten. Na ja, so sehen wir beide auch aus.«

»Das ist völlig in Ordnung. Im Alter muss man was zuzusetzen haben, falls man mal krank wird. Ich kann zwar nicht mehr richtig laufen, aber sonst geht es mir bestens.«

»Aber du kannst immer noch Rad fahren?« Berta zeigt auf das Fahrrad, das neben dem Strandkorb steht.

»Ach wo, ich fahre doch nicht mehr, was denkst du denn? Das würde doch wohl zusammenbrechen, wenn ich darauf steige, oder die Reifen würden platzen. Nein, ich schiebe das Rad und halte mich daran fest.«

»Wäre ein Rollator nicht einfacher?«

»So ein Ding, das die Alten haben? Was sollen die Leute denn von mir denken? Nee, nee, so alt bin ich nun auch wieder nicht.«

»Stimmt, du bist ja fast 20 Jahre jünger als ich.«

»Ja, das glaubt kein Mensch, der uns beide sieht. Du rennst ja noch wie ein Wiesel durch die Gegend. Hast wohl beschlossen, ewig jung zu bleiben, was?« Tilda lacht gutmütig. Sie mag Berta. »Na, ich gönne es dir. Warst schon immer eine von den Guten.«

»Danke, Tilda.« Berta ist beinahe gerührt. »Ich freue mich auch, dass es dir gut geht. Und dass du jetzt hier bist, ist auch schön. Dann sehen wir uns ja jetzt öfter.«

Paul Plötz hat das Netz endgültig beiseitegelegt. Er steht vor seiner Hütte, wartet auf Berta und überlegt, ob es zu früh für eine Flasche Bier ist. Andererseits – wenn er sie jetzt trinkt, ist der Alkohol vielleicht verflogen, wenn er heute Mittag mit dem Auto nach Hause fährt.

Die Fischerbuden stehen mit den geschlossenen Rückseiten zur Promenade, die Türen und kleinen Fenster sind zur Seeseite gerichtet. Mit Strandhafer bepflanzte Dünen trennen sie vom Strand, schützen vor den Blicken der Badegäste, dem Ostwind und manchmal vor der Ostsee.

Als es in Bansin noch zwanzig oder mehr Fischer gab, herrschte hier ein reger Betrieb. Alle Buden waren besetzt, in den Dünen standen die großen Boote, wenn sie nicht gerade auf dem Wasser oder am Ufer verankert waren. Dazwischen waren die Netze zum Trocknen gespannt. Vor den Hütten flickten die Männer ihre Netze, Frauen pulten Hering, die Räucheröfen qualmten. Das Kreischen der Möwen übertönte die derben, meist plattdeutschen Zurufe der Fischer und ihrer Frauen und der spielenden Kinder.

Jetzt ist es ruhig, sehr ruhig. Niemand kann hier mehr vom Fischfang leben. Paul ist einer der letzten, die noch beinahe täglich hierher zum Strand kommen. Manchmal fährt er noch hinaus, legt Netze aus, die er am nächsten Tag wieder hereinholt. Wenn er Glück hat, sind sie voller Heringe, Zander, Flundern oder anderen Fischen – je nach Jahreszeit. Immer häufiger holt er nur noch Fischköpfe aus dem zerrissenen Netz, dann war eine Kegelrobbe schneller als er. Es lohnt sich nicht mehr. Eigentlich kommt er nur noch aus Langeweile zum Strand und weil er sich hier wohler fühlt als zu Hause in seinem Dorf.

Vielleicht auch wegen Berta, mit der er schon sein Leben lang befreundet ist. Mit ihr redet und streitet er am liebsten. Und sie weiß immer etwas Neues zu erzählen.

Dass Tilda Trautmann jetzt am Strandaufgang neben den Fischerhütten sitzt, hat er allerdings schon vor ihr gewusst und das freut ihn besonders.

»Das hättest du mir ja auch erzählen können«, beschwert sie sich.

»Ich dachte doch, das weißt du. Wie kann denn in Bansin irgendetwas passieren, was du nicht weißt?« Er grinst.

»Na gut. Jetzt habe ich es ja mitgekriegt. Und es freut mich, wirklich. Ich mag Tilda.«

»Ja, sie ist wohl ganz in Ordnung. Bisschen dämlich, aber nett.«

»Ach, was du immer redest. Die Schlaueste ist sie sicher nicht, aber doch auch nicht ganz dumm. Sonst könnte sie das gar nicht machen mit dem Strandkorbverleih, da muss sie ja auch ein bisschen rechnen.«

»Stimmt. Ich frag mich, wie sie das macht.«

Berta schüttelt missbilligend den Kopf, überlegt aber doch. Sie geht zu dem kleinen, wackligen Tisch, der neben der Tür an der Wand mehr lehnt als steht, gießt Wasser aus einer Flasche in den Wasserkocher und schaltet ihn ein. Dann löffelt sie Kaffeepulver in eine große Tasse und wendet sich wieder an Paul. Der hat sich in seinem alten Sessel neben dem jetzt kalten, eisernen Ofen niedergelassen.

»Ich frage mich, weshalb Björn Morris sie überhaupt eingestellt hat.«

»Hat sie dir das nicht erzählt?«

»Nein, hat sie nicht. Und sie erzählt sonst alles. Weißt du es?«

Er schüttelt den Kopf. Berta gießt das kochende Wasser auf den Kaffee und rührt um. Dann trägt sie die Tasse vorsichtig zum Ofen und setzt sich daneben auf einen alten Küchenstuhl.

»Vielleicht«, vermutet Paul, »weil sie dämlich ist. Sie wird wohl fast umsonst arbeiten. Und wenn er zum Beispiel sagt, dass sie Provision kriegt, kann sie sich das nicht ausrechnen.«

»Dass du immer gleich das Schlechteste denkst. Kennst du Morris überhaupt?«

»Nee, eigentlich nicht. Ich weiß bloß, dass er die Gaststätte da hinten an der Promenade hat. Kurz vor Heringsdorf, keine Ahnung, wie die jetzt heißt.«

»Stimmt!« Berta stellt ihre Tasse ab und richtet sich auf. »Jetzt weiß ich, wer das ist. Die Gaststätte hatte doch früher fast jedes Jahr einen neuen Pächter. Zuletzt war ein Italiener drin. Aber seit Morris die übernommen hat, soll sie richtig gut laufen, hab ich gehört.«

»Und ich hab gehört, als Einheimischer brauchst du da nicht reingehen. Ein Essen kostet eine halbe Monatsrente.«

»Hm. Mag sein. Auf die Bansiner wird er auch wohl nicht angewiesen sein. Aber was hat das mit den Strandkörben zu tun? Und mit Tilda?«

»Na, Strandkörbe hat der schon immer vermietet, aber in Heringsdorf. Da gehört ihm der halbe Strand. Und jetzt hat er dem alten Tietjen seine Körbe abgekauft mitsamt dem Schuppen und der Werkstatt, hat noch ein paar neue angeschafft und macht sein Geschäft jetzt auch hier in Bansin.«

»Ach so. Warum auch nicht? Irgendwie ist das alles an mir vorbeigegangen.«

»Jetzt bist du wieder bestens informiert. Gut, dass du mich hast.«

»Wohl wahr. Aber wie passt Tilda da rein?«

»Frag sie einfach.«

»Ja.« Berta steht auf und setzt sich gleich wieder, als Paul sie am Arm festhält.

»Ah, ich weiß! Ihre Tochter – Thora – die arbeitet doch im Restaurant von Morris. Das hat mir ihre Großmutter erzählt, Oma Rosi.«

Jetzt wird Berta klar, woher Paul so gut informiert ist, auch wenn er so tut, als würde es ihm gerade erst einfallen. Oma Rosi, Tildas kürzlich verstorbene Schwiegermutter, war eine entfernte Verwandte von ihm. Eine Cousine seiner Mutter, wenn sie sich recht erinnert. Sie wohnte zusammen mit Tilda und Thora in einem Häuschen am Waldrand, am Fischerweg, etwa einen Kilometer von der Ostsee entfernt. Von Frühjahr bis Herbst saß sie meist in ihrem gut ausgepolsterten Gartenstuhl in eine Decke eingewickelt vor dem Haus, dicht an der Straße. Paul kommt dort auf seinem Weg zum Strand vorbei und hat oft angehalten, um sich mit der alten Frau zu unterhalten. Aus Höflichkeit und Familiensinn, aber auch weil er sie mochte.

»War eine lustige Alte«, sagt er ein bisschen traurig. »Sie hat zu gern Geschichten von früher erzählt, von der Familie und von den Fischern, ihr Mann war auch hier am Strand.«

»Aber zuletzt war sie doch völlig dement, oder?«

»Na ja, meist hat sie nur noch Unsinn geredet. Aber sie hatte lichte Momente.«

Er holt sich eine Flasche Bier aus dem Kasten, der unter dem Tisch steht, öffnet sie, trinkt einen Schluck und wischt sich den Schaum von den Lippen.

»Tilda hat sich gut um sie gekümmert«, fährt er dann fort. »Thora auch. Aber zuletzt hatten sie es nicht leicht mit ihr.«

»Hatten sie denn keine Hilfe?«

»Doch, der Pflegedienst kam zweimal am Tag, morgens und abends. Meist war das übrigens die Tochter von Renate, eurer Köchin.«

»Ja, ich weiß, wer Renate ist«, stänkert Berta, »ich bin noch nicht dement.«

»Na, wer weiß«, murmelt Paul, »manchmal hast du schon so ein leicht aggressives Verhalten.«

»Nur wenn du mich provozierst. Wie ist Oma Rosi eigentlich gestorben?«

Paul stellt die Bierflasche, die er schon an die Lippen gesetzt hatte, energisch ab und macht sich gerade. »Berta! Jetzt fang bloß nicht wieder damit an! Sie ist ganz friedlich in ihrem Sessel eingeschlafen. Das steht ihr ja wohl zu in ihrem Alter, oder? Dr. Werner hat den Totenschein ausgestellt und der ist immer sehr genau!«

»Ist ja gut – man wird doch mal fragen dürfen. Ich geh dann mal besser, mach’s gut Paul, sauf nicht mehr so viel.«

Sie schließt schnell die Tür hinter sich, ohne auf seine Antwort zu warten.

Eigentlich wollte Berta noch einmal zu Tilda gehen und sie ein bisschen ausfragen. Aber dann sieht sie auf die Uhr. Gleich zwölf – sie hat Sophie versprochen, heute Mittag in der Küche zu helfen oder sich wenigstens am Stammtisch bereitzuhalten, falls zu viele Bestellungen auf einmal kommen und Renate es nicht schafft.

Es ist dann aber doch nicht viel zu tun, nur einmal springt die alte Köchin ein und bereitet einen Salat zu. Das Wetter ist schön, die Leute sind am Strand oder essen im Freien auf der Promenade eine Kleinigkeit.

»Dafür wird es bestimmt heute Abend voll«, unkt Renate, als sie nach dem Mittagsgeschäft am Stammtisch sitzt. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Ich bin trotzdem k.o., hoffentlich halte ich den Sommer über noch durch. Mir macht mein Rücken zu schaffen.«

Sophie macht sich Vorwürfe. »Ich hätte schon im Winter versuchen sollen, einen zweiten Koch zu kriegen. Jetzt fehlen überall Arbeitskräfte. Aber ich lasse mir was einfallen. Notfalls machen wir eben mittags zu.«

»Ich klemme mich auch noch einmal richtig dahinter«, verspricht Berta. »Mund-zu-Mund Propaganda ist noch immer am wirksamsten. Jemand kennt immer jemanden, der vielleicht unzufrieden ist auf seiner Arbeitsstelle und sich nach was Neuem umsieht. Zum Glück haben wir einen guten Ruf als Arbeitgeber.«

»Und das zu Recht.« Renate nickt nachdrücklich. »Und wenn ihr jemanden findet, der eine Jahresstellung sucht, ist mir das auch recht. Ich bleibe gern mal über Winter zu Hause, habe schließlich genug Arbeitslosenbeiträge gezahlt. Vielleicht kriege ich ja auch mal eine Kur.«

Der Haupteingang der Pension ist an der Rückseite des Hauses, zur Straße gelegen. Gleich links von der Tür befindet sich die Rezeption. Wenn der Gast geradeaus blickt, sieht er durch die hohe Fensterfront direkt auf die Ostsee.

Früher war hier im Erdgeschoss außer der Gaststätte auch noch die Wohnung der Besitzer, Bertas Großeltern. Zur DDR-Zeit, als das Haus ein FDGB-Ferienheim war, wurde sie vom Heimleiter genutzt. Nachdem Sophie das Haus übernommen hatte, ließ sie es gründlich restaurieren. Die meisten Wände in dieser Etage wurden entfernt, ein großer heller Raum ist entstanden, nur die Küche und der Sanitärbereich sind noch abgeteilt. Eine geschwungene Treppe an der Rückseite führt zu den Gästezimmern.

Der große, runde Stammtisch steht in einer Nische neben der Küchentür und wird von der Rückwand der Rezeption verdeckt. Berta und Sophie sitzen dort wie immer um diese Zeit, am späten Nachmittag, und trinken Kaffee. Sie können den Eingang nicht sehen, trotzdem steht Sophie nicht auf, als jemand hereinkommt. An der Art, wie die Tür geöffnet wurde und am Schritt hört sie, dass Anne hereinkommt und sogar, in welcher Stimmung ihre Freundin ist.

»Na ihr? Geht’s euch gut?« Anne hängt die Tasche über eine Stuhllehne, öffnet ihre Jacke, lässt sich neben Berta auf die Bank fallen und strahlt die beiden an.

Sophie ist in Berlin aufgewachsen, hat aber alle Ferien bei Tante Berta, der Schwester ihrer Mutter, in Bansin verbracht. Und Anne war immer dabei. Seit damals sind die beiden äußerlich so unterschiedlichen Frauen beste Freundinnen. Sophie ist klein und zierlich, ihr tizianrot gefärbtes Haar betont den blassen Teint und die strahlend blauen Augen. Die Familienähnlichkeit mit Berta ist unverkennbar. Anne ist zwanzig Zentimeter größer und mindestens dreißig Kilo schwerer als sie, ihre wilden Locken sind noch immer naturrot.

Sie lacht und redet mehr und lauter als ihre Freundin, aber sie haben den gleichen Humor und in allen wichtigen Dingen die gleiche Meinung. Aber vor allem verbindet sie ihre Liebe zu Bansin und zu Tante Berta.

Beide Frauen sind jetzt, mit 57 Jahren, unverheiratet und haben auch nicht vor, diesen Zustand zu ändern.

»Du bist ja richtig gut drauf heute«, stellt Tante Berta fest. »Hattest du nette Gäste?«

Anne arbeitet als Gästeführerin und war auch heute mit einer Reisegruppe auf Usedom unterwegs.

»Heute muss man einfach gute Laune haben.« Anne trinkt einen Schluck von dem Kaffee, den Sophie ihr hingestellt hat. »Endlich Sommerwetter und es ist so schön auf der Insel! Die Natur ist jetzt einfach herrlich. Dieses kräftige Grün, an den Wegrändern und auf den Feldern wachsen Mohn- und Kornblumen, alles ist bunt und frisch. Dann haben die Gäste natürlich auch gute Laune und ich freue mich, wenn sie sagen, wie schön es hier ist.«

Berta nickt zufrieden. »Das ist wohl wahr. Heute sah es auch am Strand endlich sommerlich aus, die meisten Strandkörbe waren besetzt. Übrigens – kennst du Tilda Trautmann? Oder ihre Tochter Thora?«

»Na ja, nicht so wirklich, also nicht persönlich. Ich kenne Sven Ritter, der war bis vor Kurzem mit Thora zusammen. Der wohnt bei mir nebenan.«

»Und jetzt? Haben sie sich getrennt?«

»Ja. Thora konnte sich verbessern. Von der Freundin des Kochs zur Geliebten des Chefs.«

»Aha!« Berta setzt ihre Tasse ab und sieht Anne gespannt an. »Und der Chef ist Björn Morris?«

»Ja, woher weißt du das schon wieder?«

»Ich weiß jetzt, wie Thoras Mutter zu ihrem Job gekommen ist.«

Sie erzählt den beiden Frauen von Tilda.

»Na, guck an. Auf jeden Fall hat Thora Familiensinn«, stellt Anne fest.

»Ja.« Berta überlegt. »Dein Nachbar, also dieser Sven, muss doch stinksauer sein auf seinen Chef, oder? Meinst du, er fühlt sich noch wohl in seinem Job?«

Anne versteht, schließlich kennt sie Sophies Problem. »Kann ich mir nicht vorstellen. Ich könnte ja mal mit ihm reden«, schlägt sie vor. Berta nickt zufrieden.

Sonntag, 05. Juni

»In Heringsdorf ist heute das Kleinkunstfestival«, erzählt Sophie der jungen Mutter, die ihren Sohn heute Morgen fest an der Hand hält. »Das ist so toll! Ich bin richtig traurig, dass ich selbst keine Zeit habe, mir das anzusehen. Aber Sie sollten es nicht versäumen, es wird Ihnen bestimmt gefallen. Und der Kleine wird begeistert sein.«

»Ich bin nicht klein!«, protestiert das Kind. »Was ist denn das – ein Festwell?«

»Nein, entschuldige – du bist ja schon groß. Da sind ganz viele Akrobaten und Zauberer und Clowns.« Und an die Mutter gewandt: »Echt fantastische internationale Künstler.«

»Ja, das sollten wir uns ansehen.« Die Frau nickt dankbar. »Wie kommen wir denn am besten nach Heringsdorf? Ist es weit?«

»Nein, nur gut zwei Kilometer von hier. Immer am Strand entlang oder auf der Promenade. Verlaufen können Sie sich nicht. Sie können aber auch mit dem Linienbus fahren, Sie wissen ja, mit der Kurkarte können Sie den kostenlos nutzen.«

Die beiden verlassen das Haus und Sophie beeilt sich, den Gastraum aufzuräumen. Heute hat sie keine Hilfe dabei, Tante Berta ist mit der Ostseezeitung beschäftigt. Die Wochenendausgabe ist immer besonders umfangreich und da sie beinahe jedes Wort liest – sogar die Sportnachrichten und besonders gern das Feuilleton – hat sie das gestern nicht geschafft. Außerdem zelebriert sie am Sonntag immer ein besonders umfangreiches Frühstück, eigentlich mit Anne und Sophie zusammen. Aber da beide heute wenig Zeit haben, sitzt sie allein mit ihrem weichgekochten Ei, Brötchen, Käse und Salaten am Stammtisch und lässt sich, ein wenig trotzig, besonders viel Zeit.

Es ist immer noch Strandwetter und Tilda hat gut zu tun. Heute, am Sonntag, kommen auch viele Einheimische, um sich einen Strandkorb auszuleihen. Tilda würde ihnen gern einen Rabatt gewähren, aber das hat ihr Chef ausdrücklich verboten.

»Das ist nicht böse gemeint, Tilda, aber wo willst du da anfangen und wo willst du aufhören? Wenn du bei einem Bansiner ein Auge zudrückst, musst du es beim anderen auch. Sonst gibt es nur Ärger. Und ich kann nicht die Hälfte meiner Körbe umsonst weggeben. Das verstehst du doch, oder? Am einfachsten ist es, wenn du den Leuten sagst, dass du nur angestellt bist und keine Ausnahmen machen darfst.«

Natürlich versteht Tilda das, er hat vollkommen recht. Trotzdem hat sie den Kindern ihrer Nachbarin heute Morgen einen Schlüssel gegeben und das Geld zurückgewiesen. »Kauft euch ein Eis dafür. Aber erzählt es niemandem, das ist unser Geheimnis.«

Berta kommt am frühen Nachmittag, als wenig zu tun ist, mit Pauls Klapphocker unter dem Arm und einem Korb. Aus dem holt sie eine Thermoskanne mit Kaffee, zwei Tassen und Kuchen in einer Tupperdose. Tilda freut sich. Über Kaffee und Kuchen und über Bertas Gesellschaft.

»Den Hocker lässt du am besten hier«, schlägt sie vor, »ich kann ihn nachts im Strandkorb einschließen. Du wirst ja nun wohl öfter kommen, hoffe ich.«

Gerade, als Berta überlegt, ob und wie sie das Gespräch auf Tildas Tochter bringen könnte, schiebt Thora ihr Fahrrad durch den Sand.

Tilda strahlt sie an. »Das ist schön, meine Kleine, dass du vorbeikommst. Kennst du Frau Kelling? Sie war früher Köchin beim FDGB, wir haben mal zusammengearbeitet. Berta, das ist meine Thora.«

Die beiden Frauen geben sich die Hand. Berta hat sich Tildas Tochter ganz anders vorgestellt. Thora ist kleiner als ihre Mutter und sehr schlank. Sie trägt Jeans und T-Shirt, ist ungeschminkt und wirkt sehr jung mit ihren kurzen dunklen Haaren. Auch ihr freundliches Lächeln ist mädchenhaft schüchtern.

»Ich hab leider keine Zeit«, erklärt sie, »bin auf dem Weg zur Arbeit. Ich wollte dir nur einen Kaffee vorbeibringen.« Sie hält ihrer Mutter einen Becher hin, den sie wohl gerade an der Promenade gekauft hat.

»Da bin ich ja gut versorgt heute.« Tilda lacht und ihre drei Kinne wackeln.

»Ja, tschüss, ich muss dann mal.«

Berta sieht der jungen Frau nach. »Wie alt ist deine Tochter jetzt eigentlich?«

»Sie ist genau zur Wende geboren, wird im Herbst 32.«

»Ach so. Aber du hattest doch vorher schon einen Jungen, nicht?« erinnert sich die alte Köchin.

»Ja, Thilo. Der ist jetzt – lass mich überlegen – 38 muss der sein. Der ist gerade zur Schule gekommen, als Thora geboren ist. Er wohnt jetzt in Ahlbeck.«

Die ersten Strandkorbschlüssel werden zurückgebracht. Tilda redet mit ihren Kunden und lacht. Offensichtlich hat sie Spaß an ihrer Arbeit.

Als sie wieder allein sind, fragt Berta vorsichtig nach Tildas Mann, dem Vater ihrer Kinder. Sie meint sich zu erinnern, dass er gestorben ist. Aber wann? Und woran?«

»Nein! Der ist doch gar nicht tot! Der ist bloß abgehauen. So weit weg, wie er konnte. Bis nach Australien.« Tilda lacht, ihr Bauch wackelt. »Die Leute denken immer, dass er gestorben ist, weil ich seine Mutter gepflegt habe. Aber die konnte er ja nun schlecht mitnehmen, oder?«

Berta ist sprachlos, was ihr selten passiert. Ihr Gegenüber redet laut und fröhlich weiter. Sie erzählt, dass sie ihre Schwiegermutter ehrlich gemocht hat, sie hätten gut zusammengelebt, erst in den letzten zwei, drei Jahren sei sie durch ihre Altersdemenz etwas schwierig geworden. Außerdem hat ihr ja auch das Haus und das Grundstück gehört, sie hat es nie an ihren Sohn überschrieben.

»Zum Glück«, freut sich Tilda, »sonst hätten wir jetzt meinen Alten erst mal suchen müssen, der meldet sich ja nie. Aber nun hat Thora alles geerbt und es bleibt so, wie es ist.«

Eigentlich alles ganz normal und ganz logisch. Trotzdem ist Bertas inneres Alarmsystem angesprungen. Ein Ehemann, der ausgewandert ist und sich nie wieder gemeldet hat? Nicht bei seiner alten Mutter und nicht bei seinen Kindern? Eine Tochter, die ein großes Grundstück in guter Lage geerbt hat und anscheinend seitdem mit einem sehr umtriebigen Unternehmer zusammen ist?

Sie wird den Klapphocker hier lassen und Tilda noch öfter zu einem Schwätzchen aufsuchen. Aber für heute verabschiedet sie sich, der Strand leert sich allmählich und die Gäste bringen ihre Strandkorbschlüssel zurück.

Dienstag, 07. Juni

Anne ist zu Recht stolz. Sie hat Sven Ritter »zufällig« getroffen, als er von der Arbeit kam und ihm von Sophies Problem erzählt. Sie wüsste ja, dass er einen guten Job hätte, behauptete sie, aber vielleicht würde er jemanden kennen …

Schon am nächsten Vormittag sitzt der Koch am Stammtisch im Kehr wieder.

Der schlanke junge Mann mit den glatten blonden Haaren gefällt Sophie. Er hat seine Zeugnisse mitgebracht und einen beeindruckenden Lebenslauf. Obwohl er erst 29 Jahre alt ist, hat er schon in einigen guten Restaurants und Hotels gearbeitet, bevor er im letzten Jahr bei Björn Morris angefangen hat. Über den Grund, jetzt mitten in der Saison die Arbeitsstelle zu wechseln, spricht er nicht und Sophie fragt nicht danach. Spontan bietet sie ihm ein höheres Gehalt an, als sie eigentlich geplant hat. Sie hofft sehr, dass er zusagt.

Ritter hat sich die Küche angesehen, mit Renate gesprochen und die Arbeitszeiten ausgehandelt. Dass während der Saison jede Menge Überstunden anfallen, ist ihm klar.

»Die können Sie dann im Winter abbummeln, wie es Ihnen gefällt. Zum Beispiel hintereinander, dann haben Sie einen schönen langen Urlaub.«

»Gut. Ich denke noch einmal darüber nach, aber ich glaube, das könnte klappen. Ich sage Ihnen dann morgen Bescheid. Allerdings muss ich eine vierwöchige Kündigungsfrist einhalten.«

»Natürlich, das verstehe ich. Also, ich würde mich sehr freuen …«

»Ja, bis morgen dann.« Er lächelt Berta an und nickt Sophie und Renate freundlich zu.

Sophie sieht ihm nach und atmet einmal tief ein und aus. »Was denkt ihr?«

»Also, mir ist er sympathisch«, verkündet Renate. »Hoffentlich klappt das. Ich befürchte, dass Morris ihn nicht so leicht gehen lässt. Er wird ihm vielleicht eine Lohnerhöhung anbieten.«

»Ich glaube, das Geld ist ihm nicht das Wichtigste«, überlegt Berta, die sich den Lebenslauf des Mannes genau angesehen hat. »Habt ihr gesehen, dass er schon in Zürich und in München gearbeitet hat? Da hat er bestimmt mehr verdient. Also, ich habe ein gutes Gefühl.«

Freitag, 10. Juni

Das Grundstück grenzt an zwei Seiten direkt an den Wald. Nur zur Straße hin wurde der alte Zaun vor ein paar Jahren durch einen neuen ersetzt, am Waldrand sind die Holzlatten teilweise abgebrochen oder durchgefault. Aber es stört niemanden, wenn Füchse, Rehe oder auch mal Wildschweine zwischen den alten Obstbäumen und auf dem Wäscheplatz herumstreifen. Und wenn die Mülltonnen umgekippt werden bei der Suche nach Futter, werden sie eben wieder aufgestellt. Was soll’s? Tilda und Thora lieben alle Tiere. Deshalb gefällt es ihnen hier auch so gut, sie möchten gar nicht direkt in Strandnähe wohnen.

»Eigentlich brauche ich gar keinen freien Tag. Es ist doch egal, ob ich nun hier sitze oder am Strand, das ist doch keine Arbeit.«

Björn schüttelt den Kopf. »Tilda, ich bin doch kein Ausbeuter. Dir stehen zwei freie Tage in der Woche zu, aber einen brauchst du auf jeden Fall. Du hast ja auch mal was auf dem Grundstück zu tun.« Er sieht sich um und schränkt dann ein: »Oder jedenfalls im Haushalt.«

Sie trinken ihren Nachmittagskaffee auf der kleinen, gepflasterten Fläche hinter dem Haus an einem ziemlich wackligen Gartentisch. Tilda hat sich in den Sessel ihrer verstorbenen Schwiegermutter gezwängt, aus dem sie allerdings die Polster entfernen musste. Björn und Thora sitzen auf weißen Plastestühlen.

Hier, etwa einen Kilometer vom Strand entfernt, ist es ruhig. Man hört die Vögel zwitschern, das Summen der Insekten und nur hin und wieder ein vorbeifahrendes Auto oder die Zurufe von Radfahrern.

Das Haus steht zwischen ihnen und der Straße. Es ist nicht sehr groß und sieht renovierungsbedürftig aus. Stellenweise blättern die Farbe und sogar der Putz ab, die Holzrahmen der kleinen Fenster wirken auch nicht mehr so, als würden sie den nächsten Sturm überstehen. Nur das Dach ist neu und passt nicht so recht dazu.