Tödliches Klassentreffen auf Usedom - Elke Pupke - E-Book

Tödliches Klassentreffen auf Usedom E-Book

Elke Pupke

0,0

Beschreibung

Schatten der Vergangenheit Sie freuen sich auf ein Wiedersehen, 50 Jahre nach ihrer Einschulung in Bansin. Doch nicht alle werden dieses Klassentreffen überleben. Ein Mörder hat es auf die Mitglieder einer ehemaligen Mädchenclique, zu der auch Anne gehörte, abgesehen. Die Frauen haben sich unterschiedlich entwickelt, ihre schreckliche Gemeinsamkeit liegt über vierzig Jahre zurück. Ist dieses gemeinsame Geheimnis aus der Schulzeit, das das Gewissen jeder Einzelnen noch immer belastet, der Anlass für einen Rachefeldzug? Berta Kelling, ihre Nichte Sophie und deren Freundin Anne nutzen wieder einmal ihre Orts- und Menschenkenntnis, um der Polizei bei der Aufklärung zu helfen. Oder ihr zuvorzukommen. Aber der Täter hinterlässt keine Spuren und das einzige Muster, das Tante Berta bei den Verbrechen erkennen kann, gefällt ihr nicht. Auch Anne steht auf der Liste des Mörders, doch weder sie noch Berta ahnen, in welcher Gefahr sie sich befindet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 359

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elke Pupke

TÖDLICHES KLASSENTREFFEN

AUF USEDOM

Inhalt

Prolog

Sonntag, 1. August

Dienstag, 10. August

Mittwoch, 1. September

Donnerstag, 2. September

Freitag, 3. September

Samstag, 4. September

Dienstag, 7. September

Donnerstag, 9. September

Mittwoch, 15. September

Dienstag, 12. Oktober

Donnerstag, 14. Oktober

Freitag, 15. Oktober

Samstag, 16. Oktober

Sonntag, 17. Oktober

Montag, 18. Oktober

Dienstag, 19. Oktober

Mittwoch, 20. Oktober

Donnerstag, 21. Oktober

Freitag, 22. Oktober

Sonnabend, 23. Oktober

Sonntag, 24. Oktober

Montag, 25. Oktober

Dienstag, 26. Oktober

Mittwoch, 27. Oktober

Freitag, 29. Oktober

Sonnabend, 30. Oktober

Sonntag, 31. Oktober

Dienstag, 2. November

Mittwoch, 3. November

Donnerstag, 4. November

Epilog

Über die Autorin

Pressestimmen

Prolog

Montag, 5. Juli

Berta Kelling sitzt am Stammtisch der Pension Kehr wieder und blickt missmutig hinaus in den Regen. Sie langweilt sich. Ein Zustand, in dem sie sich nur äußerst selten befindet und der ihr zuwider ist.

Was nun? Mit einem Regenschirm könnte sie zu ihrem gewohnten Nachmittagsspaziergang aufbrechen, aber der Schirm liegt zu Hause. Sie blickt zu ihrer Nichte Sophie, die hinter der Bar steht und eifrig Bier zapft, Saft in Gläser füllt und Wasserflaschen öffnet. Nein, die kann sie jetzt nicht stören, um sich einen Schirm zu leihen. Ob Renate, die Köchin, einen hat? Die hat auch zu tun, die Gaststätte ist voll.

Berta seufzt. Sie hat die Pension vor zehn Jahren an ihre Nichte übergeben und genießt seitdem ihren wirklich verdienten Ruhestand, aber Stillsitzen und Schweigen ist so gar nicht ihr Ding.

Wenn nur jemand käme, um mit ihr einen Kaffee zu trinken und ein bisschen zu reden. Was ist eigentlich mit Anne? Heute ist Montag, da macht sie nachmittags den Ortsrundgang. Aber doch wohl nicht bei diesem Wetter? Sie muss natürlich hingehen zum Haus des Gastes und den Leuten erklären, dass die Führung heute ausfällt, aufgrund des starken Regens. Na, das werden die sich ja wohl denken können, wahrscheinlich ist gar keiner da. Also müsste Anne jeden Moment hier aufschlagen.

Es ist schon nach vier, als die Gästeführerin endlich an den Tisch kommt. Sie ist über einen Meter achtzig groß, alles an ihr wirkt kräftig und vital, die breiten Schultern, die langen Beine, der große Mund und das laute Lachen. Ihre Naturlocken sind noch immer karottenrot, wenn auch inzwischen von grauen Fäden durchzogen.

Es hat aufgehört zu regnen und Berta hat gerade beschlossen, nun endlich hinauszugehen.

»Wo kommst du denn jetzt her? Du hast doch wohl niemanden gefunden, der bei diesem Wetter mit dir durch Bansin läuft?«

Anne stellt ihren nassen Schirm in den Ständer und setzt sich. »Ich habe planmäßig meinen Ortsrundgang durchgeführt. Na ja, nicht ganz planmäßig.«

Als Berta sie zweifelnd ansieht, erklärt sie: »Es waren tatsächlich ein paar Leute da und ich wollte die nicht wegschicken. Ich habe gedacht, es hört bestimmt gleich auf zu regnen, dann können wir losgehen. Es hat aber nicht aufgehört, sondern wurde immer schlimmer, also habe ich die ganze Führung im Haus des Gastes gemacht. Die Geschichte von Bansin erzählt, von den Fischern gesprochen und über die einzelnen Häuser. Die können sie sich ja jetzt ansehen.«

»Ja«, nickt Berta zufrieden, »das geht auch. Dann trink mal erst einen Kaffee. Oder willst du nach Hause, dich umziehen?«

»Nein, ich bin gar nicht sehr nass.« Sie schüttelt sich ein wenig, streckt die großen Füße unter den Tisch und winkt ihrer Freundin Sophie zu. Ihre grünen Augen blitzen lebhaft.

»Du, ich habe eine Idee. Ich will ein Klassentreffen organisieren. Von unserer Bansiner Klasse. Was hältst du davon?«

»Das finde ich super. Warum bist du da nicht schon früher drauf gekommen? Ihr seid doch schon ewig aus der Schule raus.«

»Ja, hast recht. Mich hat heute eine Frau angesprochen, die mit mir zusammen eingeschult wurde. Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern, sie ist mit ihrer Familie weggezogen, als wir in der dritten Klasse waren, sagt sie.«

»Und sie konnte sich an dich erinnern? Da musst du ja einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben«, wirft Sophie ein, die mit einem Pott Kaffee für Anne an den Tisch getreten ist.

»Vor allem – wie hat sie dich erkannt? Du bist inzwischen doch um Einiges gewachsen«, fällt Berta ein.

»Das bin ich allerdings. Aber ich habe mich gut gehalten. Außerdem hatte ich mein Namensschild um den Hals. Die war nämlich gerade im Haus des Gastes und wollte ihre Kurkarte kaufen, als ich mit der ›Ortsführung‹ fertig war.«

»Warum betonst du das denn so? Du hast doch heute, bei diesem Wetter, keine gemacht, oder?« fragt Sophie.

»Doch, aber nur in theoretischer Form. Also, was hältst du von meiner Idee, ein Klassentreffen zu organisieren?«

Ihre Freundin ist sofort begeistert.

»Das müsst ihr natürlich hier machen. Ich kenne doch viele von deinen ehemaligen Schulfreundinnen und freue mich, die mal wiederzusehen. Oh, ich muss …« Sie deutet zur Theke, wo die Kellnerin schon ungeduldig wartet.

Schon am Abend ist aus Annes spontanem Einfall ein konkreter Plan geworden. Inzwischen ist ein Stammgast hinzugekommen, Bruno Kerr, ein pensionierter Lehrer. Er war bereits zu einigen Klassentreffen eingeladen worden und kann Anne ein paar nützliche Tipps geben. Er ist es auch, der als erster auf die Idee kommt, mit Zahlen zu jonglieren.

»Ihr wart 1979 mit der achten Klasse fertig«, errechnet er, »vor 42 Jahren. Schade, das ist keine gerade Zahl.«

»Ja, danach waren die meisten von uns in der Heringsdorfer Schule, einige in Wolgast.«

»Aber hör mal«, unterbricht Sophie, »ihr seid doch 1971 eingeschult worden, so wie ich, oder?«

»Stimmt! Das war vor genau 50 Jahren! Na, wenn das mal kein Anlass für eine Feier ist. Das war mir noch gar nicht eingefallen.«

»Ich denke, es war Schicksal, dass du deiner Schulkameradin über den Weg gelaufen bist«, sinniert Berta. »Jetzt müsst ihr euch in größerer Runde mit all den Damaligen treffen. Am besten am Tag eurer Einschulung, am 1. September.«

Der Vorschlag klingt verlockend, wird aber nach einigem Hin und Her verworfen. Anfang September sind in der Pension noch alle Zimmer belegt, die Gaststätte wird voll sein und Anne hat auch schon Aufträge für die Zeit.

»Schade«, bedauert Anne, »aber wir werden es wohl bis nach der Saison verschieben müssen.«

»Na ja, es wäre vielleicht auch etwas kurzfristig für die Einladung«, überlegt Berta. »Manche wohnen ja inzwischen nicht mehr auf der Insel, die müssten sich ein paar Tage frei nehmen und dann hier auch eine Unterkunft organisieren, wenn sie keine Familie mehr in Bansin haben.«

»Richtig«, stimmt Sophie zu, »das wird für Anfang September schon schwierig, ich glaube die meisten Hotels sind dann noch ausgebucht und die Ferienwohnungen sowieso.«

»Und es gelten noch die Hauptsaisonpreise, es ist also alles besonders teuer«, ergänzt Bruno.

Sophie nickt. »In diesem Jahr besonders, bei der Nachfrage. Aber wenn ihr euch Ende Oktober treffen würdet, hätte ich schon Zimmer frei. Ich würde deinen ehemaligen Schulfreunden natürlich einen guten Preis machen. Und die Gaststätte reserviere ich euch auch für einen Abend. Einverstanden?«

Obwohl Sophie mit ihren Eltern in Berlin gelebt hat, hat sie einen großen Teil ihrer Kindheit, nämlich alle Ferien, in Bansin bei ihrer Tante Berta verbracht, weshalb sie auch viele von Annes Freundinnen kannte.

»Ja, gut, dann planen wir für Mitte oder besser Ende Oktober.« Anne klingt etwas zögerlich, ihre Begeisterung scheint irgendwie verflogen zu sein.

»Ich helfe dir«, bietet Bruno an, der ahnt ihre Gedanken. »Wir brauchen erst mal die Namen. Das kriege ich schon hin. Schade, dass die Schule nicht mehr existiert, da hätte man vielleicht noch ein altes Klassenbuch von euch auftreiben können. Sag mal, hast du ein Foto von deiner Einschulung? Das könnten wir für die Einladung nutzen.«

Anne sieht den hageren Mann dankbar an. »Sicher habe ich das noch irgendwo. Bruno, du bist ein Schatz. Ehrlich gesagt, ich habe gerade befürchtet, dass ich mich doch etwas übernommen habe. Ich habe in den nächsten drei Wochen jeden Tag Fahrten, dafür muss ich auch noch einiges organisieren. Aber im August habe ich Zeit.«

»Dann schicken wir im August die Einladungen raus. Das reicht völlig. Wenn man das zu früh macht, vergessen manche den Termin wieder. Bis dahin habe ich alle Namen zusammen und eine Namensliste erstellt.«

»Und ich die aktuellen Adressen dazu«, ergänzt Berta.

»Genau«, bestätigt Sophie, »das ist die richtige Aufgabe für dich. Da kannst du deine Schnüffelnase wieder überall reinstecken. Aber diesmal bitte ohne einen Mörder zu suchen.«

»Beschrei es bloß nicht!« Anne zuckt erschrocken zusammen. Aber die Furcht, die sie plötzlich überkommt, beruht wohl nur auf den Erfahrungen aus den letzten Jahren. Denn sie kann nicht ahnen, dass nicht alle ihrer ehemaligen Mitschüler dieses Treffen überleben werden.

Sonntag, 1. August

Solveig Marten zuckt zusammen, als hinter ihr die Schlafzimmertür zuknallt. Sie hat vergessen, dass auch das Badfenster weit offen steht. Doch etwas Durchzug tut gut, die Wohnung ist noch immer viel zu warm, obwohl es sich draußen schon etwas abgekühlt hat. Sie stellt einen Stuhl vor die eine und den Wäschekorb vor die andere Tür, schiebt die flatternden Gardinen beiseite und blickt hinaus. Zwischen den Plattenbauten weht eine Staubwolke hindurch. Wenn es doch nur endlich einmal regnen würde! Nicht so ein kurzes heftiges Gewitter wie gestern Abend, sondern ein schöner gleichmäßiger Landregen, wenigstens ein paar Tage lang.

Sie sieht auf die Uhr, es ist kurz nach elf. Schnell geht sie in die Küche, schmeckt das Gulasch ab und fügt einen Löffel saurer Sahne hinzu. Die Kartoffeln sind auch gar. Sie füllt das Essen in Thermobehälter und stellt es in einen Korb. Bevor sie die Wohnung verlässt, sieht sie im Vorbeigehen kurz in den Flurspiegel und streicht sich automatisch über das kurze Haar.

»Mist«, murmelt sie und betrachtet ärgerlich den Soßenfleck auf ihrem T-Shirt. Schnell umziehen – halt, den Schlüssel einstecken und dann die Treppen hinunter. Wenigstens steht das Fahrrad griffbereit neben der Haustür, damit war sie heute schon einkaufen. Gleich früh um sieben, noch bevor die Urlauber aktiv werden.

Jetzt allerdings sind sie unterwegs. Solveig steht minutenlang in der Einfahrt zu ihrem Wohngebiet, bevor sie den Radweg und dann die Straße überqueren kann. Sie fährt schnell die Dorfstraße hinunter, winkt einer dicken Frau zu, die am Gartenzaun steht und offensichtlich auf ein Schwätzchen gehofft hat. »Keine Zeit!«

Um zehn Minuten nach halb zwölf steht sie etwas atemlos in der Küche ihrer Mutter.

»Ich dachte schon, du hast mich vergessen«, ist deren Begrüßung. Sie ist es gewohnt, um Punkt 11.30 Uhr Mittag zu essen.

»Hast du Hunger? Aber es ist doch erst kurz nach halb zwölf. Nun setzt dich erst mal hin, du stehst mir im Weg.« Solveig hilft der alten Frau, sich auf den Küchenstuhl zu setzen, dann schiebt sie den Rollator beiseite und deckt schnell den Tisch.

»Ja? Ich dachte, es wäre viel später. Ich kann die Uhr nicht mehr richtig lesen. Und die Zeit wird mir immer so lang, wenn ich allein bin.«

»Ja, ich weiß.« Solveig seufzt. Während sie gemeinsam am Küchentisch essen, bemüht sie sich, ihre Mutter etwas aufzuheitern. Sie reden über die vielen Urlauber, über die Leute im Dorf, aber es gibt nicht viel Neues.

»Schmeckt gut. Du kannst wirklich gut kochen. Bist ein liebes Mädchen, ich bin so froh, dass ich dich habe.«

»Ja, Mutti. Ich bin auch froh, dass ich dich habe.«

Früher haben sie nie so miteinander gesprochen. Auch Zärtlichkeiten waren in der Familie nicht üblich. Umarmt hat man sich vor einer längeren Trennung oder danach. Oder am Geburtstag, dann gab es auch mal ein Küsschen. Dass man sich lieb hat, brauchte man nicht zu sagen, das wusste man doch. Auch, dass die Eltern immer für sie da waren, für sie sorgten und sie unterstützten, war für Solveig selbstverständlich. Ebenso, wie sie jetzt für ihre Mutter sorgt.

Aber lange kann die alte Frau nicht mehr allein bleiben, das wird ihr gerade wieder bewusst. Dass sie sich so stark verändert hat, ganz anders spricht als früher, ist vermutlich auch auf eine beginnende Demenz zurückzuführen, so wie die zunehmende Vergesslichkeit.

»Aber ich bin euch doch eine Last.«

»Was? Wie kommst du denn darauf? Du bist keine Last, für niemanden.« Solveig ist erschrocken. Was sich ihre Mutter für Gedanken macht!

»Weißt du – Walter Pichler war hier, heute Vormittag.«

Aha, daher weht der Wind. Walter Pichler ist der Nachbar, sein Grundstück ist sehr klein, das Haus ebenfalls. Es reicht gerade so für ihn und seine Frau und er würde doch zu gern seinen Sohn mit Familie in der Nähe haben. Seit Jahren versucht er, ein Haus im Dorf zu kaufen, das er sich leisten kann.

»Und der hat dir eingeredet, du seist eine Last für uns?«

»Nein, nicht so direkt. Er hat nur erzählt, wie wohl sich seine Mutter in dem Pflegeheim in Zempin fühlt. Sie wird da gut betreut und versorgt und hat immer Gesellschaft von Gleichaltrigen. Und ihr habt ja auch zu tun und könnt euch nicht dauernd nur um mich kümmern. Bestimmt ist Klas schon böse, weil du so viel Zeit mit mir verbringst und vielleicht streitet ihr euch sogar meinetwegen …?«

»Mutti!« Solveig schiebt ihren Teller weg und greift nach den zitternden Händen ihrer Mutter. Sie blickt ihr fest in die Augen, die in Tränen schwimmen.

»Du kennst Klas seit unserer Kindheit, genauso lange wie ich. Glaubst du wirklich, der würde zulassen, dass du in ein Pflegeheim kommst? Selbst wenn ich das wollte. Wir haben dich lieb, wir wollen dich bei uns behalten. Du bist die beste Mutter und Schwiegermutter und Oma, die man sich wünschen kann. Du hast so viel für uns getan! Auch wenn du es jetzt langsam vergisst, das macht nichts, wir wissen es.«

Sie möchte noch etwas hinzufügen, irgendetwas, was die Zukunft betrifft wie ›Ich komme jetzt noch öfter‹ oder ›Wir holen dich zu uns‹. Aber sie will sich nicht festlegen. Sie muss noch einmal darüber nachdenken. Nein, sie muss endlich eine Entscheidung treffen.

Klas würde seine Schwiegermutter sofort in die gemeinsame Wohnung holen. »Das Kinderzimmer ist doch frei, so selten wie Carmen kommt, kann sie dann auch in der Wohnstube auf der Couch schlafen. Oma stört doch wirklich nicht, so lieb und ruhig, wie sie ist. Und du brauchst nicht mehr dauernd ins Dorf zu laufen.«

Natürlich hat er recht. Aber Solveig liebt ihre ruhigen Vormittage, wenn Klas am Strand ist. Er fischt zwar nicht mehr hauptberuflich, aber er hält sich gern bei seinen ehemaligen Kollegen auf und manchmal fährt er noch mit hinaus. Dann ist er glücklich und zufrieden, zu Hause läuft er nur unruhig in der Wohnung herum und weiß nichts mit sich anzufangen.

Solveig ist gern mal allein, sieht fern, belanglose Sendungen, bei denen man nicht nachdenken muss, oder sie liest. Dinge, die man nach Meinung ihrer Mutter und ihres Mannes abends tut, nicht tagsüber.

Was für eine schlechte Tochter sie doch ist! Sie denkt an ihre Kindheit in dem kleinen Haus im Dorf. Ihr Vater war auch Fischer, noch ruhiger, noch wortkarger als Klas. Die beiden haben sich gut verstanden. Klas hat nur ein paar Häuser weiter gewohnt, sie haben schon als Kinder zusammen gespielt, er war oft bei ihr zu Hause. Seine Eltern hatten wenig Zeit für ihn, sie haben beide in der Gastronomie gearbeitet, in Schichten und an den Wochenenden. Solveigs Mutter hat sich um beide Kinder gekümmert, hat mit ihnen gespielt, ihnen Märchen erzählt, für sie gekocht und gebacken und Pullover gestrickt. In der Heringszeit, wenn sie am Strand helfen musste, hat sie die Kinder mitgenommen. Klas’ Mutter ist früh gestorben, da war er gerade zwölf Jahre alt.

Sein Vater hatte bald eine neue Lebensgefährtin, hat mit ihr zusammen eine Gaststätte geführt, um den Jungen hat er sich kaum gekümmert. Solveigs kleines, rohrgedecktes Elternhaus wurde somit auch das Zuhause von Klas. Die Schule war nicht seins, so früh wie möglich, nach der achten Klasse, ist er abgegangen und Solveigs Vater hat ihn mit zum Strand und auf sein Boot genommen. Dort war er glücklich, er hat nie etwas anderes gewollt.

Auch kein anderes Mädchen als Solveig. Geduldig hat er auf sie gewartet. Dabei hätte er an jedem Finger eine Freundin haben können, so gut, wie er aussah. Er ist kaum mittelgroß, als Junge war er schmal, ist erst durch die schwere Arbeit am Strand kräftig geworden. Die dunklen Haare, die inzwischen grau sind und die braunen Augen hat er von italienischen Vorfahren geerbt, das Temperament nicht.

Solveig hat sich umgesehen, ihre Chancen getestet, ist mit dem Mädchenschwarm der Schule ›gegangen‹, wie man damals sagte, einem Fußballer, jeden Sonntagnachmittag hat sie auf dem Sportplatz verbracht. Die Jungs mochten sie, gerade weil sie keine auffällige Schönheit war, sondern eher kleinmädchenhaft niedlich, mit großen staunenden Augen in einem herzförmigen Gesicht, aschblondem Haar und einer zierlichen Figur. Außerdem weckte sie den Beschützerinstinkt in ihnen, weil sie sehr schüchtern war.

Mit siebzehn war sie dann zum ersten Mal wirklich verliebt, in den Gitarristen der Kurkapelle. Bei jedem Auftritt stand sie dicht vor dem Musikpavillon und himmelte den zehn Jahre älteren, langhaarigen Mann mit der schmalzigen Roy-Black-Stimme an.

Sie war so auf ihren Schwarm fokussiert, dass sie gar nicht bemerkte, wie sich der halbe Ort über sie lustig machte. Und erst recht fiel ihr nicht auf, wie genau Klas Marten sie beobachtete.

Dem Musiker gefiel das naive Mädchen, das ihn so verliebt ansah, er war einem kleinen Abenteuer nicht abgeneigt – vorsichtig natürlich, schließlich hatte er Frau und Kind zu Hause.

Gegen Ende des Sommers kam es dann tatsächlich zu einer Verabredung. Solveig war so aufgeregt, sie musste es einfach jemandem erzählen. Allerdings hätte sie von ihrer Freundin Betty ein bisschen mehr Begeisterung erwartet, doch die schüttelte nur missbilligend den Kopf.

»Du bist doch nur neidisch«, reagierte Solveig enttäuscht, was Betty veranlasste, umgehend zu Klas zu gehen, um zu petzen. So kam es, dass der sich ebenfalls am Treffpunkt einfand und dem Musiker klarmachte, dass dieses Rendezvous keine gute Idee war und er besser die Finger von seiner Freundin lassen sollte. Solveig war mehr erstaunt als wütend, da sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte, dass Klas sie als seine feste Freundin betrachtete. Aber seine Eifersucht gefiel ihr und als er auch noch die Fäuste ballte und dem einen Kopf größeren Mann wie ein Kampfhahn gegenüberstand, war er einem verliebten Italiener ähnlicher denn je.

Zwei Jahre später, Solveig war 19 und Klas 18 Jahre alt, heirateten die beiden. Das italienische Temperament kam nie wieder zum Ausbruch, es gab keinen Grund dafür, sie führen bis heute eine ruhige und glückliche Ehe.

Auf dem Heimweg von ihrer Mutter steigt Solveig Marten dann doch am Gartenzaun von Frau Zander vom Fahrrad. Die mehr als vollschlanke Frau zupft stöhnend ein paar Grashalme aus ihrer Blumenrabatte, sich selbst und anderen einen Vorwand dafür liefernd, sich in der prallen Mittagshitze im Vorgarten aufzuhalten. Auf den Zaun gestützt wischt sie sich den Schweiß von der Stirn.

»Na, wie geht es deiner Mutter? Ich habe sie lange nicht gesehen.«

»Gut, danke. Sie mag nur nicht rausgehen, wenn es so warm ist.«

»Das verstehe ich. Aber so kommt sie noch zurecht, oder? Na, ihr kümmert euch ja. Ist doch schön, wenn man solche Kinder hat, obwohl es für dich bestimmt auch eine Belastung ist.«

Schon wieder dieses Wort! Solveig hasst es. Scharf entgegnet sie: »Meine Mutter ist keine Belastung für uns. Wir besuchen sie gern. Schließlich hat sie ja auch genug für uns getan, früher.«

»Ist ja gut! Ich meine doch nur – nicht jeder hat das Glück, dass die Kinder so dankbar sind.«

Sie selbst hat gar keine. Worauf will sie überhaupt hinaus? Die größte Tratsche des Dorfes steht doch hier bestimmt nicht schwitzend in der Sonne, um belanglose Nettigkeiten auszutauschen. Irgendetwas will sie wissen oder hat sie zu erzählen, was sie für wichtig hält, Solveig aber gar nicht wissen möchte. Jetzt ist es ihr auch zu warm. Warum ist sie überhaupt stehen geblieben? Sie ist einfach immer zu nett.

»Na dann …« Sie nickt Frau Zander freundlich zu und stellt einen Fuß auf das Pedal.

»Nun warte doch mal. Ich wollte doch nur wissen … Ach, ich frage einfach direkt. Wenn deine Mutter nicht mehr allein da wohnen kann, verkauft ihr dann das Haus?«

Solveig stellt den Fuß wieder auf den Boden und sieht Frau Zander erstaunt an. »Warum? Wollen Sie es etwa kaufen?«

»Nein, ich doch nicht! Mir reicht mein Häuschen. Aber der Pichler, denke ich. Seine Frau hat mir gestern erzählt, dass der Sohn nun überlegt, wegzuziehen, nach Bayern oder so. Sie befürchtet, dass sie ihre Enkelkinder dann noch seltener sieht. Und sie haben ja auch niemanden weiter. Und er, also Walter Pichler, sucht nun verzweifelt nach einem Haus oder wenigstens einem Grundstück in der Nähe. Aber du weißt ja, es gibt einfach nichts. Jedenfalls nichts Bezahlbares. Und seit Corona ist es noch schwieriger geworden.«

Solveig weiß das nicht, sie hat sich noch nie darum gekümmert. Mit ihrer Wohnung sind sie und Klas zufrieden, sie wollen gar kein Haus. Aber sie kann es sich vorstellen. In den letzten Jahren ist zwar viel gebaut worden, aber hauptsächlich sind Ferienwohnungen entstanden. Reiche Leute von außerhalb kaufen Grundstücke und Häuser, um ihr Geld anzulegen. Einheimische können da nicht mithalten. Ein Eigenheim ist selbst hier, zwei Kilometer vom Strand entfernt für Normalverdiener kaum erschwinglich.

»Na ja, ihr findet sicher jemanden, der euch viel mehr dafür bezahlt, als Pichlers das können. Aber Klas will seine Schwiegermutter bestimmt nicht in der kleinen Wohnung haben.«

Die Frau wischt sich wieder die Schweißtropfen von der Stirn und sieht Solveig lauernd an. Die fühlt sich zu Unrecht angegriffen und ist angewidert. Sie steigt jetzt wirklich aufs Fahrrad.

»Klas würde meine Mutter sofort zu uns holen«, sagt sie und fügt über die Schulter trotzig hinzu, »der würde auch das Haus verkaufen. Aber ich nicht. Nicht an Pichler und auch an keinen anderen.«

Dienstag, 10. August

Anne sitzt an Deck der ADLER XI und betrachtet ihren Heimatort von der See aus. ›Berta hat recht, Bansin ist wirklich der schönste Ort der Welt. Obwohl ich noch nicht so viel von der Welt gesehen habe. Vielleicht sollte ich doch mal eine große Reise machen, ich habe ja jetzt wieder ganz gut verdient. Ich müsste mit Sophie darüber reden, nach der Saison haben wir beide Zeit. Ach nein, da wollen wir ja das Klassentreffen …‹

»Na, sitzen Sie auch hier draußen?«, unterbricht eine dickliche Frau die Gedanken der Gästeführerin und klammert sich an ihrem Mann fest.

›Nein, ich sitze unten an der Bar‹, denkt Anne und lächelt freundlich. Sie sollte die beiden bitten, sich zu setzen, bevor die nächste Schiffsbewegung sie umwirft. Aber auf die Idee können sie ja wohl selbst kommen. Sie wäre gern ein bisschen allein hier oben. Aber da kommen noch einige andere Gäste aus ihrer Reisegruppe. Geduldig beantwortet sie die Fragen nach den Schiffen am Horizont, den Kormoranschwärmen und der Heringsdorfer Seebrücke, die sie gerade ansteuern.

Nachdem sie auch in Ahlbeck an- und wieder abgelegt haben, leert sich das Deck. Die Mole von Swinemünde ist zu sehen und die großen Hotels hinter dem breiten Strand.

Das Schiff fährt jetzt etwas weiter hinaus, Anne genießt das Auf und Ab, wenn es über die Wellen gleitet. Die meisten Passagiere vertragen das Schaukeln weniger gut, außerdem hat es mal wieder begonnen, leicht zu regnen.

Die Reiseleiterin zieht sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und ist froh, wieder für ein paar Minuten allein zu sein. Eigentlich redet sie ja gern und hat auch gern Menschen um sich herum, aber im Moment wird es selbst ihr ein bisschen zu viel. Seit Wochen hatte sie keinen freien Tag.

Andererseits ist es natürlich schön, dass wieder Reisegruppen da sind. Und auch alle anderen Gäste. Anne hat das Gefühl, dass noch nie so viele Urlauber gleichzeitig auf der Insel waren. Überall Gedränge, Menschenmassen am Strand, auf der Promenade, auf den Straßen. Einfach mal spontan essen gehen, ohne Tischbestellung, ist fast unmöglich. Und die Leute scheinen alle gereizt und aggressiv zu sein. Überall gibt es Streit: zwischen Radfahrern und Fußgängern, zwischen Autofahrern und Radfahrern, zwischen Leuten, die keine Maske tragen und denen, die trotz Maske auf Abstand bestehen.

Es hat aufgehört zu regnen. Anne streift die Kapuze ab und blinzelt in die Sonne. Sie beobachtet die Kitesurfer, die vor Swinemünde über das Wasser fliegen. Sieht aus, als würde es Spaß machen. Schade, dass es so etwas in ihrer Jugend noch nicht gab, das hätten sie und ihre Freundinnen bestimmt ausprobiert.

Ihre alte Clique. In letzter Zeit, seit ihrer Idee zu einem Klassentreffen, denkt sie oft an ihre damaligen Freundinnen, besonders an Ramona. Wie konnte die Verbindung nur so völlig abreißen?

Während sie an der Mühlenbake, dem Seezeichen von Swinemünde, vorbeifahren, denkt Anne darüber nach, eine Schifffahrt für die ehemaligen Klassenkameraden zu organisieren. Es gibt doch diese Rundfahrt um die Insel. Anne hat vor zwei oder drei Jahren einmal zusammen mit Tante Berta, Sophie und Bruno daran teilgenommen. Ach ja, die ganzen Mitarbeiter aus dem Kehr wieder waren dabei. Sophie hat den Betriebsausflug zum Saisonabschluss organisiert. Ob das nicht auch eine Idee für das Klassentreffen wäre? Man legt morgens in Bansin ab und fährt im Laufe des Tages um die ganze Insel herum. Für einen Moment ist Anne begeistert von ihrem Einfall. Dann überlegt sie. Im Oktober ist das Wetter vielleicht nicht mehr so schön und es sind bestimmt nicht alle seefest. Zudem ist die Fahrt nicht ganz billig. Ob es sich überhaupt alle leisten könnten? Ist vielleicht doch etwas zu riskant. Aber eine Schifffahrt müsste man auf jeden Fall einplanen. Wenigstens so eine wie heute, von Bansin nach Swinemünde. Ein Tag ist eigentlich zu wenig, da hat man auch gar keine Zeit, mit allen zu reden. Drei Tage wären gut, mindestens. Da lohnt es sich auch für die, die inzwischen weiter weg wohnen, herzukommen. Sie denkt wieder an Ramona und lächelt unwillkürlich. Hoffentlich kommt sie. Und hoffentlich hat sie sich über die Jahre nicht allzu sehr verändert.

Mittwoch, 1. September

Es ist heiß und trocken an diesem ersten Septembervormittag, zu trocken eigentlich. Aber hier, in diesem Teil von München, gibt es keine verdorrten Rasenflächen und keine vertrockneten Blumen. Die Bewässerungssysteme funktionieren und um den Rest kümmern sich Gärtner. Die Bewohnerinnen der Villen schneiden allenfalls ein paar Rosen für die Vase. Meist liegen sie schlank und gebräunt am Pool, sofern sie nicht auf Reisen sind.

Ramona Rosmann ist weder schlank noch gebräunt und sie liegt auch nicht am Pool. Obwohl sie das könnte, sie hat sowohl Zeit als auch einen Pool. Aber es ist ihr zu langweilig und sie weiß auch, dass sie im Bikini nicht gerade vorteilhaft aussieht. Und es ist ihr wichtig, vorteilhaft auszusehen.

Das ist neu in diesem Sommer. Im letzten Jahr ist sie noch unbeschwert im Badeanzug herumgelaufen und ins Wasser gesprungen. So wie in den Jahren davor, als ihr Mann noch lebte. Für den dreißig Jahre älteren war sie schön und schlank genug. Und die Nachbarn waren ihr sowieso egal und sind es immer noch. Aber Sascha soll sie nicht so sehen. Und womöglich Vergleiche anstellen.

Für ihn hat sie auch schon jetzt am Vormittag, trotz der Hitze, die volle Kriegsbemalung aufgelegt. Vermutlich hat er sie noch nie ungeschminkt gesehen. Nur gut, dass er morgens gern etwas länger schläft. Sie steht früh auf, duscht, schminkt und frisiert sich und geht wieder ins Bett. Kurz nach dem Aufwachen lässt er sich am leichtesten von ihr verführen.

Jetzt ist er gerade in die Stadt, in sein Büro gefahren und sie schlendert über das Grundstück und betrachtet die verwilderten Rabatten. Vielleicht sollte sie doch mal einen Gärtner beauftragen.

»Ramona, hallo Ramona!« Die unangenehm hohe Stimme ihrer Nachbarin unterbricht ihre Überlegungen und verschlechtert ihre Laune. »Willst du nicht herüberkommen und einen Kaffee mit uns trinken? Vivien ist auch da.«

›Ja, natürlich ist Vivien auch da. Die ist ja noch neugieriger als du. Und ihr wollt beide wissen, ob ich schon einen Käufer für die Villa habe, ob ich überhaupt noch verkaufen will, wenn ja, für wie viel und wie alt mein gutaussehender Liebhaber ist. Und ob ich ihn bezahle. Von dem Geld, das mir der arme Karl-Heinz hinterlassen hat.‹

»Ja, warum nicht.« Es ist so langweilig, wenn Sascha nicht da ist. Was soll sie den ganzen Tag machen? Im Haus fühlt sie sich nicht wohl, weil sie eigentlich putzen müsste. Doch dazu hat sie überhaupt keine Lust. Warum auch? In Büchern und Filmen sind es immer die sympathischen, intelligenten, kreativen Menschen, bei denen dicke Staubschichten auf den Möbeln liegen und der Kühlschrank leer ist. Die Ordentlichen, Sauberen, Organisierten sind unsympathische Spießer oder Psychopathen.

Vivien ist dürr wie eine wandelnde Heuschrecke und hält sich vermutlich für sehr dekorativ, wie sie sich halb liegend, die knochigen Beine angewinkelt, auf einer Liege neben dem Pool drapiert hat. Ramona hat große Lust, sie hineinzustoßen.

Sie setzt sich an den Tisch, nickt Sandra, ihrer Nachbarin zu, als die ihr einen Kaffee hinstellt und wartet ab.

Und richtig. Eigentlich könnte sie schon antworten, bevor sie die Fragen gehört hat. »Nein, ich habe noch keinen Käufer. Doch, es waren schon einige da und haben sich das Haus angesehen. Nein, ich muss nicht verkaufen, ich will es. Es ist mir zu groß, macht nur Arbeit. Ich werde mir eine Wohnung kaufen. Ja, hier in München. Nein, ich will nicht wieder zurück in den Norden. Nein, dort ist es mir nicht zu kalt.« Was denkt die dumme Pute, woher ich komme? Aus Nowosibirsk?

»Die Insel Usedom wird sogar als Sonneninsel bezeichnet«, erklärt Ramona. »Es ist eine der Regionen mit der längsten Sonnenscheindauer Deutschlands.«

»Wirklich?« Vivien staunt. »Insel Usedom – habe ich noch nie gehört.«

»Ich schon, aber ich dachte, das wäre in Polen«, ergänzt Sandra.

›Herr, lass Hirn regnen. Oder Steine. Hauptsache, es trifft die Richtigen.‹ »Tatsächlich ist es die zweitgrößte Insel Deutschlands.« Wozu erzählt sie das überhaupt? Die dämlichen Gänse interessiert es ja doch nicht. Das weiß sie nun schon seit Jahren, trotzdem ist es den beiden mal wieder gelungen, sie zu verärgern.

Sie reißt sich zusammen. Nicht ausfallend werden, einfach unverfänglich weiter plaudern.

»Warum reden wir eigentlich immer über mich? Was gibt es denn bei euch Neues? Was machen die Kinder?«

»Hach, hör nur auf! Mein Kind hat beschlossen, Vegetarier zu sein. Es isst kein Fleisch mehr. Aber wie soll ich das nun ersetzen?«

Ramona kann nicht anders. »Durch einen Hund«, rät sie.

Vivien sieht sie zweifelnd an. »Du meinst, wir sollten uns einen Hund anschaffen, damit das Kind wieder normal isst?«

»Nein, du solltest es durch einen Hund ersetzen. Hunde essen gern Fleisch.«

Jetzt ist es angekommen. Sandra kichert und hält sich schnell die Hand vor den Mund, Vivien ist hingegen so empört, dass sie beim Reden quiekt.

»Du nimmst uns überhaupt nicht ernst. Immer sagst du so seltsame Sachen. Beleidigend, finde ich.«

Sie blickt zu ihrer Freundin, ob die es auch als beleidigend empfindet. Sandra nickt ihr ermutigend zu.

»Wahrscheinlich, weil du aus dem Osten kommst.«

»Das wird es sein«, nickt Ramona und steht auf. »Danke für den Kaffee und das nette Gespräch.«

In ihrer Küche sieht sie sich seufzend um, nimmt einen Lappen, feuchtet ihn an und wischt einen Fleck von der weißen Hochglanzfront. Na ja, so genau werden die potenziellen Käufer wohl nicht hinsehen. Können ja selbst putzen, wenn sie das Haus gekauft haben.

Der Herd sieht jedenfalls sehr gut aus. Wie neu. Vor drei Jahren war es das neueste und teuerste Modell, was sie finden konnte. Sie hatte sich tatsächlich vorgenommen zu kochen. Irgendetwas musste sie ja tun, nachdem Karl-Heinz nicht mehr reisen konnte und wollte. Gesund und lecker, also regional und saisonal. Ein Kochbuch hat sie sich auch angeschafft. Und auch einmal flüchtig durchgeblättert. Dann festgestellt, dass gesundes Essen oder gar kochen nicht ihr Ding sind. Und Karl-Heinz war sowieso krank. Nun auch noch Magenkrebs. Welch bittere Ironie. Nur gut, dass der festgestellt wurde, bevor sie mit dem Kochen begonnen hat.

Vielleicht sollte sie den Herd jetzt tatsächlich einmal nutzen. Wo ist eigentlich die Beschreibung? Sie war doch damals ganz begeistert von dem, was er angeblich alles hat und kann. Bei dem Preis sollte er allerdings auch noch die Fenster putzen, das Unkraut jäten und mit dem Hund Gassi gehen.

Diese Küche war damals ein reiner Frustkauf. Völlig überteuert – man hätte von der Summe eine kleine Wohnung kaufen können – und sinnlos. Nun ist sie aber da.

›Ich sollte sie wirklich nutzen‹, denkt Ramona etwas widerwillig. ›Wir gehen viel zu oft essen. Ich könnte eine Menge Geld sparen, wenn ich selbst koche und ich hätte etwas zu tun. Vielleicht macht es mir ja sogar Spaß, wenn ich es einmal gelernt habe. Ob es Sascha gefallen würde? Ich muss mich ja nicht gleich zum Hausmütterchen umwandeln. Also nicht regional und saisonal. Mit Bratkartoffeln und Spiegeleiern, einem gehaltvollen Schweinebraten oder einem zähen Schnitzel mit zerkochtem Gemüse würde ich auch definitiv nicht bei ihm punkten. Eher mit etwas Schickem, Ausgefallenem. Ein elegant gedeckter Tisch mit Kerzenschein, ein edler Wein – damit kann ich ihn sicher überraschen.‹

Ihr graut vor dem Aufwand, sicher wird einiges schiefgehen und Sascha sie am Ende auslachen. Aber sie sollte sich nichts vormachen. Allmählich muss sie über ihre Finanzen nachdenken. Im Moment ist noch genug Geld da, aber es wird nicht ewig reichen. Sie denkt dabei nicht an ihr Alter, ihre einzige Sorge ist die: ›Wenn das Geld weg ist, ist Sascha auch weg‹.

Sie muss darüber nachdenken, aber nicht jetzt. Jetzt hat sie Hunger.

Ramona gibt die Suche nach der Gebrauchsanleitung für den Herd auf und blickt unschlüssig auf ihr Smartphone. Die erste eingespeicherte Nummer ist ein Pizza-Lieferdienst, die zweite ein Asiate, die dritte ein indisches Restaurant. Sie wählt die Zwei – Sushi ist gut für die Figur.

Donnerstag, 2. September

Dora Stocking beobachtet aus ihrem Küchenfenster im dritten Stock des Plattenbaus am Stadtrand von Wolgast, wie ihr Nachbar vorsichtig rückwärts einparkt und aus dem verbeulten, rostfleckigen silbernen Golf steigt. Der Mann bewegt sich langsam, achtet demonstrativ sorgfältig darauf, dass seine Autotür nicht den danebenstehenden Ford Fiesta berührt, obwohl der genauso alt und ungepflegt aussieht wie sein eigener Wagen und wirft dann einen schnellen, zielsicheren Blick nach oben.

Sie weiß genau, dass er sie durch die dichten Gardinen nicht sehen kann, tritt aber unwillkürlich einen Schritt zurück. Natürlich weiß er, wer ihn bei der Nachbarin angeschwärzt hat und er will, dass sie weiß, dass er es weiß. Dabei hat sie sich bei dem Anruf so bemüht, ihre Stimme zu verstellen. Die Müller solle doch froh sein, zu erfahren, wer ihr die Beule in der Tür verpasst hat, auch wenn die an dem Zustand des Autos insgesamt nicht mehr viel geändert hat. Aber immerhin hat sie etwas Geld von der Versicherung bekommen – das nimmt Dora jedenfalls an, erzählt hat es ihr niemand. Eigentlich ist es ihr auch egal, sie hatte nur gehofft, dass die beiden sich nach diesem Vorfall ordentlich zoffen, wo sie doch sonst immer die Köpfe zusammenstecken und plötzlich schweigen, wenn sie an ihnen vorübergeht.

Früher hat sie sich manchmal mit den Leuten im Haus unterhalten. Sie wurde geachtet und respektvoll gegrüßt, schließlich hat sie beim Arbeitsamt gearbeitet, damit hatten die meisten irgendwann zu tun. Manchmal hat sie jemandem einen Tipp gegeben oder beim Ausfüllen der Formulare geholfen. Natürlich hat sie sich mit niemandem im Haus angefreundet, die sind wirklich nicht ihr Niveau, sie hat sich nie herabgelassen, private Unterhaltungen zu führen, aber immerhin war sie freundlich, herablassend freundlich.

Auf die impertinente Frage der Müller, ob sie nun selbst arbeitslos sei, hat sie mit Leidensmiene von ihren Rückenschmerzen – ja, den ganzen Tag am PC zu arbeiten macht auf Dauer jede Wirbelsäule kaputt – und der langwierigen Therapie erzählt. Hat noch gegrinst, die blöde Kuh, anscheinend ist doch etwas durchgesickert. Aber im Prinzip stimmt es ja, sie ist aufgrund von chronischen Rückenschmerzen krankgeschrieben, seit Wochen und sie wird das auch so lange wie möglich durchziehen. Den Aufhebungsvertrag wird sie jedenfalls nicht unterschreiben – von wegen »gegenseitiges Einverständnis«. Die trauen sich ja doch nicht, den wahren Grund für ihre Entlassung in einer Kündigung anzugeben. Gut, sie hat versucht, ihre Vorgesetzte zu erpressen, aber dafür gab es schließlich einen Grund. Sie weiß einfach zu viel, hat schon immer zu viel gewusst. Und meist war das für sie sehr nützlich. Auch ihre Strategie, nach oben zu schleimen und nach unten zu treten, hat sie bisher immer weitergebracht. Diesmal hat sie allerdings versucht, nach oben zu treten und das hat nicht geklappt.

Sie wirft noch einen kurzen Blick auf ihren dicken Nachbarn, der jetzt die Einkaufstüten aus dem Kofferraum zerrt und geht zurück ins Wohnzimmer. Die dunklen schweren Möbel, das Bücherregal mit teuren Ausgaben von Klassikern, die sie nie gelesen hat, die Ledercouch – das alles fand sie mal sehr stilvoll, zu ihrem Image passend. Inzwischen findet sie es langweilig und bedrückend.

Von hier aus ist der Ausblick genauso deprimierend wie aus dem Küchenfenster. Sie sieht auf den gegenüberliegenden Wohnblock, auf Leute, die sie auch nicht leiden kann, freundliche, zufriedene Menschen, mit wenigen Ansprüchen, sonst würden sie sich hier ja nicht wohlfühlen. Tristesse herrscht hier überall.

Nun wird sie hier nicht mal mehr respektiert. So kann sie einfach nicht leben. Sie möchte, wenn schon nicht bewundert, wenigstens geachtet und gebraucht werden. Wichtig sein, sich abheben von der Masse.

Dieser Anruf bei der Müller war, im Nachhinein betrachtet, wirklich dämlich. Sie wollte ein wenig Unfrieden stiften, hat den beiden den Ärger gegönnt, doch sich am Ende nur selbst geschadet. Damit hat sie sich mit denen gemein gemacht. Niemand hier hält sie mehr für besonders klug, kleinlichem Nachbarschaftsstreit überlegen. Stattdessen wird sie belächelt, das ist das Allerletzte, was sie ertragen kann.

Frustriert geht sie die Treppe hinunter zum Briefkasten, nicht ohne vorher an der Wohnungstür zu lauschen, sie will niemanden treffen.

Mit der Einladung zum Klassentreffen in der Hand setzt sie sich auf das Sofa und überlegt.

Die werden natürlich die ganze Zeit über ihre Kinder und Enkel reden, wie langweilig. Sollte sie vielleicht ein Kind erfinden – einen Sohn, der Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff ist oder Wissenschaftler, Nobelpreisanwärter, vielleicht ein weltbekannter Autor, schreibt unter Pseudonym – ach was, wenn es herauskommt, dass sie gar kein Kind hat, ist sie richtig blamiert. Lieber schweigen und geheimnisvoll lächeln.

Oder gar nicht erst hingehen? Andererseits – an Bansin hat sie angenehme Erinnerungen. Dort wurde sie geachtet, hatte Einfluss und die richtigen Freunde. In ihrer Funktion im Gemeindeamt hat sie viel über die Leute erfahren, was ihr nützlich war. Was sie auch genutzt hat. Allerdings ist das schon lange her. Diese verdammte Wende hat ihren Weg nach oben durchkreuzt. In den letzten Jahren lief es dort nicht mehr so gut.

Wer von den ehemaligen Mitschülern wohnt eigentlich noch in Bansin? Ohne besonderes Interesse denkt sie darüber nach, dann hat sie eine Idee. Vielleicht kann ihr ja jemand von denen eine bezahlbare Wohnung besorgen. Das könnte doch eine Chance sein. Heißt es nicht, wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere? Warum nicht zurückkehren in ihren Heimatort?

Sie blickt nachdenklich aus dem Fenster. Die Gegend ist trist, ihre Wohnung ist trist, ihr Leben ist trist. So wird es bleiben, Jahr für Jahr. Ereignislos, bedeutungslos. Immer nur warten. Worauf? Auf eine kleine Rente, dann auf den Tod. Wenn sie jetzt nichts tut, ist es vielleicht die letzte Chance, noch einmal alles zu ändern. Ihre beste Zeit hatte sie in den Achtzigerjahren in Bansin. Da war sie noch jemand! Sie konnte über andere entscheiden, war geachtet, gefürchtet, bei einigen sogar beliebt.

Die Zeit ist vorbei. Endgültig, damit muss sie sich abfinden. Sie kann dort nicht wieder anknüpfen. Aber vielleicht noch einmal neu anfangen? Gut, einigen Leuten wird sie aus dem Weg gehen müssen oder einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Das kann sie gut. Freundlich lächeln, sich fröhlich geben, interessiert zuhören, Anteilnahme heucheln – ihre leichteste Übung. Und immer ein wenig von oben herab, schließlich ist sie ja jemand. Klug, gebildet und einflussreich. In leitender Stellung beim Arbeitsamt. Sie muss nur selbst daran glauben.

Wenn es richtig gut läuft, kann sie ihr Wissen von damals sogar jetzt noch nutzen. Eigentlich ist das Klassentreffen perfekt geeignet, um das herauszufinden. Man trinkt ein Glas Wein oder auch paar Gläser mehr, redet über diesen und jenen, ganz im Vertrauen natürlich – ›Was macht der denn jetzt eigentlich? Ach, guck an, da hat er es ja richtig weit geschafft.‹ – es gibt sicher einige, die nicht so gern an ihre Vergangenheit erinnert werden.

Doras Laune bessert sich, sie lächelt hoffnungsvoll, während sie ein wenig von ihrer Zukunft in Bansin träumt.

Dann sieht sie sich die Einladung genauer an. Von wem kommt die eigentlich? Anne Wiesner? Dora überlegt kurz. Ach, natürlich, Anne! Die lange, Rothaarige mit der großen Klappe. Eigentlich nett, aber für Doras Geschmack ein bisschen zu direkt. Sagte einfach immer, was sie dachte.

Das Treffen soll im Hotel Kehr wieder stattfinden. Wo ist das denn? Ach ja, das hieß früher Fortschritt. Jetzt gehört es Berta Kelling. Oder? Die muss doch auch schon uralt sein. Hat Anne es etwa übernommen?

Sie weiß gar nicht mehr so richtig, was in Bansin vor sich geht. Das muss sich noch vor dem Klassentreffen ändern. Ihre Teilnahme wird sie am besten persönlich zusagen.

Klas Marten ist schon zu Hause, als seine Frau die Wohnung betritt. Ihm war es heute zu heiß am Strand, es war auch keiner von den anderen Fischern mehr dort. Sogar Paul Plötz ist heute zu Hause geblieben, vielleicht sitzt er aber auch am Stammtisch im Kehr wieder, bei seiner Freundin Berta.

»Komm schnell«, ruft er ungewohnt aufgeregt und hält Solveig das Telefon entgegen. »Carmen ist dran, sie will dir was Wichtiges sagen.« So wie er strahlt, weiß er es schon und es muss etwas wirklich Wichtiges sein. Solveig ahnt etwas. »Hallo, mein Schatz. Schön, dass du anrufst. Geht es dir gut? Was gibt’s Neues?«

Ihre Tochter bestätigt, was Solveig gehofft hat. Als sie das Telefon weglegt, hat sie Freudentränen in den Augen und Klas nimmt sie zärtlich in den Arm. Endlich! Sie haben sich so sehr ein Enkelkind gewünscht und nun ist es soweit. Immerhin ist ihre Tochter schon Mitte dreißig.

»Aber das ist heute normal, die fangen nicht mehr so früh an wie wir damals. Ist ja auch gut so. Da können sie dem Kind doch etwas bieten, sie haben eine schöne Wohnung und alles. Und Carmen bleibt bestimmt ein paar Jahre zu Hause. Er verdient ja auch gut.«

Solveig plappert aufgeregt und Klas nickt und strahlt und hat jetzt tatsächlich auch eine Träne im Augenwinkel.

»So!« Sie springt auf und geht in die Küche. »Ich stelle eine Flasche Sekt kalt, die trinken wir heute Abend. Und dann mach ich uns erst einmal einen Kaffee. Oder?«

Sie kommt zurück ins Zimmer. »Hat Carmen eigentlich gesagt, wann sie kommen? Bleibt es nun trotzdem bei Oktober?«

Später, beim Kaffee, sie reden immer noch über Carmen und dass sie Großeltern werden, bedauert Solveig: »Schade, dass sie so weit weg wohnen. Ich meine – Hamburg geht ja noch, es könnte schlimmer sein – aber es wäre doch schön, wenn sie hier in der Nähe wohnten. Ich könnte ihr auch mit dem Baby helfen.« Sie seufzt sehnsüchtig.

Dann denkt sie an Pichlers. Vielleicht sollte man ihnen das Haus doch verkaufen. »Oder würde Carmen mit dem Kind öfter kommen, wenn ein Garten da wäre, in dem es spielen kann? Und ein oder zwei gemütliche Zimmer unter dem Dach? Klas, was meinst du?«