Tödliche Gier in Bansin - Elke Pupke - E-Book

Tödliche Gier in Bansin E-Book

Elke Pupke

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Beschreibung

Eine Fischerhütte wird zum Tatort. Eigentlich wollen die Bansiner Fischer nichts anderes, als in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Aber dann liegt ein Toter in einer alten Fischerhütte am Strand. Und plötzlich sind sie alle verdächtig, denn der umtriebige und unbeliebte Geschäftsmann hatte große Veränderungen vor, die nicht jedem gefallen hätten. Wer wollte sie verhindern? Wer war in seine dubiosen Pläne verwickelt? Wer spielt ein falsches Spiel? Aber auch in seinem Privatleben ging es um viel Geld, um eine große Erbschaft, um Liebe, familiäre Zerrüttung und Hass. Denn der charismatische Mann hatte sich in der Vergangenheit Schuld aufgeladen, die ihm bis heute nicht verziehen wurde. Wieder einmal muss sich Tante Berta in die Ermittlungen der Polizei einmischen, denn sie weiß genau, dass Hauptkommissar Schneider auf der falschen Spur ist, wenn er ihre Freunde, die Fischer, verdächtigt. Sie muss sich beeilen, denn, wie erwartet, bleibt es nicht bei dem einen Mord. Die alte Pensionswirtin, ihre Nichte Sophie und deren Freundin Anne sind als Ermittlerteam erneut gefragt.

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Elke Pupke

TÖDLICHE GIERIN BANSIN

Inhalt

Den Strandfischern auf Usedom gewidmet.

Prolog

Donnerstag, 04. Juni

Freitag, 05. Juni

Sonnabend, 06. Juni

Dienstag, 09. Juni

Donnerstag, 11. Juni

Freitag, 12. Juni

Sonntag, 14. Juni

Mittwoch, 17. Juni

Donnerstag, 18. Juni

Montag, 22. Juni

Mittwoch, 24. Juni

Donnerstag, 25. Juni

Freitag, 26. Juni

Sonnabend, 27. Juni

Montag, 29. Juni

Montag, 06. Juli

Mittwoch, 08. Juli

Freitag, 10. Juli

Dienstag, 14. Juli

Donnerstag, 16. Juli

Freitag, 17. Juli

Sonnabend, 18. Juli

Mittwoch, 22. Juli

Sonnabend, 25. Juli

Dienstag, 28. Juli

Mittwoch, 29. Juli

Donnerstag, 30. Juli

Freitag, 31. Juli

Sonntag, 2. August

Dienstag, 4. August

Freitag, 7. August

Sonnabend, 8. August

Dienstag, 11. August

Sonnabend 15. August

Sonntag, 16. August

Dienstag, 18. August

Mittwoch, 19. August

Donnerstag, 20. August

Epilog

Den Strandfischern auf Usedom gewidmet.

Prolog

Juni 2018

Es ist ein sehr heller Sommerabend. Die Insel ist voller Touristen, auf den Strandpromenaden drängen sich die Menschen, die Tische in den Restaurants und auf den Terrassen sind alle besetzt, alle Türen stehen offen, von überallher klingen Musik und Stimmengewirr. Saison an der Ostsee.

Hier am Peenestrom, an der Rückseite der Insel Usedom, ist es still. Die wenigen Häuser des kleinen Dorfes liegen verstreut zwischen Bäumen und Gärten. Die Gardinen vor den kleinen Fenstern sind zugezogen, hinter einigen sieht man ein schwaches Licht oder einen helleren Bildschirm. Ein Eichhörnchen klettert einen Baumstamm hinauf, eine Katze schleicht durch das Gras. Nur das Quaken der Frösche und das verschlafene Schnattern einer Ente stören die Stille.

Ein etwas wackliger Holzsteg führt durch das hohe Schilf bis ins tiefere Wasser. Die Frau lässt ihre hochhackigen, mit Strasssteinchen besetzten Sandalen und den pinkfarbenen Bademantel am Ufer liegen. Sie kichert vor sich hin, als sie vorsichtig über den Steg balanciert und sich an der Spitze hinsetzt. Sie ist nicht betrunken, nur sehr vergnügt, mit sich und ihrem Leben zufrieden. Gerade hat sie fast zwei Stunden lang mit ihrer Familie in Polen telefoniert. Die lebt auch in einem kleinen Dorf, aber ihren Lieben geht es nicht so gut, sie müssen hart arbeiten, um sich mit der Landwirtschaft über Wasser zu halten. Sie können auch nicht zu ihrer Hochzeit kommen, leider, sie haben gerade jetzt zu viel zu tun. Aber man wird die Feier in Polen nachholen. Darauf freut sich die Frau, sie malt sich aus, wie sie, elegant gekleidet, mit teuren Geschenken für die Mutter und die Schwestern ins Dorf kommt, wie ihre ehemaligen Freundinnen sie bewundern und beneiden werden.

Die Frau ist nicht mehr ganz jung und nicht mehr ganz schlank, ihr freundliches, rundes Gesicht zeigt Spuren eines abwechslungsreichen Lebens und viele Lachfältchen, das Haar ist etwas zu blond gefärbt.

Während des Telefonates hat sie den süßen Sekt getrunken, den sie so liebt, eine ganze Flasche. Vielleicht wird sie morgen früh Kopfschmerzen haben, doch jetzt geht es ihr gut. Sie geht jeden Abend um diese Zeit im Peenestrom schwimmen, zwischen acht und zehn Uhr, wenn ihr zukünftiger Ehemann die Tagesschau ansieht und danach einen Film, am liebsten einen Krimi.

In Gedanken an das Gespräch mit ihrer jüngeren Schwester, von der sie glühend beneidet wird, immer noch lächelnd, lässt sie die Beine im Wasser baumeln, dann gleitet sie langsam hinein. Es ist noch kühl, angenehm erfrischend.

Die Frau dreht sich auf den Rücken und will sich gerade mit den Füßen vom Steg abstoßen, als ihr Kopf plötzlich unter Wasser gedrückt wird. Der Angriff kommt völlig überraschend und der Kampf ist kurz. Zehn Minuten später treibt der leblose Körper im Wasser.

Roswitha Behrend ist genervt. Sie hätte den Krimi wirklich gern gesehen, aber nun hat sie mittendrin zehn Minuten verpasst und findet den Anschluss nicht mehr. Nur, weil ihre Schwiegermutter mal wieder etwas gesehen hat. Sie sieht dauernd etwas. Einbrecher, Spione, Terroristen. Alles, was gerade im Fernsehen gezeigt wurde, spielt sich für sie hier im Dorf ab. Heute war es eine Frau mit einer roten Mütze, die eine andere Frau im Peenestrom ertränkt hat.

»Da, am Steg«, zeigt sie aufgeregt nach draußen. »Sie hat ihren Kopf unter Wasser gedrückt. Die Enten haben ganz laut geschnattert.«

»Ja, ich rufe dann gleich die Polizei an.« Roswitha verdreht die Augen und ist froh, als ihr Mann endlich aufsteht und sich um seine Mutter kümmert. Sie setzt sich wieder vor den Fernseher, ohne auch nur einen Blick nach draußen, auf den Peenestrom, zu werfen.

Donnerstag, 04. Juni

Berta Kelling schnauft erleichtert, als sie die Pendeltür zur Küche der Pension aufstößt und ihre Einkäufe auf dem Boden abstellt.

»Ich glaub, ich werde langsam alt«, erklärt sie ihrer Nichte Sophie, die dabei ist, die Reste des Frühstücksangebotes im Kühlschrank zu verstauen. Der erhoffte Widerspruch bleibt aus. Sophie nickt nur und wirft einen kurzen Blick auf den prall gefüllten Stoffbeutel und den Einkaufskorb. Den Hinweis, dass die Schlepperei eigentlich unnötig ist, weil sie ihre Tante gern zum Einkaufen gefahren hätte, erspart sie sich.

Zum einen hatten sie diese Diskussion schon oft genug, zum anderen weiß sie, dass es der alten Frau weniger um die Lebensmittelbeschaffung als um die Begegnungen im Ort geht.

Es ist völlig normal, dass Berta erst nach zwei oder drei Stunden von dem nicht mal einen Kilometer entfernten Discounter zurückkehrt. Dann bringt sie zwar nicht das mit, was sie eigentlich einkaufen wollte, dafür aber jede Menge Neuigkeiten.

Sophie hebt den Korb auf den Küchentresen und packt aus. Mit dem frischen Gemüse ist sie zufrieden, über einen Becher Joghurt schüttelt sie den Kopf. »Ich hab den ganzen Kühlschrank voll davon!«

»Ja, ich weiß, aber das Zeug ist mir alles zu süß und zu künstlich. Ich hab mir Naturjoghurt gekauft, da tu ich das Feinfrostobst rein. Schmeckt und ist gesund. Leg mal die Himbeeren in den Tiefkühler. Ich brauche jetzt einen Kaffee.«

Der große runde Stammtisch, an dem sie sich mit ihrer Tasse niederlässt, war mal der Esstisch im vornehmen Haushalt von Bertas Großmutter und ist so alt, wie das Haus selbst. Das wurde vor mehr als hundert Jahren, während der Gründerzeit des Seebades, schon als Pension erbaut, hat zwei Kriege überstanden und war nach fast vierzig Jahren Nutzung als FDGB-Ferienheim beinahe abbruchreif.

Berta hat es 1989 zurückbekommen und hatte bereits schweren Herzens beschlossen, den alten Familienbesitz zu verkaufen. Bis heute ist sie jeden Tag dankbar und glücklich darüber, dass Sophie das Haus übernommen hat.

Die hat es sich damals gründlich überlegt, denn die alte Villa war wirklich in einem üblen Zustand. Zur DDR-Zeit wurde immer nur das Nötigste repariert, es wurde einfach heruntergewohnt. Auch der Denkmalschutz machte die Restaurierung und vor allem Modernisierung nicht gerade billiger.

Aber es hat sich gelohnt. Die Pension ist jetzt eines der schönsten Beispiele für wilhelminische Bäderarchitektur und steht direkt an der Bansiner Strandpromenade mit Blick auf den Strand und die Ostsee. Inzwischen ist sie sogar ganzjährig gut ausgelastet. Sophie wollte in diesem Jahr zwei Mitarbeiter mehr einstellen, um endlich einmal selbst weniger zu arbeiten. Die Pandemie und die damit verbundene Schließung des Hauses hat sie erst einmal ausgebremst.

Der Tisch, an dem Sophie und Berta jetzt ihren Kaffee trinken, steht in einer Nische zwischen der Rückwand der Rezeption und der Küche und ist vom Eingang nicht einsehbar, was mitunter von Vorteil ist, weil die eintretenden Touristen nicht gleich mit den Stammgästen konfrontiert werden. Denen hat Sophie zwar inzwischen das Qualmen verboten und auch die lautstarken Streitgespräche einigermaßen abgewöhnt, aber sie kann nicht immer verhindern, dass die Fischer, manchmal auch die Bauarbeiter, in ihrer Arbeitskleidung am Stammtisch sitzen und ab und an auch respektlose Bemerkungen über die anderen Gäste austauschen.

»Und? Was gibt es Neues in Bansin?«, fragt die Wirtin mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. Ihre Tante ist ungewöhnlich ruhig, wirkt nachdenklich. Sicher sinniert sie wieder über Dinge, die sie gar nichts angehen. Wenn ihr das mal jemand sagen würde, wäre sie vermutlich völlig überrascht und würde es gar nicht verstehen. Sie ist nämlich davon überzeugt, dass in Bansin nichts passiert, was sie nichts angeht. Tante Berta kennt beinahe jeden Einwohner und scheut nicht davor zurück, sich auch in deren private Angelegenheiten einzumischen. Dass sie sich mit ihrer Art nicht bei allen beliebt macht, ist ihr völlig egal. Darüber denkt sie nicht einmal nach. Sie tratscht nicht und sie schadet auch niemandem, im Gegenteil, sie versucht nur zu helfen. Ob es den Leuten passt oder nicht.

»Man trifft nicht mehr viele Bansiner«, antwortet sie jetzt etwas missmutig. »Der Ort ist so voller Urlauber, dass du die Einheimischen dazwischen gar nicht mehr findest.«

»Na, Gott sei Dank!« Sophie sieht ihre Tante empört an. »Wolltest du vielleicht, dass es so bleibt wie im Frühjahr? Das war doch gruselig.«

»Ja, schon ein bisschen.« Berta nickt zögerlich. Ihr hat es auch nicht gefallen, dass der Ort monatelang wie ausgestorben war. Sie hat die ganzen achtzig Jahre ihres Lebens in Bansin verbracht und noch nie erlebt, dass es hier so ruhig war. Selbst bei strahlend schönem Wetter im April und Mai war kaum jemand auf der Promenade oder am Strand zu sehen gewesen. Berta hatte es als Vorteil empfunden, dass, wenn man doch einmal jemanden traf, es ein Einheimischer war, mit dem man reden konnte.

»Man sollte die Insel vielleicht jedes Jahr für zwei Wochen dichtmachen«, überlegt sie jetzt. »Dann könnten wir uns alle erholen und untereinander austauschen.«

»Na, das fehlte noch.« Sophie schüttelt den Kopf. »Auf solche Ideen kannst auch nur du kommen.«

»Nein, das haben einige gesagt, mit denen ich gesprochen habe.«

»Aber bestimmt keiner, der vom Tourismus lebt und das sind ja wohl neunzig Prozent der Bansiner. Die Beamten vielleicht, oder die Rentner, aber denen wäre es auf Dauer auch langweilig.«

Berta antwortet nicht, sie rührt nachdenklich in ihrer Kaffeetasse.

»Nun erzähl schon – was hast du für ein Problem? Oder wer hat ein Problem, um das du dich kümmern musst?« Sophie kennt ihre Tante genau.

Die überhört den gutmütigen Spott. »Ich habe die kleine Jule, die Tochter von Ruben Fux, beim Klauen beobachtet«, erzählt sie. »Sie hat das ziemlich geschickt angestellt, außer mir hat wohl niemand was gemerkt.«

»Und du hast es natürlich auch für dich behalten, denk ich.«

»Ja! Ich wollte die Kleine natürlich darauf ansprechen, aber sie war zu schnell weg.«

»Ist aber pädagogisch nicht sehr sinnvoll. Wenn sie merkt, dass es funktioniert, wird sie es wiederholen und irgendwann richtig in Schwierigkeiten geraten.«

»Ja, ich weiß. Deshalb wollte ich sie ja ansprechen.«

»Was hat sie denn eingesteckt? Süßigkeiten?«

»Nein. Das ist ja das Seltsame. Ein Buch. So einen schnulzigen Heimatroman.«

»Das konntest du erkennen?«

»Ich habe gesehen, wo sie ihn weggenommen hat.« Berta schüttelt nachdenklich den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Kind so was liest …«

»Kennst du sie so gut? Wie alt ist das Mädchen eigentlich?«

»Dreizehn oder vierzehn, glaube ich.«

»Ach so? Ich dachte, sie wäre viel jünger. Aber ich kenne sie gar nicht. Wenn Ruben sie erwähnt, hat man den Eindruck, er spricht von einem Kind. Das ist sie dann ja gar nicht mehr. Ich habe in dem Alter auch alles gelesen, was mir in die Finger kam. Besonders gern Liebes-, Arzt und Adelsromane. Was alles so ungefähr das Gleiche war. Die haben wir immer untereinander getauscht. Weißt du noch?«

»Ja, ich weiß. Ihr habt die doch hauptsächlich gelesen, weil sie in der DDR verboten waren. Diese Art der seichten Literatur gab es ja nicht zu kaufen, dafür sehr schöne Kinderbücher.«

»Für Kinderbücher haben wir uns mit vierzehn zu erwachsen gefühlt. Und die Westschmöker hatten immer so ein schönes Happy End.« Sophie überlegt. »Ich glaube, nach der Wende habe ich keinen einzigen von der Sorte mehr gelesen.«

»Na, das hoffe ich doch«, murmelt Berta, mit ihren Gedanken immer noch bei Jule Fux.

»Was denkst du, sollte ich es Ruben erzählen? Oder bringe ich sie damit erst richtig in Schwierigkeiten? Ich will sie nicht anschwärzen, aber vielleicht braucht sie Hilfe …«

»Sicher, aber ob sie die von Ruben bekommt? Ich würde ihn nicht zum Vater des Jahres nominieren. Er spricht doch kaum von seiner Tochter. Wahrscheinlich kümmert er sich nicht viel um sie, weil er mit sich selbst genug zu tun hat.«

»Eben. Vielleicht braucht er mal einen Anstoß, damit er sie wahrnimmt. Ich denke allerdings, er verhält sich ganz normal. Du kannst ihn natürlich nicht mit Andreas Keller vergleichen, der gar kein anderes Thema als seine Kinder kennt.«

»Richtig. Und das ist auf Dauer ziemlich langweilig«, mischt sich Anne ein.

»Hast du noch ein paar Brötchen vom Frühstück übrig?«

Ohne die Antwort auf die rhetorische Frage abzuwarten, holt sie sich eine Tasse Kaffee und setzt sich mit auf die Eckbank. Sie streckt die langen Beine unter dem Tisch aus. Der Kater, den sie etwas beiseitegeschoben hat, miaut empört, geht dann aber in ein behagliches Schnurren über, als Anne ihn auf den Schoß nimmt und hinter den Ohren krault.

Sophie ist zwar in Berlin aufgewachsen, hat ihre Schulferien jedoch immer bei ihrer Tante in Bansin verbracht und Anne ist seit ihrer Kindheit ihre beste Freundin. Äußerlich könnten die gleichaltrigen Frauen kaum unterschiedlicher sein: Sophie kaum mittelgroß und zierlich, mit den gleichen strahlend blauen Augen wie ihre Tante Berta und Anne, deren naturroter Lockenkopf aus jeder Menschenansammlung herausragt. Aber sie verstehen sich ohne viele Worte, haben denselben Humor und das gleiche gestörte Verhältnis zu Männern, mit denen sie beide schlechte Erfahrungen gemacht haben.

Anne hält sich häufiger in der Pension auf, als in ihrer kleinen Wohnung in einem Hinterhaus am Waldrand und betrachtet ihre Freundin und deren Tante als ihre Familie.

Etwas unzufrieden betrachtet sie jetzt das Tablett, das Sophie vor sie hingestellt hat. Zwei frische Brötchen, Wurst, Käse, Butter …

»Nutella gibt es nicht mehr und zwei Brötchen reichen. Nachher jammerst du wieder, weil du die Hose nicht mehr zukriegst. Besser wären allerdings Vollkornbrot und Quark.«

Anne greift schnell zu einem Brötchen und schneidet es auf. »Was ist denn mit Andreas und seinen Gören?«, wechselt sie das Thema.

»Gar nichts. Es geht eigentlich um Rubens Tochter.« Sophie erzählt, was passiert ist.

»Ich will sie wirklich nicht in Schwierigkeiten bringen«, fügt Berta hinzu, »aber ich fürchte, dass sie schon drinsteckt.«

Anne kennt Bertas Helfersyndrom und nimmt die Sache nicht so ernst. »Sie ist ein Teenager, da macht man schon mal Blödsinn. Vielleicht war es eine Mutprobe. Oder sie liest gern Liebesromane und schämt sich, einen zu kaufen. Ich glaube, sie ist ein bisschen verklemmt, wirkt jedenfalls sehr schüchtern.«

»Kennst du sie denn?«, fragt Sophie erstaunt.

»Na ja, vom Sehen eben. Sie wohnt doch bei mir im Vorderhaus.«

»Ja, natürlich«, fällt es Berta ein. »Du musst sie ja von klein auf kennen. Was hältst du von ihr?«

Anne zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Gar nichts eigentlich. Ich glaube, ich habe schon seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie grüßt, sieht einen dabei aber nicht an. Irgendwie sieht sie immer traurig aus. Kann schon sein, dass sie Probleme hat, vermutlich mit ihrer Mutter.«

»Trinkt die wirklich?«, fragt Sophie. »Ruben deutete es ja immer mal an, aber er scheint es nicht so ernst zu nehmen, er macht sich eher darüber lustig.«

»Natürlich trinkt sie«, behauptet Berta verärgert. »Deshalb wechselt sie auch dauernd die Arbeitsstellen. Ruben mag das ja lustig finden, aber für seine Tochter, besonders in dem Alter, ist es das bestimmt nicht.«

Sie trinkt ihren Kaffee aus und weiß immer noch nicht, ob sie mit Ruben Fux über seine Tochter sprechen soll oder lieber nicht. Jedenfalls wird sie das Mädchen im Auge behalten.

Freitag, 05. Juni

Paul Plötz nimmt seine Schirmmütze ab, wischt mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und blickt über die Dünen hinweg zum Strand.

»Das sieht ja aus wie sonst im August«, sagt er zu Arno, seinem Kollegen, der hinter ihm aus der Bude getreten ist. »Hat Sophie nicht gesagt, die dürfen nur 60 % der Betten vermieten? Kontrolliert das einer? Ich glaub, sie ist die Einzige die sich daran hält. Die anderen bescheißen alle.«

»Glaub ich nicht. Die Hoteliers werden sich schon daranhalten. Die Gäste weichen in die Ferienwohnungen aus. Sogar bei uns im Dorf ist alles vermietet.«

»Stimmt. Bei uns in Sallenthin auch. Das ist doch mal gut.« Paul drückt die abgegriffene blaue Mütze wieder auf die schweißnassen Haare. »Deshalb sind auch so viele Radfahrer unterwegs. Die reine Pest ist das.«

Arno erwidert nichts. Er fährt selbst oft mit dem Rad zu seiner Arbeit am Strand und weiß, dass sein älterer Kollege ihn nur provozieren will. Außerdem wäre es ein Wunder, wenn Paul nicht auch etwas Negatives an einer eigentlich guten Sache finden würde.

Dabei hat der heute richtig gute Laune. Zufrieden betrachtet er die Aale, die sich noch in der Kiste winden. So einen guten Fang wie in diesem Jahr hatten sie schon lange nicht mehr.

Einen Teil der Fische hat Arno schon gesäubert, er steckt sie jetzt auf Metallspieße, um sie dann in den Rauch zu hängen.

Berta tritt heran und sieht ihm wohlwollend zu. Sie mag den ruhigen Fischer und hofft seit Jahren, dass aus der eher losen Liaison zwischen ihm und der zehn Jahre älteren Sophie endlich eine feste Beziehung wird.

»Willst du alles räuchern oder habt ihr noch ein paar für uns übrig?«, fragt sie jetzt.

Paul Plötz weist stolz auf die Kisten. »Kannst so viel haben, wie du willst. Arno bringt sie dir nachher hoch. Nimmst du lieber den dünnen oder auch ein paar dicke?«

»Ist egal. Den dünnen koch ich weiß, hab mir schon Dill mitgebracht und Petersilienwurzeln. Und eine Fischsuppe mach ich auch noch. Den Mittelaal werde ich braten, den dicken wohl auch, den schneide ich in dünne Scheiben.«

»Den ganz dicken Aal kannst du auch sauer einkochen«, schlägt Paul vor. »Der ist so fett, der geliert von ganz allein, da brauchst du gar nichts zu machen.«

»Ja, hast recht. Das hab ich schon lange nicht mehr gemacht.«

Berta freut sich. Auch so ein Gespräch hatten sie schon lange nicht mehr. In den vergangenen Jahren war sie froh, wenn sie Aal für den Eigenverbrauch hatten, in der Gaststätte wurde er deswegen selten angeboten.

»Schade, dass wir nicht alle Tische besetzen dürfen«, bedauert sie. »Die Gäste stehen Schlange vor der Tür. Wir könnten momentan doppelt so viel Umsatz machen.«

»Ja, hoffentlich ist dieser Mist bald vorbei.« Der Fischer seufzt. »Meine Frau hat beschlossen, dass ich jetzt einkaufen soll. Sie bildet sich ein, dass sie unter dieser Maske keine Luft kriegt. Und du weißt ja, wie gern ich das mache. Ich finde doch gar nichts in dieser großen Halle. Warum gibt es eigentlich keine kleinen Läden mehr?«

Berta lacht. Sie kennt Paul Plötz schon seit über siebzig Jahren, sein ganzes Leben lang. Ihre Familien waren befreundet und auch zu DDR-Zeiten, als das nicht erlaubt war, hat er sie mit Fisch versorgt. Außerdem ist er seit jeher Stammgast im Kehr wieder. Schon immer haben sie Freud und Leid und alle Probleme geteilt. Sie lässt ihn auch jetzt nicht im Stich.

»Dann bring mir deinen Einkaufszettel mit, ich mach das schon«, schlägt sie vor. »Mich stört an den Masken nur, dass man die Leute dahinter so schlecht so erkennt.«

Sonnabend, 06. Juni

Susanne Fux sitzt auf ihrem kleinen Balkon im Ahlbecker Seniorenpflegeheim und blickt versonnen auf die Ostsee. Das Wasser ist heute sehr blau, freundliche kleine Wellen bewegen die Oberfläche. Sie träumt davon, durch den weichen warmen Sand in das Meer zu laufen, zu schwimmen, sich auf dem Rücken liegend vom Salzwasser tragen zu lassen, schwerelos, nichts als Sonne und See – sie zuckt zusammen, als die Pflegerin ihr behutsam eine Decke über die Schultern legt.

Es ist tatsächlich noch etwas kühl. Auch die Ostsee wird noch zu kalt sein, sie würde nicht hineingehen, selbst wenn sie es könnte.

»Danke, Simone.« Sie lächelt die freundliche junge Frau an und will etwas sagen, als es an der Tür klopft. »Ach, da ist sie ja schon. Hast du uns Kuchen mitgebracht? Das ist lieb.«

Jule nickt und bleibt schüchtern an der Tür stehen. Die Pflegerin nimmt ihr das Paket aus der Hand.

»Nimm dir einen Stuhl und setz dich raus zu deiner Oma. Es ist heute so schön auf dem Balkon. Ich bringe euch Teller und Kaffee. Möchtest du auch etwas trinken? Einen Saft vielleicht?«

Jule schüttelt stumm den Kopf. Nicht noch mehr Zucker, der Kuchen ist schon schlimm genug. Sie wird ein Glas Wasser dazu trinken. Dass Oma sie aber auch immer so in Versuchung führt, wie soll sie da ihre Diät durchhalten. Aber die alte Frau liebt dieses süße Zeug nun mal und sie hat ja sonst nicht mehr viel Freude im Leben.

»Komm her, meine Kleine. Schön, dass du da bist. Ich hab dich gar nicht kommen sehen.«

Sie blickt zur Bushaltestelle hinüber.

»Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.«

»Ach so. Ja, das ist doch schön. Es fährt sich gut auf der Promenade, nicht? Führt der Radweg jetzt eigentlich durch bis nach Bansin?«

»Ja.« Jule setzt sich ihrer Oma gegenüber an den kleinen Tisch und blickt sie liebevoll an. »Weißt du, woran ich mich erinnert habe? Wie du mich im Krankenhaus in Heringsdorf besucht hast, als ich mir den Arm gebrochen hatte. Da bist du auch immer mit dem Fahrrad gekommen und hast mir Kuchen mitgebracht.«

»Ja, du warst schon ein kleiner Süßschnabel. Dass du dich daran noch erinnern kannst! Du warst doch noch so klein, gingst noch nicht mal zur Schule.« ›Und deine Eltern hatten mal wieder keine Zeit für dich‹, fügt sie in Gedanken hinzu.

Simone stellt ein Tablett auf den Tisch. Sie hat den Kuchen auf zwei Tellern verteilt und für Susanne eine Tasse Kaffee dabei.

Während die beiden essen, sprechen sie über das Wetter und die vielen Gäste, die schon wieder auf der Insel sind. Traurig beobachtet Jule, wie schwer es ihrer Großmutter fällt, die Tasse zum Mund zu führen. Sie ist so schwach geworden in den letzten Monaten, als sie niemand besuchen durfte. Ob sie Schmerzen hat? Sie klagt eigentlich nie, aber Jule weiß, dass der Krebs immer weiterfortschreitet und nicht mehr heilbar ist. Sie hat große Angst, ihre einzige Vertraute bald zu verlieren.

»Ich hab dir was mitgebracht«, fällt ihr plötzlich ein. Sie bückt sich zu ihrer Umhängetasche und zieht ein Buch mit einer kitschig-bunten Gebirgslandschaft auf dem Einband heraus. »Einen Heimatroman. Die magst du doch, oder?«

»Ja.« Susanne freut sich ehrlich. »Früher habe ich oft Arztromane gelesen, da reicht mir jetzt die Praxis. Aber so etwas lese ich gern, dabei kann man herrlich abschalten. Danke, mein Schatz.«

Jule nickt zufrieden. Sie denkt ständig darüber nach, wie sie ihrer Oma den letzten Lebensabschnitt erleichtern kann. Nur ihr verdankt sie eine schöne Kindheit, sie war die Einzige, die ihr Liebe und Geborgenheit gegeben hat. Außerdem hat sie das Gefühl, die Kälte ihres Vaters ausgleichen zu müssen.

»In deine Aalkartoffeln könnte ich mich reinlegen. Die schmecken genauso, wie meine Mutter sie früher gekocht hat«, schwärmt Andreas Keller. Er schiebt den leeren Teller weg und lehnt sich zufrieden stöhnend zurück. »Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal einen Schnaps, zur Verdauung.«

»Kriegst du.« Berta sieht die anderen Stammtischgäste an. »Was ist mit euch? Ich gebe eine Runde aus.«

Sophie geht an den Tisch und nimmt die Bestellung auf. Berta selbst, Andreas Keller und Ruben Fux trinken Kräuterlikör, Paul Plötz und Bruno Kerr, ein weiterer Stammgast, ordern Korn. Arno schüttelt den Kopf, als Sophie ihn fragend anblickt. Er mag keinen Schnaps, trinkt lieber ein Glas Weißwein.

»Meinst du, sie sagt was zu Ruben, wegen seiner Tochter?« Anne sitzt auf einem Barhocker, kann sich aber mit den Beinen auf dem Boden abstützen. Sie beugt sich über den Tresen und spricht leise zu ihrer Freundin. Auch Sophie blickt nicht zu ihrer Tante, sondern konzentriert sich auf die Getränke, die sie einschenkt. Sie schüttelt den Kopf. »Glaub ich nicht. Nicht, wenn alle dabei sind.«

»Ist auch besser so.« Anne ist erleichtert, ihr tut das Mädchen leid.

Sophie sieht nachdenklich zum Stammtisch hinüber. »Ich wüsste trotzdem gern, wie Ruben reagiert. Irgendwie kann ich mir den gar nicht als Vater vorstellen. Wie ist er denn so? Ich meine, wie spricht er mit seiner Tochter? Meckert er viel oder ist er eher locker? Hilft er ihr bei den Hausaufgaben, unternimmt er mal was mit ihr?«

Anne zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir wohnen ja praktisch nebeneinander, ich sehe sie ständig, doch wenn ich mir das so überlege, eigentlich nie zusammen. Die Kleine huscht verschüchtert über den Hof und Ruben – na, du kennst ihn ja. Immer laut, immer lustig, stänkert auch mal, aber ich glaube nicht, dass er das Mädchen schlecht behandelt. Jedenfalls nicht absichtlich. Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich großzügig ist und ihr viel Freiraum lässt, vielleicht auch mal einen Schein zusteckt.«

»Dann bräuchte sie ja nicht zu klauen.«

»Stimmt auch wieder.«

Sophie stellt noch zwei Gläser Bier auf das Tablett und trägt es zum Stammtisch. Anne sieht ihr zu, wie sie die Getränke verteilt und mustert dabei Ruben Fux.

Der Fünfzigjährige ist immer noch attraktiv, obwohl man ihm sein bewegtes Leben ansieht. Er ist groß und kräftig, das volle blonde Haar wird allmählich grau und die Gesichtszüge sind nicht mehr so markant wie früher, sondern von reichlich Alkohol aufgeschwemmt. Er gibt sich selbstbewusst, jovial, großzügig, dominiert noch immer jede Gesellschaft. Aber der Blick aus den auffallend blauen Augen ist nicht mehr ganz so strahlend, das verhindern dicke Tränensäcke.

Er zwinkert Sophie zu, als sie ihm das Bier hinstellt. Das Flirten liegt ihm einfach im Blut, er kann es nicht lassen und freut sich über den verärgerten Blick von Arno. Aber der sagt natürlich nichts, zum einen, weil es sinnlos wäre, Sophie mag Ruben nicht einmal und zum anderen sagt er ohnehin nie viel. Außerdem redet Andreas gerade. Ausführlich erzählt er von seinen zweijährigen Zwillingstöchtern, die sich in einer eigenen Sprache unterhalten, die niemand außer ihnen versteht.

»Interessant«, bemerkt Sophie, während sie die leeren Gläser vom Tablett räumt.

»Ja, findest du?« Anne verdreht die Augen.

»Ach, nun lass ihn doch. Die Kinder sind nun mal sein ganzer Lebensinhalt. Ich finde das sympathisch.«

»Ich finde es langweilig. Was hat der eigentlich früher gemacht, als er noch keine Kinder hatte?«

»Er war Schiffbauingenieur auf der Peenewerft.«

»Ach so? Und das hat er wegen der Kinder aufgegeben? Oder wegen seiner Frau, damit die sich um die alten Leute kümmern kann? Ist ja blöd. Er hat doch bestimmt viel mehr verdient.«

»Ja sicher, aber er war schon lange arbeitslos. Da hat sich das so ergeben.«

Anne schüttelt zweifelnd den Kopf.

Sophie mag Andreas Keller, sie bewundert ihn sogar ein bisschen. Wie liebevoll der mit seinen vier Kindern umgeht! Außer den Zweijährigen hat er noch eine vier- und eine zwölfjährige Tochter.

Den Haushalt hat er anscheinend auch im Griff, Simone ist zu beneiden. Aber als Altenpflegerin hat sie auch genug zu tun. Und das Geld ist immer knapp, trotz ihrer vielen Überstunden.

Das weiß auch Berta, die jetzt verhindert, dass Andreas Keller eine Runde ausgibt. Sie weiß, dass er notgedrungen sparsam ist, aber wenn er etwas getrunken hat, wird er leichtsinnig und er verträgt nun mal nichts. Ärgerlich sieht sie Ruben Fux an, der seinen Tischnachbarn provoziert.

»Was stänkerst du hier wieder rum?«, fährt sie ihn an. »Wenn du noch was trinken willst, bestell es dir selbst. Andreas hat genug, das siehst du doch. Und er muss früh aufstehen und sich um die Kinder kümmern.«

»Ja, mir reicht es auch.« Paul Plötz wird es zu ungemütlich. Außerdem muss auch er früh raus.

Arno nickt. Er blickt kurz zu Sophie, überlegt, ob er auf sie warten könnte, beschließt dann aber, in seiner eigenen Wohnung zu übernachten.

»Ich bestell uns ein Taxi«, schlägt er seinem Kollegen vor.

»Ich kann doch selbst - «

»Nein, kannst du nicht«, unterbricht Berta ihren Freund energisch.

Sophie atmet auf, als Ruben sich gleich nach den Fischern verabschiedet. Auch Andreas bezahlt und lächelt Berta schuldbewusst an. »Danke.« Er ist etwas beschämt, dass auf seiner Rechnung nur zwei Bier stehen, aber auch erleichtert. Beinahe hätte er sich wieder von Ruben Fux provozieren lassen. Die alte Wirtin zuckt mit den Schultern. »Wofür? Ist doch alles in Ordnung. Das Essen haben Paul und ich ausgegeben und weiter hast du nichts bestellt. Eine Runde Schnaps kam von Fux, der kann es sich leisten.« »Zumindest tut er so«, denkt sie.

Nicht einmal sie weiß genau, wovon der Mann gerade lebt. Gefühlt hat er seine Finger überall drin. Offiziell betreibt er eine Tourismusagentur. Er vermittelt gegen Provision Orts- und Inselführungen, die meist Sophies Freundin Anne durchführt.

Außerdem vermietet er Ferienwohnungen, die er von polnischen Frauen putzen lässt. Berta wüsste gern, ob er die Polinnen fest eingestellt hat, dann hatte er in den vergangenen Wochen, als keine Gäste kommen durften, mit Sicherheit hohe Verluste. Aber wahrscheinlich arbeiten die meisten schwarz oder als Subunternehmerinnen. Für krumme Geschäfte hatte Ruben schon immer ein Händchen.

In den Neunzigerjahren hat er mit Spielautomaten viel Geld verdient. Seitdem gibt es auch das Gerücht, dass Raucher nicht nur polnische Zigaretten von ihm kaufen. Ab und zu wird er bei illegalen Geschäften erwischt, dann zahlt er eine Strafe und macht weiter.

»Der Fuchs ist schlau, er stellt sich dumm, bei manchen ist es andersrum« lautet sein Lieblingsspruch, in dem er mit seinem Namen kokettiert. Berta ist allerdings der Meinung, dass er eher kleinkriminell als sonderlich klug ist. Und von Dummstellen kann schon gar keine Rede sein. Er prahlt nur zu gern mit seinen angeblichen Geschäftserfolgen.

Als könne er ihre Gedanken lesen, geht auch Bruno Kerr auf Bertas Bemerkung ein. »Der war schon immer ein Blender«, erinnert er sich. »Hat sich auf sein gutes Aussehen verlassen, das hat ihm sehr geholfen. Und er ist manipulativ. Die Mädels hat er immer nur ausgenutzt.« Er lacht. »Seinetwegen haben sich auf dem Schulhof Dramen abgespielt.«

Bruno war früher Lehrer an der Bansiner Schule und erinnert sich noch gut an diese Zeit. Das hilft Berta oft, wenn sie einen seiner ehemaligen Schüler einschätzen will. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich der Charakter eines Menschen im Laufe seines Lebens gar nicht so sehr verändert. Die Älteren können ihre schlechten Eigenschaften nur besser verbergen. Manchmal. Und ganz selten, wenn Berta sie erst einmal genauer beobachtet – »auf dem Kieker hat«, wie Plötz es bezeichnet.

»Ich mag sie eigentlich beide«, gibt sie jetzt zu, »sie sind nur grundverschieden. Fux ist der Typ, der reinkommt und sagt: ›So, da bin ich‹ und Andreas ›Na, da seid ihr ja‹.«

»Genau«, bestätigt Bruno Bertas Beobachtung. »Und das ganz ohne Worte.«

Inzwischen ist die Gaststätte geschlossen, die Tische sind aufgeräumt und die Gläser gespült. Anne sitzt bei Berta und Bruno am Stammtisch. Sophie macht mit dem Kellner die Abrechnung, dann kommen die beiden auch dazu.

Thomas Haas arbeitet erst seit ein paar Tagen im Kehr wieder. Der 55-Jährige stammt aus Bansin, er hat hier auch seine Ausbildung zum Kellner absolviert, war aber in den letzten 20 Jahren überall auf der Welt unterwegs und nur selten zu Hause. Anne kennt ihn aus der Schulzeit, in der achten Klasse war sie schwer verliebt in den stillen, schüchternen Jungen. Sie fühlte sich gekränkt, weil er ihr geradezu ängstlich aus dem Weg ging. Vermutlich hat es ihm Angst gemacht, dass sie mindestens einen Kopf größer war als er und auch breitere Schultern hatte. Er stand schon immer auf die kleinen, zierlichen, hilfsbedürftigen Frauen.

Es war ein glücklicher Zufall, dass sie ihn im Januar auf der Straße erkannt und natürlich auch gleich angesprochen hat. Er hatte seine Eltern eigentlich nur über Weihnachten besuchen wollen, dann aber gemerkt, dass sie allein nur noch schwer zurechtkamen und beschlossen, zu bleiben.

»Ich bin es ihnen schuldig, weißt du?«, hatte er Anne anvertraut. »Sie waren die besten Eltern, die man sich wünschen kann, haben alles für mich gemacht. Wer weiß, wie lange ich sie noch habe, um ein bisschen wiedergutzumachen.«

Anne fand das etwas pathetisch, schließlich sind Eltern dazu da, alles für ihre Kinder zu tun, im Allgemeinen, ohne Schuldgefühle zu erzeugen. Aber sie nickte, sie mochte Thomas immer noch und freute sich, dass er wieder da war. »Du bist doch Kellner«, fiel ihr ein. »Hast du schon einen Job?«

Sophie, die mit ihren jungen Kellnerinnen in den letzten Jahren nur Pech hatte, war erfreut über Annes Vermittlung. Der gut ausgebildete, ruhige, gepflegte Mann würde das Niveau ihres Restaurants erheblich steigern.

Durch den Lockdown im Frühjahr hat sich alles verzögert, er hat seine Probezeit am 1. Juni begonnen und Sophie ist fest entschlossen, ihn danach einzustellen und beim Gehalt nicht kleinlich zu sein, bevor er noch etwas Besseres findet. Kellner werden hier überall gesucht. Wie gut, dass Anne ihn sich gleich gekrallt hat.

»Hast du nicht auf der AIDA gearbeitet?«, fragt Berta. »Da hast du ja gerade rechtzeitig aufgehört.«

»Ja, stimmt. Aber ich wollte sowieso absteigen. Ich hatte eine Stelle in der Schweiz, in einem guten Hotel ganz oben in den Bergen. Dicht an der italienischen Grenze.«

»Was?« Berta ist entsetzt. »So weit weg?«

Thomas lacht. »Na, mit dem Schiff war ich noch deutlich weiter weg.«

»Ja, klar, aber auf dem Wasser. Das ist doch etwas ganz anderes. Wie kann sich ein Bansiner Junge in den Bergen wohlfühlen? Du hättest bestimmt furchtbares Heimweh bekommen.«

Er zuckt vage mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, hatte ich an Bansin nicht so gute Erinnerungen. Ich konnte gar nicht weit genug weg sein. Aber meine Eltern brauchen mich eben.« Er presst die Lippen zusammen und blickt finster in sein Bierglas. Dann sieht er seine Tischnachbarn an und lächelt. »Und – na ja, wie ich sehe, gibt es in Bansin auch sehr nette Menschen«, nimmt er seinen vorherigen Worten die Schärfe.

Berta fängt einen warnenden Blick von Bruno auf und verkneift sich die Fragen, die ihr auf der Zunge liegen. Da war doch was! Damals … Berta wird gründlich in ihren Erinnerungen kramen müssen. Paul Plötz kann ihr da sicher helfen. Der hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Sie muss ihn nur auf die richtige Spur bringen.

Dienstag, 09. Juni

Die deutsch-polnische Grenze ist wieder geöffnet und somit ist die Strandpromenade vom Hafen in Swinemünde bis an die Steilküste hinter Bansin ungehindert passierbar. Zwölf Kilometer kann man hier zwischen Dünen, gepflegten alten Villen und vielen Kiefern wandern. Oder mit dem Rad fahren. Immer parallel zum Strand. Die hinter Dünen und Bäumen verborgene Ostsee ist hier mitunter nur hörbar. Lediglich auf dem letzten Kilometer, auf der Bansiner Promenade, zwischen der Grenze zu Heringsdorf und dem Seesteg ist der Blick auf das Meer immer frei.

»Das ist die Besonderheit der Bansiner Strandpromenade«, erklärt Anne ihren Gästen bei der Ortsführung. »Hier können Sie immer auf die Ostsee sehen. Deshalb sind auch im Musikpavillon Fenster. Nicht nur, damit die Musiker ihre Noten besser lesen können. Der Gast kann über sie hinweg auf das Meer blicken.«

Erst am westlichen Ende der Promenade wird diese Sicht verhindert. Hier sieht der Gast nur eine Bretterwand, hinter der sich die Fischerhütten verbergen.

Die Eingänge der aneinander gebauten Buden befinden sich an der Rückseite, hinter den Dünen. Ein paar Boote sind zu sehen. Große Kutter mit Ruderhaus und breit gewölbtem Boden. Sie haben einen geringen Tiefgang. Die Fischer können damit weit hinaus auf die Ostsee fahren, bis nach Skandinavien, sie können aber auch durch das flache Küstenwasser auf den Strand gezogen werden. Es sind die letzten Strandfischer, die es hier auf Usedom gibt. Sie haben keinen Hafen, die Boote liegen an Land, in den Dünen. Es riecht nach Rauch, Fisch und Meer. Schmale Trampelpfade führen hindurch zum Strand, unten am Ufer sind die kleinen Boote befestigt.

Paul Plötz steht mit einigen Leuten neben dem Räucherofen. Es sind Einheimische, sie wollen frischen Fisch kaufen, warten darauf, dass der Räucherfisch aus dem Ofen genommen wird oder wollen einfach nur ein bisschen reden. Um den Fischverkauf kümmert sich Arno, für Letzteres ist Paul zuständig.

Ein Urlauberpärchen tritt hinzu, junge Leute, dem Dialekt nach aus Bayern oder jedenfalls aus dem Süden, neugierig, fasziniert und ein wenig herablassend. Für sie scheint das alles hier aus der Zeit gefallen zu sein, urig, aber primitiv. Vermutlich hat es hier schon vor hundert Jahren genauso ausgesehen. Die Fischer könnten ihnen erzählen, dass hier vor hundert Jahren weitaus mehr los war, aber das tun sie nicht. Was geht das fremde Leute an, die sich doch nur über sie lustig machen?

Ein alter Anker ist zwischen dem rauen Gras zu sehen, Netze und Steurer, lange Stangen mit roten Fähnchen, mit denen die Fischer die Lage ihrer Netze und Angeln anzeigen.

»Ich habe die Dinger schon auf dem Wasser gesehen«, fällt dem jungen Mann auf. »Warum sind an manchen Stangen schwarze Fähnchen? Hat das was zu bedeuten?«

Berta könnte es erklären, es sind die Aalschnüre, die damit gekennzeichnet werden. Aber das hier ist Pauls Bühne.

»Ja, das ist so« – mit diesem Satz fangen seine Geschichten immer an – »wo die schwarzen Fahnen zu sehen sind, war eine Seebestattung. Da haben wir eine Urne versenkt.«

Die junge Frau reißt erschrocken die Augen auf, der Mann zweifelt. »Was denn, so dicht am Ufer? Muss man dazu nicht weiter raus aufs Meer fahren? Da gibt es doch sicher Vorschriften?«

»Natürlich!«, bestätigt der Fischer. »Wir sind schließlich in Deutschland, da gibt es für alles Vorschriften. Nur interessiert uns das nicht. Wenn ein Bansiner stirbt, wird der direkt hier an der Küste beigesetzt. In Bansin, wie sich das gehört.«

Der Mann schüttelt zwar den Kopf, aber er glaubt es schließlich.

Berta tritt zu Arno, der neben der Hütte Fisch säubert. Sie grinsen sich an und sie sieht eine Weile zu, wie er schnell und geschickt Aale aufschneidet und die Eingeweide entfernt, einen großen Plötz schuppt und ihm den Kopf abschneidet. Viele Kunden, besonders die Frauen, zahlen gern ein bisschen mehr, wenn sie ihren Fisch küchenfertig bekommen. Die Abfälle wirft Arno in die Dünen, wo sich die Möwen lärmend darum streiten.

Als die Urlauber gegangen sind, kommt Paul dazu. »Alter Spinner«, neckt Berta ihn gutmütig.

»Na ja, man muss doch auch mal ein bisschen Spaß haben. Aber da kommt ein noch größerer Spinner.«

Ruben Fux wirft einen anerkennenden Blick in die Fischkisten und einen verächtlichen auf Arno.

»Da habt ihr ja mal Glück gehabt. Aber was kommt am Ende dabei raus? Was nehmt ihr für den Aal?«

»19 € das Kilo, abgezogen 27 €.«

»Na klar, da bleiben dann ja auch nur 7 kg übrig von 10«, schmälert er die Arbeit des Fischers.

»Richtig verdienen tut man doch erst am Fisch, wenn man ihn an die Urlauber verkauft. Portionsweise. Ich nehm euch gern alles ab, was ihr übrighabt.«

Er weist mit dem Kopf zu seinem Stand an der Promenade. »Guckt euch das an. Die stehen Schlange seit ich um zehn aufgemacht hab. Die Frauen kommen kaum nach mit dem Brötchenbelegen.«

»Ja, mit Butterfisch und Matjes, was bei dir alles unter ›fangfrisch‹ läuft.«

»Na und? Die Leute wollen doch beschissen werden.« Verärgert will er weggehen, dann fällt ihm etwas ein und er dreht sich noch einmal um.

»Wie war denn das Silvester im Kehr wieder? Hast du den Gästen nicht erzählt, der Aal, den sie essen, wäre morgens noch im Meer geschwommen? Und die Ostsee war bis zum Horizont zugefroren? Wer ist denn eigentlich der größere Lügner von uns?«

»Das ist auf jeden Fall Paul«, mischt sich Berta ein. »Aber er macht das zum Spaß und du nur zu deinem Vorteil.«

»Ja, nimm du mal deinen Freund in Schutz.«

Das klingt aber schon wieder ganz friedlich. Jetzt bleibt er auch stehen und bietet Plötz sogar eine Zigarette an. Eine Weile rauchen sie schweigend und sehen dabei auf das Meer hinaus. Fux kneift die Augen zusammen. »Da ist eine Robbe, siehst du. Die beobachtet das Netz. Wenn sich der Steurer bewegt, weiß sie genau, da ist ein Fisch reingegangen. Dann taucht sie hin und holt ihn sich.«

Paul Plötz sieht nichts. »Du spinnst«, hofft er. »Es sind noch gar keine Robben da. Die kommen erst im Herbst.«

»Nein, kannst glauben, da ist wirklich eine. Wir werden die hier auch nicht mehr los, das steht fest. Und schließlich haben die auch ein Recht auf ihr Leben. Ich finde die sogar ganz niedlich, die Viecher. Ich mag sie.«

Er wirft die Kippe in den Sand und tritt sie aus. »Das bringt nichts mehr, Paul, nicht, wie ihr das macht. Wir müssen uns was Neues einfallen lassen. Ich hab eine Idee. Wenn das klappt, haben wir alle was davon. Aber da müssen wir mal in Ruhe drüber reden. Jetzt muss ich los. Haut rein!«

Eine Stunde später sind die beiden Fischer und Berta allein. Arno hat fast alles verkauft, er macht noch den letzten Aal sauber.

»Den könnt ihr für die Gaststätte haben«, sagt er. »Soll ich ihn abziehen?« »Ja, gerne. Danke, Arno.« Berta nickt dankbar und folgt Paul in die Bude.

Der hat seit Rubens Abgang kaum noch gesprochen. Schlechte Laune ist in letzter Zeit sein Normalzustand, aber heute wird es selbst Berta zu viel.

»Nun lass dich doch von Fux nicht so runterziehen«, schimpft sie. »Du kennst ihn doch. Er will dich bloß ärgern.«

»Ach, er hat ja recht. Das sind nicht nur die Robben, die Mistviecher, die uns das Leben schwer machen. Das geht hier alles den Bach runter, guck dich doch mal um.«

»Ich sehe einen guten Fang, den ihr gemacht habt und eine Menge Leute, die den Fisch haben wollen. Was soll die Spökenkiekerei?«

»Das ist ja das Verrückte. Die Gäste wollen frischen Fisch haben und es gibt genug. Wir dürfen den bloß nicht fangen. Den Fischen geht es besser als den Fischern.«

Er blickt zur Tür. »Ach, guck an, ein seltener Gast. Schickt Renate dich her? Sie wartet wohl auf den Fisch?«

Anne nickt. »Ja, sie hat heute Mittag alles verkauft und will wissen, ob ihr noch dicken Aal habt, zum Sauerkochen.«

»Ach Gott, das tut mir leid. Sie hätte doch anrufen können.« Berta weiß, dass die Köchin jetzt eigentlich Pause hat, sie hat Teilschicht und muss heute Abend noch einmal wiederkommen.

»Dein Smartphone liegt auf dem Stammtisch. Ich soll den Fisch gleich mitbringen.«

»Nun nimm uns mal nicht die Ruhe. Setz dich erst mal hin. Ierst de Piep in Brand und denn dat Pierd ut’n Groben.«

»Erst die Pfeife in Brand und dann das Pferd aus dem Graben«, übersetzt Berta für Anne, die den Fischer verständnislos angesehen hat.

»Ja, gut, aber Renate wartet.« Zögernd lässt sie sich auf einem Stapel Fischkisten nieder.

»Ich bring den Aal hoch«, ruft Arno durch die Tür. »Ich fahr dann auch gleich nach Hause, oder ist noch was?«

»Nee, mach mal. Bis morgen«, antwortet Paul seinem Kollegen. »Und du?«, wendet er sich an Anne. »Bleib sitzen, wenn du schon mal da bist. Willst ein Bier? Oder lieber einen Korn?«

Berta lacht. »Paul, das ist wie früher. Da könnte manche Bansinerin ein Lied drüber singen. Wie oft hat eine Frau ihren Mann zum Strand geschickt: ›Hol uns mal ein paar Heringe zum Mittag!‹ Und er kam drei Stunden später ohne Hering aber blau wie ein Stint wieder.«