Die Sturmnacht von Bansin - Elke Pupke - E-Book

Die Sturmnacht von Bansin E-Book

Elke Pupke

4,7

  • Herausgeber: Hinstorff
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Der unbeliebte Bauunternehmer Joseph Henzel aus Bansin auf Usedom, ist ver- schwunden – und keiner scheint ihn wirklich zu vermissen. Kein Wunder, denn es stellt sich heraus, dass Henzel über Jahre hinweg seine Finger in einigen dubiosen Grundstücks- deals hatte. Und daran wohl prächtig verdiente. Da niemand Anzeige erstattet, muss eine altbekannte und neugierige Bansinerin die Suche nach der Wahrheit übernehmen. In ihrem vierten Fall versuchen Berta Kelling und ihre Freunde, die immer mysteriöser werdenden Ereignisse zu klären. Plötzlich finden in einer stürmischen Nacht zwei Einwohner den Tod. War es die Exfrau, der Konkurrent aus dem Baugewerbe, ein eifersüchtiger Fischer oder sogar eine Liebschaft aus dem Ort?

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Die Sturmnacht von Bansin

Elke Pupke

Die

STRMNACHT

von Bansin

Alle Ereignisse und Figuren sind frei erfunden.

Der Bauunternehmer Joseph Henzel ist verschwunden.

Er hat sich nicht verabschiedet, soweit man weiß. Er wird aber auch nicht von vielen vermisst. Vielleicht von einigen Angestellten, die auf Anweisungen warten oder auf ihren Monatslohn, der gerade fällig ist.

Alle anderen können gut damit leben, dass der Mann weg ist, es ist ruhiger geworden in Bansin. Es gibt weniger Baulärm und erheblich weniger cholerisches Gebrüll.

Sein alter Vater erweckt nicht den Eindruck, als wolle er eine verzweifelte Suche starten.

Auch einige Frauen, mit denen Joseph Henzel hin und wieder private Kontakte hatte, können anscheinend gut auf seine Anwesenheit verzichten.

Sein einziger Freund, wenn es denn einer ist, der Hotelier Alexander Brinkmann, wirkt keineswegs besorgt, was aber auch nicht überrascht, denn Empathie gehört nicht zu dessen herausragenden Eigenschaften.

Anscheinend weiß niemand, weshalb Henzel verschwunden ist oder gar, wohin. Es bleibt auch ziemlich unklar, seit wann er nicht mehr im Ort ist.

Das Seltsame ist, dass es offensichtlich niemanden interessiert, außer natürlich Berta Kelling. Aber nicht einmal sie ahnt, dass es der Beginn einer Geschichte ist, die mit zwei Toten in einer Sturmnacht enden wird.

Donnerstag, 11. September

Am Donnerstag fällt der Sekretärin des Bauunternehmers auf, dass sie ihren Arbeitgeber seit drei Tagen nicht gesehen hat. An sich ist das für ihren Chef nichts Ungewöhnliches. Nur, er ist telefonisch nicht zu erreichen und scheint auch nicht in seiner Privatwohnung auf dem Firmengelände zu sein, zumindest öffnet er nicht, als sie klingelt. Die junge Frau erwägt kurz, die Polizei anzurufen, hat aber das vage Gefühl, ihr Chef würde, wenn er denn wieder auftaucht, einen derartigen Eingriff in seine Privatsphäre extrem übelnehmen.

Die sehr schlanke junge Frau, die löchrige Jeans trägt und ein Piercing in der Augenbraue, kratzt sich in ihren kurzgeschnittenen, gegelten Haaren und kommt dann endlich auf die Idee, zur Baustelle zu fahren.

Dort angekommen stellt sie erleichtert fest, dass hier anscheinend alles seinen Gang geht, zumindest wird gearbeitet. Der Rohbau ist fast fertig, das Dach ist gedeckt, die Männer sind dabei, Fenster einzusetzen. »Ist der Chef da?«, ruft sie einem Bauarbeiter zu, der zeigt in das Innere des Gebäudes. Die Frau zögert kurz, eigentlich hat sie keinen konkreten Grund, ihren Chef zu suchen und vermutlich wird er sie deswegen anschnauzen, wenn er wieder auftaucht. Trotzdem betritt sie die Baustelle.

In einem größeren Raum im Erdgeschoss steht eine Gruppe Männer um eine Zeichnung herum, die auf dem Tisch liegt. Aber wider Erwarten ist es nicht Henzel, der hier Anweisungen gibt, sondern Jonas Schwarz.

»Was machen Sie denn hier?«, entfährt es ihr.

Der Mann blickt sie erschrocken und etwas schuldbewusst an. Er ist groß und kräftig, hat kurzes, graumeliertes Haar, etwas weiche, aber ebenmäßige Gesichtszüge und dunkelbraune Augen. »Ich … äh … ich dachte, Sie wüssten das«, stottert er. »Joseph Henzel hat mich am Montagabend angerufen. Er musste ganz plötzlich weg und ich soll nun die Baustelle übernehmen.«

»Ach ja? Warum musste er weg und warum weiß ich nichts davon?«, empört sich die Sekretärin etwas lahm. Sie ist eine sehr selbstbewusste junge Frau. Ihr meist etwas aggressiver Tonfall passt zu ihrem Aussehen. Beides schützt sie vor Flirtversuchen, besonders von älteren Männern. Auch Jonas Schwarz flirtet nicht mit ihr, er lächelt nicht einmal. Er sieht sie nur an, bewundernd und respektvoll, was sie von ihrem Chef nicht gewohnt ist, ebenso wenig wie die höfliche und kultivierte Ausdrucksweise.

»Er konnte Sie nicht erreichen, aber er wollte Ihnen was Schriftliches dalassen. Sonst weiß ich auch nichts. Es geht wohl um etwas Privates.«

Die Frau überlegt. Am Montagabend war ihr Akku mal wieder leer, das Handy war ausgeschaltet. Das könnte also stimmen. Und dass ihr Chef ihr handschriftlich hingeschmierte Anweisungen auf den Schreibtisch legt, ist durchaus üblich und nicht ungewöhnlich. Nur, dass sie diesmal nichts gefunden hatte. Aber so ein Blatt Papier kann ja mal verloren gehen, sie muss einfach noch einmal genauer nachsehen. Aber warum Jonas Schwarz? Hat Henzel sich über seinen ehemaligen Konkurrenten nicht neulich ziemlich abfällig geäußert? Aber andererseits hat der Mann natürlich die nötige Erfahrung, auch wenn er die eigene Baufirma letztendlich an die Wand gefahren hat. Über die Gründe für das Verschwinden, das nach Flucht aussieht, denkt die junge Frau gar nicht erst nach. Henzel ist nicht der Typ von Chef, der mit seiner Sekretärin über Privatangelegenheiten spricht. Davon hat sie nicht die geringste Ahnung und es interessiert sie auch nicht sonderlich.

»Na schön. Wenn Sie mehr herausfinden, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen«, erwidert sie betont unfreundlich im Hinausgehen und hofft zum einen, dass er ihre Unsicherheit nicht bemerkt, zum anderen, dass er bei Neuigkeiten tatsächlich auf sie zukommen würde.

»Ja, ich komm dann morgen mal, wegen der Lohnabrechnung.« Jonas Schwarz’ Stimme klingt erleichtert.

Am späten Vormittag kommt die Sekretärin dann doch noch in Henzels Wohnung, die Haushaltshilfe hat ihr die Tür geöffnet. Möglicherweise weiß die ja etwas über den derzeitigen Aufenthalt des gemeinsamen Chefs.

Nelly Duran, die an jedem Montag und Donnerstag für Henzel putzt und kocht, weiß aber auch nicht viel. Es stehen weder volle Aschenbecher noch leere Bierflaschen herum. Sie hatte eigentlich gehofft, heute ihren Lohn zu bekommen. Die ältere, etwas farblose Frau erinnert ein wenig an einen kleinen scheuen Vogel, mit ihrer langen spitzen Nase, dem fliehenden Kinn und den eng zusammen stehenden, blassen Augen. Sie hat immer noch ihren Mantel an und blickt sich nervös um. Die Küche wirkt fast steril, es gibt keine Dekoration, keine Farben, alles ist weiß und sauber. Auf dem Herd steht ein Kochtopf, Nelly hebt den Deckel kurz an und rümpft die Nase. »Das hab ich am Montag für ihn gekocht«, erklärt sie. »Also war er am Montagabend schon nicht mehr hier.«

»Oder er mochte es nicht«, wirft die Jüngere ein.

Nelly schüttelt den Kopf. »Dann hätte er es ins Klo gekippt.«

»Aha.« Die Sekretärin will fragen, ob er das öfter getan hat, aber dann erscheint es ihr unwichtig. Sie denkt noch einmal laut über eine Vermisstenanzeige nach.

»Um Gottes Willen«, murmelt Nelly erschrocken, und beiden ist klar: Henzel von der Polizei suchen zu lassen, könnte das Ende ihrer Arbeitsverhältnisse bedeuten.

Sie sehen sich noch eine Weile in der Wohnung um, finden aber keinen Hinweis, weder darauf, wo sich der Besitzer derzeit aufhält noch auf Vorkehrungen für eine Reise. Zögernd und unzufrieden geht die Angestellte zurück über den Hof in ihr Büro. Vor Henzels Garage bleibt sie stehen. Die hat eine altmodische Doppeltür mit Schlüsselloch, durch das die junge Frau hindurchsieht. Der silberne Mercedes steht an seinem Platz. »Seltsam«, murmelt sie.

Dann beschließt die Sekretärin, erst einmal abzuwarten – was bleibt ihr auch weiter übrig. Sie ist von Henzel ja einiges gewohnt, von cholerischen Beschimpfungen bis zu großzügigen Prämien. Aber tagelang verschwunden war er bisher noch nie. Am meisten wundert es sie, dass er Jonas Schwarz als Bauleiter eingesetzt hat, ohne sie darüber zu informieren. Allerdings ist es beruhigend, dass der anscheinend auch nicht viel mehr weiß, als sie selbst.

Nelly steht inzwischen wieder in Henzels Küche. Langsam zieht sie den Mantel aus, kippt den verdorbenen Inhalt des Kochtopfes in die Toilette und reinigt dann erst den Topf und danach die Toilette. Sie öffnet die Tür zum Schlafzimmer. Alles sieht genau so aus, wie sie es am Montag aufgeräumt hinterlassen hat. Das Bett ist ordentlich gemacht, kein Kleidungsstück liegt herum. Die Frau geht zurück in die Küche, setzt sich mit geradem Rücken auf die Kante eines Küchenstuhles und sieht sich ratlos um. Es gibt absolut nichts, was sie noch machen kann. Sie muss jetzt ihren Mantel anziehen, nach Hause gehen und abwarten. Henzel wird schon wieder auftauchen. Und dann bekommt sie auch ihr Geld, er bezahlt sie schließlich früher oder später immer. Meistens vergisst er es allerdings, dann muss sie ihn erinnern. Das ständige Nachhaken ist ihr sehr peinlich, aber was soll sie machen, sie braucht das Geld nun mal pünktlich. Eigentlich sollte es ihm peinlich sein, aber er lacht nur darüber, wenn sie herumstottert, und drückt ihr die Scheine, oft nachlässig zusammengeknüllt, in die Hand. Manchmal, eher selten, rundet er die Summe auf. Einmal hat er ihr vierzig Euro zu viel gegeben, einen Fünfziger statt eines Zehners, vermutlich versehentlich, aber vielleicht war es auch ein Test. Sie hat ihn sofort darauf aufmerksam gemacht. Vielleicht hätte er es gar nicht bemerkt, was sind für Henzel schon vierzig Euro. Aber Nelly könnte nie Geld nehmen, was ihr nicht gehört. Henzel ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, in seinen Büchern und auf seinen Baustellen herrscht peinliche Ordnung, er weiß über jede Zahl und jeden Sack Zement Bescheid. Aber in seinem Privatleben ist er äußerst schlampig. Kleingeld liegt in einer Schale auf dem Fensterbrett in der Küche und in verschiedenen Schubladen. Er wirft es einfach irgendwo hin, wenn ihm sein Portemonnaie zu schwer wird. Geldscheine hat die Haushälterin schon im Schlafzimmer vom Fußboden aufgesammelt, aus dem Papierkorb gefischt oder aus den Taschen seiner Hosen, die er zum Waschen hingeworfen hat. Dieses Geld, das ihr nicht gehört, existiert für Nelly gar nicht. Sie würde nicht einmal auf die Idee kommen, sich daran zu bereichern.

Sie überlegt, ob sie vielleicht die blitzblanken Fenster putzen könnte. Irgendetwas muss sie doch tun, Henzel bezahlt sie für zwei Stunden Hausarbeit. Oder nicht? Er ist schließlich nicht da, hat nichts schmutzig gemacht. Und wenn er gar nicht wiederkommt? Die Frau spürt, wie Panik in ihr aufsteigt. Ohne das Geld von Henzel, selbst wenn sie es nur einen Monat nicht bekommt, bricht ihre Finanzlage völlig zusammen. Ob sie sich noch einmal Geld von Linda leihen kann? Ihre Freundin gibt es ihr gern, sie kann es sich leisten. Aber Nelly borgt sich nur ungern etwas, es ist so peinlich und sie hat immer Angst, es nicht zurückzahlen zu können. Dabei hat Linda sie noch nie gemahnt, und wenn sie wüsste, wie dringend Nelly ihre Hilfe benötigt, würde sie es ihr vielleicht sogar schenken. Aber nein, so schlimm ist es noch nicht, sie braucht keine Almosen, auch nicht von ihrer besten Freundin. Und es wäre schließlich das Geld von Jonas Schwarz, Lindas Ehemann.

Damit sind Nellys Gedanken wieder bei Henzel. Die Sekretärin hat ihr erzählt, dass Jonas auf der Baustelle war, sie sogar leitet. Eigentlich betreibt er einen Imbissstand an der Strandpromenade. Dann ist Linda jetzt dort allein oder zumindest ohne ihren Mann. Das schafft sie nicht, nie im Leben!

Während Nelly nun doch hastig ihren Mantel anzieht und die Wohnung verlässt, sieht sie ihre Freundin bereits heulend im Chaos versinken. Linda ist es gewohnt, dass ihr immer jemand hilft und dass man sie rücksichtsvoll behandelt. Sie ist gar nicht in der Lage, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, schon gar nicht unter Zeitdruck. Der kleine Gedanke im Hinterkopf, dass sich diese Unterstützung für sie auch finanziell lohnen könnte, muntert Nelly ein bisschen auf.

»Der September ist doch die schönste Zeit«, behauptet Berta Kelling und strahlt über das ganze runde Gesicht, während sie über die Strandpromenade hinweg auf die Ostsee blickt.

»Das sagst du im Oktober auch und im Dezember und im März. Und im Mai gleich dreimal«, erwidert ihr Gegenüber, die Verkäuferin im Imbissstand.

»Ja, das ist wohl wahr. Ich mag eigentlich immer die Jahreszeit am liebsten, die wir gerade haben. Die Novemberstürme liebe ich auch und im Januar ist es schön ruhig.« Die kleine, dicke Frau sieht auf die Menschen, die über die Promenade schlendern. Obwohl die Saison vorbei ist, sind noch viele Gäste im Seebad. Aber es ist schon ruhiger geworden, die Ferien sind vorbei, jetzt sind junge Familien mit kleinen Kindern hier, aber hauptsächlich ältere Leute. Sie nehmen sich Zeit zum Bummeln, sitzen auf den Bänken und bewundern die drei- und vierstöckigen weißen Villen mit ihren Säulen, Türmchen und Balkonen, die fast lückenlos aus der Gründerzeit des Seebades erhalten sind. Die meisten wurden allerdings in den letzten zwanzig Jahren gründlich restauriert, so wie die Pension Kehr wieder, neben der das freie Grundstück liegt, auf dem Berta gerade steht. Sie wüsste nur zu gern, wem es eigentlich gehört; es heißt, eine Hotelkette habe es erworben, andere behaupten, der Besitzer sei ein Hamburger Unternehmer, dessen Firma in Schwierigkeiten stecke und der deshalb zur Zeit nicht bauen könne, vermutlich werde er das wertvolle Bauland verkaufen. Oder hat er das schon getan? Bertas Freund, der Fischer Paul Plötz, ist davon überzeugt, Jonas Schwarz habe »es sich unter den Nagel gerissen«. Dafür spricht, dass Schwarz hier einen Imbissstand und Fahrradverleih betreibt.

Heute steht Linda Schwarz in dem Kiosk und verkauft Bratwurst, Fischbrötchen und Kaffee. Ein paar Bauarbeiter lehnen an den Stehtischen und löffeln Erbsensuppe aus Plastikschüsseln. Zu ihrem Ärger kann Berta nicht verstehen, worüber sie reden. »Ich werde wohl auf meine alten Tage noch polnisch lernen müssen«, murmelt sie halblaut.

Linda lacht und sieht zu den Männern hinüber. »Das schaffst du nicht mehr. Außerdem – was interessiert es dich, worüber die reden. Da geht es doch bloß um ihre Arbeit, nehme ich an. Die sind wohl von Henzels Baustelle. Übrigens leitet Jonas die jetzt, Henzel ist verreist«, fügt sie mit albernem Stolz hinzu.

»Wie bitte?« Berta sieht die zierliche Schwarzhaarige erstaunt an. »Jonas arbeitet für Henzel? Das ist ja ganz was Neues. Ich dachte, die sind sich spinnefeind.«

»Tja, ich weiß auch nicht. Es kam ziemlich überraschend, glaube ich. Henzel musste wohl plötzlich weg. Na, jedenfalls ist Jonas jetzt den ganzen Tag auf dem Bau und ich kann sehen, wie ich hier zurechtkomme.«

»Wo ist denn Meike? Habt ihr die rausgeschmissen?«

»Nein, um Gottes Willen. Die wird gleich kommen. Aber ich habe schließlich die ganze Verantwortung. Jonas kommt nur abends und macht die Abrechnung.«

Ein kräftiger Mann in Arbeitskleidung, der neben Berta steht, schiebt sich den letzten Rest einer Bratwurst in den Mund und lacht höhnisch. »I-ich hätte Josef He-Henzel für schlauer gehalten. Diesem Be-Betrüger seine Baustelle zu überlassen, wi-wird ihm noch leidtun.«

Linda schnappt empört nach Luft. »Hören Sie mal, Sie reden von meinem Mann. Das ist ein ehrlicher Mensch, kein Betrüger, was erlauben Sie sich!«

»D-das seh ich anders. A-aber ich hab ja auch nur für ihn gearbeitet. Auf den Lohn für die letzten d-drei Monate warte ich heute noch. Und einige andere auch. I-ich bin mir sicher, Ihr Mann hatte seine Schä-schäfchen im Trockenen, als er Konkurs angemeldet hat, o-oder? Schönen Tag noch und sch-schönen Gruß an Ihren Mann.« Er tippt sich an die Mütze und schlendert zur Straße, um in sein Auto, das dort im Halteverbot steht, einzusteigen.

Berta sieht ihm nach. »So ganz schlecht kann es ihm ja nicht gehen, das Auto sieht ziemlich neu und teuer aus«, bemerkt sie.

»Aber wie kann der so was sagen«, jammert Linda. »Jonas ist doch kein Betrüger. Er konnte nichts dafür, dass er Konkurs anmelden musste. Die Arbeiter hatten selbst schuld, die haben doch gepfuscht, oder?«

Berta liegt eine Antwort auf der Zunge, aber dann sieht sie die Frau an, der die Tränen in den Augen stehen und sie zuckt nur mit den Schultern. »Nimm es dir nicht so zu Herzen, es ist doch egal, was der sagt. Und du kannst ja nun wirklich nichts dafür«, tröstet sie Linda ungeduldig.

Mit ihren Gedanken ist die ältere Frau ganz woanders. ›Wieso musste Henzel denn plötzlich weg? Der war doch noch … warte mal – na jedenfalls, am Wochenende am Stammtisch und da war keine Rede davon, dass er irgendwohin wollte. Er hat bei Paul Plötz Räucherfisch bestellt, für Freitag, und ich sollte ihm Kartoffelsalat dazu machen, den isst er so gern. – Na, kein Wunder, dass der immer dicker wird, aber das ist ja nun egal. – Also, was sind das wieder für Sachen?‹

Berta Kelling ist völlig überrascht, dass in Bansin etwas Ungewöhnliches passiert, über das sie nicht informiert ist. Die Frau hat in den ganzen vierundsiebzig Jahren ihres Lebens den Ort nie länger als für zwei Wochen Urlaub verlassen und auch das nur sehr selten und widerwillig. Sie ist überzeugt: Sie muss nirgendwo anders hinfahren, da sie ohnehin am schönsten Ort der Welt lebt. Allem, was die Idylle stören könnte, tritt sie äußerst energisch entgegen, was bedeutet, dass sie sich einmischt. Auch in Dinge, die sie eigentlich nichts angehen, wie einige meinen. Aber das ist ihr egal, sie geht schließlich alles etwas an, wenn es in Bansin geschieht.

Berta ist im Haus Kehr wieder, direkt neben dem Grundstück, auf dem sie gerade steht, geboren und aufgewachsen und hat fast ihr ganzes Leben lang darin verbracht. Jetzt betreibt ihre Nichte Sophie die Pension, sie selbst wohnt am Ortsrand, bei einer Freundin, aber ihr Lebensmittelpunkt ist immer noch der Stammtisch im Kehr wieder. Für viele Bansiner ist hier der Ort, wo man sich Rat und Hilfe holen kann. Berta weiß fast alles. Was sie nicht weiß, findet sie heraus und sie hilft gern, auch Leuten, die noch gar nicht wussten, dass sie Hilfe brauchen. Taktgefühl und Zurückhaltung sind nicht ihre größten Stärken, sie fragt direkt nach, wenn sie etwas wissen will und sie sagt auch ihre Meinung sehr direkt. Die Leute reden gern mit ihr, sie kann zuhören, zeigt ehrliches Interesse und Mitgefühl und kann auch Geheimnisse bewahren.

Aber vor allem spürt sie, wenn etwas im Ort nicht stimmt. Berta hat eine feine Antenne für Verbrechen, einige wären ohne sie vielleicht niemals aufgeklärt worden. Und jetzt stört sie der Satz »Henzel musste plötzlich weg«. Es ist nicht so, dass sie sich Sorgen um den Bauunternehmer macht, er gehört nicht gerade zu ihren Freunden, eher im Gegenteil. Und vielleicht gibt es ja eine ganz harmlose Erklärung, aber ihrer Erfahrung nach ist nichts harmlos, was mit Henzel zusammenhängt. Nun, sie wird es herausfinden.

Wie immer, wenn es wichtige Neuigkeiten gibt, bespricht Berta die mit ihrem alten Freund Paul Plötz in dessen Fischerhütte. Es ist eine von vielen, die in einer Reihe zwischen Dünen und Strandpromenade stehen. Die Eingänge liegen an der Strandseite, Spaziergänger sehen von der Promenade aus nur eine Bretterwand, unterbrochen von Imbissständen und urigen Sitzecken, in denen man den fangfrischen Fisch genießen kann. Auch Strandspaziergänger sehen nicht viel von der Rückseite der Buden, mit Strandhafer bewachsene Dünen verbergen Kisten und Taue, Räucherholz und zum Trocknen gespannte Netze. Die meisten der Hütten stehen leer, es gibt nicht mehr viele Fischer in Bansin, und es werden immer weniger.

In der Hütte ist es gemütlich. Sie ist relativ groß, Plötz hat aus zwei Buden eine gemacht, indem er die Trennwand dazwischen entfernte. Deshalb steht der kleine eiserne Ofen nun auch in der Mitte des Raumes. Noch ist er kalt, der Fischer hat seine Bierflasche darauf abgestellt. Er sitzt daneben, in einem großen, etwas schäbigen Sessel und liest mit gerunzelter Stirn die Ostsee-Zeitung.

Ausnahmsweise hat er heute sogar seine Schirmmütze abgenommen, die er sonst auch in der Hütte auf dem Kopf behält. Ein weißer Hautstreifen trennt das wettergegerbte Gesicht, aus dem die hellen, wachen Augen hervorblitzen, vom schütteren Haaransatz.

Die kleine, dicke Frau hält sich nicht lange mit einer Begrüßung auf. Während sie sich auf einen alten Küchenstuhl dem Sessel gegenüber setzt, fragt sie: »Weißt du, dass Jonas Schwarz Henzels Baustelle übernommen hat?«

Der Mann nimmt seine Brille ab und faltet die Zeitung umständlich zusammen. »Nein, warum das denn? Ich dachte immer, die können sich nicht ausstehen.«

»Ja, eben, das dachte ich auch. Angeblich musste Henzel plötzlich weg.«

»Guck an. Da steckt doch bestimmt ein linkes Ding dahinter. Aber du wirst das schon rauskriegen.«

»Ja.« Berta kratzt sich unzufrieden an der Nase. »Interessieren tut es mich schon. Aber wenn du nichts weißt …« Sie überlegt. Eigentlich sind die Fischerhütten die Informationsbörse in Bansin. Die Einwohner holen sich den frischen Fisch direkt vom Strand und tauschen dabei Neuigkeiten und ihre Ansichten darüber aus. Hier weiß man alles, was passiert ist. Und noch ein bisschen mehr.

»Seit wann machst du dir eigentlich Sorgen um Henzel?«

»Um den mache ich mir sicher keine Sorgen, aber vielleicht um seine Firma. Bei Jonas Schwarz hat das damals auch so angefangen. Er war eine Weile nicht auf der Baustelle und dann hat er Konkurs angemeldet und die Arbeiter saßen auf der Straße. Jetzt ist Henzel plötzlich weg und Schwarz leitet seine Baustelle.«

»Du hast recht, das hört sich nicht gut an. Oh Mann, da arbeiten einige Bekannte von mir, mein Neffe auch. Aber ich dachte immer, das sei eine ganz gesunde Firma.«

»Kann ja sein, vielleicht ist das ja auch nur eine Privatangelegenheit und er taucht morgen wieder auf. – Ich frage mal Nelly«, fällt ihr jetzt ein. »Die macht doch sauber bei Henzel, die wird wohl wissen, warum der abgehauen ist.«

Der Fischer nickt zufrieden. »Das sollte sie. Hilft die nicht auch manchmal bei Schwarz am Imbiss?«

»Ja, angestellt ist sie da wohl nicht, aber sie ist ja Lindas beste Freundin. Ich werd mal sehen, wo ich sie erwische. Mach’s gut.«

Schneller, als die Figur der 74-Jährigen vermuten lässt, springt sie auf und wieselt aus der Hütte, durch den Dünensand zur Strandpromenade.

Freitag, 12. September – Am nächsten Tag

Berta schlendert durch die Obst- und Gemüseabteilung und betrachtet alles missmutig. »Kein Mensch braucht im Herbst Erdbeeren«, versichert sie einer anderen Kundin. »Ich würde lieber Äpfel essen oder Birnen, aber nicht, wenn die aus Südafrika kommen.«

Die Frau sieht sie nur erstaunt an und geht wortlos weiter. Berta ärgert sich ein bisschen, sie will auch beim Einkaufen ihre Meinung mit anderen austauschen und wenn kein Bansiner da ist, den sie kennt, unterhält sie sich eben mit Fremden. Die meisten lassen sich auch gern auf ein Gespräch ein und oft erfährt Berta sogar noch etwas Neues oder bekommt Tipps zum Einkaufen und Kochen. Nicht so bei dieser Dame.

Sie blickt sich um und sieht zu ihrer Freude Nelly Duran in Richtung Kasse gehen. Genau die Frau, die sie gesucht hat. Schnell wirft sie eine Packung Tomaten in den Einkaufswagen, dann geht sie auf die Frau zu. Im Vorbeigehen greift sie noch eine Flasche Olivenöl und Nudeln. Die Einkaufsliste steckt Berta in die Jackentasche, dafür ist jetzt keine Zeit, sie wird später noch einmal herkommen oder auch morgen.

»’tschuldigung«, stößt sie etwas atemlos hervor, als sie sich an einem Mann vorbeidrängt, der sich auch gerade an der Kasse anstellen will. Der nickt nur, mehr erstaunt als verärgert über die kleine dicke Frau, die es anscheinend sehr eilig hat. Berta steht jetzt direkt hinter Nelly. Die packt gerade ihre wenigen Einkäufe auf das Band. Brot, Nudeln, Joghurt, alles Billigprodukte, wie Berta mit einem Blick feststellt. Das Teuerste an dem Einkauf ist das Katzenfutter. Sie weiß, dass Nelly schon seit der Wende arbeitslos ist. Vorher war sie in der Buchhaltung des FDGB-Feriendienstes beschäftigt. Irgendwie hat sie danach nie mehr Fuß gefasst. Vielleicht ist sie zu unscheinbar, zu schüchtern, um sich durchzusetzen. Eine Frau, die man einfach übersieht und vergisst, wenn sie den Raum verlassen hat. Als sie allein keine Arbeit fand, hat irgendein Amt sie zu Umschulungen geschickt, sie wurde zur Verkäuferin ausgebildet. Sie versuchte sich auch als Kellnerin – erfolglos. Sie spricht zu leise, schlägt die Augen zu oft nieder und lässt sich von jedem ausnutzen. Unter Druck kann sie gar nicht arbeiten, sie verrechnet sich, wenn ihr jemand dabei zusieht. Zwei Jahre lang hat sie während der Saison in einem Hotel abgewaschen und geputzt, dann bekam sie einen Bandscheibenvorfall. Wieder Fortbildung, Bewerbungstraining, dann Hartz IV. Nun ist sie sechzig Jahre alt, die Hoffnung auf einen festen Arbeitsplatz hat sie aufgegeben. Bei Henzel hat sie sich ein paar Euro hinzuverdient, sie fürchtet sicherlich, dass das nun auch vorbei ist. Aber vielleicht weiß sie ja auch, was hinter dem merkwürdigen Verschwinden ihres Chefs steckt.

»Mein Kater frisst das nicht«, beginnt Berta das Gespräch und deutet auf die Katzenfutterdosen. »Der mag nur Fleisch oder Fisch in Gelee. Alles andere lässt er einfach stehen.«

»Alles Erziehung«, antwortet die Frau freundlich. »Ich habe meiner Minka von Anfang an dieses Futter gegeben und wenn sie es mal nicht mag, kriegt sie eben nichts anderes. Sie frisst auch viel Trockenfutter, das ist billiger. Man muss nur aufpassen, dass sie immer frisches Wasser hat.«

»Gibst du deiner Katze keine Milch?«

»Nein, das ist gar nicht gut für sie. Sie kennt das auch nicht, trinkt nur Wasser.«

»Aha. Na, mein Kater treibt sich meist draußen herum, aber er ist ganz schön mäklig. Ich glaube, der frisst sich auch noch woanders durch, wer weiß, was der so treibt den ganzen Tag.«

»Meine Minka ist nur in der Wohnung. Geht auch nicht anders, ich wohne ja oben. Aber mir ist es recht so, ich hätte doch immer Angst, dass sie mal überfahren wird oder so.«

»Ja, stimmt, ich bin auch immer froh, wenn mein Kater wieder zu Hause ist, aber der lässt sich nicht einsperren.«

Während die Kassiererin Nellys Ware einscannt, wechselt Berta schnell das Thema. »Komm doch mit, ins Kehr wieder. Ich lad dich zum Kaffee ein, dann können wir noch ein bisschen quatschen. Die anderen verdrehen schon immer die Augen, wenn ich von meinem Kater rede, das interessiert die doch nicht.«

Nelly nickt zögernd, sie unterhält sich gern mit der klugen, verständnisvollen Frau. »Warum nicht, Zeit habe ich genug. Vielleicht komme ich wirklich mit.«

Berta nickt zufrieden und gemeinsam schlendern sie später mit ihren Einkäufen durch den Ort. Bevor sie in die Pension gehen, sieht Nelly hinüber zum Imbissstand. Berta folgt ihrem Blick. »Da ist jetzt nicht viel zu tun«, stellt sie fest, »das Mittagsgeschäft ist vorbei. Aber vor zwei Stunden war da ganz schön Betrieb.«

»Ich weiß, ich hab Linda geholfen. Jonas ist doch nicht da.«

»Hat Meike Meier denn frei?«

»Nein, trotzdem schaffen sie es nicht, wenn viel los ist. Sie haben ja auch noch den Fahrradverleih. Und Linda wird immer schnell nervös, wenn die Leute warten müssen.«

In der Pension Kehr wieder ist es gerade ruhig. Die Zimmer sind noch alle belegt, aber jetzt, am frühen Nachmittag, sind die Gäste unterwegs oder liegen am Strand. Nach dem heftigen Regen in der letzten Nacht ist es wieder sommerlich warm. Auch im Kehr wieder ist das Mittagsgeschäft vorbei, das Restaurant ist leer und Sophie wechselt Tischtücher, rückt Menagen und Blumenvasen zurecht und summt leise vor sich hin. Sie ist zufrieden, bei dem Wetter sind noch viele Urlauber da und die Umsätze sind besser als in der Hochsaison. Die älteren Leute leisten sich doch eher ein gutes Essen in der Gaststätte als Familien mit Kindern, die sich selbst gern mit Fischbrötchen oder Fastfood versorgen.

Man kann das Haus von der Promenade aus über eine große Freitreppe betreten, oder auch von der Straße, durch den hinteren Eingang. Dort, direkt links neben der Eingangstür, befindet sich die Rezeption. Die Rückwand verdeckt eine Nische, in der sich der große runde Stammtisch befindet und daneben die Tür zur Küche. Gegenüber, rechts von der Küchentür, ist der Ausschank, von einem Bartresen verdeckt. Alles ist hell und freundlich, bis auf Küche und Sanitärräume ist die ganze untere Etage ein hoher, großzügiger Gastraum mit großen Fenstern zur Seeseite. Erst vor wenigen Jahren, nachdem Berta das Familienerbe an ihre Nichte Sophie übergeben hatte, wurde das Haus innen und außen gründlich restauriert.

Jetzt genießt Berta ihren Ruhestand, geht aber eigentlich nur zum Schlafen nach Hause, sonst verbringt sie ihre Zeit am Stammtisch oder in der Küche der Pension. Sophie ist es recht. Auch sie hat keine Kinder und hält sich selten in ihrer Wohnung im Haus gegenüber auf. Ihr Zuhause ist das Kehr wieder, ihre Familie Tante Berta und ihre Freundin Anne. Die Familienähnlichkeit zwischen Sophie und ihrer Tante ist deutlich zu erkennen, besonders an den strahlend blauen Augen in den freundlichen, runden Gesichtern. Sophie hat ihre ehemals blonden Haare rot gefärbt, auch sie ist kaum mittelgroß, aber im Gegensatz zu Berta sehr zierlich.

Als Berta und Sophie gemeinsam mit Nelly am Stammtisch sitzen und Kaffee trinken, kommt die 74-Jährige auf das Thema zu sprechen, das ihr unter den Nägeln brennt. »Linda kann wirklich froh sein, so eine Freundin wie dich zu haben. Sie hat ja so gar kein Selbstbewusstsein und kommt allein überhaupt nicht zurecht.«

»Sie hat doch ihren Mann, der sich um alles kümmert«, wirft Sophie ein.

»Aber du siehst doch, wenn der mal nicht da ist, bricht sie gleich in Panik aus. Dabei hat sie eine Hilfe im Kiosk und wenn die Gäste mal einen Moment warten müssen, ist das ja wohl auch kein Drama. Die haben schließlich Urlaub!«, erwidert Berta.

»Aber manche sind ganz schön unfreundlich. Besonders die Arbeiter, die haben es immer eilig. Und Linda ist nun mal sehr sensibel. So war sie schon immer«, verteidigt Nelly Duran ihre Freundin.

»Ihr kennt euch auch schon seit eurer Kindheit, stimmt’s?«, fragt Berta freundlich. »Genau wie Sophie und Anne. Und wie ich und Maria Winter. Wir sind auch zusammen aufgewachsen, haben als Kinder sogar mal in diesem Haus gewohnt, als es noch meinen Eltern gehörte. Und jetzt wohne ich bei ihr im Haus.«

»Ja, ich weiß.« Nelly nickt. »Das ist gut, wenn man jemanden hat im Alter. Als Lindas erster Mann gestorben ist, wollte sie auch mal, dass ich zu ihr ziehe. Sie kann wirklich nicht allein sein, kriegt dann auch gleich Depressionen. Aber dann hat sie ja zum Glück Jonas Schwarz kennengelernt. Das ist ein guter Mensch. Die beiden passen so gut zusammen, sie sind immer noch ganz verliebt.«

»Ja«, nickt Berta. Endlich hat sie ein passendes Stichwort erhalten, um auf das Thema zu kommen, das sie wirklich interessiert. »Aber Jonas ist ja nun auf der Baustelle. Weißt du eigentlich, wo Henzel so plötzlich hin musste? Linda meint, es kam ganz überraschend, ihr Mann musste von einem Tag auf den anderen die Firma übernehmen. Was ist denn da passiert?«

Nelly Duran zuckt mit den Schultern. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Na ja, viel geredet hat der Henzel noch nie mit mir. Meist war er gar nicht zu Hause, wenn ich geputzt oder gekocht habe. Aber er hätte mir doch wenigstens noch meinen Lohn geben können, oder nicht?« Sie schnieft bekümmert und nippt an ihrem Kaffee. Dann fällt ihr etwas ein. »Aber er hat mir am Montag Geld zum Einkaufen hingelegt. Das hab ich noch gar nicht gebraucht, weil ich erst am Donnerstag einkaufen wollte und da war er ja nicht mehr da. Was meinst du, Berta, ob ich das nehmen und mit meinem Lohn verrechnen kann?«

»Ja, natürlich kannst du das. Du hast doch schließlich gearbeitet, da steht dir auch Lohn zu. Ich glaube auch nicht, dass der dich überbezahlt hat. Was kriegst du denn für einen Stundenlohn von ihm?«

Nelly sieht verlegen auf ihre Hände, mit denen sie an der Tischdecke zupft. »Ich möchte da eigentlich nicht so gern drüber reden. Sei nicht böse, aber vielleicht wäre das Herrn Henzel nicht recht, ich will da keinen Ärger, verstehst du? Er wird auch immer gleich so wütend …«

»Nun mach dir doch deswegen keinen Kopf«, unterbricht Berta das verlegene Gestammel. »Denkst du, ich geh zu deinem Chef und beichte ihm, was du mir gesagt hast? Aber du brauchst mir das auch gar nicht zu erzählen, ich weiß sowieso, dass es zu wenig ist.«

»Na ja, es ist ja auch nicht so offiziell, weißt du. Ich krieg ja Geld vom Amt, aber das reicht einfach nicht, meine Miete ist zu hoch. Aber ich finde doch nichts Billigeres hier. Und wegziehen will ich auch nicht.«

»Henzel könnte dir ja auch einen vernünftigen Arbeitsvertrag geben«, erregt sich Berta. »Ihm würde es doch bestimmt nicht wehtun und du musst auch langsam mal an deine Rente denken.«

»Ja, das tu ich doch dauernd.« Nellys Stimme klingt mutlos. »Aber was soll ich machen? Ich bin doch froh, wenn ich mir ein bisschen was dazuverdienen kann. Im Moment kann ich bei Linda im Kiosk aushelfen. Das ist gut, da spare ich schon ein bisschen für den Winter. Aber wie es später mal weitergehen soll – ich weiß es nicht.«

»Ach, nun komm, es geht immer irgendwie weiter«, versucht Berta die Frau aufzumuntern und schämt sich ein bisschen für die Floskel, die nun auch nicht sehr hilfreich ist. Aber was kann man machen? Sie nimmt sich fest vor, sich nach einer bezahlbaren Wohnung für ihre Bekannte umzuhören. Vielleicht findet sich auch noch eine Arbeitsstelle. Aber beides ist sehr schwer und sie will jetzt nichts versprechen, was sie dann doch nicht halten kann.

Während sie gerade darüber nachdenkt, ob Linda ihrer Freundin nicht irgendwie helfen könnte, kommt diese zur Tür herein. Sie lässt sich theatralisch auf einen Stuhl fallen und jammert: »Ich bin total kaputt, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Ich bin es nicht mehr gewohnt, stundenlang zu stehen. Und dann muss man auch noch freundlich sein, obwohl die Gäste nur meckern und Meike Meier sowieso, die geht mir erst recht auf die Nerven. Hoffentlich kommt Jonas bald zurück, auf Dauer ist das nichts für mich, ehrlich.«

Nelly sieht die Freundin mitleidig an und tätschelt ihr die Schulter. »Ruh dich mal ein bisschen aus, heute war es ja wirklich anstrengend. Vielleicht machst du ja auch für heute Feierabend, ich kann doch rübergehen und für dich einspringen.«

»Nein, nein«, wehrt Linda fast erschrocken ab. »Ich glaube nicht, dass Jonas das recht wäre. Wenn er kommt, muss ich wieder da sein. Ich leg nur mal eine Pause ein. Von hier aus sehe ich den Kiosk ja. Wenn Kundschaft kommt, gehe ich schnell rüber.«

Berta blickt ebenfalls aus dem Fenster. Im Moment sind keine Kunden am Imbissstand, nur Meike Meier lehnt an einem der Stehtische und raucht.

»Ich kann die blöde Kuh nicht ausstehen«, murmelt Linda. »Gestern hat sich ein Gast beschwert, weil die Bockwurst nicht richtig heiß war, das hat sie gleich Jonas erzählt, als der abends kam.«

»Warum schmeißt du sie nicht raus und stellst Nelly ein?«, fragt Berta direkt. Darüber denkt sie schon die ganze Zeit nach.

»Ich kann sie nicht rausschmeißen, Jonas ist der Chef. Und der meint, sie ist ja ›so fleißig‹. Na ja, und Nelly kann das doch nicht, wegen ihres Rückens. Mir wäre es schon lieber, das kannst du mir glauben.« Sie nickt Nelly, die ihr gegenübersitzt, zu und seufzt vor Selbstmitleid. Berta sieht sie nachdenklich an, sagt aber nichts mehr.

Als Linda und Nelly gegangen sind, blickt Berta ihre Nichte an. »Was hältst du von den beiden?«

Sophie zuckt mit den Schultern und überlegt. »Ehrlich gesagt sind sie mir nicht besonders sympathisch. Ich hatte schon Angst, dass du mir Nelly aufs Auge drückst. Wäre ja nichts Neues, dass du deine Pflegefälle hier unterbringst.«

»Ja, ich habe auch wirklich dran gedacht, du kennst deine alte Tante. Aber mir fiel nichts ein, was sie hier machen könnte. Vielleicht die Buchhaltung?«

»Das bisschen Buchhaltung schaffe ich gut allein, lass mal. Das meiste macht sowieso der Steuerberater.«

»Na gut. Es ist wirklich schwer, einen Job für Nelly zu finden. Dabei wäre das so wichtig für sie. Aber vielleicht finde ich was, ich muss mich ein bisschen umhören. Wenn auch nicht jetzt zum Winter, vielleicht zur nächsten Saison.«

»Jetzt kann sie ja auch erst mal bei ihrer Freundin aushelfen. Hoffentlich bezahlt die sie vernünftig. Aber, sag mal, mit dieser Meier, das ist doch wirklich seltsam. Ich kann Linda verstehen, dass sie mit der nicht zusammenarbeiten will. Ich glaube, ich hab die noch nie lächeln sehen, auch zu den Kunden ist sie total unfreundlich. Außerdem sieht sie ungepflegt aus und stinkt nach Zigarettenqualm. Was findet Jonas Schwarz bloß an der?«

»Keine Ahnung, ich kenne sie ja auch kaum. Aber Anne müsste sie kennen, die ist ja fast mit ihr verwandt. Wusstest du, dass Bodo Meier Annes Cousin ist?«

»Stimmt!« Erstaunt sieht Sophie ihre Tante an. »Das hatte ich ja total vergessen. Wir waren doch sooft zusammen in der Disco.«

Sie schweigt nachdenklich und Berta kneift misstrauisch die Augen zusammen. »Was war denn da? In der Disco oder danach? Hattest du was mit dem?«

»Was du immer gleich denkst! Vielleicht mal ein Flirt oder so. Ich kann mich gar nicht mehr richtig an den erinnern, das ist schon so lange her, über dreißig Jahre. Aber Anne spricht auch nie von ihm.«

»Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie sich mit Meike versteht. Aber wir können sie ja fragen.« Sie blickt zu Anne hoch, die gerade an den Stammtisch kommt.

»Wen wollt ihr fragen? Mich? Fragt ruhig, ich sag euch alles, was ich weiß. Aber erst mal brauche ich einen Kaffee und was zu essen. Ich bin halb verhungert.«

Sophie steht auf. »Renate hat heute Teilschicht, die kommt erst in einer halben Stunde«, erklärt sie die Abwesenheit der Köchin. »Aber du kannst ein kaltes Schnitzel mit Kartoffelsalat haben, wenn du nicht warten willst.«

»Super! Genau das, was ich jetzt brauche.«

Anne ist als Reiseleiterin tätig, fährt mit Gästegruppen über die Insel und erzählt über die Vergangenheit und Gegenwart Usedoms. Auch sie betrachtet den Stammtisch im Kehr wieder als ihren Hauptwohnsitz und Sophie und Tante Berta als ihre nächsten Angehörigen. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen war Anne sogar einmal verheiratet, was sie im Nachhinein als den größten Fehler ihres Lebens bezeichnet. Ansonsten haben sie alle drei ihre guten und meist weniger guten Erfahrungen mit Männern gemacht. Anne, ebenso wie Sophie 50 Jahre alt, hat nun für sich entschieden, dass Männer und Frauen nicht so wirklich zusammenpassen. Sie will sich in der zweiten Hälfte ihres Lebens »den ganzen Stress, den man mit den Kerlen hat«, ersparen, während Sophie optimistischer ist und noch immer daran glaubt, dass es für jede Frau den »Richtigen« gibt. Vor nunmehr fast zwei Jahren hat sie ihren Traummann, den Fischer Arno Potenberg, der jüngere Partner von Paul Plötz, gefunden.

Die Reiseleiterin überragt ihre Freundinnen um mehr als einen Kopf. Sie wirkt sehr kräftig mit ihren breiten Schultern und stämmigen Beinen in der etwas zu engen Jeans. Die noch immer fast naturroten wilden Locken passen zu ihrem lebhaften Wesen. Auch jetzt redet sie heftig gestikulierend auf Berta ein, während Sophie in die Küche geht, um das Essen zu holen.

»Habt ihr gestern Nachmittag die Windhosen über der Ostsee gesehen? Das war ja Wahnsinn, wie im Film ›Twister‹, oder so. Ich wusste gar nicht, dass es so was bei uns gibt. Die eine war direkt neben einem Frachter. Hoffentlich hat das jemand fotografiert. Na, wird schon. Meine Gäste, die ich heute hatte, haben es auch gesehen. Übrigens hat mich einer, der vor dreißig Jahren oder so schon mal hier war, gefragt, warum Bansin so nach und nach abgerissen wird. Der hat recht, das ganze Zentrum ist weg. Nun steht Villa Emma auch leer, damit haben wir nicht mal mehr einen Buchladen in Bansin, nur Andenken und Klamotten gibt es noch. Was für ein Elend!« Sie seufzt laut und greift zum Besteck.

Sophie balanciert drei volle Kaffeetassen von der Bar herüber. »Ach, deswegen bist du schon so früh zurück, du hattest ja heute nur eine Ortsführung«, fällt ihr ein.

»Ja, genau. Übrigens, wisst ihr, was ich gesehen habe: Jonas Schwarz arbeitet bei Henzel auf der Baustelle. Wahrscheinlich ›schwarz‹«, kann sie sich ein Wortspiel nicht verkneifen und kichert. »Werfen sein Imbiss und der Fahrradverleih nicht genug ab, dass der noch woanders arbeiten geht?«

»Du wirst lachen«, kommt Berta endlich zu Wort, »er ist sogar der Chef auf dem Bau. Henzel musste plötzlich weg und hat Schwarz mit seiner Vertretung beauftragt.«

»Stimmt, Jonas hatte ja auch mal eine Baufirma, da wird er das wohl können«, überlegt Anne. »Ich frag mich nur, wie Linda mit dem Imbiss und den Fahrrädern allein zurechtkommt. Ohne ihren Mann ist die doch hilflos.«

»Sie ist wirklich etwas unselbstständig«, stimmt Berta zu. »Aber Jonas kümmert sich schon um sie und um ihre Freundin Nelly auch. Außerdem hat sie ja noch Meike Meier, die ist zwar unfreundlich zu den Kunden, aber arbeiten kann sie.« Sie sieht Anne von der Seite an. »Was macht Bodo eigentlich? Der muss doch schon ewig arbeitslos sein. Aber er hat ja ein großes Anwesen, Ferienwohnungen und so, stimmt’s? Wahrscheinlich müsste seine Frau auch nicht arbeiten gehen, die hat doch von ihrem Vater das ganze Land geerbt.«

Mit Messer und Gabel herumfuchtelnd und vollem Mund äußert Anne ihre Meinung über die angeheiratete Cousine: »Ich weiß bis heute nicht, was Bodo an der findet. Das hab ich ihm auch schon einmal ganz klar durch die Blume gesagt. Danach war es mit unserer guten Beziehung vorbei. Dabei haben wir uns mal so gut verstanden. Wir sind ja auch fast gleich alt. Der sah richtig gut aus. Und tanzen konnte er – weißt du noch, Sophie, damals im Meeresstrand? Na klar weißt du das noch, ich hatte ja schon gehofft, wir werden mal Verwandte.« Berta grinst und Sophie verdreht die Augen. »Und dann nimmt er diese blöde Kuh. Die hatte doch damals schon eine Ausstrahlung wie ein Sack Kartoffeln. Na ja, Männer!« Als wäre damit alles erklärt, schiebt Anne ihren Teller weg und lehnt sich zufrieden zurück. »Aber wie kommt ihr eigentlich auf Bodo? War der hier?«

»Nein, schon ewig nicht mehr. Aber du könntest ihn ja mal einladen, ihr seid schließlich verwandt. Mit seiner Frau natürlich.«