Mord auf Coney Island - Rhys Bowen - E-Book
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Mord auf Coney Island E-Book

Rhys Bowen

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Beschreibung

Auch ein Serienkiller auf freiem Fuß ist nicht zu viel für Molly Murphy …
Der neue historische Cosy Krimi von New York Times Bestseller-Autorin Rhys Bowen

Molly Murphy ist bereit, ihre Arbeit als Detektivin für etwas Unkomplizierteres aufzugeben. Aufregung hatte sie in letzter Zeit wirklich genug. Dazu hat auch der gutaussehende Daniel vom New York Police Department beigetragen, den sie für immer aus ihrem Leben verbannen möchte. Als dieser jedoch beschuldigt wird Bestechungsgelder anzunehmen und im Gefängnis landet, ist es schnell wieder vorbei mit der geplanten Ruhe. Wie kann sie ihn nach allem, was sie zusammen durchgemacht haben, im Stich lassen? Als Molly sich immer tiefer in der Ermittlung verstrickt, weisen alle Fährten auf Daniels letzten Fall: die Suche nach dem berüchtigten East Side Ripper …

Erste Leserstimmen:
„Spannend, unterhaltsam und liebevoll erzählt – ich liebe Molly Murphy!“
„Auf Cosy Krimis von Rhys Bowen freue ich mich jedes Mal aufs Neue.“
„Es war mal wieder bezaubernd Molly Murphy bei ihren Ermittlungen zu begleiten.“
„Dieser Teil der Reihe hat mir besonders gut gefallen. Sehr spannend!“

Weitere Titel dieser Reihe
Mord auf Ellis Island (ISBN: 9783960878018)
Mord in feiner Gesellschaft (ISBN: 9783960878025)
Mord am East River (ISBN: 9783960878032)
Mord an der Upper East Side (ISBN: 9783960878049)

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Seitenzahl: 558

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Über dieses E-Book

Molly Murphy ist bereit, ihre Arbeit als Detektivin für etwas Unkomplizierteres aufzugeben. Aufregung hatte sie in letzter Zeit wirklich genug. Dazu hat auch der gutaussehende Daniel vom New York Police Department beigetragen, den sie für immer aus ihrem Leben verbannen möchte. Als dieser jedoch beschuldigt wird Bestechungsgelder anzunehmen und im Gefängnis landet, ist es schnell wieder vorbei mit der geplanten Ruhe. Wie kann sie ihn nach allem, was sie zusammen durchgemacht haben, im Stich lassen? Als Molly sich immer tiefer in der Ermittlung verstrickt, weisen alle Fährten auf Daniels letzten Fall: die Suche nach dem berüchtigten East Side Ripper …

Impressum

Deutsche Erstausgabe Mai 2020

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-805-6

Copyright © März 2006 by Rhys Bowen. Alle Rechte vorbehalten. Titel des englischen Originals: Oh Danny Boy

Published by Arrangement with Janet Quin-Harkin. c/o JANE ROTROSEN AGENCY LLC, 318 East 51st Street, NEW YORK, NY 10022 USA.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzt von: Lennart Janson Covergestaltung: Grit Bomhauer unter Verwendung von Motiven von Shutterstock: © ManuKro, © ViChizh, © [email protected] und © Agnes Kantaruk Korrektorat: Martin Spieß

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mord auf Coney Island

Dieses Buch ist meinem ältesten Fan gewidmet, Marie McCormack, die meine Enkelin liebevoll Mimi nennt.

Eine zusätzliche Widmung richte ich an Denise Lindquist, die in diesem Werk einen Kurzauftritt als tote Prostituierte hinlegt.

Eins

New York, August 1902

Da war es wieder, dieses verrückte Lachen. Ich blickte mich um, konnte aber nicht ausmachen, woher es kam. Es schien ein Teil der Dunkelheit selbst zu sein. Schwarzes Wasser schwappte über meine Füße, als ich auf den Steg aus filigranen Eisengittern trat. Ich glaubte, eine Kinderstimme „Rette mich, rette mich“ rufen zu hören und ging darauf zu. Doch unter mir sah ich gesichtslose Gestalten. Sie streckten mir ihre weißen Arme entgegen und riefen: „Hilf uns zuerst.“

Das Lachen wurde lauter, bis es mich überwältigte. Ich rannte los. Wasser spritzte unter meinen Füßen und als ich auf meine Schuhe hinabblickte, sah ich, dass sie schwarz waren. Da begriff ich, dass es gar kein Wasser war. Es war Blut.

Ich erwachte mit klopfendem Herzen und richtete mich auf. Meine Hände klammerten sich an die kühle Wirklichkeit der Laken, ehe mir bewusst wurde, dass ich in meinem Zimmer war. Während sich die Stille des leeren Hauses um mich herum in mein Bewusstsein drängte, saß ich eine Weile reglos da und fragte mich, was dieser Traum mir sagen wollte. Ich träumte ihn in dieser Woche schon zum dritten Mal. Beim ersten Mal hatte ich es auf ein exotisches, mongolisches Essen bei meinen Freundinnen auf der anderen Seite des Patchin Place geschoben (sie durchlebten gerade eine nomadische Phase), aber da ich nun zum dritten Mal dasselbe geträumt hatte, musste mehr als meine Verdauung dahinter stecken.

In meiner Heimat in Irland waren Träume immer sehr ernst genommen worden. Meine Mutter wäre auf der Stelle in der Lage gewesen, diesen zu deuten. Wobei ich glaube, dass ihre Interpretation dadurch beeinflusst worden wäre, dass ich in ihren Augen ungezogen war, die Älteren nicht respektierte und auf ein schlimmes Ende zusteuerte. Doch ich erinnere mich an die Frauen, die bei einer Tasse Tee in unserem Cottage zusammengesessen und erörtert hatten, ob der Traum von einer schwarzen Kuh von zukünftigem Reichtum oder einem Todesfall in der Familie kündete. Was hätten sie wohl zu einem Meer aus Blut gesagt? Ich erschauderte und schlang die Arme um mich.

Mein Leben war sehr turbulent gewesen, seit ich von meinem Auftrag am Hudson zurückgekehrt war, doch ich konnte mir nicht erklären, was einen solch entsetzlichen Alptraum auslösen mochte. Natürlich war da mein furchteinflößendes Martyrium im Fluss. Das könnte für einen Traum von Wasser verantwortlich sein. Und ich hatte die kleine Bridie O’Connor beinahe an den Typhus verloren. Sie hatte sich noch immer nicht vollständig erholt und war nach Connecticut in ein Lager für kränkliche Kinder geschickt worden, geleitet von den Damen aus dem Siedlungsbau in der 6th Avenue. War es ihre Stimme, die ich im Traum gehört hatte? Rief sie nach mir, damit ich zu ihr kam? Hätte ich aufs Land rausfahren sollen, um bei ihr zu sein?

Ich stand auf und lief zum Treppenabsatz. Unter meinen nackten Füßen spürte ich das kalte Linoleum. Ich hielt an der Tür inne, hinter der Bridie und Shamey gelebt hatten und erwartete beinahe, den gleichmäßigen Atem der Kinder zu hören. Doch das einzige Geräusch war das rhythmische Ticken der Uhr unten auf dem Kaminsims. Ich zitterte plötzlich, obwohl es noch Hochsommer und die Nacht warm war. Ich kehrte ins Bett zurück, hatte aber zu viel Angst, um wieder einzuschlafen. Mir ging auf, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben allein in einem Haus war. Normalerweise wäre ich stolz gewesen, die Herrin meines eigenen Hauses zu sein, aber im Augenblick verspürte ich nichts als überwältigende Einsamkeit. Ich saß da, hatte die Knie an meine Brust gezogen und starrte aus dem Fenster auf die tanzenden Schatten an der Hauswand auf der anderen Seite der Gasse. Als sich am Himmel ein erster Streifen der Morgendämmerung zeigte, stand ich auf, machte mir eine Tasse Tee und beobachtete aus dem Augenwinkel das Fenster, bis ich meine Nachbarin Gus herauskommen sah, die bei der Clement Family Bakery um die Ecke in der 6th Avenue ihre Frühstücksbrötchen holte.

Ich brauchte gerade dringend Gesellschaft. Ich wusste, dass ich in ihrem Haus immer willkommen war, aber mein Stolz und der Ekel über meine eigene Schwäche ließen nicht zu, dass ich zu dieser frühen Stunde ungebeten bei ihnen hereinplatzte oder ihnen von dem Traum erzählte. Also wartete ich, bis Gus zurückkehrte, öffnete unter dem Vorwand Krümel auszuschütteln die Haustür und täuschte dann angenehme Überraschung vor, als ich ihr begegnete.

„Schau mal, wen ich gerade gefunden habe, liebste Sid“, rief Gus, als wir durch den Flur in ihre helle und luftige Küche kamen. Zu dieser Uhrzeit war sie noch kühl. Die Terrassentüren standen offen und der süße Duft der Heckenkirschen rang mit dem verführerischen Geruch frischen Kaffees.

Sid stand am Herd und trug an diesem Morgen einen smaragdgrünen Morgenrock aus Seide und eine weite, schwarze Hose, die aussah, als würde sie in einen Harem gehören. Ihr schwarzes Haar, das sie wie den Pagenschnitt eines Kindes glatt und kinnlang trug, vervollständigte das bemerkenswerte Bild.

„Molly, meine Süße. Wie schön, dich zu sehen. Du siehst blass aus. Setz dich, trink einen Kaffee und nimm dir ein warmes Croissant.“ Sid warf mir ein strahlendes Lächeln zu, goss zähflüssige, trübe Flüssigkeit in eine Tasse und reichte sie mir. Ich trank einen Schluck und gab wie immer vor, dass ich meinen Kaffee genau so mochte: mit der Konsistenz und dem Geschmack von East-River-Schlamm. Sid bestand morgens immer auf türkischen Kaffee und französische Croissants. Gegen die Croissants hatte ich nichts einzuwenden, aber den Kaffee hatte ich nie zu schätzen gelernt.

Ich setzte mich auf den Stuhl, den Gus mir angeboten hatte und nahm mir eines der noch warmen Croissants aus ihrem Brotkorb.

„Und warum bist du heute schon zu so früher Morgenstunde auf den Beinen?“, fragte Gus.

„Ich habe vergangene Nacht nicht gut geschlafen.“ Soviel war ich bereit zuzugeben. „Ich musste einfach mal aus dem Haus und frische Luft schnappen.“

„Du vermisst die O’Connors, das ist der Grund“, sagte Gus.

„Ganz sicher nicht“, entgegnete ich empört. „Ich habe den Großteil meines Lebens damit verbracht, mich um die Kinder anderer zu kümmern. Ich bin froh, davon mal eine Pause zu bekommen.“

Der wissende Blick, den Sid und Gus austauschten, entging mir nicht.

„Und überhaupt, sie werden bald wieder zurück sein, wenn Bridie sich erholt hat und wieder bei Gesundheit ist“, fuhr ich fort. „Sie macht prächtige Fortschritte, müsst ihr wissen. Und in der Zwischenzeit mache ich mir ernste Gedanken über meine Zukunft.“

Sie blickten sich wieder an, diesmal amüsiert.

„Hast du das gehört, Gus? Ernste Gedanken über die Zukunft. Meinst du, sie wird noch einmal über den Antrag des ernsten Mr. Singer nachdenken?“

Ich schnappte mir die New York Times, die auf dem Tisch lag. „Würdet ihr zwei bitte still sein? Warum denkt gerade ihr, dass die Zukunft einer jungen Frau unmittelbar mit einem Heiratsantrag verknüpft sein muss? Ich habe keine Absicht, irgendeinen Antrag anzunehmen, egal ob anständig oder unsittlich.“

Dann schlug ich die Zeitung auf, vergrub mich im Anzeigenteil und ignorierte ihr Gekicher.

„Wie klingt Nebraska?“ Ich blickte erwartungsvoll aus der Times zu ihnen hinüber und sah zwei Gesichter, die mich fassungslos anstarrten.

„Nebraska?“, fragte Gus.

„Ja, hört euch das an: ‚Lehrerin gesucht für Einklassenschule. Arbeitsantritt August. Muss unverheiratet, unbelastet, christlich und von makellosem Charakter sein. Referenzen benötigt. Unterkunft wird gestellt. Bewerbung an die Schulbehörde, Spalding, Nebraska.‘“ Ich hielt inne und sah auf. Meine Freundinnen lächelten immer noch.

„Liebste Molly, willst du andeuten, dass du eine Schullehrerin in Nebraska werden willst?“, fragte Sid und schob sich ihren Bob aus dem Gesicht.

„Warum nicht?“, fragte ich. „Glaubt ihr, ich wäre einem Leben im Grenzland nicht gewachsen? Wo ist Nebraska eigentlich?“

Bei dieser Frage brachen die beiden in heiteres Gelächter aus. Gus streckte den Arm aus und tätschelte meine Hand. „Du bist unvergleichlich, meine Süße“, sagte sie. „Wer würde uns zum Lachen bringen, wenn wir dich aus unseren Fängen entkommen ließen?“

„Und woher kommt überhaupt diese plötzliche Sehnsucht nach dem Grenzland?“ Sid hatte Aprikosenmarmelade auf einem Croissant verteilt und blickte auf.

„Ich habe New York City satt. Das Leben ist zu kompliziert geworden.“

„Und du glaubst, es wäre weniger kompliziert, wenn du auf dem morgendlichen Schulweg mit deiner Bibel Grizzlys erschlagen oder verliebte Pioniere abwehren müsstest, die sich nach einer Frau sehnen?“, fragte Sid.

Ich legte die Zeitung weg und seufzte. „Ich weiß es nicht. Ich will einfach irgendwo weit weg neu anfangen. Daniel Sullivans abscheuliches Gesicht nie wiedersehen müssen. Mir nicht mehr einreden müssen, dass ich Jacob Singer nicht heiraten will, so wohlerzogen und ernst er auch sein mag.“

„Ich möchte meinen, dass man diese beiden Dinge erreichen kann, auch ohne nach Nebraska zu gehen“, sagte Gus. „Wenn du endlich diese verrückte Vorstellung aufgegeben hast, Privatdetektivin zu werden, können wir dir sicher bei einem Neuanfang hier in der Stadt helfen. Aber wenn du auf deine Flucht bestehst, kann ich gewiss einige Kontakte in Boston für dich aktivieren, selbst wenn meine Verwandtschaft nichts mehr von mir wissen will.“

Ich blickte in Gus’ süßes, elfenhaftes Gesicht, das von einem Schopf aus weichen, hellbraunen Locken eingefasst war, und lächelte. „Ihr seid wirklich viel zu gut zu mir. Ich verdiene eure Freundschaft nicht. Ich komme bloß vorbei und unterbreche euer Frühstück mit Gejammer und Beschwerden.“

„Unsinn“, sagte Sid. „Stell dir nur mal vor, wie geistlos und gewöhnlich unser Leben ohne dich wäre.“

Da Sid und Gus den ungewöhnlichsten Lebensstil pflegten, der mir je zu Gesicht gekommen war, musste ich bei dieser Aussage lächeln. Ich sollte wohl erwähnen, dass ihre echten Namen Elena Goldfarb und Augusta Mary Walcott sind, von den Walcotts in Boston. Beide Familien hatten sie von finanzieller Unterstützung abgeschnitten. Doch dank einer üppigen Erbschaft von Gus’ Großtante, einer Suffragette, führten sie ein herrlich ungewöhnliches Leben in Greenwich Village. Gus versuchte, sich als Malerin einen Namen zu machen, während Sid gelegentlich linke Artikel verfasste. Meistens hatten sie einfach ihren Spaß und luden Schriftstellerinnen und Künstler zu wilden und extravaganten Partys ein. Sie hatten mich unter ihre Fittiche genommen, als ich noch neu in der Stadt gewesen war, und behandelten mich seitdem wie eine verwöhnte jüngere Schwester. Als ich sie so betrachtete, wurde mir bewusst, wie ungern ich ihre Gesellschaft hinter mir lassen würde.

„Na gut“, gab ich griesgrämig nach, „vielleicht nicht Nebraska.“

Sid ging zum Herd und holte die Kaffeekanne. „Trink noch eine Tasse Kaffee. Dann geht es dir besser“, sagte sie.

„Ich habe die hier noch gar nicht ausgetrunken“, sagte ich eilig.

„Mal überlegen.“ Gus stellte ihre Tasse ab und starrte Sid an. „Welche Arbeit könnten wir für sie finden? Ein Buchladen vielleicht?“

„Zu trostlos. Nicht lebendig genug.“

„Ryan könnte ihr helfen, am Theater etwas zu finden. Das würde ihr gefallen.“

„Ryan ist arbeitslos und gerade selbst sehr knapp bei Kasse.“

„Nun, was erwartet er auch, wenn er ein Stück schreibt, das über das amerikanische Theaterpublikum herzieht?“

Ich blickte von einer zur anderen, amüsiert, weil ich in dieser Debatte nicht zu Rate gezogen wurde.

„Ihr versteht es nicht“, mischte ich mich schließlich ein. „Es geht nicht um einen Berufswechsel. Ich mache mir jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse, Sorgen, dass Daniel Sullivan draußen vor der Tür herumschleicht. Oder auch Jacob.“

„Jacob schleicht nicht herum, oder? So ein Mann scheint er mir nicht zu sein“, sagte Sid.

„Nein“, räumte ich ein. „Er ist immer sehr gesittet. Erwartet geduldig meine Entscheidung.“

„Und ich glaube nicht, dass wir Daniel in letzter Zeit hier herumschleichen sahen, oder?“ Sid wandte sich an Gus. „Nein, zumindest seit einigen Tagen nicht mehr. Vielleicht hat er resigniert aufgegeben.“

„Er schreibt mir noch immer“, sagte ich. „Mindestens einen Brief am Tag. Ich werfe sie alle in den Müll, ohne sie zu öffnen.“

„Das nenne ich hingebungsvoll“, sagte Gus.

„Gus! Wir reden über Sullivan den Schwindler! Der Mann vereint all die schlechten Eigenschaften des männlichen Geschlechts in sich – unzuverlässig, verführerisch und ein ausgewachsener Schurke“, sagte Sid erbittert. „An einem Tag versichert er Molly, dass er seine Verlobung gelöst hat, und am nächsten rennt er wieder zu dieser verwöhnten Arabella zurück, kaum dass sie mit dem Finger schnippt. Molly hat völlig recht damit, ihn zu ignorieren. Und Jacob Singer auch. Er mag vorgeben, dass er nicht mehr unter der Knute seiner Familie steht, aber ich kenne jüdische Familien, glaubt mir.“

Da sie aus einer stammte, glaubte ich ihr durchaus.

„Es ist nicht nur das“, sagte ich. „Ich möchte nicht bloß aus Bequemlichkeit und zur Absicherung heiraten. Bei Jacob fehlt einfach der Funke. Er ist ein guter Mann. Er wird einer jungen Frau ein guter Ehemann sein, aber nicht mir.“

„Ganz genau“, sagte Sid. „Wenigstens sind wir uns einig, dass Frauen sich nicht an einen Mann binden müssen, um glücklich zu werden.“ Sie sah mit einem Lächeln zu Gus hinauf.

Ich stand auf und ging zu den Verandatüren hinüber. Die ersten kräftigen Strahlen der Sommersonne tauchten die Backsteinmauer am Ende des winzigen Gartens in kräftige Farben. „Ich wünschte, ich wüsste, was ich will“, sagte ich schließlich. „Manchmal glaube ich, ich muss verrückt sein, weil ich versuche, die Privatdetektei weiterzuführen. Aber wenn ich an einem Fall arbeite, ist das aufregend und ich fühle mich lebendig.“

„Wenn du nicht gerade um dein Leben ringst, erschossen, ertränkt oder von Brücken gestoßen wirst“, sagte Gus trocken.

Ich grinste. „Dann ist es eben manchmal etwas zu aufregend. Aber ich kann mir nicht vorstellen, den ganzen Tag an einem Schreibtisch zu sitzen. Oder eine Gouvernante für verzogene Kinder zu sein, oder eine Hausfrau, wenn wir schon dabei sind. Mir fällt keine andere Arbeit ein, die mir Freude macht oder mich davon abhält, Daniel zu begegnen.“

„Ich verstehe nicht, warum du dir solche Sorgen darum machst, Captain Sullivan zu begegnen“, sagte Sid. „Du bist doch auch sonst eine Draufgängerin, die keine Konfrontation scheut und sagt, was sie denkt, Molly. Du hast bereits Anarchisten und Gangmitgliedern gegenübergestanden, ohne mit der Wimper zu zucken. Du hast doch sicher keine Angst vor einem simplen Captain der Polizei, oder?“

„Keine Angst, nein.“ Ich sah weg, um ihrem Blick auszuweichen. „Ich verliere bloß jeden Funken Menschenverstand, wenn er in der Nähe ist. Ich weiß, dass er mich bezirzen wird, ihm zu vergeben, und ich befürchte, schwach genug zu sein, um auf ihn zu hören.“

„Du bist eine starke, unabhängige Frau, Molly Murphy“, sagte Sid nachdrücklich. „Stell dich ihm, sag ihm, was du von ihm hältst, und bring es hinter dich.“

„Ihr kennt Daniel nicht. Es steckt zu viel irischer Schmeichler in ihm. Dieses Mal habe ich beschlossen, stark zu bleiben. Ihn nie mehr wiederzusehen ist die einzige Möglichkeit, das zu erreichen. Und ich fürchte, das bedeutet, die Stadt zu verlassen.“ Ich berührte Gus an der Schulter, als ich die Küche durchquerte. „Danke für das Frühstück. Ich bin belebt und erholt und werde jetzt Nebraska auf der Landkarte suchen.“

Ich verließ das Haus unter ihrem erneut anschwellenden Gelächter. Dann hielt ich inne und blickte den Patchin Place hinunter, um sicherzugehen, dass er menschenleer war, ehe ich zu meiner Haustür auf der anderen Straßenseite sprintete. Das war ganz sicher keine Art zu leben.

Stille umfing mich, als ich meine Haustür hinter mir schloss. Kein Gesang einer leisen, hohen Stimme, kein Shamey, der die Treppe herunterspringt und schreit: „Molly, ich verhungere. Kann ich etwas Brot und Schmalz haben?“

Meine Freundinnen hatten recht. Ich vermisste die O’Connor-Kinder. Sie waren eine Belastung gewesen, seit ich in New York angekommen war, aber ich fühlte mich auch für sie verantwortlich, da sie im Grunde mein Leben gerettet hatten. Ich hatte mich als ihre Mutter ausgegeben, um sie von Irland aus über den Atlantik zu bringen, da ihre echte Mutter erfahren hatte, dass sie an der Schwindsucht starb und deshalb nicht reisen durfte. So war ich in der Lage gewesen, Irland zu entfliehen, wo mir die Polizei auf den Fersen gewesen war. Daher konnte ich sie nicht zurücklassen. Die armen, kleinen Dinger, ganz ohne Mutter. Seamus und der junge Shamey waren aufs Land gefahren, um Bridie bei ihrer Genesung Gesellschaft zu leisten. Seamus hatte gehofft, Arbeit auf einer Farm zu finden, um sie über Wasser zu halten.

Als ich so gedankenverloren dastand, plumpste die Morgenpost auf die Fußmatte. Ich hob die beiden Briefe auf. Der erste, mit Daniels schwarzer, energischer Handschrift wanderte direkt in den Mülleimer. Der zweite war in einem kindlichen Gekritzel geschrieben, das ich nicht erkannte, und großzügig mit Tintenkleksen übersäht. Ich öffnete ihn und sah, dass er von den O’Connors kam.

Liebe Molly, Mein Pa hat mir gesakt, das zu schraiben, weil er nich gut schraibt. (Der kleine Shamey hatte offensichtlich noch nicht über die Maßen von seinen neuerlichen Schulbesuchen profitiert.) Uns geht es hir gut. Bridie ist wiider auf den Bainen. Pa und ich schlafen in der Schoine und helfen dem Farmer bei der Ernte. Sie sollten mich sehen, Molly. Ich kann wi ein Mann die großen Heuballen heben. Pa gefällt es hir so gut, er sagt, er will gar nicht mehr in die Statt zurück, wo es nur Gangs und Krankhaiten und so giebt. Er versucht, hier auf der Farm eine Stelle fürs ganze Jar zu bekommen. Ich wünschte, Sie könnten hierher zu uns komen, Molly.

Darunter stand in noch unleserlicher Schrift:

Ohne Sie scheint es nicht dasselbe zu sein, Molly. Ich weiß, dass es zwischen uns keine Liebe gibt, aber wir kommen gut miteinander aus, oder? Und für die Kinder sind Sie schon wie eine Mutter.

Ich legte den Brief hastig auf dem Küchentisch ab. Wenn ich das richtig verstand, hatte ich jetzt drei unerwünschte Verehrer. Ich wünschte, ich hätte die Times nicht drüben in der Nummer 9 gelassen. Nebraska klang von Minute zu Minute verlockender!

Zwei

Eine Stunde später hatte ich eine wichtige Entscheidung getroffen. Ich würde nicht länger Trübsal blasen und in Selbstmitleid versinken. Sid hatte recht. Mein ganzes Leben lang war ich eine Kämpferin gewesen, kein Feigling. Ich sollte mich Daniel stellen, ein für alle Mal. Ich würde den Traum der vergangenen Nacht auf schlechte Verdauung schieben und mein Leben weiterleben. Ich beschloss, diese bedeutsame Entscheidung zu feiern. Gus und Sid waren so gut zu mir gewesen und ich hatte ihre Großzügigkeit genossen, ohne viel zurückzugeben. Also würde ich ihnen heute Abend ein Festmahl kochen, als Dankeschön. Außerdem würde es mich ablenken, wenn ich mich beschäftigte.

Ich würde nicht versuchen, mit ihren exotischen Speisen zu konkurrieren, sondern beschloss, dass ich mit kaltem Huhn und einem Salat an einem heißen Sommerabend nichts falsch machen konnte. Hühnerfleisch war ein Luxusgut, dass ich mir mit meinen momentanen Geldmitteln kaum leisten konnte. Ich hatte keinen Auftrag mehr bekommen, seit ich vor mittlerweile fast einem Monat von dem Anwesen am Hudson zurückgekehrt war. Und man schuldete mir immer noch mein Honorar für diesen Auftrag. Aber da es Daniel Sullivan war, der mir dieses Honorar auszahlen musste, würde ich lieber verhungern als danach zu fragen. Mein Verhalten könnte wohl als kindisch ausgelegt werden, aber ich war entschlossen, dieses Mal hart zu bleiben.

Ich setzte mich, um eine Einladung an die Damen Goldfarb und Walcott zu verfassen, in der ich darum bat, mich um acht im Patchin Place 10 für ein Abendessen mit ihrer Gesellschaft zu beehren. Dann brachte ich sie persönlich an ihre Haustür. Sie willigten ein und ich machte mich auf den Weg zu einem koscheren Metzger in der Bowery, bei dem das Huhn frisch geschlachtet wurde und nicht tagelang zwischen den Fliegen hing. Ich würde auch beim Postamt am Broadway vorbeischauen, um mich nach Post für Paddy Riley zu erkundigen, dem früheren Besitzer von P. Riley and Associates, von dem ich die Privatdetektei geerbt hatte. Ab und zu kam immer noch ein Auftrag für ihn, und ehrlicherweise konnte ich die Arbeit im Augenblick dringend gebrauchen. Es war eine kostspielige Angelegenheit, ein Haus zu unterhalten und zwei hungrige Kinder durchzufüttern.

Von der gegenüberliegenden Straßenecke aus warf der osteuropäisch wirkende Turm des Jefferson Market einen Schattenstreifen in das Licht der frühen Morgensonne. Schon um diese Zeit heizten sich die Bürgersteige auf. Der Gestank von verrottendem Obst und Gemüse, das unter den Eisenrädern von Karren voll frischer Speisen zerquetscht wurde, wehte zu mir herüber. Einige Polizisten verließen das Revier, das sich im selben Haus befand. Ich wandte mich um und eilte in Richtung Washington Square davon. Daniel kam gerne mal aus ebendiesem Revier und ich hatte unangenehme Erinnerungen an eine Nacht in der Zelle dort, weil man mich für eine Liebesdienerin gehalten hatte.

An der Ecke verkauften Zeitungsjungen die heutigen Ausgaben.

LESEN SIE ALLE NEUIGKEITEN. DER EAST SIDE RIPPER SCHLÄGT WIEDER ZU.

Ich hatte mich so auf den Anzeigenteil der Times konzentriert, dass mir diese reißerische Schlagzeile entgangen war. Aber sie schrie mir von den Plakatwänden an der 5th Avenue entgegen:

Weitere Prostituierte ermordet. Der Ripper treibt wieder sein Unwesen.

„Sie fordern es ja geradezu heraus, oder?“, hörte ich eine Frau zu einer anderen sagen, während sie sich eine Ausgabe des Herald kauften. „Wenn man in diesem Metier arbeitet, weiß man, womit man rechnen muss.“

„Das sollte in einer anständigen Stadt nicht erlaubt sein“, stimmte ihre Begleiterin zu. „Auf Nimmerwiedersehen, sage ich da. Ich hoffe, er erwischt noch viele von ihnen.“

Ich erschauderte, als ich an ihnen vorbeieilte. Also war noch eine weitere Prostituierte ermordet worden. Das machte vier in diesem Sommer, so viele, dass die Presse jetzt vom East Side Ripper sprach, der in die Fußstapfen von Londons berüchtigtem Serienmörder trat. Da die Opfer Prostituierte waren, hatte es vor den jüngsten Morden wenig öffentliche Aufmerksamkeit gegeben. Viele Menschen teilten die Meinung der beiden Frauen, die ich gerade gehört hatte – solch unmoralisches Verhalten fordere die Vergeltung geradezu heraus.

Es war einfach, solche Verbrechen als Geschehnisse aus einer anderen Welt abzutun. Das hat nichts mit mir zu tun, Gott sei Dank. Das war die allgemeine Einstellung dazu. Doch ich hatte mit einigen dieser Frauen eine Nacht in der Gefängniszelle verbracht. Sie waren nett zu mir gewesen und ich konnte nur Mitleid empfinden. Diese traurigen, jungen Mädchen, die ihre unschuldigen Gesichter unter Rouge und Lippenstift verbargen. Ich hätte auch so enden können, als ich mittellos nach New York gekommen war.

Ich hatte gerade den Broadway erreicht und schloss mich dem Trott der Fußgänger an, die diese Straße zu jeder Tages- und Nachtzeit zu bevölkern schienen, als mich plötzlich das Gefühl überkam, verfolgt zu werden. Ich blickte mich um, sah aber niemanden, den ich erkannt hätte. Ich beschleunigte meine Schritte, wurde das Gefühl aber nicht los. Man könnte wohl sagen, dass ich mit dem sechsten Sinn der Iren zur Welt gekommen bin. Nun, er hatte mir schon früher gute Dienste geleistet und ich würde ihn jetzt nicht ignorieren. Die Schlagzeilen über den East Side Ripper blitzen in meinen Gedanken auf. Lächerlich, sagte ich mir. Diese Morde waren alle nachts verübt und die Leichen auf einer Straße abgelegt worden, die für ihre Freudenhäuser bekannt war. Ich war offensichtlich keine dieser Frauen. Es war helllichter Tag und ich befand mich auf dem Broadway. Ich war in Sicherheit.

Dennoch, als ich eine Möglichkeit sah, zwischen zwei Straßenbahnwaggons und einer Bierkutsche hindurch zu schlüpfen, ergriff ich sie und wechselte auf die andere Straßenseite. Das Gefühl wurde noch stärker als zuvor. Ich trat unter die Markise eines Gemüsehändlers, blieb stehen und musterte die Menschenmenge. Ich erkannte niemanden. Und sah auch niemanden, der wie ein East Side Ripper aussah. Nur gewöhnliche Hausfrauen, die ihre morgendlichen Einkäufe erledigten, ehe die Hitze des Tages zu intensiv wurde, Geschäftsleute auf dem Weg zu ihren Terminen, Kinder, die spielen gingen. Ich entdeckte einen jungen Police Constable, sein vertrauter Helm wippte über der Menge auf und ab, und war beruhigt. Ich konnte jederzeit um Hilfe rufen, wenn ich sie wirklich brauchte. Also lief ich weiter. Als ich Wanamaker’s erreichte, die Kurzwarenhandlung am Broadway, hielt ich an und gab vor, die Hüte im Schaufenster zu betrachten, während ich tatsächlich die Menschenmenge beobachtete, die hinter mir vorbeizog.

In diesem Augenblick packte mich eine Hand an der Schulter. Ich blickte mich panisch nach dem Polizisten um, dann stellte ich fest, dass ich in sein Gesicht hinaufstarrte, und es seine Hand war, die mich festhielt.

„Heilige Mutter Gottes“, rief ich. „Sie haben mich zu Tode erschreckt, Officer. Was glauben Sie, da zu tun? Sehe ich für Sie wie eine Taschendiebin aus?“

Sein kantiges, jungenhaftes Gesicht lief vor Verlegenheit rot an. „Das tut mir leid, Ma’am. Ich glaube, ich weiß, wer Sie sind. Miss Murphy, nicht wahr? Captain Sullivan hat mich zu Ihnen geschickt.“

„Captain Sullivan?“, stieß ich aus, während sich die Menge um uns teilte. „So eine Frechheit. Er wagt es nicht, mir persönlich gegenüberzutreten, also schickt er einen seiner Handlanger, ja?“

„Es tut mir leid, Miss“, wiederholte er. „Aber es ist wichtig. Captain Sullivan muss dringend mit Ihnen sprechen und Sie haben nicht auf seine Briefe reagiert.“

„Natürlich habe ich nicht auf seine Briefe reagiert und ich beabsichtige auch nicht, mit ihm zu sprechen. Das sollte mittlerweile recht deutlich geworden sein. Wir haben nichts mehr miteinander zu besprechen.“

„Also werden Sie nicht mit mir kommen, um mit ihm zu sprechen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Sie können Captain Sullivan mitteilen, dass unsere Bekanntschaft beendet ist und ich nicht den Wunsch hege, je wieder mit ihm zu sprechen. Und wenn er mich weiterhin belästigt, werde ich mich bei seinen Vorgesetzten beschweren. Habe ich das klar genug ausgedrückt?“

Die Verlegenheit des jungen Constables verschärfte sich. „Dann habe ich keine andere Wahl, Miss. Ich befolge wohlgemerkt nur Befehle, aber ich nehme Sie fest.“ Mit diesen Worten ließ er Handschellen um eins meiner Handgelenke zuschnappen, ehe ich wusste, wie mir geschah.

Ich starrte voller Entsetzen und Empörung auf meinen Arm. „Jesus, Maria und Josef! Wie können Sie es wagen? Lassen Sie mich augenblicklich frei, sonst werde ich den größten Aufstand verursachen, den Sie sich vorstellen können.“

„Es tut mir wirklich leid, Miss Murphy, aber mir wurde aufgetragen, Sie zu Captain Sullivan zu bringen, und das werde ich tun, selbst wenn ich Sie wie einen Sack Kartoffeln auf der Schulter tragen muss.“

„Das will ich sehen“, sagte ich. „Jetzt lösen Sie augenblicklich dieses Teil.“

Um uns versammelte sich eine Menge.

„Brauchen Sie Hilfe, Officer?“ Ein vornehm aussehender Mann trat vor. „Soll ich Unterstützung für Sie anfordern?“

„Ich glaube, ich werde mit ihr fertig, vielen Dank“, sagte der Constable, „aber sie hat ein streitlustiges Temperament, das kann ich Ihnen sagen. Eine Liste von ausstehenden Haftbefehlen so lang wie Ihr Arm.“

„Hören Sie nicht auf ihn!“, schrie ich. „Ich werde gegen meinen Willen entführt. Ich bin eine anständige Frau. Ich habe nichts falsch gemacht.“

„Wenn Sie dieses Hansom-Taxi für mich ranwinken könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden“, sagte der Constable und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während ich versuchte, mich aus seinem Griff zu winden.

Der Kutscher zügelte seine Pferde und ich wurde von helfenden Händen hineingestopft.

„Die Gräber, so schnell Sie können“, rief der Constable zum Kutscher hinauf und wir fuhren in lebhaftem Trott los.

„Die Gräber? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“, fragte ich und war plötzlich verängstigt. „Sie bringen mich ins Gefängnis? Unter welchem Vorwand? Ist das Daniel Sullivans Vorstellung von einem Scherz?“

Der Constable schüttelte den Kopf. „Das ist kein Scherz, Miss. Es ist todernst, fürchte ich, sonst hätte der Captain Sie nicht auf diese Weise abholen lassen. Er hatte keine Alternative. Er steckt in ernsten Problemen, Miss Murphy. Er wurde verhaftet, sitzt in den Gräbern ein und wartet auf seinen Prozess.“

Ich hatte aus dem Hansom-Taxi geschaut und mich gefragt, ob es irgendeine Fluchtmöglichkeit gab. Jetzt wirbelte ich zum Constable herum. „Daniel wurde verhaftet? Was hat er getan?“

„Ich kenne die Einzelheiten nicht genau, Miss. Das wird er Ihnen selbst erklären müssen. Ich weiß nur, dass die gesamte Polizeitruppe sich gegen ihn gewandt hat. Es gibt nur noch wenige von uns, denen er vertrauen kann, mich eingeschlossen. Deshalb hat er mich geschickt, um Sie abzuholen. Er braucht Ihre Hilfe.“

„Er verdient meine Hilfe nicht“, sagte ich.

„Aber Sie werden mit ihm sprechen, oder? Ich möchte nicht erleben, dass ein guter Beamter wie Captain Sullivan ins Gefängnis geht.“

Ich seufzte. „Na gut. Ich werde wohl mit ihm sprechen müssen.“ In meinem Köpf flüsterte eine Stimme, dass Daniel Sullivan eine Weile Gefängnis nicht schaden würde. Das geschähe ihm ganz recht. Doch sogar ich konnte es mit der Rache nicht so weit treiben. „Aber ich will, dass mir umgehend diese Handschellen abgenommen werden“, fügte ich hinzu. „Ich will nicht gesehen werden, wie ich in Handschellen das Stadtgefängnis betrete. Ich habe einen Ruf zu wahren.“

Der Constable grinste und ließ die Handschellen aufschnappen. „Tut mir leid, Miss. Captain Sullivan hätte mir nie verziehen, wenn ich Sie hätte entkommen lassen.“

Ich starrte aus der Droschke, während sie auf die Center Street einbog und vor dem beeindruckenden Säulenvorbau des Stadtgefängnisses anhielt, das allgemein als die Gräber bekannt war. Der Spitzname entsprang der Architektur, die angeblich die Kopie eines ägyptischen Grabmals war. Aber dieser Tage schwang bei dem Namen eine deutlich düstere Bedeutung mit. Menschen, die für eine Gefängnisstrafe hineingingen, kamen nicht immer lebendig wieder heraus.

Das Gebäude war bekanntermaßen feucht und die Überbelegung führte zu Typhus, Schwindsucht, Cholera – dieselben Krankheiten, die in den Wohnungen grassierten und sich bei der Sommerhitze verbreiteten.

„Da wären wir, Miss.“ Der Constable sprang hinaus und bot mir seine Hand an.

Es hatten weitreichende Renovierungsarbeiten stattgefunden, seit ich zuletzt hier gewesen war. Eine Wand war vollständig von einem Gerüst verdeckt und das Schlagen der Maurerhämmer hallte uns entgegen, als wir aus der Droschke stiegen. Eine Wolke aus feinem Staub hing in der Luft. Die Zeitungen hatten verkündet, dass das gesamte Gebäude im Schlamm versank, und jeden Augenblick über den Köpfen der Insassen zusammenzubrechen drohte. Wie viele Gebäude in New York, war es über einem ehemaligen Bachlauf oder See errichtet worden. Daher auch die stetigen Beschwerden über die Feuchtigkeit.

Ich hustete und hielt mir die Hand vor den Mund, als ich hineingeführt wurde. Innen war es dunkel und nach der Hitze, die von den Bürgersteigen zurückstrahlte, merklich kühler. Ich beobachtete einen Wortwechsel zwischen dem Constable und einem Beamten an einem Schreibtisch, konnte aber nichts verstehen. Letzterer sah auf und betrachtete mich, nickte, stand dann auf und holten einen riesigen Schlüsselring hervor.

„Dann hier entlang“, sagte er. „Passen Sie auf, wo Sie hintreten.“ Er führte uns einen langen, dunklen Flur hinunter und öffnete schließlich die Tür zu einem trostlosen und spartanisch eingerichteten Raum mit zwei Stühlen, die beide schon bessere Tage gesehen hatten. Er legte einen Schalter um und der Raum wurde in kaltes, elektrisches Licht getaucht. Die grüne Farbe an der Backsteinmauer blätterte an manchen Stellen ab, sodass das ursprüngliche Gemäuer mit interessanten Schimmelmustern zutage trat. Es roch modrig und feucht, mit einem Hauch von Urin. Wenn das Gebäude tatsächlich renoviert wurde, hatte man diesen Teil dabei eindeutig noch nicht erreicht.

„Warten Sie bitte hier“, sagte der Wärter. „Und nur zehn Minuten, für mehr werde ich nicht bezahlt.“ Er zog sich zurück und zog die Tür mit einem dumpfen Dröhnen von Endgültigkeit ins Schloss. Der Constable bot mir einen Stuhl an. Ich setzte mich und wartete eine gefühlte Ewigkeit. Jetzt, da ich Daniel wiedersehen würde, pochte mein Herz so heftig, dass ich kaum atmen konnte. Draußen war es so heiß gewesen, dass mein dünnes Nesselstoffkleid vom Schweiß etwas feucht geworden war. Jetzt zitterte ich. Einen schrecklichen Augenblick lang fühlte ich mich sogar so, als würde ich ohnmächtig werden. Da ich mein ganzes Leben lang noch kein Korsett getragen hatte, war ich nie anfällig für eine Ohnmacht gewesen, und das kalte, klamme Gefühl war erschreckend. Als ich mich zurücklehnte und die Augen schloss, hörte ich in der Ferne das Hallen von Schritten auf Steinboden. Dann folgte ein kratzendes Geräusch, während eine Trennwand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes geöffnet wurde, und plötzlich starrte ich durch ein Eisengitter in Daniels Gesicht.

„Molly!“, rief er. „Du bist hier. Gott sei Dank.“

Drei

Ich zog den Stuhl näher an das Gitter heran und war schockiert von dem Anblick, der sich mir bot. Daniel wirkte ausgezehrt und hohläugig. Seine sonst wilden, dunklen Locken hingen ihm schlaff in die Stirn. Auf einer Wange hatte er einen schlimmen Bluterguss.

„Es tut mir leid, dass ich dich auf diese Weise festnehmen ließ“, sagte er, „aber du hast meine Briefe nicht beantwortet.“

So schockiert ich auch von seinem Anblick und den Umständen war, ich wollte mich nicht ungerechtfertigt anklagen lassen. „Deine Briefe? Bist du überrascht, so wie du dich verhalten hast?“

„Nein, wohl kaum, aber du hättest es mich wenigstens erklären lassen können.“

„Ich habe mir zu viele deiner Erklärungen angehört, Daniel Sullivan“, sagte ich.

Ich sah, wie er zusammenzuckte, beinahe als hätte ich ihn geschlagen. Ich hatte vorgehabt, kalt, reserviert und beherrscht zu bleiben, aber ich hatte ihn noch nie so gesehen. Ich war den selbstsicheren Daniel gewöhnt, der sich für den Größten hielt. Ich hörte mich sagen: „Daniel, in Gottes Namen – was ist mit dir geschehen?“

„Gute Frage.“ Er legte sich eine Hand an die Wange und versuchte zu lächeln. „Das hier war der glückliche Treffer eines anderen Insassen, der mich erkannte und die Chance ergriff, um mit mir abzurechnen.“

„Aber warum wurdest du verhaftet? Was sollst du getan haben?“

Daniel lehnte sich näher ans Gitter. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, draußen zu warten, Byrne?“, fragte er den Constable.

„Ganz und gar nicht, Sir“, sagte der.

„Oh, und danke, dass Sie sie hergebracht haben. Ich hoffe, sie war nicht zu wehrhaft.“

„Sie haben mich vorgewarnt, Sir. Im Großen und Ganzen kam sie recht friedlich mit.“

„Ach, wirklich?“ Er sah mich an. Seine hellblauen Augen, die normalerweise beunruhigend blitzten, wirkten grau und leblos. „Du lässt nach, Molly. Ich hätte erwartet, dass du ein oder zwei gute Tritte landest.“

Die Tür schloss sich hinter mir und ich war allein mit Daniel und dem Eisengitter zwischen uns.

„Ich hielt es für besser, ihn wegzuschicken“, sagte er leise. „Er ist ein guter Kerl, aber er könnte von den hohen Tieren gezwungen werden, unsere Unterhaltung hier wiederzugeben.“

„Was in aller Welt hast du getan, Daniel?“, wiederholte ich. Die Spannung brachte mich um.

„Ich wurde erwischt, als ich Bestechungsgeld von einem Gangmitglied annahm.“

Ich lachte beinahe laut auf. „Bestechung? Daniel, ich dachte, das wäre gängige Praxis bei der New Yorker Polizei. Legt sich auf diese Weise nicht jeder Polizist hunderttausend Dollar beiseite, bei fünfhundert Dollar Jahresgehalt?“

„Bis vor Kurzem, ja“, sagte Daniel. „Aber es gibt einen neuen Police Commissioner, John Partridge. Er wurde von unserem neuen Bürgermeister ernannt, der, wie du vielleicht weißt, ein Erzfeind von Tammany Hall ist. Also macht dieser neue Kerl, dieser Partridge, großen Wirbel um eine Polizeireform, die die Korruption ausmerzen und New York zu einer Stadt für gottesfürchtige Menschen machen soll. Tatsächlich will er bloß den Iren die Macht entreißen und seine eigenen Kumpane an ihre Stelle setzen. Er hat vermutlich auch politische Ambitionen.“

„Also wurdest du dabei erwischt, dich bestechen zu lassen, und er will an dir ein Exempel statuieren? Da ist eine Gefängnisstrafe doch sicher etwas zu extrem. Ich hätte gedacht, eine öffentliche Zurechtweisung würde dafür ausreichen.“

„Es geht noch weiter“, sagte Daniel. „Ich habe einen Freund, einen Berufsboxer. Du weißt das wahrscheinlich nicht, aber Boxen wurde in der Stadt vor einem Jahr verboten. Allerdings gibt es immer noch viele Männer, die sich gern einen guten Boxkampf ansehen und mein Freund ist der Beste – er war mal Schwergewichts-Weltmeister. Jetzt hat ihn das Glück verlassen und es fällt ihm schwer, über die Runden zu kommen. Er bat mich, einen Kampf zu arrangieren, an einem Ort, wo er nicht sofort unterbunden wird oder in einer Razzia endet. Da geht es natürlich um viel Geld. Es wird groß gewettet. Für meinen Freund geht es auch um viel Geld, wenn er gewinnt.“ Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion von mir. Da ich schwieg, fuhr er fort: „Die Polizei hat meine Wohnung durchsucht, nachdem ich verhaftet wurde, und Beweise dafür gefunden, dass ich versuchte, einen illegalen Boxkampf zu veranstalten. Der Commissioner beschloss, mich mit Beschuldigungen zu überhäufen und mich als Exempel für die anderen Beamten zu benutzen, die vielleicht vom schmalen Pfad der Gerechten abweichen wollen. Oh, und anscheinend habe ich mich der Verhaftung widersetzt.“

„Anscheinend?“

„Nun, ich lasse mir doch nicht von einem meiner eigenen Untergebenen Handschellen anlegen. Das wird mir bestimmt noch eine Woche im Gefängnis einbringen.“

Ich starrte ihn lange und unerbittlich an. „Ich weiß nicht, warum du mich herbringen ließest“, sagte ich schließlich. „Was glaubst du, kann ich für dich tun?“

„Mir helfen, meine Unschuld zu beweisen“, sagte er. „Mich hier rausholen und wieder auf meinen Posten zurückbringen. Weißt du, Molly, das Interessante an der Geschichte ist, dass ich nie in meinem Leben eine Bestechung angenommen habe. Ich kenne andere Polizisten, die ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben, aber ich nicht. Mein Vater war der beste Polizist der Truppe und er hat nie etwas getan, wofür er sich hätte schämen müssen. Ich war darauf bedacht, in seine Fußstapfen zu treten, also habe ich mich immer an seine Grundsätze gehalten.“

„Aber du sagtest gerade, man hätte dich dabei erwischt, eine Bestechung anzunehmen.“

„Ich dachte, ich würde mich mit einem Gangmitglied treffen, um eine Liste von Gestalten aus der Unterwelt zu erhalten, die daran interessiert sein könnten, einen Boxkampf zu finanzieren. Doch als die Polizei den Umschlag öffnete, fanden sie darin fünf Zwanzig-Dollar-Noten und die Namen bekannter Gangster. Ich kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie es für Schmiergeld hielten.“

„Du magst unschuldig sein, was die Bestechung angeht, aber du hast mir gerade erzählt, dass du zusammen mit einer Gang daran gearbeitet hast, einen illegalen Boxkampf zu organisieren. Das klingt für mich nicht sehr unschuldig.“

„Ein Boxkampf, Molly – was ist schon falsch daran?“

„Es ist anscheinend illegal.“

„Ein harmloser Spaß. Jeder Mann auf der Welt kann sich an einem Boxkampf erfreuen. Die Stadt war mit dem Verbot zu kurzsichtig. Wenn er stattfindet, würde ich darauf wetten, dass die Hälfte des Stadtrates und der höherrangigen Polizeibeamten im Publikum sitzen, vermutlich Mr. Partridge eingeschlossen.“

Ich ließ das sacken und fuhr dann fort: „Was ist dann mit dem Geld in dem Umschlag? Du musst einen Verdacht haben, wer es da hineingesteckt hat. Sollte es eine Bestechung sein?“

Daniel zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Ich hatte in den vergangenen Tagen viel Zeit zum Nachdenken und bin zu dem Schluss gekommen, dass das Ganze eine Falle war. Warum sonst sollte der Police Commissioner zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen sein, um mitzuerleben, wie ich Geld von einem Gangmitglied erhielt? Warum hätten sie sonst sofort meine Wohnung nach weiteren belastenden Beweisen durchsuchen sollen? Sie haben mir nicht gezeigt, was sie alles gefunden haben, aber es könnten auch platzierte Beweise gewesen sein.“

„Wer könnte dich diffamieren wollen?“, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. „Auch da habe ich keine Ahnung, es sei denn, es ist Commissioner Partridge höchstpersönlich.“

„Warum sollte er das tun wollen?“

Daniel zuckte mit den Schultern. „Vielleicht plant er, die irischen Beamten einen nach dem anderen loszuwerden, ganz oben angefangen. Ich weiß nur, dass meine sogenannten Freunde mich wie eine heiße Kartoffel fallenließen. Sie haben alle Angst, die Nächsten zu sein.“

„Ich weiß immer noch nicht, warum du mich um Hilfe bittest, Daniel“, sagte ich. „Hast du nicht alle möglichen Freunde in hohen Ämtern? Dein Vater kennt sie alle und sie respektieren ihn. Und was ist mit der Familie deiner Verlobten? Sie gehören zu den berühmten Vierhundert, oder?“

Er wandte den Blick ab. „Das ist das Problem. Ich kann meinem Vater nicht von dieser Sache erzählen. Die Ärzte sagten ihm, dass er ein schwaches Herz habe. Der Schock könnte ihn umbringen. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Und was Arabella angeht ...“ Er sah plötzlich auf. „Miss Norton und ich haben unsere Verlobung gelöst.“

„Ist das so?“ Ich versuchte, nicht allzu interessiert zu klingen.

Er nickte. „Gleich, nachdem du vom Anwesen der Flynns verschwunden bist.“

„Aber ich habe dich gehört“, sagte ich. „Als sie Fragen über mich stellte, sagtest du ihr, dass sie grundlos Aufhebens darum mache. Du sagtest, ich würde dir nichts bedeuten.“

„Das habe ich so nicht gesagt“, warf er schnell ein. „Und wenn doch, habe ich es nicht so gemeint. Ich musste sie in dem Moment beschwichtigen, Molly. Das verstehst du doch bestimmt. Ich konnte ihr nicht vor all diesen Leuten die Wahrheit sagen. Das hätte sie gedemütigt.“

„Und was ist mit mir? Hast du nicht daran gedacht, wie es mir dabei ging?“

„Molly, ich wollte unbedingt verhindern, dass Arabella eine Szene macht. Sie ist es gewöhnt, ihren Willen zu bekommen. Und sie würde mir nie vergeben, wenn ich sie öffentlich demütige.“

„Da hast du’s!“ Ich schrie plötzlich so laut, dass meine Worte von den abblätternden Backsteinwänden und dem Steinboden widerhallten. „Mir reicht’s. Wenn du wirklich deine Verlobung gelöst hast, dann hast du deine Antwort.“

„Worauf?“

„Worauf? Dieser Mann ist dumm wie Brot. Du sagtest, die ganze Sache wäre ein abgekartetes Spiel, um dich in Ungnade fallen zu lassen. Na, da hast du’s. Arabella hat es nicht gefallen, sich zum Narren halten und von dir betrügen zu lassen, also rächt sie sich an dir.“

„Oh, komm schon. Sie würde doch nicht ...“

„Du hast mir schon früher gesagt, dass sie dich ruinieren würde, wenn du sie verließest. Nun, das hat sie jetzt getan.“

Er schüttelte energisch den Kopf. „Das traue ich ihr nicht zu. Sie hat meine Bitte, unser Versprechen zu lösen, sogar recht gut aufgenommen. Sie sagte, sie hätte bereits seit einer Weile vermutet, dass ich ihr mein Herz nicht gänzlich verschrieben hätte. Dann sagte sie noch, dass sie uns beiden ihren Segen geben würde, wenn meine Ansprüche an eine Frau tatsächlich nicht höher seien.“ Für eine Sekunde flackerte der alte Daniel in seinem schelmischen Grinsen auf.

„Dann will ihre Familie dich bestrafen, weil du ihren kostbaren Schatz enttäuscht hast.“

Er schüttelte erneut den Kopf. „Ich glaube, sie dürften erleichtert sein. Sie hatten sich jemanden mit mehr Geld und Status erhofft. Das sind zivilisierte Menschen, Molly. Wenn sie sich an mir rächen wollten, hätten sie wegen Bruch des Eheversprechens ein Verfahren gegen mich einleiten und mich über den Rechtsweg bestrafen können. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie sich solche Umstände machen würden, um mich ins Gefängnis zu bringen. Und woher sollten sie Kontakte in die Unterwelt haben?“

„Vielleicht haben sie Verbindungen zum neuen Commissioner“, sagte ich. „Heißt es nicht, dass man immer beim offensichtlichsten Verdächtigen anfangen soll? Das hat Paddy Riley mir zumindest gesagt.“

Daniel seufzte. „Paddy Riley. Ich wünschte, er wäre noch unter uns. Er wäre problemlos in der Lage, all dem auf den Grund zu gehen. Er wüsste, wie man diesem Gangster die Wahrheit entreißt oder abkauft.“

„Aber du weißt, dass ich das nicht kann, Daniel“, sagte ich entsetzt.

„Das ist mir bewusst, und natürlich würde ich nicht wollen, dass du in solche Dinge verwickelt wirst.“

Ich erinnerte mich noch viel zu deutlich an eine Begegnung mit Monk Eastman, dem Boss der Eastman-Gang, bei der ich beinahe ums Leben gekommen wäre, wenn mich nicht gar Schlimmeres erwartet hätte. „Wenn du nicht willst, dass ich darin verwickelt werde, warum hast du mich dann hergerufen?“

„Ich will, dass du eine Nachricht überbringst“, sagte er und lehnte sich näher ans Gitter. Möglicherweise stand ein Wärter hinter ihm in der Zelle und belauschte unsere Unterhaltung. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen.

„Na gut. Wem?“

Er senkte die Stimme zum leisesten Flüstern. „Mein Freund Jack Brady. Hast du von ihm gehört? Gentleman Jack nennt man ihn, der irische Vorschlaghammer. Er war mal Boxweltmeister und hat sich darauf verlassen, dass ich ihm bei seinem Comeback helfe.“

„Warum Gentleman Jack? Hat er sich immer an die Regeln gehalten?“

„Nein, er kleidet sich gern wie ein Dandy, beziehungsweise hat es getan, als er das Geld dafür hatte. Er trug eine Ascotkrawatte mit einer Diamantnadel – solche Dinge.“

„Ich verstehe“, sagte ich. „Und wo kann ich diesen Gentleman Jack finden?“

Er lehnte sich noch näher, sodass seine Lippen beinahe die Gitterstäbe berührten. „Er ist vor Kurzem in New York eingetroffen und ich habe ihn in einer Pension untergebracht, gleich um die Ecke von meiner Wohnung. An der Ecke 9th Avenue und West 23rd. Mrs. Collins ist die Vermieterin. Erzähl Jack, was mir zugestoßen ist. Er weiß, was ich unternommen habe, um den Kampf für ihn zu organisieren. Er kann an den richtigen Orten Fragen stellen.“

„Und wo sind diese richtigen Orte?“

„Das sind Orte, an die er gehen kann, du aber nicht“, sagte Daniel sehr deutlich.

„Und was ist mit Arabella Norton?“, wollte ich wissen. „Du glaubst vielleicht nicht, dass sie etwas mit deiner Verhaftung zu tun hat, aber für mich ist sie die offensichtliche Hauptverdächtige. Planst du, Gentleman Jack zuerst zu ihr zu schicken?“

Etwas, das einem Kichern ähnelte, entkam seinen Lippen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Arabella jemanden wie Jack Brady empfängt.“

„Dann gehe ich besser selbst hin.“

„Ich glaube, das wäre genauso verheerend – vielleicht sogar schlimmer“, sagte Daniel. „Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst, abgesehen von der Demütigung, aus White Plains geworfen zu werden.“

„Ich dachte, das wäre offensichtlich – ich will herausfinden, ob sie an deiner Verhaftung mitgewirkt hat.“

„Und du glaubst, dass sie es dir erzählt, wenn es so wäre?“

„Ich bin immerhin Ermittlerin“, sagte ich. „Ich habe Erfahrung darin, die richtigen Fragen zu stellen.“

„Du kannst nur dann die richtigen Fragen stellen, wenn Arabella sich überhaupt bereiterklärt, mit dir zu sprechen“, sagte Daniel. „Und das passiert frühstens am Sankt-Nimmerleins-Tag.“

„Sie wäre doch sicher besorgt, wenn sie erfährt, was dir zugestoßen ist. Wenn sie mit dieser Verschwörung nichts zu tun hat, würde sie doch nicht wollen, dass du in diesem Drecksloch versauerst.“

„Vielleicht glaubt sie, ich könnte die Lektion gebrauchen.“

„Vielleicht glaube ich das auch“, rief ich ihm in Erinnerung.

„Durchaus möglich“, stimmte er zu. „Aber ich denke wirklich nicht, dass du bei Arabella weiterkommst. Geh einfach zu Jack und erzähl ihm, was mir zugestoßen ist. Er ist der Einzige, der mir im Augenblick helfen kann.“

„Du hast mich kurzerhand herschleifen lassen, nur um mir zu sagen, dass ich jemanden suchen soll, der dir helfen kann?“, fragte ich. In gewisser Weise war ich erleichtert, von dieser Aufgabe entbunden zu sein, aber gleichzeitig traf mich sein mangelndes Vertrauen in meine Fähigkeiten. „Warum hast du stattdessen nicht ihn herbringen lassen, wenn nur er dir helfen kann?“

„Weil er zu bekannt ist“, sagte Daniel. „Wenn die Polizei ihn zu Gesicht bekommt, würde man ihn verhaften und aus der Stadt werfen. Deshalb wohnt er unter falschem Namen als John Sykes in der Pension.“

„John Sykes“, wiederholte ich. „Na gut. Ich werde wohl tun, was du von mir verlangst, da du von meinen Fähigkeiten als Ermittlerin offensichtlich nichts hältst.“

„Doch“, sagte er. „Ich bin von deinen Fähigkeiten sehr beeindruckt. Aber ich werde es nicht riskieren, dich in Gefahr zu bringen. Du wirst dich nicht in die Geschäfte der Unterwelt einmischen, und das ist ein Befehl.“

Ich starrte ihn stolz an. „Du scheinst mir kaum in der Lage zu sein, irgendjemanden herumzukommandieren. Aber keine Sorge. Ich erinnere mich noch gut an meine letzte Begegnung mit einer Gang. Ich habe nicht den Wunsch, das zu wiederholen.“

„Braves Mädchen“, sagte er. „Natürlich hält dich nichts davon ab, deinen Verstand zu benutzen, um dem alten Jack dabei zu helfen, alles zu durchschauen. Er ist nicht der Hellste.“

„Du gehst immer noch davon aus, dass ich dir helfen will“, sagte ich. „Du hast meine Ergebenheit nicht verdient.“

„Das ist mir klar“, sagte er. „Molly, ich war in der Vergangenheit nicht fair zu dir, aber dieses Mal habe ich versucht, mich dir gegenüber anständig zu verhalten. Ich habe meine Verlobung gelöst, oder nicht?“

Bis zu diesem Punkt hatten wir eine höfliche und reservierte Unterhaltung geführt. Plötzlich brach es aus Daniel heraus. Er griff nach mir und packte die Gitterstäbe, die uns voneinander trennten. „Um Gottes willen, verlass mich bitte nicht, Molly. Ich brauche dich. Hilf Jack dabei, mich hier rauszuholen, ehe es zu spät ist. Selbst wenn du mich nicht mehr als deinen Liebhaber haben willst, dann wenigstens als einen Freund.“

Ich schluckte schwer. „Na gut“, sagte ich. „Ich versuche es.“

Wie aufs Stichwort öffnete sich hinter mir die Tür. „Zehn Minuten und nicht mehr, habe ich gesagt“, dröhnte die Stimme des Wärters. Hände packten Daniel an den Schultern. Die Trennwand schloss sich.

„Warten Sie“, rief ich. Es gab noch so viele Dinge, die ich wissen musste. „Nur eine Minute. Lassen Sie mich mit ihm reden.“ Ich versuchte, mich loszureißen, als ich aus dem Raum geführt wurde. Die Trennwand glitt an ihren Platz und Daniel war fort.

Vier

Ich wurde von dem jungen Constable Byrne aus den Gräbern geführt und stand blinzelnd im grellen Sonnenlicht, während Ziegelstaub uns wie ein Schleier einhüllte.

„Er sagte, Sie seien noch immer sein Freund.“ Ich wandte mich zum Constable. „Wie viele Freunde hat er noch?“

„Schwer zu sagen, Miss“, sagte er. „Es gehen Gerüchte um. Niemand weiß, was man glauben kann. Es heißt, dass Captain Sullivan auf der Gehaltsliste einer Gang steht. Es heißt, er habe die Gang vor einer Razzia gewarnt und einer unserer Männer musste deshalb dran glauben. Bei den Jungs kommt es gar nicht gut an, aus den eigenen Reihen hintergangen zu werden.“

Ich starrte ihn entsetzt an. „Sie wissen ganz genau, dass Daniel so etwas nie tun würde. Er sagte mir, dass er kein einziges Mal eine Bestechung angenommen habe. Das alles war inszeniert, um ihn in Misskredit zu bringen, Constable Byrne.“

Byrne nickte. „Gut möglich.“

„Aber von wem? Haben Sie irgendeine Vermutung?“

Sein junges, kesses Gesicht lief rot an. „Ich bin nur ein Constable, Miss. Ich tue meine Arbeit, nehme Befehle entgegen und kümmere mich um meine Angelegenheiten. Captain Sullivan war gut zu mir, als ich zur Polizei kam. Hat mir in vielen Angelegenheiten den Kopf zurechtgerückt. Deshalb schulde ich ihm einen Vertrauensbonus. Ich würde ihm helfen, wenn ich es könnte, sehe aber keine Möglichkeit.“

Ich legte eine Hand auf seinen Arm. „Können Sie mir die Namen der höheren Beamten nennen, denen Daniel noch trauen kann – Männer, die ihm vielleicht helfen könnten?“

Er schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, ich weiß nicht, was bei den hohen Tieren los ist, Miss.“

Die Botschaft war klar und deutlich. In der Theorie wollte er Daniel helfen, würde dafür aber nicht seinen Hals riskieren. Ich konnte ihn verstehen. Polizist in New York zu sein war für einen Iren eine gute und sichere Stelle. Tammany Hall und die Polizei hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Da zahlte es sich nicht aus, jemandem auf die Füße zu treten. Und offenbar hatte Daniel genau das getan.

„Darf ich Sie um etwas bitten, Constable Byrne?“, fragte ich. „Könnten Sie wenigstens die Ohren aufsperren? Wenn Sie etwas hören, irgendetwas, das Daniel helfen könnte, kommen Sie damit zu mir. Daniel hat Ihnen meine Adresse gegeben, oder?“

„Ja, Miss“, sagte er. „Ich tue, was ich kann.“

„Dann mache ich mich auf den Weg, wenn ich nicht immer noch unter Arrest bin.“

Er grinste. „Nein, Miss, Sie dürfen gehen.“

„Danke.“ Ich erwiderte sein Lächeln. Er war womöglich der einzige Verbündete, den ich bei der Polizei hatte.

„Eine Sache noch, Miss Murphy“, rief er mir nach. „Was glaubt Captain Sullivan, wie Sie ihm helfen können? Haben Sie einflussreiche Freunde?“

Mein Lächeln verblasste. „Ich bin Ermittlerin, Constable“, sagte ich. „Er erwartet von mir, seine Unschuld zu beweisen.“

Ich wartete nicht auf seine Antwort und ging davon. Erst nachdem ich ziellos einige Blocks weit gelaufen war, traf mich die ganze Bedeutung dieser Worte. Seine Unschuld beweisen, während er selbst zugab, einen illegalen Boxkampf organisiert zu haben? Aber so ein Verbrechen würde sicher nur ein Bußgeld nach sich ziehen, oder? Ich lief immer schneller. Ich dachte an diese Gerüchte, die Constable Byrne erwähnt hatte – Daniel auf der Gehaltsliste einer Gang, Tipps an diese Gang, ein getöteter Beamter. Entweder war sich Daniel nicht bewusst, wie tief er in der Klemme steckte, oder er hatte mir das Schlimmste verschwiegen.

Ich hielt an, als ich eine belebte Kreuzung erreichte und begriff, dass ich die Center Street bis zur Canal Street hinaufgelaufen war. Ich wusste, was ich finden würde, wenn ich rechts abbog und Richtung East River ging. Die Walhalla Hall, hier in der Gegend als Walla Walla bekannt, ein recht harmlos aussehendes Gebäude, das von der Eastman Gang frequentiert wurde. Ich hielt inne, um zu Atem zu kommen, während ein von Pferden gezogener Wagen an mir vorbeifuhr, dann ein hoch mit Mehlsäcken beladener Karren. Ich würde mich auf keinen Fall noch einmal diesen widerwärtigen Gestalten stellen. Ich erinnerte mich noch an Monk Eastmans Melone, die auf skurrile Weise über seinem runden Mondgesicht saß, und die lächerliche Taube auf seiner Schulter. Insgesamt eine harmlos wirkende Gestalt, bis man die Schlagringe bemerkte, die er stets trug, und die mächtigen Schläger, die als seine Leibwächter im Hintergrund lauerten. Dann erinnerte ich mich an das Mitglied der Hudson Dusters, den ich verhaften ließ, ohne zu wissen, wer er war. Diese Zusammenstöße mit Gangs reichten für ein ganzes Leben. Ich hielt mich da nur zu gerne raus und würde Gentleman Jack die Geschäfte mit der Unterwelt überlassen.

Der Verkehr lichtete sich. Ich hob meine Röcke und eilte über die Straße. Daniels Zustand erschütterte mich noch immer. Ich konnte ihn nicht in dieser Zelle verrotten lassen. Ich würde alles für ihn tun, was in meiner Macht stand. Das Mindeste war, die Nachricht an Jack Brady weiterzuleiten, und dann würde ich vielleicht Arabella Norton einen Besuch abstatten, um meinem Verdacht nachzugehen, dass es sie oder ihre Familie gewesen war, die die Hunde auf Daniel gehetzt hatte.

Eine Begegnung mit Arabella war kaum erstrebenswerter als ein Besuch bei den Eastmans. Unsere kurzen Begegnungen in der Vergangenheit hatten bei mir keine Sympathien geweckt. Ich nahm nicht an, dass das bei ihr anders war. Ich konnte es ihr nicht vorwerfen. Sie dachte vermutlich, dass ich ihr den Liebhaber gestohlen hatte, wobei das überhaupt nicht zutraf. Daniel hatte mir bequemerweise verschwiegen, dass er verlobt war. Sobald ich das erfahren hatte, hatte ich sämtlichen Kontakt zu ihm abgebrochen. Nun, nicht sämtlichen Kontakt. Dieses eine Mal am Hudson ... Ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen und begab mich zur Bowery, entschlossen mein Huhn zu kaufen, Essen zu kochen und leidenschaftslos zu bleiben.

Vor der Tür von Grossman’s Kosher Butchers hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet, als ich dort eintraf. Die Sonne brannte in meinem Nacken, während ich anstand. Als ich ins Innere des Ladens vordrang, war die Hitze dort erdrückend. Die Schlange schien sich im Schneckentempo vorwärtszubewegen. Bei dem Geruch nach totem Fleisch, Sägemehl und Blut wurde mir übel. Ich schloss die Augen und schluckte die Galle herunter. Das passierte, wenn man nach einer schlaflosen Nacht auf leeren Magen Sids Kaffee trank, sagte ich mir und war froh, als ich endlich an der Reihe war.

Ich erledigte meine Einkäufe und zwängte mich zur Tür hinaus in die frische Luft. Leider war es ein weiterer extrem heißer Tag. Die Luft draußen war in etwa so warm und stickig wie in einer Jauchegrube. Ein Zugpferd hatte gerade einen großen Haufen Dung hinterlassen, dessen Gestank sich mit dem Geruch von gebratenen Kichererbsen von einem vorbeikommenden Handwagen vermischte. Straßenbahnglocken bimmelten, Kinder kreischten. Obwohl die Typhusepidemie in der Lower East Side nachgelassen hatte, war die Gefahr bei dieser Hitze noch immer vorhanden. Einige Passanten hielten sich nach wie vor Taschentücher vor Mund und Nase und eilten mit gesenkten Köpfen vorüber.

Ich begab mich auf schnellstem Weg zum Washington Square und hielt nicht an, ehe ich im Schatten eines Baumes stand und spürte, wie mir der Sprühnebel des Brunnens entgegenwehte. Normalerweise genoss ich den Lärm und das Gewimmel der Stadt, aber jetzt dachte ich sehnsüchtig an die wilde Küste der Grafschaft Mayo zurück, wo die Sommertage stets von einer frischen Atlantikbrise gemildert und nie zu heiß waren.

Ich fand Platz auf einer Bank im Schatten, blieb für eine Weile dort sitzen und beobachtete kleine Jungs, die in den Brunnen kletterten, bis sie von einem rotgesichtigen Polizisten davongejagt wurden. Ich holte mein Taschentuch heraus und wischte mir über die Stirn. Dieser Tag war bislang sehr verstörend gewesen, erst der Traum und die schlaflose Nacht, dann die Neuigkeiten über Daniel. Kein Wunder, dass ich mich nach einem friedlichen und sicheren Ort sehnte.

Nachdem ich mich ausreichend erholt hatte, brachte ich das Huhn nach Hause in den Speiseschrank und machte mich auf den Weg, Gentleman Jack Brady zu finden. Normalerweise legte ich in der Stadt auch größere Strecken zu Fuß zurück, da ich mich in der Heimat daran gewöhnt hatte, meilenweit zu laufen. Aber in der Hitze des heutigen Tages war ich genug zu Fuß gegangen. Ich bezahlte die fünf Cent, um mit der Straßenbahn auf der 6th Avenue bis zur 23rd zu fahren und saß dann geduldig auf einem Pferdewagen, der mich auf der 23rd bis zur 9th Avenue brachte. Es war eine schöne Gegend, ehrbarer Mittelstand, anders als Greenwich Village oder die Lower East Side, wo ich üblicherweise unterwegs war. Hausfrauen putzten draußen die Eingangsstufen und polierten die Messingtürklopfer. Kinder spielten auf dem Bürgersteig. Ich kam an einem kleinen Mädchen vorbei, das feierlich einen Puppenwagen vor sich herschob, und musste an Bridie denken. So sehr ich es auch genoss, im Augenblick keine Verantwortung zu tragen, ihr süßes, kleines Gesicht fehlte mir.

Es war nicht schwer, Ma Collins’ Pension zu finden, da über der Haustür ein in unregelmäßigen Lettern gemaltes Schild hing. Ich klopfte und wartete, bis die Tür von einer griesgrämigen Frau geöffnet wurde, die der Inbegriff einer Vermieterin zu sein schien: Das Haar streng aus dem Gesicht gebunden, strenger Blick, strenge Lippen und ein Gesichtsausdruck wie ein ständiges Naserümpfen.

„Ja?“, fragte sie. „Wenn Sie wegen einem meiner Pensionsgäste hier sind, ich gestatte den Herren keinen Damenbesuch.“

„Ich bin auf der Suche nach einem Ihrer Herren“, sagte ich, „aber nur, um ihm eine Nachricht von einem Freund zu überbringen. Ich versichere Ihnen, ich verfolge keinerlei Absichten bezüglich Ihrer Gäste.“

„Um wen geht es?“, fragte sie und versperrte mir nach wie vor mit der Hand am Türpfosten den Durchgang.

„Wie ich hörte, haben Sie hier einen Mr. John Sykes zu Gast“, sagte ich. „Ich würde mich gern unter vier Augen mit ihm unterhalten. Haben Sie eine Stube, in der wir reden können?“

„Er ist nicht hier“, sagte sie.

„Wann erwarten Sie ihn zurück?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Da bin ich auch nicht schlauer als Sie. Er ist weg. Hat sich aus dem Staub gemacht, wenn Sie mich fragen. Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde. Das Zimmer ist für eine Woche im Voraus bezahlt.“

„Er ist weg? Hat er seine Sachen mitgenommen?“

„Er hat erst gar nichts mitgebracht. Nur eine Reisetasche, und die ist weg.“

„Und er hat nicht gesagt, wohin er wollte?“