Mord auf Ellis Island - Rhys Bowen - E-Book
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Mord auf Ellis Island E-Book

Rhys Bowen

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Beschreibung

Ein unbeabsichtigter Mord, eine kuriose Flucht und eine unfreiwillige Ermittlerin – Molly Murphys erster Fall
Der neue historische Cosy Krimi für mörderisch gute Stunden

Seit ihrer Geburt wusste Molly Murphy, dass sie irgendwann in Schwierigkeiten kommen würde – genau wie ihre Mutter es vorausgesagt hatte. Nach einem Unfall, der mit einem Toten endet, muss sie ihr geliebtes Irland und ihre Identität hinter sich lassen und flüchtet an die anonymen Ufer Amerikas. Doch auch hier scheint das Glück nicht auf ihrer Seite zu stehen, denn als sie in New York ankommt und auf Ellis Island ein Mann umgebracht wird mit dem Molly Streit hatte, wird sie schnell zur Hauptverdächtigen.
Mit ihrem irischen Charme und Witz entkommt Molly Ellis Island und macht es sich zur verzweifelten Mission, ihren Namen reinzuwaschen. Doch ihre Vergangenheit ist ihr dicht auf den Fersen ...

Erste Leserstimmen
„die Spannung bleibt bis kurz vor Schluss erhalten“
„Molly Murphy überzeugt nicht nur mit ihrem Charme, sondern auch vor allem mit ihrer Cleverness“
„gekonnt nimmt der Fall seinen Lauf“
„eine unglaublich wilde Geschichte, die mich bis zum letzten Wort fesselte“
„humorvoller Krimi, den ich nur weiterempfehlen kann, einfach toll“

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Seitenzahl: 383

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Über dieses E-Book

Seit ihrer Geburt wusste Molly Murphy, dass sie irgendwann in Schwierigkeiten kommen würde – genau wie ihre Mutter es vorausgesagt hatte. Nach einem Unfall, der mit einem Toten endet, muss sie ihr geliebtes Irland und ihre Identität hinter sich lassen und flüchtet an die anonymen Ufer Amerikas. Doch auch hier scheint das Glück nicht auf ihrer Seite zu stehen, denn als sie in New York ankommt und auf Ellis Island ein Mann umgebracht wird mit dem Molly Streit hatte, wird sie schnell zur Hauptverdächtigen. Mit ihrem irischen Charme und Witz entkommt Molly Ellis Island und macht es sich zur verzweifelten Mission, ihren Namen reinzuwaschen. Doch ihre Vergangenheit ist ihr dicht auf den Fersen ...

Impressum

Deutsche Erstausgabe August 2019

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-801-8 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-217-0

Copyright © Oktober 2001 by Rhys Bowen. Alle Rechte vorbehalten. Titel des englischen Originals: Murphy's Law

Published by Arrangement with Janet Quin-Harkin. c/o JANE ROTROSEN AGENCY LLC, 318 East 51st Street, NEW YORK, NY 10022 USA.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzt von: Martin Spieß Covergestaltung: Rose & Chili Design unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © MH Anderson Photography, © Agnes Kantaruk depositphotos.com: © nuwatphoto, © Denniro, © kio777 Korrektorat: Lennart Janson

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mord auf Ellis Island

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Mord auf Ellis Island
Rhys Bowen
ISBN: 978-3-98637-217-0

Ein unbeabsichtigter Mord, eine kuriose Flucht und eine unfreiwillige Ermittlerin – Molly Murphys erster Fall Der neue historische Cosy Krimi für mörderisch gute Stunden

Das Hörbuch wird gesprochen von Henrike Tönnes.
Mehr Infos hier

Dieses Buch ist meinen Lieblings-New-Yorkerinnen Daphne Lincoff und Judy Gitenstein gewidmet. Daphne – danke, dass du in der großen Stadt ein sicherer Hafen bist, und Judy – danke, dass du vor Ort meine Augen und Ohren bist, und dafür, dass du mich zu Abenteuern mitschleppst. Wer sonst wurde schon mal versehentlich im Gramercy Park eingesperrt?

Mein Dank gilt auch meinen üblichen Kritikern John, Clare und Jane genauso wie Trish Intemann, die alles Irische im Buch überprüft hat.

DISCLAIMER: Obwohl einige reale, historische Figuren im Buch erscheinen, ist diese Geschichte pure Fiktion.

Eins

„Dein Mundwerk wird dich eines Tages in große Schwierigkeiten bringen.“

Meine Mutter fing an, das zu sagen, sobald ich sprechen konnte. Es stellte sich heraus, dass sie nicht ganz falsch lag. Als ich zehn Jahre alt war, hatte meine Weigerung, den Mund zu halten, uns beinahe aus unserem Cottage fliegen lassen. Und eine Woche bevor ich dreiundzwanzig wurde, war ich auf der Flucht, gesucht wegen Mordes.

Das rhythmische Schnauben der Lokomotive beruhigte meine Sinne wieder. Ich hatte keine klare Erinnerung daran, wie ich zum Bahnhof gekommen war. Aber der Schmerz in meinem Brustkorb, wenn ich zu atmen versuchte, und die Tatsache, dass mein Kleid an meinem Rücken klebte, sagten mir, dass ich jeden einzelnen Schritt der fünf Meilen gerannt sein musste. Über den Zustand der Vorderseite meines Kleides wollte ich gar nicht erst nachdenken. Ich zog mein Schultertuch enger um mich und betrachtete die anderen Menschen in meinem Abteil. Ein altes Bauernpaar mit vom Wetter geröteten Wangen döste bereits in der hinteren Ecke, dazu eine junge Mutter mit zwei lebhaften Kindern und in Erwartung eines weiteren sowie ein Priester. Er erwiderte meinen Blick und ich sah rasch weg, nur für den Fall, dass Priester Gedanken lesen könnten – oder Geständnisse abringen. Wäre er nicht überrascht, jetzt meines zu hören?

Jedes Mal, wenn der Schaffner durch den Zug ging und in mein Abteil blickte, war ich mir sicher, dass er nach mir suchte.

Andererseits war das albern, oder nicht? Justin Hartley lag tot auf meinem Küchenfußboden, aber es würde ihn noch niemand vermissen. Mein Vater und meine kleinen Brüder kämen erst zum Abend zurück und Justin hatte schwerlich jemandem im Herrenhaus erzählt, wohin er ging. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er, während er pikante Hammelnierchen frühstückte oder was auch immer die Oberschicht an diesem Morgen Ekelhaftes gegessen hatte, sagte: „Ich geh dann mal zum Cottage der Bauern, um mir Molly Murphy zu Willen zu machen.“

Also blieben mir noch ein paar Stunden, um zu entkommen. Dieser Zug würde mich bis nach Belfast bringen. Und ich hatte wahrscheinlich gerade so genug Geld für ein Schiff nach England. Was danach käme, konnte ich nicht sagen. Vielleicht wäre ich in der Lage, in einer großen Stadt wie Liverpool unterzutauchen. Vielleicht nicht. Höchstwahrscheinlich würde mich die Polizei bald einholen. Es dürfte nicht allzu schwerfallen, eine junge, irische Frau auf der Flucht zu bemerken, besonders eine mit flammend rotem Haar wie meinem. Da ich niemanden in England kannte, konnte ich mich nirgendwo verstecken. Also war es nur eine Frage der Zeit, aber ich würde fliehen, solange ich konnte. Ich war nie dafür bekannt gewesen, ohne einen ordentlichen Kampf aufzugeben.

Ich starrte aus dem Fenster des Waggons. Es war ein malerischer Tag, ein Himmel wie blaues Glas, strahlend klar, mit einem Hauch von Frost in der Luft – die Art Tag, die in unseren irischen Wintern nicht oft vorkommt. Die Art Tag, die mich durch meine häuslichen Pflichten hätte eilen, den Eintopf auf den Herd stellen und aufbrechen lassen, um oben auf den Klippen spazieren zu gehen, mit dem Wind im Rücken und dem Ozean zu meinen Füßen. Die Art Tag, an dem der Adel aus wäre, um mit den Hunden zu jagen. Ein Bild von Justin in seinem roten Mantel schoss mir durch den Kopf. Ich hatte ihn in seinem roten Mantel immer sehr attraktiv gefunden. Ich schätze, ich war ein bisschen in ihn verliebt gewesen, als ich jünger war. Gott weiß, ich hatte nie vor, ihn zu töten. Ich konnte beinahe spüren, wie sich der Blick des Priesters in meinen Hinterkopf bohrte, während ich aus dem Fenster sah.

Grüne Felder, auf denen wie hingetupft Pferde standen, rauschten vorbei. Sie schauten alarmiert auf, als sich das feuerspuckende Monster näherte, schwangen die Hufe und rannten davon. Wie schön sie aussahen. Wenn ich so schnell laufen könnte, wäre ich nicht so leicht zu fassen.

Wenn man mich fassen würde, bedeutete das die Schlinge um meinen Hals – darüber bestand kein Zweifel. Meine Hand legte sich mir instinktiv an den Hals und ich erschauderte. Spürte man etwas, wenn sie einen hängten? War alles im Nu vorbei? Würde es wehtun? Sie würden meiner Seite der Geschichte gewiss keine Beachtung schenken. Ich hatte den Sohn eines englischen Gutsbesitzers getötet. Das musste ein Vergehen sein, das mit dem Galgen bestraft wurde, selbst wenn ich nur versucht hatte, meine Ehre zu wahren. Andererseits besitzen Bauernmädchen keine Ehre, oder? Nach Justins Behauptung gehörte ich ihm, so wie seine Nutztiere. Mir fiel niemand ein, der für mich sprechen würde. Nicht mein Vater – er würde vor allem wütend sein, wenn er herausfand, dass ich mich an dem Notgroschen in der Teekanne auf dem Kaminsims bedient hatte. Es sollte ein Geheimnis sein. Wir Kinder wussten selbstverständlich alle davon, aber der Gedanke an Vaters Ledergürtel auf unseren Hinterteilen hatte uns davon abgehalten, uns daran zu bedienen. Jetzt schien ein Ledergürtel auf dem Hintern eine milde Strafe zu sein, im Vergleich zu dem, was mich vielleicht erwartete. Meine Hand verirrte sich wieder zu meinem Hals.

Nein, ich konnte nicht auf das Mitgefühl meines Vaters zählen. Er würde vermutlich sagen, dass ich Justin mit meiner lockeren Art verführt hätte. Meine lockere Art war nie darüber hinausgegangen, an einem Samstagabend tanzen zu gehen und mich vielleicht von einem Jungen nach Hause bringen zu lassen, aber das reichte meinem Vater schon. Zu seiner Zeit gaben Mädchen den Älteren keine Widerworte und gingen nie ohne Anstandsdame tanzen. Ich tat beides. Oft.

Wenn meine Mutter noch am Leben wäre, hätte auch sie gesagt, dass ich darum gebeten hätte – dass ich stets große Ideen gehabt hätte, die über meinen Stand hinausgehen, und ein Mundwerk, das mich in Schwierigkeiten bringen würde. Es ist eine Schande, dass sie nicht lange genug lebte, um zu sagen: „Ich hab’s dir ja gesagt.“ Das hätte ihr gefallen.

Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich ganz allein war. Unsere Verwandten waren entweder tot oder in andere Länder ausgewandert. Ich hatte keine echten Freunde mehr im Dorf von Ballykillin. Die anderen Mädchen, mit denen ich in meiner Kindheit gespielt hatte, waren schon lange mit groben Rüpeln verheiratet und hatten in ihren Köpfen nur noch Raum für Gedanken an Essen, Bier und Bett. Ich bestand auf etwas Besseres, obwohl ich mir nicht sicher war, wo ich es finden würde. Der Witz war, dass diese Mädchen mich bemitleideten – ich war die Junggesellin, zu alt, als dass mich jemand gewollt hätte, eine hoffnungslose alte Jungfer. Wir hatten uns selbstverständlich vor langer Zeit auseinandergelebt, als ich ausgewählt wurde, im Herrenhaus mit den beiden Töchtern des Gutsbesitzers unterrichtet zu werden. Nicht, dass ich Miss Vanessa und Miss Henrietta meine Freundinnen hätte nennen können. Sie schafften es stets, dass ich mich wie ein Eindringling fühlte – auf ihre wohlerzogene, vornehme Art, natürlich. Und jetzt waren sie in die englische Gesellschaft aufgebrochen und hatten lediglich ein höfliches Nicken für mich übriggehabt, als ihre Kutschen an mir vorüberfuhren.

Also hatte ich in der ganzen Welt niemanden, der auf meiner Seite stand. Es war ein beängstigender Gedanke, aber auch herausfordernd. Es bedeutete, dass ich niemandem irgendetwas schuldig war. Ich war frei von Ballykillin, frei von all dem Kochen und Putzen für unsere undankbaren Männer, frei zu sein, wer ich sein wollte ... wenn ich nur weit genug wegkäme, um neu anzufangen. Eine Sache war sicher – ich hatte nicht vor, jetzt schon zu sterben.

Es war später Nachmittag, als wir im Bahnhof von Belfast ankamen. Ich bedeckte meinen Kopf mit meinem Schultertuch und mischte mich unter all die Frauen, die aus den Stofffabriken kamen. Ich erlaubte mir, mit dem Strom fortgerissen zu werden, bis ich zu den Docks gelangte. Niemand hielt mich auf, als ich auf das Schiff ging, aber ich hielt den ganzen Weg bis nach England meinen Kopf bedeckt und mein Gesicht verborgen. Ich schlief die ganze Nacht nicht länger als einen Augenblick lang und als die Küste von England im kalten Morgenlicht auftauchte, war ich hohläugig und erschöpft.

Dann war ich dort, in einer fremden Stadt, einem fremden Land, mit vier Pence in der Tasche und ohne Vorstellung davon, was ich als Nächstes tun sollte. Als ich die Landungsbrücke hinunterkam, erblickte ich ein großes, herrliches Schiff mit zwei schönen Schornsteinen.

„Schau, da ist die Majestic. White Star Linie“, hörte ich eine Frau hinter mir sagen. „Du weißt schon – die, auf der O’Sheas Junge nach Amerika fährt.“

Amerika, dachte ich mit einem sehnsüchtigen Lächeln. Da würde ich hingehen, wenn ich mehr als vier Pence in der Tasche hätte. Irische Jungen flohen stets nach Amerika, wenn sie Schwierigkeiten mit den Engländern bekamen. Ich trat einen Moment aus dem Strom der Passagiere heraus und starrte zu dem schönen Schiff hinauf. Meine Güte, es war riesig. Dort auf den Docks zu stehen und hinaufzublicken war wie zu den größten Klippen aufzuschauen, die ich je gesehen hatte. Man könnte ganz Ballykillin hier hinein verfrachten und hätte immer noch genügend Platz für ein paar Kathedralen.

Der Strom der Menschen drängte sich um mich herum, schob mich vorwärts und weg von den Docks. Dann löste sich die Menge wie von Zauberhand auf und ich war allein, blickte auf eine breite Promenade, gesäumt von großen, eleganten Gebäuden, die ich bisher nur auf Bildern gesehen hatte. Eines von ihnen hatte an der Front sogar Säulen wie ein römischer Tempel. Vor den Gebäuden standen Kutschen und Hansom-Taxen, und Damen mit großen, wunderschönen Hüten und pelzbesetzten Umhängen schlenderten vorüber. Ich vergaß, dass ich mittellos und auf der Flucht war, stand da und genoss den Moment. Ich war endlich in einer wirklichen Stadt und sie sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Das Gebäude mit den Säulen trug ein Schild, auf dem Cunard Line stand. Auf einem anderen, noch größeren, aus roten und weißen Steinen stand White Star Line. Beide Balkone waren schwarz behangen. Ich brauchte einen Moment, bis mir einfiel, dass England noch immer den Tod der alten Königin betrauerte, die jetzt seit über einem Monat unter der Erde lag. Ja, die Flaggen wehten alle auf Halbmast. In Irland hatte ich nirgends solche öffentliche Trauer gesehen, tatsächlich hatte ich gehört, dass in Dublin auf den Straßen getanzt worden sei. Andererseits hatte Victoria nie sonderlich viel Liebe für die Iren gezeigt, oder? Nicht, dass wir hofften, der neue König Edward würde irgendwie besser für uns sein ...

Ich blickte zu diesen großen Gebäuden hinauf, während ich die Straße überquerte. Eine aufheulende Hupe erschreckte mich zu Tode, und etwas Tiefes, Glattes und Leistungsstarkes brauste an mir vorüber. Das war also ein Automobil. Ich stand voller Bewunderung da und beobachtete, wie es in einer Rauchwolke verschwand. Eines Tages würde ich auch so eines haben, entschied ich, bis ich mich daran erinnerte, dass ich kriminell und auf der Flucht war, und wahrscheinlich nicht mehr lange am Leben wäre, wenn ich meinen Verstand nicht benutzte. Wenigstens war ich jetzt in einer großen Stadt. Ich sollte in der Lage sein, mich unter die Tausenden Iren zu mischen, die hier bereits lebten. Ich würde mir Arbeit in einer Fabrik suchen, ein Zimmer finden und vielleicht würde ich zurechtkommen. Vielleicht.

Ich machte mich auf den Weg und ging die Seitengassen entlang. Ich war noch nie in einer Stadt gewesen – bis auf gestern in Belfast, natürlich. Aber Belfast war nicht einmal halb so groß wie diese Stadt und ich hatte zu viel Angst gehabt, dass man mich fassen würde, als dass ich irgendetwas mitbekommen hätte. Ich hatte mein ganzes Leben lang davon geträumt, in Dublin oder gar London zu leben, in einem schönen Haus mit eigener Kutsche und Dienern, einer Menge Dienern – ich hatte stets große Träume, nur gingen sie nie so in Erfüllung, wie ich es geplant hatte.

Ich stellte bald fest, dass Städte nicht so toll waren, wie die Leute behaupteten. Oh, sicher, es gab die großen Häuser am Wasser, aber ein paar Straßen weiter bot sich ein ganz anderes Bild. Viel Grau und dreckige Straßen, über denen Rauch hing wie ein Sargtuch. Es war nicht der süße, nach Kräutern duftende Torfrauch meiner Heimat. Er färbte die Luft braun und der verbrannte, bittere Gestank setzte sich in meinen Nasenlöchern fest.

Ich ging und ging. All diese Häuser standen so dicht beieinander – Reihen um Reihen in den Schatten der großen Häuser am Kai gezwängt. Müde, grau aussehende Frau standen mit Säuglingen auf den Hüften in den Türöffnungen. Kinder mit harten Gesichtern spielten in den Straßen. Eines von ihnen warf einen Stein nach mir und floh, als ich mich zu ihm umdrehte. Ich war plötzlich hungrig, aber ich hatte kein Geld für Essen. Zuerst eine Arbeit, dann esse ich, sagte ich mir.

Am Ende des Tages war ich wieder an den Docks, immer noch hungrig und ohne Arbeit. Ich hatte eine Menge Fabriken gefunden, aber überall hingen Schilder, auf denen stand Keine Arbeiter gesucht, oder schlimmer noch: Iren brauchen sich nicht zu bewerben.

Der graue Morgen war zu einem regnerischen Nachmittag geworden, nicht der sanfte, erfrischende Regen meiner Heimat in der Grafschaft Mayo, sondern ein rußbeladener Nieselregen, der mir dreckige Streifen ins Gesicht malte und meine weißen Bündchen befleckte. Der Wind blies erbittert vom Ozean herüber. Meine Füße taten weh. Mir war kalt, ich war müde und hungrig. Die Furcht, die ich bis jetzt in Schach halten konnte, sickerte allmählich durch. Sie würden jetzt gewiss nach mir suchen. Wenn ich keinen Ort fand, um mich zu verstecken, würden sie mich bald finden und dann wäre alles vorbei. Exotische Gerüche wehten von den hohen Gebäuden am Kai herüber, Gewürze und Düfte, die Gedanken an entfernte Häfen heraufbeschworen. Vielleicht hätte ich Glück und fände eine offene Tür und einen Platz zum Schlafen. Vielleicht auch etwas zu essen.

Ich ging eine schmale Gasse hinunter und versuchte eine Tür nach der anderen zu öffnen, bis ich zurückblickte und blaue Uniformen und Helme hinter mir sah. Zwei Polizisten folgten mir. Ich warf mir das Schultertuch über den Kopf und beschleunigte meine Schritte, aber sie kamen hinter mir her, ihre schweren Schritte hallten von den hohen Steinwänden wider. Die Gasse machte einen Knick. Sie folgten mir weiter. Dann sah ich, dass ich in der Falle saß. Es war eine Sackgasse – überall um mich herum ragten hohe Wände auf und der einzige Ausweg wurde von den beiden Polizisten blockiert. Eine Tür zu meiner Rechten stand einen Spaltbreit offen. Obwohl kein Licht herausschien, musste ich mein Glück versuchen. Ich stieß sie auf und trat hinein.

Zwei

Ich fand mich in einer schmalen Vorhalle wieder, in der es nach gekochtem Kohl und Abwasser roch. Es schien eine Art Fremdenheim zu sein, denn überall an den Wänden hingen Aushänge über die Hausregeln – Rauchen verboten, Trinken verboten, Besucher verboten, Tiere verboten, Kochen in den Zimmern verboten. Daneben hing ein biblischer Text: Liebe deinen Nächsten.

Während ich dort stand, meinen Atem anhielt und mich fragte, was ich als Nächstes tun sollte, öffnete sich die Vordertür und die beiden Polizisten starrten mich an.

„Einen Moment, Miss“, sagte einer der beiden. „Wir würden gerne kurz mit Ihnen sprechen.“

Ich entschied, dass ich mich rausreden würde. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mit Unverfrorenheit aus Schwierigkeiten herausgekommen wäre – selbstverständlich war ich durch Unverfrorenheit auch Dutzende Male in Schwierigkeiten geraten, aber mir blieb keine Zeit darüber nachzudenken.

Ich warf meinen Kopf zurück und stemmte mir die Hände in die Hüften. „Mir ist aufgefallen, dass Sie mir den ganzen Weg die Straße hinunter gefolgt sind. Haben Sie nichts Besseres zu tun, als anständigen, jungen Fabrikarbeiterinnen auf ihrem Heimweg zu folgen oder soll ich glauben, dass Sie meine Ehre beschützen?“

Sie starrten mich weiterhin mit kalten, argwöhnischen Blicken an. „Leben Sie hier, Miss?“

Ich war nie besonders gut darin, geradeheraus zu lügen. Ich schätze, die Prügel, die wir von meiner Mutter und meinem Vater erhielten, haben wirklich einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Nicht direkt, Sir. Ich besuche nur meine–“

„Uns wurde gesagt, nach einer Frau Ausschau zu halten, die aussieht wie–“

In diesem Moment öffnete sich die nächstgelegene Tür und das Gesicht einer Frau schaute heraus. „Bist du das endlich, Siobhan?“ fragte sie und blickte mich finster an. „Sofort herein mit dir, du faules Ding, und diesmal keine Ausreden.“

Sie packte meinen Ärmel und zog mich in ihre Richtung.

„Sie kennen diese junge Frau?“, fragte einer der Polizisten.

„Denken Sie, ich erkenne meine eigene Schwester nicht?“, fragte die Frau. „Ich habe sie vor über einer Stunde losgeschickt, damit sie Puder gegen meine Kopfschmerzen besorgt, und ich möchte wissen, wo sie die ganze Zeit war. Nimmst du keinen Anteil am armen Kopf deiner Schwester, du undankbare Kreatur?“

Entweder war sie verrückt oder ihre Augen waren schlecht, denn sie hielt mich offensichtlich für jemand anderen. Ich entschied nichts zu sagen und den Kopf hängen zu lassen.

„Wir fahren morgen früh nach Amerika“, sprach die Frau weiter. „Wie soll ich die ganze Zeit auf See ohne mein Kopfschmerzpulver ertragen?“ Sie wandte sich ab und hustete.

Der erste Polizist legte die Hand an den Helm. „Entschuldigen Sie, dass wir Sie belästigt haben, Missus. Und Sie auch, Miss. Viel Glück in Amerika.“

Sie gingen weg und ließen mich zurück, während ich die Frau anstarrte. Sie war jünger, als ich zuerst gedacht hatte, aber hohläugig und sehr dünn.

„Es tut mir leid“, sagte ich, „aber Sie haben einen Fehler gemacht. Ich bin nicht Ihre Schwester.“

Ein Lächeln stahl sich in ihr müdes Gesicht. „Denkst du, ich hätte nicht zwei guten Augen im Kopf?“, fragte sie. „Ich habe dich aus dem Fenster beobachtet, sah, wie diese zwei Kerle dir folgten, und entschied, dass da nichts Gutes bei herauskommen würde. Ich habe keine Liebe für die englische Polizei übrig. Ich weiß nicht, was du getan hast, aber du siehst mir nicht wie eine Kriminelle aus.“ Sie öffnete ihre Tür etwas weiter. „Komm, rein mit dir. Ich habe einen Kessel auf dem Kaminrost.“

Sie schloss die Tür hinter uns. Zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, saßen an einem armseligen Exemplar eines Feuers. Sie sahen mit großen, argwöhnischen Augen zu mir herauf.

„Hallo“, sagte ich. „Mein Name ist Molly. Wie heißt ihr?“

Die Frau legte jedem eine Hand auf den Kopf. „Das ist Seamus, nach seinem Vater benannt, und das kleine Menschlein hier ist meine Bridie.“ Seamus starrte mich an und brachte trotzig ein angedeutetes Lächeln zustande. Bridie verbarg das Gesicht unter der Decke. „Sie sind nicht mehr sie selbst, seit wir unsere Heimat verlassen haben und hierhergekommen sind“, sprach sie weiter. „Sie wissen nicht, wo ihnen der Kopf steht, die armen Winzlinge. Ich bin Kathleen O’Connor.“ Sie streckte eine Hand aus.

„Molly Murphy“, sagte ich. „Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, und ich bin dir auch sehr dankbar. Ich kenne in der gesamten Stadt niemanden.“

Sie goss kochendes Wasser in einen Teekessel. „Die Hauswirtin sagt uns, wir sollen in den Zimmern nicht kochen, aber das Essen, das sie zubereitet, ist weder für Mensch, noch Tier geeignet. Und setz dich hin. Du siehst aus, als würdest du jeden Moment ohnmächtig. Waren diese zwei Polizisten wirklich hinter dir her?“

Ich blickte zum Fenster und rechnete beinahe damit, sie noch in der Nähe herumschleichen zu sehen. „Ich fürchte, das waren sie.“ Ich holte tief Luft. „Schau, du solltest wissen, dass ich auf der Flucht bin. Es ist möglich, dass diese beiden Polizisten mir bereits auf der Spur waren. Also sollte ich nicht zu lange hierbleiben. Ich will dich da nicht mit hineinziehen ...“

„Denkst du, dass ich eine Irin der englischen Polizei übergebe?“, fragte sie. Ihr Akzent unterschied sich stark von meinem, mit all den harten arrr-Klängen des Nordens. „Was immer du getan hast, ich bin mir sicher, dass es nicht so schlimm gewesen sein kann.“

Ich blickte zu Kathleens Kindern. Sie schien zu verstehen, was ich beabsichtigte.

„Es ist bald Zeit für euer Abendessen, glaube ich“, sagte Kathleen zu ihnen. Sie fischte in dem Beutel herum, der an ihrer Taille hing. „Hier sind zwei Pence. Was hältst du davon, deine Schwester zum Fischladen an der Ecke mitzunehmen und uns für zwei Pence Pommes frites zu holen?“ Sie reichte dem Jungen das Geld und er nahm die Hand seiner Schwester. „Komm schon, Bridie“, sagte er. „Und dieses Mal läufst du besser schneller, denn ich werde nicht auf dich warten.“

Die Kleine sah ängstlich zu ihrer Mutter zurück. „Auf, auf“, sagte Kathleen und wickelte dem Kind einen Schal um den Hals. „Du brauchst etwas frische Luft, sonst kannst du heute Nacht nicht schlafen.“

Die Tür schloss sich hinter den Kindern und Kathleen wandte sich wieder zu mir.

„Ich habe einen Mann getötet“, sagte ich und beobachtete, wie sich das auf ihrem Gesicht abzeichnete. „Ich wollte es nicht.“

„Den Mann töten?“, fragte sie.

Ich starrte ins Feuer. Ich hatte die ganze Sache, seit sie passiert war, aus meinem Gedächtnis verbannt. Jetzt sah ich die Einzelheiten, als würde es vor meinen Augen geschehen – Justin, der in mein Cottage hineinplatzte, wie er mit einem überheblichen Lächeln dastand und mir sagte, dass es keinen Sinn habe, sich zu wehren, weil er mich genauso besaß wie die Tiere seines Hofs. Das erste Mal in meinem Leben hatten Worte als Verteidigung nicht ausgereicht. Was die örtlichen Jungs in Schach gehalten hatte, funktionierte bei Justin nicht. Er hatte lediglich gelacht und mich auf den Küchentisch geworfen. Dann hörte ich das Geräusch meines zerreißenden Kleids, als er ungeduldig wurde, und dann meinen mächtigen Tritt, der selbst mich überraschte, seinen erstaunten Gesichtsausdruck und das abscheuliche Geräusch seines Kopfs, der auf unserem Herd aufschlug ... und all das Blut.

„Er hat versucht mich ... sich zu Willen zu machen, weißt du.“ Ich konnte mich nicht dazu bringen, das Wort vergewaltigen auszusprechen. „Ich habe ihn weggestoßen. Er ist ausgerutscht und mit dem Kopf aufgeschlagen.“

„Na dann“, sagte sie, aber ich schüttelte den Kopf.

„Es wird für die Jury keinen Unterschied machen, oder? Er war der Sohn des Gutsbesitzers. Englische Oberschicht. Man kommt nicht damit davon, die Oberschicht umzubringen, nicht wahr?“ Ich starrte weiterhin ins Feuer. Die Hoffnungslosigkeit der Situation holte mich langsam ein. „Er hat mein Kleid zerrissen“, sagte ich und öffnete mein Schultertuch, um es ihr zu zeigen. Plötzlich war ich den Tränen sehr nahe, aber ich weine nicht vor Fremden.

„Dieses Tier“, sagte sie sanft, auf eine Weise, die mich den Tränen noch näherbrachte. „Er hat verdient, was er bekommen hat – und mehr. Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich nicht verraten. Diese Engländer sind Tiere. Warum sonst hätte mein Seamus nach Amerika fliehen und uns dazu verdammen müssen, uns zwei Jahre lang allein durchzuschlagen?“

Sie reichte mir einen abgeplatzten Emaille-Becher mit Tee. Ich trank einen großen Schluck und spürte, wie die Wärme in meinen Körper zurückkehrte.

„Zuerst mein Bruder und dann mein Ehemann“, fuhr sie fort. „Sie hängten unseren Liam, weißt du? War gerade neunzehn Jahre alt, und so ein hübscher Junge. Er und einige der Jungs haben versucht, den Grundstücksverwalter des Gutsbesitzers davon abzuhalten, einen Nachbarn zur Räumung zu zwingen. Der Verwalter wurde in dem Streit getötet. Es war mitten in der Nacht bei miserablem Wetter, und ich schätze, dass sie davongekommen wären, aber jemand hat sie verraten. Sie wurden alle gehängt.“ Sie wandte sich ab und hustete wieder.

„Wie schrecklich“, sagte ich. „Und dein Ehemann?“

„Er versuchte, in der Fabrik eine Gewerkschaft zu organisieren. Sie hielten einen Streik ab. Die Wache kam und es wurde hässlich. Mein Seamus musste um sein Leben fliehen.“ Sie unterbrach sich mit einem weiteren Hustenanfall. „Sie schafften es, ihn auf ein Schiff nach Amerika zu verfrachten, aber er kann nicht nach Hause zurückkehren. Auf seinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.“

„Aber du wirst dich ihm jetzt anschließen, oder? Das ist wundervoll.“

Ein seltsamer Ausdruck trat auf ihr Gesicht. „Ja. Wundervoll.“

In diesem Augenblick platzten die beiden Kleinen mit der Tüte Pommes frites herein.

„Seamus hat unterwegs ein paar gegessen“, rief Bridie, ehe sie sich daran erinnerte, dass da eine Fremde im Zimmer war. Dann ließ sie den Kopf hängen und schlich zu ihrer Mutter hinüber.

„Ohne Zweifel ist genug für alle da“, sagte ihre Mutter. „Und von gestern ist noch Fleischpastete übrig. Das wird ein Festmahl.“ Sie breitete die Zeitung auf dem kleinen, runden Tisch aus. „Bedien dich“, sagte sie zu mir.

„Nein, ich kann nicht.“

„Es ist genug da. Wir werden heute Nacht nicht hungrig ins Bett gehen, und morgen dinieren wir luxuriös auf dem Schiff.“

„Wird es auf dem Schiff viel zu essen geben?“, fragte Seamus zwischendurch, während er sich Pommes in den Mund stopfte. „Fleisch und Würste und alles?“

„Gewiss. So viel wie du essen kannst“, sagte seine Mutter.

Wir spülten das Essen mit einer Tasse Tee herunter, dann steckte Kathleen die Kleinen ins Bett. Sie und ich saßen da, bis die Glut zu erlöschen begann. Wir sprachen von der Heimat. Sie erzählte mir von ihrem Dorf in der Grafschaft Derry. Ich erzählte ihr von meinem Leben in Ballykillin, vom Schwimmen im Ozean mit meinen Brüdern und davon, wie ich die Landzunge entlanggelaufen war, mit dem Wind im Rücken, der mir das Gefühl gab zu fliegen. Es schien bereits jetzt wie ein Traum oder wie etwas, das ich in einem Buch gelesen hatte.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Kathleen und lehnte sich herüber, um etwas Leben in den Rest des Feuers zu schüren.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Ich hatte genug Geld, um bis hierher zu kommen, aber nicht weiter. Ich hatte gehofft, eine Arbeit in einer der Fabriken zu finden, aber es scheint nicht, als würde das gelingen.“

„Du hast keine Verwandten, niemanden, der dich aufnehmen würde?“

„Niemanden. Meine eigene Familie hat immer gesagt, dass es mit mir ein böses Ende nehmen würde. Es sieht so aus, als würde ich ihnen recht geben. Wenn ich nur das Geld hätte auftreiben können, vielleicht wäre ich mit euch auf diesem hübschen Schiff nach Amerika gefahren. Du musst dich freuen, deinen Ehemann nach so langer Zeit wiederzusehen.“

Sie starrte noch immer in den Rest des Feuers. „Aye“, sagte sie leise. Sie stand auf, ging zum Bett hinüber und nahm eines der Kissen. „Vor dem Feuer wird es warm genug sein“, sagte sie. „Du kannst dir mein Schultertuch leihen.“

„Macht es dir wirklich nichts aus, wenn ich heute Nacht auf deinem Boden schlafe?“, fragte ich. „Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“

„Du gehst nirgendwo hin“, sagte sie. „Und jetzt, da die Kleinen schlafen, bitte ich dich im Gegenzug um einen Gefallen.“ Sie setzte sich neben mich auf den Kaminvorleger.

„Mich?“ Ich wusste nicht, was als Nächstes kommen würde. Gewiss war ich in meinem gegenwärtigen Zustand der letzte Mensch auf der Welt, der irgendjemandem einen Gefallen tun könnte.

„Ich möchte, dass du die Kinder morgen für mich nach Amerika bringst“, sagte sie.

Ich hätte nicht überraschter sein können. „Was?“

„Wenn das Schiff morgen fährt, werde ich nicht mitfahren.“

„Wieso nicht?“

„Sie lassen mich nicht“, sagte sie ausdruckslos, wandte den Blick ab und starrte ins sterbende Feuer. „Wir mussten uns ärztlich untersuchen lassen, ehe wir fahren konnten. Der Arzt sagt, ich habe Schwindsucht – die zehrende Krankheit. TB nannte er sie. Er sagte, sie lassen einen mit TB nicht nach Amerika.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wir saßen nur da und starrten in die Glut.

„Also kann ich nicht dort hingehen, aber ihr Vater kann auch nicht herkommen, um sie zu holen“, sagte sie. „Ich will, dass sie die Chance auf ein gutes Leben haben. Es heißt, in Amerika gebe es Möglichkeiten. Dort sollten sie sein. Ich will, dass du an meiner statt gehst, Molly. Bring sie zu ihrem Daddy.“

„Aber was wird mit dir geschehen?“

Ich sah auf. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Man erholt sich normalerweise nicht von der Schwindsucht, nicht wahr? Aber wenn die Mutter Gottes ein Wunder wirken und ich mich erholen sollte, wäre ich auf dem nächsten Schiff, glaub mir. Bis dahin werde ich zu meiner Familie in die Grafschaft Derry zurückkehren. Ich bezweifle nicht, dass sie sich um mich kümmern werden.“

„Was hättest du gemacht, wenn ich nicht gekommen wäre?“, fragte ich.

„Mein Glück versucht. Ich wäre natürlich zurückgeschickt worden, aber ich hätte gehofft, sie davon überzeugen zu können, die Kleinen ihrem Daddy zu übergeben. Doch jetzt weiß ich, dass sie sicher dort hingelangen werden und bin beruhigt.“ Sie sah zum ersten Mal auf. „Ich glaube, die Mutter Gottes muss dich geschickt haben. Du wirst es tun, nicht wahr?“

Was konnte ich schon sagen? Am nächsten Morgen fuhr ich unter dem Namen einer anderen Frau nach Amerika.

Drei

Die ersten Strahlen einer roten Morgendämmerung zeigten sich gerade über den schwarzen Silhouetten der Fabrikschornsteine, als wir in stiller Prozession zu den Docks gingen.

Weder Kathleen, noch ich hatten viel geschlafen. Wir hatten bei der verlöschenden Glut des Feuers gesessen und auf eine Weise miteinander geredet, wie man nur mit Fremden reden kann, von denen man weiß, dass man sie nie wiedersehen wird. Als unsere Unterhaltung endete, legte sie sich neben die Kleinen und schlang erbittert einen Arm um sie. Ich konnte mir nicht ansatzweise vorstellen, was sie gerade durchmachte. Ich zog mein Schultertuch über mich und versuchte ebenfalls zu schlafen, aber mein Dösen war gestört von so schrecklichen Träumen, dass ich die Sicherheit des Wachseins vorzog.

Ich musste kurz vor Sonnenaufgang weggedämmert sein, denn ich erwachte und stellte fest, dass die Kleinen aufrecht saßen und Kathleen durch das Zimmer wuselte.

„Da ist noch ein Rest Pastete von gestern Abend, wenn du hungrig bist.“ Sie zeigte auf die unappetitlichen Reste auf dem Tisch. „Sie wird später in der Küche Haferbrei machen, aber es ist vielleicht besser, wenn sie nicht erfährt, dass du hier warst.“

Ich nickte und suchte in meinem Bündel von Habseligkeiten, die ich hastig zusammengeworfen hatte, nach meiner Haarbürste. Gott sei Dank hatte ich sie mitgenommen. Ich habe mich stets so um meine Erscheinung gesorgt, dass ich nicht gesehen werde wollte, während mein Haar aussah wie ein Rattennest. Meine Mutter nannte das die Sünde der Eitelkeit und ließ mich jede Woche zur Beichte gehen. Ich beichtete ausführlich, sagte drei Ave-Marias, blieb aber weiterhin eitel.

„Komm, Bridie“, sagte ich und zeigte ihr die Bürste. „Lass mich auch dein Haar hübsch machen.“ Das Kind gewöhnte sich besser daran, dass ich mich um sie kümmerte. Darüber hatte ich bisher nicht nachgedacht. Es hatte gestern Nacht zu viel gegeben, worüber ich nachdenken musste. Aber jetzt traf es mich – was, wenn die Kinder nicht mit mir gehen wollten? Ich kannte meinen eigenen jüngsten Bruder und wusste, wie argwöhnisch er Fremden gegenüber war. Würden diese zwei willens sein, ihre Mutter ohne Theater zu verlassen? Wenn sie eine Szene machten, würden wir ziemlich schnell erwischt werden.

Kathleen musste in die gleiche Richtung gedacht haben. Sie nahm das Kind und führte es zu mir herüber. „Lass die nette Molly dein Haar hübsch machen, Bridie. Sie hat ein Händchen für Haare.“

Das kleine Mädchen sah mich schüchtern an, dann ließ es mich mit meiner Bürste durch die strähnigen Locken fahren. Ich arbeitete behutsam und achtete darauf, dass es nicht ziepte. „Meine Güte, du hast aber hübsches Haar“, sagte ich ihr. „Sie werden in Amerika noch kein so schönes Mädchen wie dich gesehen haben.“

Sie kicherte und spürte, dass ich die Wahrheit etwas dehnte.

Ich blickte über ihren Kopf zu Kathleen herüber und beobachtete sie mit einem Blick hungriger Sehnsucht. „Hast du es ihnen bereits erzählt?“, fragte ich. „Wissen sie, was heute passiert?“

„Wir gehen auf ein Schiff“, sagte Seamus selbstbewusst. „Wir gehen zu meinem Daddy nach Amerika.“

Ich sah Kathleen weiter an. Sie blieb still.

„Du musst es ihnen sagen“, flüsterte ich, als ich mich unter dem Vorwand, mir etwas Pastete zu nehmen, näher zu ihr herüberlehnte. „Du kannst sie damit nicht in letzter Minute überfallen.“

„Wenn die Zeit reif ist“, murmelte sie. „Ich denke noch über die beste Möglichkeit nach, es ihnen zu sagen.“

Wir zogen uns an und packten die verbliebenen Reste ein, dann gingen wir in die Kälte des frühen Morgens hinaus. Das Kopfsteinpflaster war vereist und unsere Schritte polterten, das Geräusch hallte unnatürlich laut, während wir die Gassen entlanggingen. Unser Atem sah aus wie Drachenfeuer. Man hätte denken können, dass die Straßen so früh am Morgen leer sein müssten, aber es herrschte hektisches Treiben, als wir uns den Docks näherten. Arbeiter kamen aus all den kleinen Häusern und machten sich zur Frühschicht in die Fabriken auf. Frauen schrubbten bereits Vortreppen. Wir erreichten breitere, größere Straßen, schöne Kutschen und Hansom-Taxen passierten uns und steuerten vermutlich auf unser Schiff zu.

Dann war sie da, die Majestic. Rauch stieg aus beiden Schornsteinen auf und Menschen umschwärmten das Schiff wie Ameisen. Eine Welle der Begeisterung überflutete mich. Trotz all meiner Sorgen und Ängste war dies wahrhaftig das große Abenteuer, von dem ich all die langen Tage im Cottage in Ballykillin geträumt hatte.

Am Eingang zu den Docks stand ein Mann, der Papiere kontrollierte, ehe er die Leute durchließ. Kathleen zog uns in den Schatten und durchsuchte ihr Bündel. „Nun, was sagt man dazu?“ Sie brachte ein leichtes Lachen zustande. „Ich habe hier zwei Fahrkarten für Seamus und Bridie, aber meine eigene Fahrkarte habe ich in Stabane liegen gelassen. Ist das nicht das Dümmste, was ihr je gehört habt?“

„Ma, wie konntest du nur?“, fragte Seamus. „Bedeutet das, dass wir nicht fahren?“

„Ich wüsste nicht, warum ihr zwei nicht vorausfahren solltet“, sagte Kathleen. „Miss Molly hat ihre Fahrkarte. Ihr könnt mit ihr reisen. Sie wird gut auf euch aufpassen und euch sicher zu eurem Daddy bringen. Und ich husche nur schnell nach Hause und komme mit dem nächsten Schiff nach.“

Ich starrte sie an, sagte aber nichts.

„Aber wir wollen bei dir bleiben, Mama“, sagte Bridie. „Wir fahren mit dir auf dem nächsten Schiff.“

„Das werdet ihr gewiss nicht“, sagte Kathleen. „Nicht, wenn euer armer Daddy auf euch wartet. Wir werden nicht so lieblos sein und ihn länger warten lassen, oder? Und wer weiß – vielleicht ist auf dem nächsten Schiff kein Platz für uns drei. Und auf diesem hübschen Schiff wartet eine wunderschöne Kabine auf uns. Miss Molly wird gut für euch sorgen, nicht wahr?“

„Selbstverständlich werde ich das“, sagte ich und spielte mit, obwohl ich nicht sehr glücklich über ihre Verschlagenheit war.

Vielleicht hatte sie in ihrer Kindheit nicht so oft wie ich Prügel dafür bezogen, die Unwahrheit gesagt zu haben. „Wir werden eine großartige Zeit auf dem Schiff haben. Jede Menge gutes Essen und Spiele – und es dauert nur ein paar Tage, bis wir in New York sind.“

„Da ist nur eine Sache“, sagte Kathleen und winkte die Kinder nah zu sich heran. „Wir müssen ein kleines, geheimes Spiel spielen.“

Die Kinder sahen mit aufgeregten Gesichtern zu ihr herauf.

„Miss Mollys Kabine ist weit weg am anderen Ende des Schiffs“, sagte Kathleen. „Sie könnte nicht für euch sorgen, wenn sie so weit weg wäre. Also habe ich ihr vorgeschlagen, dass sie bei euch einzieht und meinen Platz einnimmt. Allerdings ist die Kabine auf den Namen Kathleen O’Connor gebucht, also würden sie Miss Molly nicht hereinlassen, nicht wahr?“

Die zwei Kleinen sahen jetzt verwirrt aus.

„Also, was denkt ihr, sollten wir tun?“, fragte Kathleen.

„Sie bitten, es zu ändern?“, fragt Seamus.

Kathleen schüttelte den Kopf. „Dafür ist es zu spät. Ich denke, wir sollten so tun als wäre Miss Molly ich. Das wäre ein hübsches Spiel, nicht wahr? Ein Geheimnis nur für euch drei. Kein Grund, es einer anderen Menschenseele zu erzählen – richtig?“

Die Kleinen kicherten und blickten zu mir herauf. Ich zwang mich auch zu einem Grinsen. „Unser kleines Geheimnis“, flüsterte ich und legte mir den Zeigefinger auf die Lippen.

„Es ist jetzt Zeit an Bord zu gehen“, sagte Kathleen. „Seamus, mein Liebling, bist du groß genug, das Bündel zu tragen?“

„Das kann ich.“ Er nahm ihr das Bündel ab. Es war halb so groß wie er, aber er stolperte mannhaft damit voran.

Kathleen reichte mir die Fahrkarten. „Wie sieht es bei dir mit Lesen und Schreiben aus?“, fragte sie.

„Das kann ich beides gut.“

„Sie stellen dir Fragen, wenn du nach Amerika kommst“, sagte Kathleen. „Alle Antworten stehen auf dem Zettel da – mein Mädchenname, das Dorf, aus dem ich komme und das Datum meiner Hochzeit. Sie könnten dich irgendetwas davon fragen, also sorg dafür, dass du es auswendig lernst, ehe ihr ankommt.“

„Mach dir keine Sorgen“, sagte ich. „Mach dir um nichts Sorgen. Alles wird gut.“

Bridie schien zum ersten Mal zu begreifen, was vor sich ging. Sie klammerte sich an die Beine ihrer Mutter. „Ich will nicht ohne dich gehen“, jammerte sie. „Ich will hier bei dir bleiben, Mama.“

„Still jetzt“, sagte Kathleen und streichelte den Kopf des Kindes. „Du kannst nicht bei mir bleiben, Kleine. Du musst mit Miss Molly gehen. Es wird nicht lange dauern. Ich werde bald bei euch sein, das verspreche ich.“

„Beeil dich und erwisch das nächste Schiff, Ma“, sagte Seamus. „Daddy wird wissen wollen, was mit dir passiert ist.“

„Ich komme so schnell ich kann.“ Ihre Stimme stockte und ich beobachtete, wie sie ihre Lippen für einen Moment aufeinanderpresste. „Die Tage werden vorüberfliegen, und ihr werdet so viel Spaß haben.“ Sie legte die Arme um ihre Kinder und vergrub das Gesicht in Bridies Schal. „Seid brav, Kinder“, sagte sie. „Erinnert euch daran, was ich euch gesagt habe. Erinnert euch daran, eure Gebete zu sprechen, und hört auf das, was Miss Molly sagt.“

Sie nickten und sahen sie ernst an, als ob sie spürten, was geschah.

„Jetzt geht. Geht los“, sagte sie. „Ich komme nicht weiter. Ich beobachte euch von hier aus.“

„Wir winken dir zu, wenn wir an Deck sind, Ma“, sagte Seamus. „Ich habe mein Taschentuch. Beobachte du, und wenn du etwas Weißes winken siehst, bin ich das.“

„Und ich winke mit meinem Taschentuch zurück.“ Kathleen versuchte zu lächeln. „Los jetzt. Ab mit euch, sonst verpasst ihr das Schiff!“

Sie gab Seamus und Bridie rasch einen Kuss, dann legte sie mir die Hände auf die Schultern. „Gott sei mit dir“, sagte sie. „Möge die Mutter Gottes über euch drei wachen.“

„Und über dich.“

Wir sahen uns einen Moment lang an, dann drehte sie sich um und rannte davon. Ich nahm Bridie bei der Hand. „Dann kommt. Gehen wir und suchen unsere Kabine.“

Auf dem Dock herrschte jetzt geschäftiges Treiben. Kutschen kamen an und spuckten Passagiere aus. Gepäck wurde auf ein Transportband gelegt, um es aufs Schiff zu verladen. Als wir das Ufer betraten, rannte eine Frau heran und packte meinen Arm. „Sie sehen aus wie ein gütiger Mensch. Mein Junge Sean. Ich habe seit drei Jahren nichts von ihm gehört. Wenn Sie ihm begegnen, bitten Sie ihn, seiner alten Mutter zu schreiben, die an gebrochenem Herzen stirbt, bis sie von ihm hört.“ Sie drückte mir ein Stück Papier in die Hand. Darauf stand in kindlicher Schrift Sean O’Neil, vormals aus Balymore, Grafschaft Antrim. Ich wollte ihr nicht sagen, dass meine Chancen ihren Sean zu treffen sehr gering waren. Ich nickte feierlich. „Ich werde tun, was ich kann.“

„Ich komme für jedes Schiff her“, sagte sie. „Ich bin mir sicher, dass ihn am Ende jemand für mich finden wird.“ Dann rannte sie weg und verschwand wieder in der Menge.

Es gab eine breite, mit Bannern der White Star Line behangene Gangway, die auf ein mit Flaggen verziertes Deck führte, auf dem eine Kapelle spielte. Ein Arm streckte sich aus und hielt mich auf.

„Wo denken Sie, gehen Sie hin?“, fragte ein Matrose.

„An Bord. Wir haben Fahrkarten.“

„Zwischendeckpassagiere gehen da unten an Bord.“ Er nickte in Richtung einer Gangway am anderen Ende des Schiffs. Sie führte nicht an eines der Decks, sondern direkt in die Eingeweide. Und da waren auch keine Banner. In einer langen Schlange gingen dürre, zerlumpte Menschen hinauf, sie balancierten Bündel und Koffer auf den Schultern, trugen Kinder auf den Armen. Hinter geschlossenen Toren erklang das Geräusch von Wehklagen. Eine Menge presste sich gegen diese Tore, streckte Arme aus, hielt Säuglinge hoch. Hin und wieder erhob sich eine Stimme über das gemeinschaftliche Geheul. „Gott geh mit dir, Eileen. Conor, mein Junge. Mein lieber Junge! Möge die Mutter Gottes uns im nächsten Leben zusammenbringen, wenn nicht in diesem.“ Eine Hand streckte sich aus und versuchte mich zu packen. „Wenn Sie meinen Mann treffen, Mick O’Shae, sagen Sie ihm, dass seine Mary wissen will, ob es ihm gutgeht. Mick O’Shae – haben Sie das?“

Bridie packte meine Hand fester. Während ich sie zur Schlange vor der Gangway lenkte, fielen mir zwei Polizisten auf, die im Schatten standen und die Menge beobachteten. Ich hatte beinahe vergessen, dass dies kein Abenteuer war – es war eine verzweifelte Flucht. Noch ein paar Yards und ich wäre sicher auf diesem Schiff. Ich hob Bridie in meine Arme, sodass ihr kleiner Körper mein Gesicht vor der Polizei verbarg.

Ein Mann am unteren Ende der Gangway hakte Namen auf einer Liste ab. „Kathleen O’Connor, Sohn Seamus und Tochter Bridie“, sagte ich laut. „Hier sind die Fahrkarten.“

Er hakte mich ab und wir gingen über die Gangway ins Schiff.

Innen war es dunkel und die Schlange der Menschen riss uns mit in eine Art Auffangraum. Es roch unangenehm – derselbe Geruch nach gekochtem Kohl und Urin wie im Fremdenheim, aber mit etwas Zusätzlichem, das ich nicht ganz identifizieren konnte.

„Name?“ Eine uniformierte Gestalt bellte mich an, als wir zu einem Schreibtisch kamen.

„O’Connor. Kathleen, Seamus, Bridie.“

„Also nur Sie und die zwei Kinder?“

„Das ist richtig.“

„Und Ihr Ehemann? Wo ist er?“

Ich war versucht, ihm zu sagen, dass ihn das nichts anginge. Schließlich hatten wir für die Fahrkarten bezahlt, oder? „Er ist in New York und wartet auf uns.“

„Hoffentlich tut er das“, sagte der Mann. „Wenn er nicht kommt, um Sie von Ellis Island abzuholen, schickt man Sie direkt wieder nach Hause. Sie wollen dort keine Frauen und Kinder, die dem Staat zur Last fallen.“

„Er wird da sein“, sagte ich. „Er hat uns die Fahrkarten geschickt. Wenn Sie uns jetzt bitte den Weg in unsere Kabine zeigen würden, sodass wir unsere Habseligkeiten abstellen und an Deck gehen können, um zum Abschied zu winken.“

Der Mann drehte sich zu einem anderem um, der im Schatten hinter ihm stand. „Hör dir die an“, kicherte er. „Was glauben Sie, wer Sie sind – Gräfin Koks? Die Frauenquartiere sind da runter. Suchen Sie sich eine Koje. Sie können jede nehmen, die nicht belegt ist. Und was das An-Deck-Gehen betrifft – Zwischendeck heißt Zwischendeck. Der Nächste.“

Ich war entlassen. Die Menge hinter mir schob uns vorwärts. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Kinder den schwach beleuchteten Korridor hinunterzuführen. Bridie bekam langsam Angst. „Ich will zu Mama zurück“, jammerte sie.

„Erinnerst du dich an unser kleines Geheimnis?“, flüsterte ich. „Du musst mich Mama nennen, bis wir in New York sind.“

„Ich will meine richtige Mama.“

Ich sah mich um und hoffte, dass niemand zuhörte. Der Korridor war von Kabinen gesäumt, halb verschlossen mit lamellierten Holztüren. In jeder Kabine konnte ich undeutlich sechs Kojen erkennen – drei auf jeder Seite. Die meisten von ihnen schienen von schemenhaften Gestalten belegt zu sein.

„Ist da drin noch Platz?“, fragte ich mehrere Male.

Schließlich antwortete jemand unfreundlich. „Obere Koje, sie gehört Ihnen.“

„Wo schlafen wir dann?“, fragte Seamus.

Eine hohläugige Frau steckte ihren Kopf aus dem unteren Bett heraus. „Die Kinder müssen sich die Betten mit uns teilen, es sei denn, der Junge ist älter als zwölf.“

„Ich bin acht“, sagte Seamus.

„Nun, dann gehört er hier herein“, sagte die Frau. „Schicken Sie ihn die Leiter rauf, dann kann er Ihre Habseligkeiten hochheben.“

„Also rauf mit dir, Seamus“, sagte ich. „Bleib da oben mit unseren Sachen und ich schaue, ob ich noch irgendwo etwas Besseres finde.“