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Samy freut sich, dass das von ihr gegründete Feng Shui House sich großer Beliebtheit erfreut. Es wird nicht nur für schöne Events gebucht, sondern dient auch dem ein oder anderen Verein als Rückzugsort für regelmäßige Treffen. Allerdings ist die Windsor Ladies Society bei ihren Besuchen kaum zufriedenzustellen. Die Vorsitzende scheint Vergnügen daran zu haben, ihren Mitmenschen das Leben schwer zu machen, und daher hält sich Samy's Trauer in Grenzen, als sie erfährt, dass die Dame bei einer Feier der Society, die auf einem der Thamse Ausflugsschiffe stattfand, über Bord gegangen ist. Im Gegensatz zu Samy ahnt Cornelius unmittelbar, dass es sich dabei nicht um einen tragischen Unfall handelte.
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Seitenzahl: 316
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Kapitel 1
Unerfüllte Erwartungen
Kapitel 2
gute Freunde
Kapitel 3
Ein Auftrag
Kapitel 4
Ein Bootsausflug
5. Kapitel
High Tea bei Sir Charles
6. Kapitel
Lagebesprechung
7. Kapitel
Ein schöner Morgen
Kapitel 8
ein Name verpflichtet
Kapitel 9
Wow
10. Kapitel
Klatsch und Tratsch
11. Kapitel
die Windsor Ladies Society
12. Kapitel
Tante Violet
13. Kapitel
Amuse Bouche
14. Kapitel
Ein Nachbarschaftsstreit
15. Kapitel
Ein Theaterstück
16. Kapitel
College-Leben
17. Kapitel
Das zweite Gesicht
18. Kapitel
Durchatmen
19. Kapitel
Alte Zöpfe
20. Kapitel
Familienangelegenheiten
21. Kapitel
Dankbarkeit
Kapitel 22
Lauschen hilft
Kapitel 23
Resumèe
Kapitel 24
eine verlorene Liebe
Kapitel 25
Showdown
EP I L OG
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Samy saß in einem der tiefen Ohrensessel, die strategisch so ausgerichtet waren, dass man den Salon zwar im Rücken, durch einen nahen Wandspiegel jedoch komplett im Blick hatte.
So konnte sie ins üppige Grün des weitläufigen Gartens schauen und gleichzeitig mit Cor via Zoom den aktuellen Klatsch austauschen, ohne Gefahr zu laufen, dabei ungewollt belauscht zu werden. Der Sessel war so platziert, dass sich ihr niemand nähern konnte, ohne dass sie es bemerkte. Ein paar der Gäste hatten sie darauf hingewiesen, dass es schön wäre, den ein oder anderen Platz zu schaffen, wo man sich im Herzen des Feng Shui House dennoch ungestört zurückziehen konnte. Diesem Wunsch war sie nachgekommen und nutzte die Möglichkeit inzwischen selbst. Gerade ihr Austausch mit Cor war nicht für andere Ohren gedacht. Sicherlich hätte es den ein oder anderen verstimmt, zu hören, wie sie über die Mitglieder der Windsor Ladys Society klagte.
„Diese Frauen treiben mich in den Wahnsinn“, jammerte sie, nachdem sie ihrem Freund von den unglaublichen Ansprüchen des Vereins erzählt hatte. Obwohl sie leise sprach, war die Empörung in ihrer Stimme deutlich zu hören.
„Vor ein paar Wochen sollten wir auf unsere Kosten den Tee ein zweites Mal servieren, da eine der Damen sich verspätete und man ihr nicht zumuten konnte, sich einfach dazuzusetzen. Schon vorab waren wir gebeten worden, vor dem Treffen fünfzehn Minuten zu lüften, damit es nicht nach irgendeinem Firlefanz – ich zitiere die Vorsitzende – riecht. Sie forderte allen Ernstes, dass ich persönlich das Lüften überprüfe, da man sich auf Personal nicht verlassen könne. Nun hat sie mich heute Morgen angerufen und verlangt, für das nächsten Treffen sämtliche Stühle mit einem weiteren Kissen auszustatten, da die eine oder andere Dame es angenehm empfände, sich dieses in den Rücken zu legen.“
Cor lachte ihr vom Bildschirm aus entgegen, griff demonstrativ nach einem dicken Kissen und schob es hinter sich in den Bürosessel.
„Die Damen wissen, was gut ist. Ein klein wenig Komfort kann nicht schaden“, belehrte er sie, machte dann jedoch eine wegwerfende Handbewegung und fügte hinzu: „Was für ein Trara. Dann sollen sie doch Reisedecken und eigene Kissen mitbringen, oder noch besser gleich zu Hause tagen.“
„Ich sage es Dir“, bestätigte Samy.
„Wenn das so weitergeht, fordern sie als Nächstes noch räumliche Umbauten. Dabei hatte ich mich unglaublich gefreut, als sie ihre Treffen hierher verlegt haben, denn schließlich hat der Boule Club uns mit seiner Anwesenheit ziemlichen Aufwind beschert. Auf den ersten Blick würde man es zwar kaum glauben, aber diese Leute interessieren sich wirklich für das, was wir hier anbieten und einige von ihnen machen regelrecht Werbung für uns.“
„Formidable! Genau das, was Du als Jungunternehmerin brauchst. Und ich kann wirklich immer nur davor warnen, die Menschen nach ihrem Aussehen zu beurteilen und in Schubladen zu stecken. Wenn ich das täte, käme ich aus dem Urteilen nicht mehr heraus. Ich erinnere mich an Deine anfängliche Schilderung der konservativen Damen und Herren der Boule-Gesellschaft in ihren abgewetzten Tweed Ensembles …“
Samy wusste, wie unvoreingenommen er Menschen gegenübertrat, dieser Charakterzug war ihr schon in ihren ersten gemeinsamen Tagen auf dem Gymnasium aufgefallen. Sie schätzte seine Fairness und wusste, dass man sie auf den ersten Blick nicht von ihm erwartete. Er war laut und schrill, ein Lebemann, wie er im Buche stand. Wie ein anspruchsvoller Paradiesvogel marschierte er durch das Leben und hüllte seinen großen Körper dabei ausnahmslos in extravagante Designerkleidung. Dieser Aufzug war meist gewöhnungsbedürftig, aber Cor wirkte immer authentisch.
Ihm folgten stets alle Blicke, und dessen war er sich von klein auf bewusst gewesen. Doch genau das hatte ihn wohl zum tolerantesten Menschen gemacht, dem Samy je begegnet war. Arzt war er nur geworden, weil er einer traditionsbewussten Familie entstammte, in der alle Männer diesen Beruf ausübten. Doch er behandelte nicht, sondern erstellte ausschließlich medizinische Gutachten. Seine Patienten profitierten ausnahmslos davon, dass er jedem einzelnen in der Ausgangsposition wohlgesonnen war.
Als Samy nun in sein pausbäckiges Gesicht auf dem Bildschirm schaute, fühlte sie sich wieder einmal an einen Rauschgoldengel erinnert, lediglich das satte Braun seiner üppigen Locken wich von dem klassischen Engelsbild ab.
Wie so oft nutzten sie die Mittagszeit, in der Cor stets eine Lunchpause einlegte, für Videocalls, in denen sie sich gegenseitig auf dem Laufenden hielten. Cor ließ sich täglich von seiner Haushälterin eine frische Mahlzeit in seine Praxis bringen und aß stilvoll, wenn auch an seinem Schreibtisch. Sein Arbeitsoutfit war stets tadellos weiß und er legte in allen Lebenslagen Wert darauf, standesgemäß gekleidet zu sein.
Der lange Kittel war so förmlich geschnitten, dass ihn jeder Arzt zu Beginn des letzten Jahrhunderts an der Londoner Harley Street als angemessen empfunden hätte. Zweireihig und makellos, keine Flecken, keine Falten, glänzende Knöpfe und natürlich eine Maßanfertigung.
Samy kannte ihn nicht anders, doch sie war beinahe sicher, dass Fremde, die ihn in diesem Aufzug zum ersten Mal sahen, durchaus dachten, er käme aus dem Theaterfundus.
Da er gerade ein Mittagsmahl zu sich genommen hatte, waren die glänzenden Knöpfe geöffnet und legten den Blick auf ein gestärktes Oberhemd frei. In dessen leicht geöffnetem Kragen hatte zu Beginn ihres Calls noch eine große weiße Stoffserviette gesteckt – Cor fuhr immer das volle Programm.
„Wie dem auch sei“, führte er weiter aus, „den meisten Menschen ist nicht bewusst, wie viele Chancen sie sich und anderen nehmen, wenn sie vorschnell urteilen.“
Diesem toleranten Eindruck verpasste er jedoch gleich wieder einen Dämpfer, als er alles andere als schmeichelhaft fragte: „Was hat es denn mit diesen Boule-Fritzen auf sich?“
Während er seine Serviette akribisch zusammenfaltete, um dann noch einmal seinen kleinen Schmollmund damit abzutupfen, erläuterte er sein despektierliches Bild.
„Ich stelle mir gealterte Herren vor, die sehr sonor in Tweed Jacketts mit Ellbogenflicken gekleidet sind, und diese selbstverständlich vor jedem Wurf ausziehen und akkurat gefaltet über eine Bank legen. Täusche ich mich?“
„Deine Fantasie geht mit Dir durch“, lachte Samy, die von seiner Vorstellungskraft überwältigt war. „Aber ganz falsch liegst du nicht. Die Herren sind in der Tat so gekleidet, aber ob sie die Jacken beim Sport ausziehen, weiß ich nicht. Ich sehe sie ja nicht auf dem Platz, sondern nur hier. Erstaunlich ist jedoch, dass der Anteil an älteren Damen in ihren Reihen mindestens genauso groß ist.“
„Interessant!“, erwiderte Cor und fügte dann hinzu, „die Frauen sind überall auf dem Vormarsch und das ist auch gut so. Allerdings liegt es bei den Kugelschiebern vielleicht auch nur daran, dass sie uns Männer überleben …“
Samy hätte gern etwas Bissiges auf seine lapidare Äußerung geantwortet, doch stattdessen senkte sie die Stimme erneut, weil einige Frauen, die hier einen Yogakurs besucht hatten, den Salon betraten. Auch wenn sie in ihrem Sessel geschützt saß, wollte sie nichts riskieren.
„Ich muss jetzt Schluss machen, hier wird es gleich voll. Bleibt es bei kommendem Freitag?“
Nachdem sie die Details für Cors anstehenden Besuch geklärt hatten, beendete sie den Videoanruf. Als sie sah, dass die Vorsitzende der Windsor Ladies Society mit wehendem Mantel vom Parkplatz auf sie zugestürmt kam, seufzte sie.
Gerade noch an Dich gedacht, gestand sie sich selbst resigniert ein und hegte keinen Zweifel daran, dass die Dame erneut mit einem irrwitzigen Anliegen zu ihr unterwegs war.
***
Eugenie Ashby-Jones war eine hagere Frau mit strengem Gesichtsausdruck. Samy fühlte sich von ihr auf unangenehme Art an ihre Mutter Klaudia erinnert, die mit eiserner Hand ein Gymnasium leitete. Genau wie sie strahlte Eugenie eine Autorität aus, die die meisten Menschen innerlich strammstehen ließ. Ihr Auftreten war rigoros und ihre Aufforderungen duldeten keinen Widerspruch.
Doch Samy war nicht nur von den an unverschämten Erwartungen der Dame genervt, sondern hatte sich vor geraumer Zeit geschworen, sich nie wieder von jemandem einschüchtern zu lassen. Viel zu lange hatte sie sich dem diktatorischen Regime ihrer Mutter unterworfen und später als Wissenschaftlerin an der Universität stets regelkonform gehandelt. Sie war immer allen Regeln und Anweisungen gefolgt. Doch all das hatte sie hinter sich gelassen und somit hatte Eugenie Ashby-Jones, nun da Samys Maß voll war, schlechte Karten. Auf den Gegenwind, der ihr an diesem Tag entgegenschlagen würde, war die Dame definitiv nicht gewappnet.
„Samantha!“, polterte sie bereits von Weitem und feuerte anschließend in ihrer üblichen Art weiter. „Es ist vollkommen inakzeptabel, dass bei unseren Treffen Fremde im Vorraum des Salons vorbeispazieren. Immerhin werden in unseren Reihen Themen besprochen, die ein hohes Maß an Diskretion erfordern. Wenn Sie also bitte zukünftig dafür sorgen würden, dass …“
Weiter kam sie nicht, denn Samy schnitt ihr das Wort ab, sie war inzwischen aus ihrem Sessel aufgestanden und dankbar, dass sie sich an diesem Tag für einen pastellfarbenen Hosenanzug entschieden hatte. Das maskuline Outfit verlieh ihr lächerlicherweise eine innere Stärke, auf die sie in diesem Moment gern zurückgriff. Sie richtete sich zu voller Größe auf und unterbrach Eugenie in ihrem vorwurfsvollen Redefluss.
„Eugenie, wir freuen uns sehr, dass Sie uns mit der Windsor Ladies Society Ihr Vertrauen schenken, doch leider ist es uns nicht möglich, all Ihre Erwartungen zu erfüllen. Daher sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, ob Sie bei uns wirklich richtig aufgehoben sind.“
Umgehend bemerkte sie, dass sie einen Nerv getroffen hatte, denn im Gesicht ihres Gegenübers zeichnete sich nicht nur Überraschung über den unerwarteten Gegenwind ab, sondern auch Entsetzen. Diese Reaktion überraschte Samy so sehr, dass sie einmal tief durchatmete und dann in versöhnlicherem, aber dennoch entschiedenen Ton hinzufügte: „Wir heißen Sie und die Damen sehr gern hier willkommen und schätzen Ihr Engagement und den Esprit, den Sie alle verströmen. Leider gibt es jedoch Grenzen des Machbaren. Das Feng Shui House ist als Open House konzipiert. Natürlich können wir die Türen der einzelnen Salons und Bereiche schließen. Allerdings ist unser Grundgedanke, zu verbinden und die Gemeinschaft zu fördern, nicht zu trennen. Daher und auch aus räumlichen Gründen können und wollen wir nichts wirklich absperren. Dieser Forderung werden wir nicht entsprechen und Sie müssen sich überlegen, ob Sie vielleicht in einem der Restaurants im Ort besser aufgehoben wären.“
Es war unübersehbar – Eugenie war wie vom Donner gerührt. Ganz offensichtlich war sie es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach, und es stand ihr ins Gesicht geschrieben, dass ein Wechsel in eine andere Lokalität nicht infrage kam.
Samy hatte gehört, dass es beinahe in allen Etablissements, in denen die Windsor Ladies Society in den letzten Jahren getagt hatten, Probleme gegeben hatte. Eugenies bestürzter Ausdruck ließ erahnen, wie schwer es ihr fallen würde, eine Alternative zu finden, und so war es wohl kaum verwunderlich, dass sie unmittelbar begann, zu deeskalieren.
„Meine liebe Samantha, ein Wechsel kommt natürlich nicht infrage. Wir fühlen uns bei Ihnen äußert wohl. Es ist nur so …“ An dieser Stelle hielt sie kurz inne und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Ihr schien klar geworden zu sein, dass sie mit ihrem üblichen Befehlston hier nicht weiterkam.
„Die ein oder andere Kleinigkeit ist etwas unglücklich und ich frage mich, ob es Ihnen möglich wäre, uns da ein wenig entgegenzukommen.“
Samy verbuchte dieses Zurückrudern als klaren Erfolg und entspannte sich. Nach einer kurzen Diskussion, bei der Eugenie auf nahezu alle Forderungen verzichtete und sie selbst ein kleines Entgegenkommen anbot, war das Gespräch beendet. Die Vorsitzende der WLS zog erleichtert, dass sie einem Rauswurf entkommen war, von dannen.
Zufrieden ließ Samy sich wieder in den Sessel fallen und dachte darüber nach, dass derartige Gespräche das Allerletzte waren, was sie bei der Planung des Feng Shui House im Sinn gehabt hatte.
Sie hatte ihr Vorhaben von Anfang an als eine Begegnungsstätte für die asiatische Harmonielehre gesehen und war nicht willens, sich von den Befindlichkeiten unzufriedener oder narzisstischer Mitmenschen in eine andere Richtung lenken zu lassen.
Nach einem nicht allzu langen, aber intensiven Berufsleben in der Wissenschaft und der anschließenden finanziellen Freiheit durch den Verkauf ihrer App hatte sie eine Weile gebraucht, um herauszufinden, was sie wirklich vom Leben erwartete. Weder die Mathematik noch die Informatik, in der sie einen Doktortitel erworben hatte, fesselten sie nachhaltig. Mit viel Reflektion hatte sie sich sogar eingestehen müssen, dass sie beides nur studiert hatte, um ihrer Mutter zu imponieren. Zwar hatte sich herausgestellt, dass sie über ein ganz besonderes Zahlenverständnis verfügte, das ihr letztlich ermöglicht hatte, ein Programm zu schreiben und dies für eine horrende Summe zu verkaufen, doch glücklich hatte sie all das nicht gemacht. Auch wenn sie sich mit Anfang dreißig bereits keine Gedanken mehr über eine stetige Einnahmequelle machen musste, war ihr doch schnell klar geworden, dass sie eine sinnvolle Beschäftigung brauchte.
Sie hatte ihre Arbeit im Universitätszirkus aufgegeben und war nach Windsor gezogen, wo sie von ihrem Vater eine wunderbare Wohnung geerbt hatte. Dabei hatte sie vor ihrem Umzug weder ihn noch die kleine Stadt jemals kennengelernt, denn sie selbst war das Resultat einer kurzen Studenten-Liaison zwischen ihrer Mutter und Roderick Lovejoy. Erst in Windsor hatte sie erfahren, dass sie auf väterlicher Seite eine liebende Familie hatte.
Der anfängliche Müßiggang hatte schnell seinen Reiz verloren und es hatte gedauert, bis sie den Weg für ihre Zukunft gefunden hatte. Erst als sie sich mit Feng Shui beschäftigte, war ihr die Idee gekommen, in einer wunderbaren Familienimmobilie der Lovejoys ein Begegnungszentrum zu schaffen, in dem Menschen sich aus dem hektischen Alltag zurückziehen und sich in harmonisch gestalteten Räumen mit sich selbst und ihrem Umfeld beschäftigen konnten. Die alte chinesische Weisheit war so weit von der analytischen Mathematik entfernt, dass es ihr genau richtig erschien, die nächste Episode ihres Lebens darauf zu verwenden.
Nachdem ihr Großvater ihr das schöne Gebäude am Rande Windsors zur Verfügung stellte, hatten ihre Pläne schnell Gestalt angenommen, und das Feng Shui House war entstanden. Der Start war so holprig verlaufen, dass Samy einen Moment lang geglaubt hatte, das ganze Projekt sei noch vor dem richtigen Start zum Scheitern verurteilt. Schuld daran war die Ermordung eines Feng Shui-Großmeisterns aus Asien, den sie extra für die Eröffnungszeremonie eingeladen hatte. Doch obwohl das Unglück sich an diesem Abend in unmittelbarer Nähe ereignet hatte und das Begegnungszentrum nicht wie geplant seine Pforten öffnen konnte, wurde das Angebot inzwischen gut angenommen.
Samy war überglücklich und fühlte sich endlich angekommen in ihrem Leben. Nach einer lieblosen Kindheit und Jugend hatte sie nun endlich ihren Platz gefunden.
Sie war einige lokale Kooperationen eingegangen und freute sich besonders, dass die Räume, die an das Windsor Yoga Institut und an das Windsor Daily Spa vermietet waren, ständig von betriebsamer Lebendigkeit erfüllt waren. Beide Institute hatten inzwischen im Feng Shui House gut besuchte Dependancen und lebten davon, dass die Kunden gern außerhalb des betriebsamen Städtchens Entspannung suchten.
In den wunderschönen Salons im Erdgeschoss fanden regelmäßig Vorträge und Workshops rund um die Themen Körper und Geist statt, und inzwischen wurde auch das gastronomische Angebot gut angenommen.
Samys Freunde, die indischen Shop-Betreiber Ramesh und Himadri Takka, der Cafébesitzer Asif und der Windsor Catering Service hatten ein abwechslungsreiches Konzept entwickelt, mit dem sie den Gästen Köstlichkeiten zwischen High Tea und indisch-britischer Crossover-Küche anbieten konnten.
Genau diese Mischung hatte dafür gesorgt, dass das Feng Shui House zu einer festen Institution geworden war und Besucher auch außerhalb der Stadtgrenzen Windsors anzog.
Darüber hinaus bot sie den Takkas und anderen Kleinunternehmern die Möglichkeit, ihr Geschäft auszuweiten, ohne selbst ein großes Risiko einzugehen.
Samy profitierte von dieser Lösung ebenfalls, denn da sie sich auf jeden der Partner verlassen konnte, musste sie nicht immer selbst vor Ort sein und hatte stattdessen Zeit, ihre Stelle als Gastdozentin in Oxford auszukosten, wo sie einmal in der Woche eine Vorlesung hielt und somit nicht ganz aus der Wissenschaftswelt verschwand. Damit hielt sie sich eine Türe offen, sollte sie entgegen aller Erwartungen irgendwann doch wieder als Akademikerin tätig sein wollen.
Der größte Benefit an den Kooperationen mit Asif und den anderen war jedoch die Möglichkeit, ihr Leben derart in Balance zu halten, dass ihr sogar eine erfüllte Beziehung möglich erschien, denn dafür war sie nun endlich bereit.
Während sie ihre Sachen zusammensuchte und sich aus dem Lehnstuhl erhob, überkam sie die freudige Erwartung, die sie immer verspürte, wenn sie sich mit Nate traf.
Samy flanierte an Cors Seite über die Peascod Street und genoss den sonnigen Moment, nachdem es in den letzten Tagen ununterbrochen geregnet hatte. Cor, der mit vollem Namen eigentlich Cornelius hieß, schritt beherzt voran und schwang in der rechten Hand den Gehstock, den er sich eigens für seine Windsor-Besuche zugelegt hatte. Bei einem seiner ersten Aufenthalte hatte er sich in neuen Schuhen eine schlimme Blase gelaufen und musste seinen Fuß entlasten. Damals hatte er den exquisiten Stock erstanden und gefiel sich seitdem in der Rolle des englischen Gentlemans, der sich hin und wieder auf einen Spazierstock stützte. Die Tatsache, dass er topfit war, ignorierte er.
Cor liebte es, sich selbst zu inszenieren und seine Besuche bei Samy boten ihm hierfür stets eine exzellente Gelegenheit, die er gern auskostete. Wie Samy trug er einen Regenmantel, allerdings war dieser anders als ihrer kein schlichtes Modell, sondern ein massives Teil von Babour mit Pelerine und allem Drum und Dran, wie es eher ein Schäfer, der bei Wind und Wetter mit seiner Herde draußen unterwegs war, gebraucht hätte.
Samy schaute ihn von der Seite an, wie er in voller Montur samt Stock und großem passenden Hut neben ihr herlief und den Charme des kleinen Städtchens genoss. Ein wenig belustigt schüttelte sie den Kopf, als sie seine nagelneuen kniehohen Hunter Boots mit ihren eigenen knöchelhohen und abgetragenen Stiefeln verglich.
So war Cor eben – eine wandelnde Stilikone und auf jedem Parkett elegant unterwegs. Er liebte den großen Auftritt und störte sich nicht an den Reaktionen seiner Mitmenschen, die ihm oft fassungslos hinterherblickten.
Samy sah ihm an, wie sehr er es genoss, hier zu sein. Er war schon immer ein Royalist gewesen und hatte es sehr begrüßt, als sie in die Nachbarschaft der Königin gezogen war. Wie die meisten hatte auch er nicht wirklich verwunden, dass es Elizabeth II nicht mehr gab, doch das Castle und alles drumherum hatten seinen Zauber für ihn nicht verloren.
„Wunderbar! Ganz wunderbar!“, dröhnte seine tiefe Stimme an ihr Ohr und entriss sie der Betrachtung seines Schuhwerks.
„Ich hoffe doch sehr, dass wir in den nächsten Tagen noch ein wenig Regen bekommen werden. Immerhin habe ich mich auf Dein Gejammere über das schreckliche Wetter verlassen und mir entsprechendes Schuhwerk zugelegt.“
„Sorry, aber ich bin keine Meteorologin“, protestierte Samy, fügte jedoch versöhnlicher hinzu, „außerdem bin ich wirklich dankbar, mal ein paar trockene Stunden zu erleben. Wir sind hier förmlich weggeschwommen. Seit dem unsäglichen Schiffsunglück ist die Sonne im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden.“
Es lief ihr eiskalt über den Rücken, als sie sich daran erinnerte.
In ihren Gedanken war sie unzählige Male das Gespräch mit Eugenie Ashby-Jones über die Wünsche der Windsor Ladies Society durchgegangen, denn wer hätte ahnen können, dass es der letzte Tag im Leben der Vorsitzenden gewesen war?
Cors Geplapper an ihrer Seite war in weite Ferne gerückt, als Samy an das Drama dachte, das sich nur Stunden nach ihrem Zusammentreffen mit Eugenie vor wenigen Tagen ereignet hatte. Die Mitglieder des WLS hatten wie jedes Jahr ihre Jahresversammlung auf einem der Ausflugsschiffe auf der Themse veranstaltet. Nachdem der offizielle Teil vorbei gewesen war, hatte eine Band gespielt und der Alkohol war in Mengen geflossen. Samy war bereits bei den Treffen im Feng-Shui House nicht entgangen, dass die Damen Tee nur als Alibi tranken, während es scheinbar für einen Gin Tonic nie zu früh oder zu spät war. Gerade Eugenie war stets eine der ersten gewesen, die nach einem Cocktail verlangte, wenn die Society tagte.
Daher war es auch für niemanden wirklich eine Überraschung gewesen, als man von dem Unfall auf dem Schiff hörte. Es war wohl nicht das erste Mal, dass eine der Damen bei den Zusammenkünften über Bord gegangen war. Nur waren diese Vorkommnisse in der Vergangenheit ohne größeren Schaden abgelaufen. Hin und wieder war es vorgekommen, dass bei den ausgelassenen Feiern unter Alkoholeinfluss eine oder mehrere Damen ein freiwilliges oder unfreiwilliges Bad im Fluss genommen hatten. Sie waren dann unter Gejohle wieder an Bord geholt worden und man hatte einfach weitergefeiert.
Doch bei Eugenie war es anders gewesen. Samy hatte gehört, dass sie unglücklich gefallen war und im Wasser das Bewusstsein verloren hatte. Als man sie endlich fand, war sie bereits eine Weile tot.
Tagelang war ihr Tod Gesprächsthema Nummer eins im Ort gewesen. Wahrscheinlich wurde vieles hinzuerfunden, und Samy musste sich auf das verlassen, was ihr erzählt wurde, denn die WLS war bisher nicht wieder im Feng Shui House gewesen.
Lediglich von Asif und ihrer Zugehfrau Liz hörte sie hin und wieder etwas, allerdings war sie nicht sicher, wie zuverlässig diese Quellen waren. Besonders bei Liz Beachel zweifelte Samy, dass man ihre Schilderungen uneingeschränkt glauben sollte, denn so lieb sie auch war, sie war eine Dramaqueen und übertrieb in der Regel maßlos.
„Das war in der Tat eine unschöne Sache, die du mir da berichtet hast“, riss Cor sie aus ihren Gedanken. „Weißt du inzwischen mehr darüber?
„Ehrlich gesagt nicht. Du weißt doch, wie es in kleinen Städten ist. Keine Katastrophe ist schlimm genug, alles muss ausgeschmückt werden und nach einer Weile weiß niemand mehr, was wirklich geschehen ist. Die Sache ist jetzt 10 Tage her und inzwischen spricht kaum noch jemand darüber. Es gibt mitleidige Blicke, wenn man die Verwandten sieht, aber hinter der Hand wird getuschelt, dass sich ihr Schmerz in Grenzen hält …“
„Ach! Wie kommt das denn?“, hakte Cor interessiert nach und lotste sie geschickt in die kleine Bahnhofspassage, wo er im Außenbereich von Ole & Steen einen Tisch im Trockenen für sie ergatterte. Die Skandinavische Café-Gruppe hatte dort ein großes Lokal übernommen und Cor, der eigentlich Ketten mied und lieber individuelle Gastronomien besuchte, war vernarrt in die Pudding-Zimt-Teilchen, die er dort bei einem seiner Besuche entdeckt hatte.
Samy winkte ab, als er sie nach ihren Wünschen fragte, und antwortete ihm: „Das erkläre ich dir, wenn du wieder zurück bist. Hol Du Dir erst dein Plunderteilchen.“
„O, das klingt nach einer längeren Geschichte“, antwortete er und zog überrascht die Augenbrauen hoch.
Während er ins Café trat, schaute Samy auf das geschäftige Treiben in der Straße. Die Touristensaison ebbte langsam ab und die Einheimischen dominierten wieder das Straßenbild.
In dem Augenblick, als Cor an den Tisch zurückkam, war ihr, als hätte sie in der Ferne ein bekanntes Gesicht gesehen, doch im nächsten Moment war es weg und sie verdrängte den Gedanken an die unangenehme Person, die sie glaubte, gesehen zu haben.
„Ich habe selten solch eine schmackhafte Kleinigkeit gegessen, lediglich der Name stört mich ein wenig.“
Samy war verdutzt, denn der Name eines Gebäckstücks war so ziemlich das Letzte, was sie sich merken würde, doch Cornelius war nicht nur ein Gourmet, sondern auch interessierter Kunde.
„Cinnamon Social – ich bitte Dich! Das hört sich beinahe an, wie ein Treffen der Gewürzmischer Innung …“
„Gibt es so etwas?“, wollte Samy erstaunt wissen.
„Keine Ahnung. Was fragst Du mich, aber bei Zimt und anderen Gewürznamen liegt es doch nahe, findest du nicht?“
Während Samy darüber nachdachte, machte Cor sich über sein Gebäck her und sparte nicht mit weiterem Lob. Doch dann hielt er plötzlich inne und deutete in Richtung des Bahnhofs.
„Ist das dort hinten nicht Becca, die Schreckliche?“
Samys Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus und sie folgte seinem Fingerzeig. Dort stand genau die Person, die sie selbst eben erspäht hatte und gern ignorieren wollte – Police Sergeant Rebecca Friendly.
Samy und Becca waren noch nie besonders gut miteinander ausgekommen, daran hatte auch Samys Beziehung zu Nate Stone nichts geändert. Im Gegenteil, Nate war Beccas Vorgesetzter gewesen, bevor er ein Sabbatical genommen hatte. Schon zu der Zeit war Samy ihr ein Dorn im Auge, weil die Polizistin prinzipiell etwas gegen Menschen hatte, die finanziell gut aufgestellt waren und sich keine Sorgen machen brauchten. Doch als Nates Kollegin hatte sie sich immer überlegen gefühlt.
Nun arbeitete sie mit einem anderen Inspector zusammen und darüber hinaus war Nate, zu dem sie immer aufgeblickt hatte, mit Samy liiert. Beides passte der jungen Frau nicht und sie sparte nicht mit boshaften Bemerkungen, wenn sich ihre und Samys Wege kreuzten.
„Auf die kann ich wirklich verzichten“, murmelte Samy daher und schlang ihren knielangen Regenmantel enger um sich. Außerdem zog sie den passenden Hut weiter in die Stirn, in der Hoffnung, dass die Polizistin sie nicht sah. Doch diese Mühe hätte sie sich sparen können. Obwohl auch Cor während seiner Aufenthalte in Windsor schon mehrfach mit der Polizistin aneinandergeraten war, gab es für ihn keinen Grund, sich zu verstecken. Er richtete sich neben Samy zu voller Größe auf und hatte den Nerv, der Polizistin zu winken. Dabei flötete er ein munteres „Sergeant Friendly, meine Gute, wie geht es Ihnen?“ quer durch den Bahnhof.
Es störte ihn nicht, dass der halbe Bahnhof sich zu ihm umdrehte und Samys leises „Verflucht, war das nötig?“ ließ er vollkommen unkommentiert.
Stattdessen musste Samy mit ansehen, wie die junge Frau in ihrem stets schmuddelig wirkenden Parka, der ihr außerdem viel zu groß war, auf sie zumarschiert kam.
Wie immer sah sie aus, als wäre ihr eine ganze Armee von Läusen über die Leber gelaufen. Die Mundwinkel waren in ihrem unscheinbaren Gesicht wie immer gen Boden gerichtet, die eng beieinanderstehenden Augen funkelten jeden böse an und aus ihrem kleinen Pferdeschwanz hatten sich ein paar Strähnen gelöst, die sie wirsch hinter beide Ohren schob, als sie an ihren Tisch trat.
„Hallo, zusammen“, grüßte sie und umging damit die Ansprache mit Samys und Cors Doktortitel, da dies bereits das eine oder andere Mal zu Ärger geführt hatte.
Cor war galant aufgestanden und fragte: „Darf ich Ihnen einen Kaffee holen? Und vielleicht ein Cinnamon Social? Auch wenn der Name es nicht vermuten lässt, sind die Teilchen dennoch formidable …“
Becca schnitt ihm das Wort ab und blaffte: „Nein, danke, ich bin im Dienst und habe keine Zeit für so etwas.“ Dabei sah sie abschätzig zu Samy und fügte hinzu: „Aber lassen Sie sich bloß nicht von Ihrem Kaffeekränzchen abhalten.“
Sie war unhöflich wie immer und Samy war gespannt auf Cors Erwiderung, doch der ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, schob Becca einen Stuhl hin und sagte betont nett: „Aber zu uns setzen können Sie sich doch sicherlich einen Moment. Es ist immer wieder eine Freude, Sie zu sehen.“
Samy biss sich auf die Zunge und wartete auf die nächste Giftspritze, ehe Becca von dannen ziehen würde. Überrascht konnte Samy jedoch mitansehen, dass die junge Frau kurz zögerte und sich dann auf den Stuhl, den Cor ihr anbot, niederließ.
Verunsichert warf Samy Cor einen Blick zu, denn es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn die Polizistin an ihrem Tisch Platz nahm. Cor ignorierte sie und versuchte stattdessen, ein Gespräch mit der kratzbürstigen Frau zu beginnen. Auf das eine oder andere ging sie sogar ein, doch dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Samy und fragte angriffslustig: „Wie gut kannten Sie Mrs. Ashby-Jones?“
Völlig überrumpelt von dieser Frage schaute Samy verwirrt zwischen Cor und Becca hin und her, bevor sie überrascht echote: „Mrs. Ashby-Jones?“
„Ja, Mrs. Ashby-Jones!“, blaffte Sergeant Friendly und fügte hinzu: „Sie wissen genau, wen ich meine. Soviel ich weiß, hält ihr Verein sein wöchentliches Kaffeekränzchen bei Ihnen ab.“
In dieser Aussage waren einige Unwahrheiten enthalten, die Becca falsch darstellte. Doch Samy war klar, dass es nichts bringen würde, alles richtigzustellen. Daher konzentrierte sie sich auf das Wesentliche und fragte nach: „Warum wollen Sie das wissen? Ich dachte, Eugenies Tod war ein Unfall!“
Der Gesichtsausdruck der Polizistin wechselte zu neutral und sie begann, ein paar Krümel von Cors Cinnamon Social hin und her zu schieben. Die Polizistin blieb eine Antwort schuldig und erhob sich nach einem kleinen Moment abrupt. Mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem entnervten „Vergessen Sie es!“ ließ sie Cor und Samy einfach zurück und verschwand gegenüber im Hintereingang des legendären Warenhauses DANIEL.
Die beiden Freunde schauten sich fragend an und Cor meinte: „Vielleicht muss sie eine neue Strumpfhose kaufen?“, während er auf das Kaufhaus zeigte, in dem Friendly verschwunden war.
„Strumpfhose?“, wiederholte Samy irritiert.
„Ach, was weiß ich? Irgendwas wird sie in dem Laden doch sicherlich kaufen wollen.“
Samy lachte schallend los: „Mag schon sein, aber wie kommst du denn auf eine Stumpfhose? Ich kann mir diese Frau in nichts anderem als ihrem schmierigen Parka vorstellen.“
Cor hatte die Augen geschlossen und sein Gesicht der Sonne zugewandt. Die Worte kamen ihm beinahe als Flüstern über die Lippen: „Wen kümmert es, ob sie eine Strumpfhose trägt oder nicht. Viel interessanter ist doch wohl die Frage, warum die Polizei sich für den vermeintlichen Unfall Deiner Lady interessiert.“
Dann wandte er sich wieder ihr zu und öffnete die Augen.
„Nenn mich verrückt, aber ich hatte gleich so ein Gefühl, dass mehr dahintersteckt, als Du eben angedeutet hast, dass die Familie gar nicht so unglücklich wirkt. Also, was hat es damit auf sich?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Samy unsicher, „ich kenne die Leute ja eigentlich gar nicht. Ich bin der ganzen Familie hin und wieder bei irgendeiner Einladung begegnet, aber außer mit Eugenie habe ich bisher kein Wort mit ihrem Mann oder ihren Kindern gewechselt.“
„Kleine Kinder?“
„Nein, natürlich nicht. Die Frau war Anfang Fünfzig und ich würde sagen, dass ihre Tochter und ihr Sohn Ende zwanzig sind.“
„Gehören sie zur feinen Gesellschaft?“
„Absolut!“, antwortete Samy spontan, doch dann dachte sie noch einmal darüber nach.
„Wenn ich es mir recht überlege, war es mit Eugenie speziell. Sie gehörte sicherlich zur Berkshire Society und war oft dabei, wenn große Feste gefeiert wurden, aber so wie ich es mitbekommen habe, war sie auch auf anderen Ebenen sehr aktiv.“
„Nämlich?“, wollte Cor wissen, der inzwischen Beccas Spiel mit den Krümeln fortführte.
„Na ja, sie muss wohl auch in diversen Vereinen aktiv gewesen sein, in denen sich Lady Helen oder ihre Töchter niemals blicken lassen würden.“
Lady Helen und ihr Mann, Sir Charles Bolman-Whitcliff, waren die inoffiziellen Anführer der feinen Gesellschaft in der Grafschaft. Da Sir Charles ein guter Freund von Samys Vater gewesen war, hatte sie durch ihn ebenfalls Zutritt in diese erlauchten Kreise erhalten. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab, begleitete Cor sie zu den gediegenen Festen.
„Die Windsor Ladies Society ist ja selbst auch nicht ausschließlich den Damen der Upperclass vorbehalten. Ich würde sagen, es gibt auch einige Frauen, die der oberen Mittelschicht angehören. Geschäftsfrauen, Ärztinnen, Ehefrauen von Professoren … Du weißt schon.“
Cor nickte zustimmend und forderte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung auf, weiterzureden.
„Ehrlich Cor, ich weiß nicht viel über die Frau. Sie ist mir immer wieder unangenehm aufgefallen und ich hatte den Eindruck, dass sie ziemlich herrisch war und den Verein mit eiserner Hand regierte. In den Tagen nach ihrem Tod war sie in aller Munde und da habe ich hin und wieder Andeutungen gehört, wo es hieß, sie habe ihre Familie genauso beherrscht. Daher hat mich das Getratsche über die wenig trauernde Familie nicht weiter überrascht. Aber das ist alles nur Gerede …“
„Hm“, sinnierte Cor. „Und dennoch habe ich selten erlebt, dass es Rauch ohne Feuer gibt.“
„Ja, aber du weißt sehr gut, wie sich Dinge verselbstständigen und wie übel Nachrede sein kann“, widersprach sie ihm.
„Wohl wahr, wohl wahr.“
Inzwischen hatten sie ihren Platz vor der Bäckerei verlassen und sich auf den Weg in Richtung Castle Hill gemacht. Die Sonne war verschwunden und Samy hatte ein paar dicke Regentropfen abbekommen.
Cor blickte erfreut in den Himmel und murmelte: „Na bitte!“, während sie ihn kopfschüttelnd zum Castle Hotel leitete, wo er prinzipiell abstieg, wenn er in Windsor war. Nach der Verabschiedung lief sie zu ihrer Wohnung zurück und dachte einen Moment lang darüber nach, ob sie noch joggen gehen sollte. Als sie in der Ferne das Grollen eines Donners vernahm, verwarf sie den Gedanken jedoch sofort wieder und dachte stattdessen über das Auftauchen der Polizistin nach. Cor hatte recht, irgendetwas musste im Busch sein, denn andernfalls würde die Polizei sich zwei Wochen nach Eugenies Tod nicht noch mit diesem Vorfall beschäftigen.
Der Regen wurde stärker und sie stöhnte auf, denn anders als Cor hatte sie die Nase voll von dem schlechten Wetter. Seit Tagen lief sie im Feng Shui House auf einem Laufband des SPAs und sehnte sich nach ihrer geliebten Joggingrunde auf dem Longwalk. Beim Blick in die Wolken hatte sie das Gefühl, der Sommer läge schon Monate zurück, dabei war es gerade einmal Anfang Oktober.
Die normalerweise recht warmen Sommermonate waren in diesem Jahr ständig von Regen unterbrochen worden und so hatte der Herbst still und heimlich Einzug in Windsor gehalten, gerade so, als wäre eine Jahreszeit komplett übersprungen worden.
Noch einmal wanderten ihre Gedanken kurz zu Eugenie Ashby-Jones und der überraschenden Frage von Becca Friendly, doch die Vorfreude auf Nates Rückkehr aus Cornwall verscheuchten sie sofort wieder.
Nach einem witzigen Abend, den Samy und Nate mit Cor im THE IVY verbracht hatten, saßen Nate und sie nun in ihrer Küche und genossen das Frühstück, das Nate für sie zubereitet hatte.
Seit Cornelius in London ein IVY kennengelernt hatte, gab es für ihn kaum noch eine Alternative, wenn er in Windsor war. Das schicke Restaurant mit seiner opulenten Ausstattung war im früheren Tearoom des ehemaligen Harte & Garter Hotels untergebracht und hatte es ihm angetan. Da das Essen genauso gut war wie die Deko, hatte Samy nichts dagegen und auch Nate war schnell überzeugt gewesen. Sie hatte in letzter Zeit den Eindruck gewonnen, dass er ihr gern jeden Wunsch erfüllte und genoss diese Aufmerksamkeit sehr.
Mit den Worten: „Nicht ganz so elegant angerichtet wie gestern Abend, aber ich hoffe, es schmeckt trotzdem“, servierte Nate köstlich duftende Pfannkuchen mit Blaubeeren und Ahornsirup.
„Dein Service ist unschlagbar und ich schätze es sehr, dass ich im Schlafanzug am Tisch sitzen kann. Das hätte im IVY wohl für eine größere Aufregung gesorgt.“
Nate setzte sich lachend neben sie und resümierte gespielt ernüchtert: „Danke für so viel Lob, vielleicht können die Pancakes auch mithalten.“
„Bestimmt, und wenn nicht, bleibt uns immer noch Asif …“, neckte Samy ihn und bekam unmittelbar ein Küchenhandtuch ab, das Nate nach ihr warf.
„Nein ehrlich“, fügte sie an, „nach dem gestrigen Gelage bin ich sehr dankbar, etwas Leckeres und Einfaches zu Hause essen zu können. Danke, dass du dir so viel Mühe gemacht hast.“
Nate küsste sie auf die Stirn und füllte ihren Teller.
„Mein Einsatz hält sich in Grenzen. Wenn du meine Mutter fragst, sind Pancakes Kinderkram. Zudem konnten mein Bruder und ich sie machen, bevor wir unsere Schuhe selbst zubinden konnten. Daher verdient meine Leistung an dieser Stelle keinen Orden.“
Unbehaglich antwortete Samy: „Dann hatten dein Bruder und du mir einiges voraus. Als ich nach Windsor kam, konnte ich gerade einmal ein Rührei in der Pfanne braten und ich muss leider zugeben, dass meine Fähigkeiten in der Küche sich immer noch in Grenzen halten.“
„Um so besser, dass meine Mutter uns zu passablen Köchen erzogen hat“, zwinkerte Nate ihr zu, „denn so wird keiner von uns verhungern.“
Samy genoss die köstlichen Pancakes und auch die Tatsache, dass Nate immer versuchte, die Dinge herunterzuspielen, bei denen sie selbst sich furchtbar unzulänglich fühlte. Sie musste sich eingestehen, dass sie derart viel Nachsicht bei einem Mann noch nicht erlebt hatte.
„Stört es Dich eigentlich nicht, dass dein Anrufbeantworter pausenlos blinkt?“, fragte Nate zwischen zwei Bissen und zeigte hinüber zu dem kleinen Sekretär im angrenzenden Wohnzimmer, auf dem ein altes Telefon stand, dessen Kontrollleuchte unaufhörlich leuchtete.
Samy blickte verdutzt hinüber.
„Hm, ist mir gar nicht aufgefallen …“
„Er hat gestern Abend schon geleuchtet, als wir vom IVY kamen“, erwiderte Nate überrascht.
Samy legte ihr Besteck ab und ging zu dem kleinen Tisch.
„Das habe ich wirklich nicht bemerkt …“
„Aber das Lämpchen leuchtet nonstop, das musst du doch gesehen haben“ hakte er ungläubig nach.
Samy schüttelt dann den Kopf. „Ich glaube, ich habe gar keinen Kanal dafür. Es ist mir total fremd, dass noch jemand auf einen Anrufbeantworter spricht. Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich dieses Telefon benutzt habe. Wer telefoniert denn heute noch mit einem Festnetz-Apparat?“
„Du würdest dich wundern“, erwiderte Nate. „Die Polizei, generell alle Behörden, ältere Menschen …“
„Ok, überzeugt!“, wehrte Samy lachend ab und widmete sich dem Telefon. Sie beugte sich über den kleinen Tisch, den ihr Vater als Schreibtisch genutzt hatte, wenn er in Windsor war. Er hatte ein großes Unternehmen in London aufgebaut und die Wohnung, die er Samy hinterlassen hatte, als Rückzugsort genutzt. Wie er an diesem winzigen Tisch jemals hatte arbeiten können, war Samy ein Rätsel. Er stand vor einem beinahe bodentiefen Fenster und man blickte unmittelbar auf die massive Mauer der Schlossanlage. Lediglich die schmale High Street lag dazwischen. Keine 20 Meter entfernt ragten die alten Steine massiv und unüberwindbar in den Himmel und waren ein monumentales Sinnbild der Geschichte Englands.
Bei der Vorstellung, was diese Mauer in vielen Jahrhunderten bereits abgewehrt haben musste – die Geschichte war hier beinahe greifbar, stockte Samy der Atem.
„Ich benutze den Tisch so gut wie nie“, erklärte sie Nate über ihre Schulter hinweg, während sie versuchte, die Funktionen des altmodischen Anrufbeantworters zu verstehen.
„In den Schubladen sind sogar noch Unterlagen meines Vaters und ich habe es nicht übers Herz gebracht, sein Notiz- und Adressbuch wegzulegen.“