Mord in Windsor - Trudy Cos - E-Book

Mord in Windsor E-Book

Trudy Cos

0,0

Beschreibung

Gerade als Samy Wilde ihr neues Leben in Windsor zu genießen beginnt, fällt ihr ein Toter vor die Füße. Das passt ihr gar nicht, denn die Informatikerin war durch den Verkauf einer App zu Geld gekommen und möchte sich endlich einmal den angenehmen Dingen des Lebens widmen. Stattdessen wird sie selbst des Mordes verdächtigt. Als Frau der Tat beginnt Samy mit Hilfe ihres guten und etwas skurrilen Freundes Cornelius, ihre eigenen Recherchen rund um das Windsor Castle durchzuführen. Dabei werden beide mit Samys Vergangenheit konfrontiert. Könnte es sein, dass der Mord mit ihrem jüngst verstorbenen Vater zusammenhängt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 319

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



TRUDY COS

MORD IN

WINDSOR

Ein Krimi mitSamy Wilde

Inhalt

KAPITEL 1 SCHÖNHEIT IST NICHT IMMER MAKELLOS

KAPITEL 2 DAS ERWACHEN

KAPITEL 3 IRON CHARLY

KAPITEL 4 BEI NACHT UND NEBEL – NATE

KAPITEL 5 CORNELIUS

KAPITEL 6 JEREMY

KAPITEL 7 UND DANN

KAPITEL 8 EIN WEITERES GEHEIMNIS

KAPITEL 9 ZUFALLSBEKANNTE

KAPITEL 10 GESCHWISTERLIEBE UND ANDERE

KAPITEL 11 ANGST UND SCHRECKEN

KAPITEL 12 VERWANDTE UND SCHOCKIERENDES

KAPITEL 13 HERZSCHMERZ

KAPITEL 14 NEUE ERKENNTNISSE

KAPITEL 15 ERKENNTNISSE

KAPITEL 16 DROHUNGEN

KAPITEL 17 DIE ERLEUCHTUNG

KAPITEL 18 ES WERDE LICHT

KAPITEL 19 EIN GESTÄNDNIS

KAPITEL 20 SHOWDOWN

EPILOG

IN GEHEIMER MISSION

KAPITEL 1

SCHÖNHEIT IST NICHT IMMER MAKELLOS

Das Wasser der Themse lag entlang der Liegewiese des Windsor Daily Spas wie ein glitzerndes Band wenige Meter von Samy entfernt. Zwischen ihr und dem Fluss lud das akkurat geschnittene Gras ein, barfuß von Liege zu Liege zu schlendern, was Samy jedoch ganz bestimmt nicht tun würde. Die auf dem Wasser tanzenden Sonnenreflexe täuschten.

Für Engländer mochten sie Grund genug sein, in Shorts und Tanktops zu steigen, Samy hingegen kannte die Tücken des englischen Wetters inzwischen gut. Auch wenn die Sonne schien, war es immer noch verdammt frisch.

Außerdem konnte man in der Nähe der Themse nie sicher sein, wo Gänsekacke auf einen wartete. Die königlichen Schwäne, von denen schon lange nicht mehr alle ihrer Majestät gehörten, kannten keine Zurückhaltung und erleichterten sich, wo immer sie watschelten. Samy hatte in den letzten Monaten mehr als einmal ihre Schuhe säubern müssen. Einmal hatte sie sogar ins pure Glück gegriffen, als sie sich am Geländer entlang des Flusses bei Glatteis festgehalten hatte.

Ganz sicher würde sie an einem trügerisch schönen Morgen im Windsor Daily Spa nicht den Fehler machen, ihre frisch pedikürten Zehen in glitschigem grauen Gänsedreck zu versenken.

Versonnen sah sie ins Wasser und versuchte den Gedanken an ihre Mutter abzuschütteln.

»Du kannst doch nicht ewig nichts tun.« Ihre laute Stimme klang hart und vorwurfsvoll, wie immer, wenn sie auf dieses Thema zu sprechen kam. Meist versuchte Samy Klaudias Anrufe zu ignorieren, aber heute hatte sie unbedacht das Handy aus der Tasche gezogen und ganz automatisch auf den grünen Hörer gedrückt. Noch immer hallten ihr die Worte ihrer Mutter in den Ohren nach, und sie bemühte sich, sie abzuschütteln, so wie sie es immer tat.

Sie wackelte munter mit den Zehen und betrachtete ihre in der Sonne glänzenden pink lackierten Zehennägel. Samy sog den herrlichen Frühlingsduft, der in der Luft lag, ein und sagte: »Doch, Mutter, wenn ich möchte, kann ich genau das tun!«

Es störte sie nicht, Selbstgespräche zu führen, denn außer ihr war niemand auf der altmodischen Terrasse. Samy liebte das Spa, auch wenn es nicht mit den modernen Einrichtungen in London mithalten konnte. Zu Windsor passte es, denn es war ein wenig schäbig und eine Spur zu simpel, verströmte jedoch immer noch den Esprit vergangener Tage, als Menschen, die der Upperclass angehörten, es sich gerne gut gehen ließen.

Um diese Zeit mussten die meisten Menschen arbeiten, und die, die es nicht mehr taten, genossen wahrscheinlich einen Tee im Bett. Generell war das Windsor Daily Spa, das unmittelbar an der Themse mit Blick nach Eton lag, nicht stark besucht und Samy wusste, dass die Menschen hier wie überall seit Corona vorsichtiger geworden waren.

»Herrlich«, murmelte sie vor sich hin, zog den Bademantel enger um sich und beschloss schließlich, wieder in das viktorianische Gebäude mit den bis zum Boden reichenden Sprossenfenstern zu gehen. Der große Bau war weitläufig und eingeschossig, verfügte jedoch über viele kleine Zinnen und eine große Kuppel im zentralen Teil des weiß getünchten Mittelbaus. Wie immer erfreute Samy sich an seinem Anblick und beschloss, noch einmal kurz zum Aufwärmen ins Dampfbad zu gehen, bevor sie sich einen Chai Latte bei Asif gönnen würde. Anschließend wollte sie den Tag damit verbringen, ihre Einkäufe zu sichten und all ihre neuen Errungenschaften noch einmal anzuprobieren. Tief im Inneren meldete sich die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter zurück, aber Samy wischte sie energisch beiseite, denn keiner hatte ihr vorzuschreiben, wie sie ihre Zeit zu verbringen hatte – nie wieder!

Sobald sie das Dampfbad betrat, fielen alle negativen Gedanken von ihr ab, und sie genoss die wohltuende Wärme und den Duft nach Eukalyptus, der wie immer eine Spur zu intensiv war. Bei ihrem allerersten Besuch des Windsor Daily Spas hatte sie geglaubt, davon high zu werden, und es hätte sie nicht gewundert, wenn dem Aufguss irgendetwas beigemischt gewesen wäre. Die Bademeisterin, die den antiquierten Laden betreute, war furchteinflößend. Sie war sicherlich schon achtzig und alles andere als gewöhnlich. Sie trug stets eine weiße Kittelschürze, in deren Taschen sie die Hände meist tief vergrub. Um den Kopf hatte sie ein Band gebunden, dass sie wie ein Waschweib oberhalb der Stirn knotete. Einmal war Samy der Alten auf der Terrasse begegnet, wo sie genüsslich an einem Joint zog. Statt das Ding verschwinden zu lassen als Samy auftauchte, hatte sie ihn wie zum Gruß hochgehalten und »Cheers Darling« gerufen.

Während Samy im Dampfbad saß, erinnerte sie sich an diese Szene und musste leise kichern – die Engländer waren immer für eine Überraschung gut. Die dichten Nebelschwaden hüllten sie angenehm ein und sie registrierte zufrieden, dass sie nicht einmal die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Sie glaubte, allein in dem kleinen gekachelten Rondell, das unter dem Kuppeldach durch Säulen in einzelne Sitzkammern unterteilt war, zu sein. Das dunkelblaue Mosaik der Wände und der mit goldenen Sternen übersäte Himmel erinnerten an Tausendundeine Nacht. Zumindest wenn man nicht genau hinsah, dann nämlich konnte man nicht mehr die vielen gesprungenen Steine ignorieren und die abgeblätterte blaue Farbe zwischen den Sternen am Firmament.

Sie seufzte, denn das Spa war in jeder Hinsicht Sinnbild für den Niedergang der Gebäude in Windsor und Umgebung. Mit genügend Geld konnte man das alles ignorieren und es in die Kategorie Shabby Chic einordnen, aber Samy wusste nur zu gut, dass nicht jeder in dieser vorteilhaften Lage war.

Geschickt verscheuchte sie auch diesen Gedanken, denn in den letzten Monaten hatte sie gelernt, wie erholsam es war, sich nicht ständig den Kopf zu zerbrechen. Stattdessen gab sie sich den Erinnerungen an die wunderbaren Kleider hin, die sie gekauft hatte. Es war einfach besser, sich mit Dingen zu beschäftigen, die einen glücklich machten, und ihre neue Leidenschaft für Mode und das eigene Aussehen bescherten ihr definitiv Glücksgefühle.

Sie stellte sich vor, wie sie den silbrigen Glockenrock, der vielleicht eine Idee zu ausgefallen für Windsor war, mit einem hellblauen Angorapulli kombinierte, als sie neben sich ein unappetitliches Schmatzen hörte.

Erschrocken setzte sie sich kerzengerade hin und rückte weiter zur Tür, denn es war ihr unangenehm, neben jemandem zu sitzen, der derartige Geräusche von sich gab. Gerade als sie überlegte, ob sie das Ganze für heute beenden sollte, ging neben ihr irgendetwas mit einem dumpfen Knall zu Boden.

Sie spürte es mehr, als dass sie es hörte, denn etwas Pelziges streifte ihr Bein und noch ehe sie sich zurückziehen konnte, wurde ihr Fuß unsanft auf den Boden gezerrt und von etwas Schwerem bedeckt. Samy brauchte einen Moment, um sich zu sortieren und ihr Fuß schmerzte. Hektisch wedelte sie die Dampfschwaden beiseite. Dann sah sie ihn.

»Trink das hier, Darling«, sagte Rose und schob ihr eine Tasse über den Tresen, die mit Sicherheit den stärksten Hot Toddy enthielt, den Samy jemals getrunken hatte.

In ihr tobten auch jetzt noch starke Gefühle, noch immer überkam sie Ekel bei der Erinnerung an die pelzige Berührung und Entsetzen beim Gedanken an die aufgerissenen Augen, die sie aus dem weißen Gesicht leblos angestarrt hatten. In ihren Ohren hallte der eigene panische Schrei noch nach. Sekunden später war die Glastür aufgerissen worden und Rose, die Barfrau, hatte gerufen: »Was ist los, Darling?«

Aber noch ehe sie antworten konnte, war sie von Mrs. Beaten, der Bademeisterin, zur Seite geschoben worden, und in Sekundenschnelle hatten sich alle Dampfschwaden aus der offenen Tür verzogen.

Mit einem wütenden »Bloody hell« war Mrs. Beaten ächzend auf die alten Knie gesunken und hatte dem leblosen Gesicht ein paar Ohrfeigen verpasst. Sie sprach in einem derart derben Slang, dass Samy nur Bruchstücke verstand. Aber sie sah, dass der Kopf des Mannes von ihren Schlägen reaktionslos hin und her geschleudert wurden. Seine gebrochenen Augen ließen für Samy keinen Zweifel daran, dass Mrs. Beaten mit ihren Versuchen, ihn wieder zu beleben, kläglich scheitern würde.

Rose war verschwunden, als die Alte sich an dem Kerl auf Samys Füßen zu schaffen machte. Ihre Ohrfeigen hatten Samy befreit und sie hatte keinen Moment gezögert, den Raum zu verlassen.

Im großen Terrassenraum, um den die Saunen und das Dampfbad angeordnet waren, befand sich eine lange halbrunde Bar, hinter der Rose am Telefon hing und leise sprach. Als sie Samy kommen sah, beendete sie ihr Telefonat und wandte sich zu ihr. Aufmunternd sagte sie: »Komm Schätzchen, ich mache Dir einen Drink. Was für ein Aufreger!«

Samy hatte das Angebot dankend angenommen, hockte nun auf einem Barhocker und starrte in die Tasse, die Rose ihr über den Tresen geschoben hatte. Zwanghaft versuchte sie sich auf den Terrassenraum zu konzentrieren, um die schrecklichen Bilder aus dem Dampfbad loszuwerden. Beinahe apathisch betrachtete sie den Parkettboden unter ihren Füßen und dachte, dass er dringend erneuert oder zumindest poliert werden müsste. Er war uralt und mit Spuren vieler Jahrzehnte übersät. Die ausgeblichenen Blumenstoffe, mit denen die Wände bespannt waren, wurden von düsteren Holzvertäfelungen unterbrochen. Wäre da nicht der Geruch von feuchten Handtüchern gewesen, hätte einen der Staub der Vergangenheit in der Nase gekitzelt – das war England.

Über alte Tapeten und noch ältere Wände, über Böden und Fenster wurde eine neue Schicht gelegt, und schon funktionierte es weiterhin. Dieser Gedanke tröstete Samy.

Rose hatte ihr einen weiteren Hot Toddy gereicht, und Samy spürte, wie ihre Sinne langsam vernebelten. Es fiel ihr zunehmend schwer, klare Gedanken zu fassen, aber schließlich riss sie sich zusammen und ärgerte sich gleichzeitig über ihre Banalität, wie konnte sie derartigen Gedanken nachhängen, während nebenan eine Leiche lag.

Was kümmerte sie die Einrichtung des altmodischen Spas? In ihrer Heimat hätte ein derartiges Etablissement sowieso keinen Besucher mehr angelockt, hier stellte man jedoch weder das heruntergekommene Äußere noch die mehr als begrenzte Auswahl an Saunen in Frage. Weshalb sollte sie es also tun?

Mitten in diesen Gedanken drangen Wortfetzen an ihr Ohr und schlagartig fühlte sie sich wieder nüchtern. Wenige Meter entfernt standen Mrs. Beaten in ihrer weißen Kittelschürze, und eine unförmige ältere Frau, die ihren fülligen Körper nur in ein Saunatuch gewickelt hatte. Das kurze graue Haar stand in alle Richtungen von ihrem Kopf ab und die gerötete Haut ließ darauf schließen, dass sie noch vor wenigen Minuten in einer der beiden Dampfkammern gewesen war. Sie hatte Samy den Rücken zugewandt und bot ihr so die Möglichkeit, Beine zu betrachten, wie sie sie noch nie gesehen hatte.

Passend zu ihrem stämmigen Körper waren sie massig und stabil, darüber hinaus komplett tätowiert. Die Tattoos mussten alt sein, denn einen Moment lang hatte Samy geglaubt, die verblassten Linien seien Krampfadern. Als sie aber in das aufgerissene Maul eines Löwen starrte, wurden ihr auch die anderen Teile der Körperbemalung bewusst.

Fasziniert versuchte sie das Bild zu verarbeiten, bis etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie hörte die Worte »Polizei« und »Gift« und registrierte, wie die alte Mrs. Beaten sich mit Händen und Füßen gegen irgendetwas wehrte. Diesem Versuch bereitete die voluminöse Dame im Hamamtuch jedoch bald ein Ende, als sie sich umdrehte und Rose anwies: »Ruf die Polizei, Rose! Mordkommission!«

Samy und Rose, die bisher allein in der Bar des Ruhebereiches gewesen waren, starrten sie an, und noch bevor sie reagieren konnten, herrschte die kompakte Frau die gläserpolierende Barfrau an: »Na mach schon, Rose Michaels!«

Samy beobachtete, wie Rose langsam das Bierglas aus ihrer Hand auf dem Tresen abstellte. Das geschah sehr behäbig, weil auch die Bardame wie Mrs. Beaten wirkte, als gehöre sie zum Gründungsinventar des Spas. Samy verfolgte jeden Schritt und ihr fiel ein, dass Rose telefoniert hatte, als sie an die Bar gekommen war – mit wem, fragte sie sich?

Das feuchte Handtuch, mit dem sie nicht nur Gläser polierte, sondern auch Tresen und Tische abwischte, wanderte schließlich mit einer schwungvollen Geste auf ihre Schulter und berührte dabei den blondierten Beehive. Einbetoniert, war Samys Gedanke, denn auf Roses Kopf bewegte sich kein einziges Haar. Die stark geschminkte Bardame kaute demonstrativ auf ihrem Kaugummi, warf der anderen Frau einen finsteren Blick zu, während sie sich langsam zum Telefon bewegte.

Ihr Anblick war grotesk, denn Rose trug permanent ein Plastikvisier, das in der Gastronomie inzwischen aus Hygienegründen zum Standard geworden war. Allerdings hatte Samy noch nie gesehen, dass die Barfrau das Visier vor dem Gesicht hatte. Stattdessen schob sie es stets wie ein Sonnenschild vor sich her. Das schwarze Plastikstirnband, an dem es klebte, war am Hinterkopf kunstvoll unter den aufgetürmten Haaren versteckt, und nur an den Schläfen sah man einen Übergang zum Visier.

Über den Sinn dieses Dinges musste man daher nicht nachdenken, aber so war es an vielen Stellen. Die Menschen versuchten alibimäßig die Vorschriften des National Health Service oder der Regierung zu befolgen, legten die Details aber meist so locker aus, dass man sie getrost vergessen konnte.

Samy hatte längst aufgehört, sich darüber Sorgen zu machen und konnte dennoch nicht die Augen davon abwenden, bis die stämmige Frau, die Rose so angeherrscht hatte, an sie herantrat und fragte: »Hat er etwas gesagt, bevor er zu Boden ging?«

»Nein, gar nichts«, antwortete sie überrumpelt. Die Frau, die sich nun vor ihrem Barhocker aufgebaut hatte, verunsicherte sie.

»Gehörte er zu ihnen?«, wollte das Mannweib weiter wissen und fixierte Samy mit derart stechendem Blick, dass diese innerlich zu zittern begann. Unweigerlich nahm sie Haltung an, denn die Frau war furchteinflößend, wie sie es früher von Lehrern kannte, die absoluten Gehorsam erwarteten. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie ihr gefühlt nur bis zur Taille reichte. Und wie immer, wenn man ihr die volle Aufmerksamkeit schenkte, wurde Samy nervös und suchte nach den richtigen Worten. Ihre Stimme überschlug sich, als sie schließlich verneinte.

Die Frau im Saunatuch legte ihr eine derbe Hand auf den Arm, und Samy spürte den festen Druck nicht nur auf ihrer Haut, sondern auch in den Muskeln darunter. Irgendwie beruhigte sie diese Geste und sie sah zu ihrer Überraschung, wie sich ein Lächeln auf dem Gesicht der Frau ausbreitete. Ihre Stimme wurde weicher und klang plötzlich ganz sympathisch.

»Ich bin Dr. Freshman. Anita Freshman. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört? Ich habe meine Praxis in der Bahnhofspassage. Sollten Sie einmal Probleme haben, wissen Sie, wo Sie mich finden.«

Als wäre damit alles gesagt, wollte sie sich abwenden und wieder zum Dampfbad gehen, aber dann überlegte sie es sich anders und drehte sich noch einmal zu Samy um.

»Sie sind die Deutsche, die seit ein paar Monaten auf der High Street im Haus von Old Lorient wohnt, nicht wahr?«

Samy nickte stumm und fragte sich, woher Dr. Freshman das wusste, aber ein Blick auf Mrs. Beaten, die sie beobachtete, erklärte alles. Natürlich wussten die Leute, wer sie war. Sie lief Tag für Tag durch die Straßen der kleinen Stadt, während andere in ihrem Alter arbeiteten – unweigerlich fiel sie auf. Sicherlich war es auch nicht schwierig gewesen, ihre Herkunft zu ergründen, auch wenn sie akzentfrei Englisch sprach. Inzwischen hatte sie aufgegeben, zu erläutern, dass sie zur Hälfte Engländerin war, denn es schien niemanden zu interessieren und so erwähnte sie es nicht einmal mehr.

»Sagen Sie, Darling, kennen Sie den Mann denn wirklich nicht, der mit Ihnen im Dampfbad war?«

»Nein!«, antwortete Samy vehement, obwohl sie sich gar nicht so sicher war, seine Augen nicht vielleicht doch schon einmal gesehen zu haben. Das Ganze verwirrte sie, vielleicht lag es an Roses Hot Toddies, oder aber an der Tatsache, dass es nicht alltäglich war, von einem Toten angerempelt zu werden.

»Was ist mit ihm passiert?«, wollte sie von der Ärztin wissen. »War es ein Herzinfarkt?«

»Nicht wenn Sie mich fragen«, sagte Dr. Freshman. Ihr Busen bewegte sich bei jedem ihrer Worte, und Samy musste sich zusammenreißen, nicht auf die großen Poren zu starren, die das üppige Dekolleté bedeckten. Schweiß rann der Ärztin aus den Haaren, den Hals entlang auf die schweren Brüste und versickerte schließlich in der dunklen Schlucht dazwischen.

Sie schien Samys Blick nicht zu bemerken, stattdessen suchte sie den Raum ab, als wolle sie sicher sein, dass sie keiner hören konnte. Samy wunderte sich über diese Geheimnistuerei, hörte aber neugierig zu.

»Bin gespannt, was der Polizeiarzt sagen wird«, flüsterte Dr. Freshman.

Weiter kam sie nicht, denn die Flügel der breiten Eingangstür wurden mit einem lauten Knall aufgestoßen und zwei uniformierte Polizisten sowie ein Mann und eine junge Frau in Zivil stürmten regelrecht den Raum und Samy wunderte sich wieder einmal, wie selbstverständlich es allen Menschen geworden war, Masken zu tragen. Im Spa nahm man es zwar nicht mehr so ernst und sowohl Rose als auch die Hausmeisterin hatten ihren Mundschutz immer wie einen weißen Bart unter dem Kinn hängen, während die meisten Besucher selbst in den Saunen und Dampfbädern nicht drauf verzichteten. Genau so war es mit den Polizisten, die nun den Saal betraten, alle hatten dunkle Masken mit dem Emblem der Thames Valley Police vor den Gesichtern, was ihnen einen bedrohlichen Touch verlieh.

Die Ärztin ließ Samy an der Bar zurück und sprach einen der Uniformierten an. Sie schien ihn zu kennen und erklärte ihm in wenigen Sätzen, was passiert war, dabei zeigte sie auf Samy, die sich gleich wieder unwohl fühlte. Schließlich führte Anita Freshman die Neuankömmlinge zu dem kleinen Dampfbad, vor dem Mrs. Beaten Wache bezogen hatte.

Es dauerte nicht lange, bis die Polizisten der Reihe nach wieder auftauchten. Die beiden Uniformierten kommandierten irgendetwas in ihre Mobiltelefone, während Mrs. Beaten und Dr. Freshman sich mit dem Mann unterhielten, der keine Uniform trug. Da er hinter einer der Säulen stand, die den Bereich vor den Saunen optisch vom Barraum abgrenzte, konnte Samy ihn nicht sehen. Sie versuchte seine Worte zu verstehen, aber es gelang ihr nicht, weil der Raum von einem Plätschern erfüllt war, das wahrscheinlich aus dem offenen Dampfbad kam.

Inzwischen war die Bar, die auch gleichzeitig als Ruheraum diente, vom Eukalyptusduft erfüllt. Mrs. Beaten hatte den Ofen wohl nicht abgeschaltet, und so waberten aus der offenen Glastür unaufhörlich Nebelschwaden heraus und durchzogen den hohen Säulenraum.

Samy nahm einen weiteren Schluck des Hot Toddys und spürte die Schärfe des Whiskeys auf ihrer Zunge. Als die Flüssigkeit brennend ihren Hals hinunterfloss, musste sie sich schütteln und Tränen schossen ihr in die Augen. Genau in diesem Moment trat die junge Frau, die ebenso mit den Polizisten gekommen war, an sie heran. Sie trug eine Bauchtasche, aus der sie einen kleinen Notizblock und eine Dienstmarke zog. Ihre eng beieinanderstehenden Augen musterten Samy abschätzig, der Rest ihres Gesichts war von einer Maske verdeckt und konnte somit den stehenden Blick nicht abmildern.

Samy fühlte sich ertappt und wusste gleichzeitig nicht wobei. Die junge Frau stellte sich knapp als Constable Police Officer Becca Friendly vor. Dann forderte sie Samy auf zu erklären, in welchem Verhältnis sie zu dem Toten stand.

Verunsichert von der Schroffheit der Polizistin gab Samy an, den Toten nicht gekannt zu haben. Sie schilderte, dass sie alleine im Spa war und einen letzten Schwitzgang machen wollte, als der junge Mann auf ihre Füße gestürzt war. Bis zu diesem Moment hatte sie geglaubt, alleine in der Dampfkammer zu sein. Nachdem sie beteuerte, den Toten noch nie gesehen zu haben, ging sie davon aus, damit entlassen zu sein. Stattdessen informierte die junge Polizistin sie jedoch unverwandt, dass sie ihr nicht glaubte. Ihr Blick zeigte eine Samy vollkommen unbegreifliche Überlegenheit.

»Wie meinen Sie das?«, fragte sie daher verdattert und immer noch zuversichtlich, sich verhört zu haben oder etwa die kleine Frau misszuverstehen. Doch dann blieb ihr der Mund offen stehen, weil die junge Polizistin sie anherrschte.

»Sie sitzen hier heulend und wollen mir dennoch erklären, dass Sie den Kerl, mit dem Sie in diesem schmierigen Loch gebrutzelt haben, nicht kennen – aha!«

»Aber ich kenne ihn wirklich nicht!«, rief Samy und erklärte, der scharfe Whiskey habe ihr die Tränen in die Augen getrieben. Die junge Constable war ein Bullterrier und ließ nicht locker. Samy hatte sprichwörtlich das Gefühl, als beiße sie sich in ihr fest, denn sie überhäufte Samy im Befehlston mit weiteren Fragen. Dabei machte sie keinen Hehl daraus, dass sie nicht viel für Menschen übrig hatte, die sich in Spas rumtrieben, während andere arbeiten mussten. Ihr Blick schweifte immer wieder geringschätzig durch den Raum. Als sie die Liegen im Ruhebereich betrachtete, schüttelte sie den Kopf und hinter ihrer Maske ertönte ein Geräusch, das Widerwillen oder Abscheu bedeuten konnte. Anschließend observierten ihre finsteren Augen Samy derart, als wolle sie sie festnageln. Die junge Frau wirkte in ihrer kaputten Jeans und einem viel zu großen Parka vollkommen fehl am Platz. Der Ausdruck ihrer Augen drückte Ablehnung aus und Samy wich zurück. In ihr wuchs das Gefühl, sie müsse sich vor der Frau schützen und sie bemühte sich, möglichst viel Distanz zwischen sich und die Polizistin zu bringen.

Obwohl sie angenehm nach Maiglöckchen duftete, war nichts an ihr feminin. Ihre Kleidung war farblos und unförmig, das helle Blau der Jeans ging nahtlos in das undefinierbare Graugrün des Parkas über. Die strähnigen blonden Haare waren zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden und das spitze Gesicht hinter der dunklen Maske erinnerte Samy an eine Maus. Aber während Samy noch darüber sinnierte, wurde sie wieder aus ihren Gedanken gerissen, denn Constable Friendly beharrte erneut darauf, dass Samy den Toten gekannt haben musste, und konstruierte immer wieder neue Argumente, um diese These zu stützen.

Samy hielt still, nicht nur weil sie von Natur aus ein introvertierter Mensch war, sondern auch, weil ihr eingebläut worden war, aufzufallen bedeute sehr schlechten Stil. Die Unverfrorenheit und Ignoranz ihres Gegenübers ließen sie jedoch Schritt für Schritt ihrem persönlichen Siedepunkt nahekommen. Sie wusste, wie wenig sie sich unter Kontrolle hatte, sollte ihr irgendwann der Kragen platzen, und so versuchte sie minutenlang die vielen Anschuldigungen zu ignorieren und ihren Ärger runterzuschlucken.

Als Becca Friendly aber anfing, auf ihrer Herkunft herumzureiten und andeutete, dass Ausländern prinzipiell nicht zu trauen sei, konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Es war vorbei mit ihrer Beherrschung und sie fauchte die Frau nun ebenfalls an.

»Was an meiner Aussage verstehen Sie eigentlich nicht? Sie versuchen mir die Worte im Mund herumzudrehen und behaupten Dinge, die Sie sich schlicht und einfach nur ausdenken!«

Atemlos schnappte sie nach Luft und legte nach: »Ich weiß nicht, woher Ihre Abneigung gegen mich oder Ausländer im Allgemeinen kommt, und sie ist mir auch egal. Aber ich werde mich von Ihnen nicht weiter beleidigen lassen.«

Noch ehe die verdatterte Polizistin, die es offenbar nicht gewohnt war, viel Gegenwehr zu bekommen, reagieren konnte, tauchte der andere Polizist ohne Uniform neben ihr auf. Samy stockte der Atem.

Sie wollte vor Scham im Boden versinken, denn der Kerl sah umwerfend aus. Er blieb zunächst etwa drei Meter von ihr entfernt stehen und löste seine Maske, um sich höflichkeitshalber einmal zu zeigen. Dann legte er sie wieder an und kam näher. Samy trug selbst keine Maske, da sie an der Bar saß und etwas trank, aber auch sonst war sie bedeutend spärlicher gekleidet. Sie hatte ein Handtuch als Turban um die nassen Haare gewickelt und steckte in einem formlosen Bademantel. So sehr sie sich auch bemühte, den Turban unauffällig zurechtzuzupfen, es änderte nichts an ihrer Gesamterscheinung und die Augen des Polizisten zeigten ein amüsiertes Lächeln, daher gab sie schließlich auf – ein Turban blieb eben ein Turban, ganz egal wie man ihn zurechtrückte.

Ruhig sah er seine Kollegin und dann auch Samy an.

»Hier liegen die Nerven blank, das verstehe ich«, sagte er, doch Samy wollte das so nicht stehenlassen.

»Nein, gar nicht, ihre Kollegin«, begann sie, kam jedoch nicht weiter, denn er hob beschwichtigend eine Hand und zeigte ihr stattdessen seine Dienstmarke, die er aus der Innentasche seiner Lederjacke hervorzog.

»Chief Inspector Nate Stones, Thames Valley Police«, dabei schaute er sie aus freundlichen Augen an, und Samy vergaß augenblicklich ihren Ärger auf die junge Frau.

»Sie können jetzt nach Hause gehen«, sagte er höflich, während er Constable Friendly über die Schulter blickte und schaute, was sie in ihrem Block notiert hatte.

Lächelnd fügte er hinzu: »Samantha, wir kommen später bei Ihnen vorbei. Zunächst müssen wir hier unsere Arbeit machen, in der Zeit können Sie sich von dem Schrecken erholen und wir werden uns später in Ruhe unterhalten.«

Der Blick, mit dem er seine Kollegin bedachte, duldete keine Widerworte, und Samy hatte das Gefühl, dass er auch von ihr kein weiteres Wort erwartete.

Chief Inspector Stones schien gerne Ansagen zu machen und für den Moment beließ Samy es dabei. Seine gesamte Erscheinung strahlte Autorität aus. Obwohl er sympathisch wirkte, hatte er etwas Einschüchterndes, was sicherlich nicht nur an seiner Größe lag. Er war durchtrainiert und überragte Samy und alle anderen Anwesenden um Längen. Sie selbst war mit ihren 162 cm ohnehin eher klein, aber die junge Polizistin und Rose, die neugierig nähergekommen war, brachten es sicherlich knapp auf einen Meter achtzig. Dennoch wirkten selbst sie neben Inspector Stone eher klein.

Samy fühlte sich in seiner Gegenwart nicht unwohl, dennoch war sie heilfroh, dem allen zu entkommen. Sie konnte die Situation nicht einschätzen und wusste nichts über das Vorgehen der englischen Polizei. Also wollte sie nichts falsch machen und war sich sicher, dass Zurückhaltung weiterhin angebracht war.

Durchatmen und ihr Gehirn wieder in einen normalen Funktionsmodus bringen wäre sicherlich hilfreich, deshalb kam sie seiner Aufforderung nach und bemühte sich so würdevoll es ging, vom Barhocker zu gleiten und die beiden Polizisten mit einem knappen »See you« zu verlassen.

Während sie aus dem Raum ging, plante sie bereits, was sie zu Hause anziehen wollte, denn sie zog es definitiv vor, komplett bekleidet zu sein, wenn Becca Friendly das nächste Mal versuchen sollte, sie einzuschüchtern.

KAPITEL 2

DAS ERWACHEN

Je länger Samy darüber nachdachte, wie die Polizistin sie behandelt hatte, umso wütender wurde sie. Als sie das Spa verlassen hatte, war sie schnurstracks in ihr Apartment gegangen, die Lust auf einen Chai Latte bei Asif war ihr genauso vergangen, wie ihre Vorfreude auf das Anprobieren ihrer neuen Kleider. Am Fenster ihres Apartments stehend sog sie die immer noch kühle Luft tief ein und entspannte sich ein wenig. Der Duft von Jasmintee aus der Tasse in ihren Händen beruhigte sie, und der Vorsatz, sich nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen, war wieder ihr zentrales Anliegen – sollte die Polizistin doch denken, was sie wollte. Das Apartment war ihr geschützter Raum, hier fühlte sie sich wohl, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Dieses Gefühl gab ihr Selbstvertrauen und ihr Blick schweifte von den beeindruckenden Mauern des Schlosses zurück in die Wohnung. Samy liebte die sanften Farben, die ihrem Zuhause etwas sehr Heimeliges verliehen. Bis auf wenige Ausnahmen war jeder einzelne Raum in einer Kombination aus Weiß, Grau und Creme gehalten. Die wenigen geschmackvollen Möbel hätte sie selbst zwar niemals ausgesucht, sich mit ihnen jedoch vom ersten Augenblick an wohl gefühlt. Alle Wände waren in mattem Grau gestrichen und brachten die großen schwarzweiß Fotografien in ihren silbernen Rahmen perfekt zu Geltung. Die Bilder zeigten Straßenzüge aus New York, die Samy oft von dem gemütlichen weißen Sofa aus betrachtete und sich fragte, ob sie genau dort schon einmal langgegangen war.

Als sie nun darauf starrte, nahm sie die Motive jedoch kaum wahr und überlegte stattdessen erneut, warum ihr die Augen des Toten bekannt vorgekommen waren, aber es wollte ihr nicht einfallen. Sie war sich ziemlich sicher, ihn nicht zu kennen, bisher wusste sie nicht einmal seinen Namen. Obwohl sie mehrfach alle Menschen durchgegangen war, die sie in Windsor getroffen hatte, gab es nicht den allerkleinsten Erinnerungsschimmer.

Nachdenklich beobachtete sie die High Street, die sich auf der Höhe ihres Apartments sowohl bergab als auch bergauf erstreckte. Autos und Busse zogen in einem munteren Farbenspiel beinahe rund um die Uhr am ständig zugeparkten Gehweg vor Samys Haus vorbei. Auch wenn es nur eine schmale zweispurige Straße war, die mitten durch den Ort verlief, handelte es sich dennoch um eine Bundesstraße, die viel Verkehr durch die Kleinstadt schleuste. Genau dort, wo die lebendige Straße im weitem Bogen Richtung Themse abfiel, befand sich Samys Wohnung im obersten Geschoss des alten Stadthauses. Die Fensterfront des Wohnzimmers reichte beinahe bis zum Boden und sie konnte das muntere Treiben auf den Gehwegen sehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schob sich eine endlose Schlange von meist asiatischen Touristen an der majestätischen Castle Mauer im Zeitlupentempo Richtung Victoria Statue hinauf. Die meisten Menschen trugen Masken in allen möglichen Designs. Was bei den Asiaten schon lange verbreitet war, hatte sich seit der Pandemie beinahe überall durchgesetzt, wo viele Menschen nahe beieinanderstanden.

Windsor war ein Phänomen. Obwohl die kleine Stadt nur knapp 30.000 Einwohner zählte, wurde es jedes Jahr von mehr als sieben Millionen Touristen besucht. Seit Prinz Harry Meghan Markle hier geheiratet hatte, waren die Zahlen sogar noch einmal gestiegen, denn nun kannte wirklich fast jeder auf der Welt Windsor.

Samy kam es vor, als würden das Schloss, die Souvenirgeschäfte und unzählige Restaurants all diese Touristen morgens einatmen und abends, wenn das Castle seine Tore schloss, wieder ausspucken und dem Umland überlassen.

Es gab das Windsor der Touristen und das der Einheimischen. Samy hatte noch nicht herausgefunden, wie sie Teil der zweiten Kategorie werden konnte, obwohl sie jeden Tag weniger zur ersten gehörte. Leise seufzte sie auf, als sie unweit ihres Hauses Chief Inspector Nate Stone und die furchteinflößende Becca erblickte. So wie die beiden aufmerksam die Fassaden der Häuser beobachteten, bestand kein Zweifel daran, dass sie nach ihrer Adresse Ausschau hielten.

Als der tiefe Klang der Türglocke wenige Minuten später dröhnte, hatte Samy sich innerlich gewappnet und war besonders in Beccas Richtung in einen Defensivmodus gewechselt. Sie straffte die Schultern und wartete. Da sie im obersten Stock wohnte und es keinen Aufzug gab, dauert es weitere Minuten, die sich zäh zogen. Schließlich hörte sie aber das leise Knarren der oberen Treppenstufen und schon erklang ein kräftiges Klopfen.

»Nun denn«, sagte sie sich selbst und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie hatte nicht vor, eine Erinnerung an ihren beinahe nackten Aufzug im Spa aufkommen zu lassen. Zu einer engen Jeans trug sie eine kurze weiße Tunika mit Lochmuster und ihre Füße mit den lackierten Zehennägeln steckten in goldenen Sandalen. An den Ohren baumelten große, silberne Creolen und an ihrem rechten Handgelenk klimperten diverse Armreifen mit vielen kleinen Anhängern. Samy war sehr zierlich, und staunte manchmal selbst über ihre Figur. Es war eine neue Erkenntnis für sie, denn so lange sie denken konnte, hatte sie sich unter praktischen Pullovern oder unförmigen Hoodies versteckt. Erst hier in Windsor hatte sie angefangen, figurbetonte Kleidung zu tragen. Dabei war ihr erstmalig bewusst geworden, dass an ihrem Körper alles genau so verteilt war, wie es sein sollte. Obwohl sie klein und zierlich war, hatte sie genügend Busen und auch ihr Po war nicht zu flach. In ihrem hübschen Gesicht dominierten grüne Augen, die viel größer wirkten, seit sie sie nicht mehr mit schwarzem Kajal umrandete. Stattdessen setzt sie nun auf roten oder zumindest korallenfarbenen Lippenstift, der ihre geschwungenen Lippen betonte. Noch nie in ihrem Leben waren ihre Haare mehr als schulterlang gewesen. Daher genoss sie nun das Gefühl, wenn ihr Zopf auf und ab wippte.

Bewusst hatte sie alles in die Waagschale geworfen, um sich maximal von der blassen Becca zu unterscheiden – wohlwissend, dass sie selbst noch vor wenigen Monaten genauso ein farbloses Mauerblümchen gewesen war. Aber sie hatte nicht vor, dieses Wissen zu teilen und trug ihre Weiblichkeit in dem Moment, als sie beherzt die Tür öffnete, wie ein Schutzschild gegen die garstige Polizistin zur Schau.

Die beiden Besucher musterten sie neugierig und Samy war klar, dass sie versuchten, sie mit der jungen Frau im Bademantel und Turban in Einklang zu bringen. Während Nate angenehm überrascht schien, zeigte Samys Aussehen bei Becca die beabsichtigte Wirkung – noch größere Abneigung.

Als gute Gastgeberin bat sie die beiden herein und ignorierte den abschätzigen Blick der Polizistin, die gleich begann, sich in der Wohnung umzusehen. Becca Friendly ging zielstrebig im Salon umher, als sei es ihr gutes Recht, jedes Detail unter die Lupe zu nehmen. Naserümpfend maß sie alle Ecken des hellen Raumes ab und blickte ungeniert in die angrenzenden Räume. Ihr Vorgesetzter blickte sich wesentlich subtiler um, dennoch blieb auch dies Samy nicht verborgen, denn seine wachen Augen schienen alles zu erfassen, während er ihr höflich in den großzügigen Wohnbereich folgte. Statt den angebotenen Platz auf einem der typisch englischen Sofas in Weiß anzunehmen, steuerte er zielstrebig die Fensterfront an.

»Wow! Was für ein Ausblick!«, sagte er, während Becca hinter ihm etwas murmelte, was sich wie damned upperclass anhörte.

Samy drehte sich zu ihr um und sah, wie sie die Fotos beäugte, die auf einer niedrigen Anrichte in silbernen Rahmen aufgereiht waren. Es waren ausnahmslos Schnappschüsse von Samy und zeigten sie in allen Epochen ihres Lebens – als Baby, als kleines Mädchen mit Zöpfen, mit Schulranzen und Schultüte, als Teenager und schließlich mit Umhang und Hut bei der Verleihung ihres Abschlusses.

Wie immer spürte sie einen Stich tief in ihrem Herzen, wenn sie sich der Bilder bewusst wurde, und es störte sie sehr, dass die unfreundliche Becca sie in die Hand nahm und mit leisem Murmeln wieder wegstellte. Alles an dieser Frau strahlte pure Ablehnung aus.

»Ich hoffe, dass Sie sich inzwischen von dem Schrecken erholt haben.« Nate Stone lenkte ihre Aufmerksamkeit von Becca Friendly zu ihm.

»Ja, auch wenn ich mir permanent den Kopf darüber zermartere, ob ich diesen Mann gekannt habe«, gab Samy unumwunden zu.

Diese kleine Aussage reichte, um Becca wieder auf den Plan zu rufen und sie schaltete sich umgehend ein.

»Das hört sich ja schon ganz anders an, als heute Morgen. Ich hatte Sie mehrfach danach gefragt, ob Sie ihn wirklich nicht kannten, und Ihre vehemente Antwort war Nein!«

Samy spürte, wie Wut wieder in ihr hochstieg, aber noch ehe sie etwas erwidern konnte, legte die Polizistin nach: »Jetzt hegen Sie bereits Zweifel an Ihrer Aussage und ich bin sicher, wenn wir noch ein paar Mal fragen, werden wir wahrscheinlich darauf stoßen, dass Jeremy Burkehead sogar Ihr Freund war!«

Samy war wie elektrisiert und murmelte leise den Namen »Jeremy Burkehead«. Sie wiederholte ihn noch einmal und dachte darüber nach, er sagte ihr absolut nichts. Daher kommentierte sie die Unterstellung der Polizistin nicht, denn sie war immer noch Willens, die Lage unter Kontrolle zu halten.

»Aha, bei dem Namen klingelt es also doch«, sagte sie und zückte ihren Notizblock, steckte ihn jedoch schnell wieder weg und ignorierte den warnenden Blick ihres Chefs. Stone sah aus, als werde er sie jeden Moment unterbrechen, denn man merkte Constable Friendly an, wie sehr sie Menschen mit Geld hasste. Für einen Moment glaubte Samy, der gutaussehende Inspector würde einschreiten, aber er schwieg und veranlasste sie so, selbst aktiv zu werden.

»Nein«, sagte Samy, aber weiter kam sie nicht, denn Becca war nicht mehr zu bremsen.

»Samantha Wilde«, herrschte sie sie stattdessen an, »ich denke, wir sollten Sie aufs Präsidium bringen. Dort kommen verlorene Erinnerungen meist schnell zurück. Besonders die Privilegierten verlieren außerhalb ihrer schicken Hütten schnell jede Überheblichkeit.«

So als wäre das Ganze ein Katz-und-Maus-Spiel mit Samy, bei dem es darum ging, die junge Frau immer weiter in die Ecke zu drängen, versuchte die Polizistin ihren Chef mit einzubeziehen. Abfällig fragte sie ihn: »Einen derartigen Panoramablick kann man nicht kaufen. So etwas wird unter den Leuten, die eine Privatschule besuchten, von Generation zu Generation weitergeben, wussten Sie das?«

Immer noch einen Bilderrahmen in den Händen haltend, wich sie erschrocken zurück, als Samy blitzschnell und mit wenigen Schritten bei ihr war, um ihr das Foto aus der Hand zu nehmen. Der Chief Inspector hatte sich ebenfalls in Beccas Richtung bewegt und es schien so, als wollte er sie bremsen.

Die Gelegenheit bot sich ihm aber nicht mehr, denn Samys Siedepunkt war erreicht. Alle guten Vorsätze, sich nicht provozieren zu lassen, waren verschwunden. Sie entriss der verdatterten Polizistin das Foto und stellte den Bilderrahmen ganz behutsam zurück an seinen Platz. Anschließend nahm sie sich die Zeit, jedes einzelne Foto, das Becca betrachtet hatte, wieder zurechtzurücken, denn sie brauchte diesen Moment, um sich zu sammeln. Als sie sich schließlich umdrehte, sah sie Beccas amüsierten Blick, ließ sich jedoch nicht mehr irritieren.

»Constable Friendly, ich weiß nicht, welches Problem Sie mit mir haben, und ich muss gestehen, es interessiert mich auch nicht besonders.«

Dabei betonte sie den alles andere als passenden Familiennamen der jungen Frau über alle Maßen. Gleichzeitig hoffte sie, dass an der Anrede alles korrekt war, denn sie wusste, dass Becca sich auf jeden kleinsten Fehler stürzen würde.

»Luxus scheint Sie zu stören«, sagte sie gezwungen ruhig und ignorierte das verächtliche Schnauben ihres Gegenübers. Um nichts in der Welt würde sie dieser blöden Ziege die Genugtuung geben, sich auf ihr polemisches Niveau hinab zu begeben. Stattdessen genoss sie es, sie aus dem Konzept zu bringen und fuhr an ihren Vorgesetzten gerichtet fort.

»Ja, sie hat Recht, ich habe diese Wohnung von meinem Vater geerbt. Aber diese Erbschaft ändert mein Leben nicht im Geringsten.«

»Na klar, das sagen die Reichen immer«, Becca verdrehte genervt die Augen und glaubte für einen kleinen Moment, sie habe Samy wieder in ihre Schranken gewiesen.

»Constable Friendly, meine Geduld ist erschöpft. Auch wenn ich Ihnen keinerlei Rechenschaft schuldig bin, lasse ich Sie gerne wissen, wie falsch Sie liegen. Dieses wunderschöne Apartment habe ich vor ein paar Monaten von meinem Vater geerbt, den ich nicht einmal kannte. Ich wuchs als Tochter einer alleinerziehenden Lehrerin auf. Wir besaßen keine Reichtümer, aber es war immer genug da – nicht mehr und nicht weniger. Ich habe Mathematik und Informatik studiert und in den letzten Jahren hart gearbeitet. Beinahe zeitgleich mit der Erbschaft dieser Wohnung wurde mir eine App, die ich entwickelt habe, für mehr als zwanzig Millionen Euro abgekauft. Alle Details zu diesem Deal können Sie im Internet nachlesen, Sie müssen nur meinen Namen googeln«, referierte sie für die Polizistin, deren Fassungslosigkeit unübersehbar war. Das veranlasste Samy, noch nachzulegen.

»Zugegebenermaßen enttäuscht es mich, dass Sie das noch nicht gemacht haben. Ich hätte gedacht, eine kurze Internetrecherche sei bei der Polizei in Ihrem Land wie in meinem der erste Schritt, wenn man etwas über die Menschen erfahren möchte, die man befragt.«

Sie hatte ins Schwarze getroffen und konnte sehen, wie Becca bei diesen Worten das Gesicht verzog, was Samy sehr genoss.