Mord im besten Alter - Lisa Lercher - E-Book

Mord im besten Alter E-Book

Lisa Lercher

4,9

Beschreibung

In der Idylle von "Haus Waldesruh" soll sich Maja von den Folgen eines Unfalls erholen. Doch schon bald häufen sich mysteriöse Todesfälle, Wertsachen verschwinden spurlos und das Personal geht auch nicht gerade zimperlich mit den Bewohnern um. Maja befürchtet Schlimmes: Werden hier alte Leute systematisch zu Tode gepflegt? Lisa Lercher legt endlich wieder einen hervorragenden Krimi vor - ein brisantes gesellschaftspolitisches Dauerthema, gewürzt mit stimmigen Bildern und trockenem Humor.

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Seitenzahl: 240

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Titel

Lisa Lercher

Mord im besten Alter

Kriminalroman

Motto

es wiad finsta sei, schdockfinsta sei

wauns liachd ausgehd

es wiad schdü sei, muxmausal schdü sei

und i wea aungsd hom

valuan is valuan

drunt in da gruam

oba es wiad wuaschd sei, sowos vo wuaschd sei

wauns da d’bock aufschdöd

auf dera wöd.

„drunt in da gruam“, Deaf 2008

Widmung

für meine Omas

Prolog

Bleierne Schwere zieht sie hinab in das Dunkel erlösenden Schlafs. Etwas in ihr wehrt sich, kämpft dagegen an. Warum lässt man sie nicht endlich in Ruhe?

Ganz am Rand ihres Bewusstseins spürt sie die Berührung. Ein Lufthauch, der kühl über ihre Beine, die Scham, dann den Bauch streicht. Sie sehnt sich nach Wärme und Schutz. Ist gefangen im Taumel der Medikamente, zu betäubt, um ihren Willen kundzutun.

Schemen schleichen um ihr Bett, wispern beschwörende Formeln. Sie stöhnt in ihrer Not. Lichtblitze zucken über ihr Gesicht. Eine warme Hand legt sich auf ihren Bauch. Sie will sie wegschieben, hat genug, will nicht … ja was?

Jemand streichelt beruhigend über ihr Gesicht. Ihr Arm flattert hilflos wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Das traumlose Dunkel lässt nicht von ihr ab. Umfängt sie endlich – weich, tröstend und still.

Start

Das Ächzen kam aus Zimmer drei. Moser blieb un­schlüssig stehen. Eigentlich hatte er es eilig. Er war spät dran, Ferdl wartete seit dem Mittagessen auf ihn. Zum Ächzen gesellte sich ein Winseln, wie von einem geprügelten Hund. Moser drückte die Tür auf und betrat das Zimmer. Das rechte Bett war belegt. Auf dem mittleren stapelten sich Decken und ganz links, neben dem Fenster, versuchte eine Greisin verzweifelt aus dem Bett zu kommen. Ihr Gesicht war vor Anstrengung hochrot. Ein Bein hatte sie bereits auf das grüne Linoleum gestellt, nun mühte sie sich, auch das zweite Bein auf den Boden zu bekommen. Ihr Oberkörper schwankte, sie drohte, jeden Augenblick vornüberzukippen. Moser machte einen Satz auf die Frau zu und drückte sie an den Schultern zurück in Richtung Polster. Die Greisin plumpste wie ein Sack Mehl auf das Leintuch. Ihrem Unmut machte sie mit langgezogenen, hohen Lauten Luft, die Moser durch Mark und Bein gingen. Nervös schaute er sich um.

Die Beine der alten Frau hingen noch über die Bettkante. Ihr Nachthemd war bis zur Unterhose hochgerutscht. Durch die schlaffe Haut der Oberschenkel zogen sich blaue Äderchen. Moser bückte sich und fasste nach dem Saum des Hemds. „Passiert ja nichts“, murmelte er.

„Was ist da los?“ Der herrische Tonfall ließ Moser herumfahren. „Was haben Sie da bei der Haberlander zu suchen?“ Der Blick der Schwester streifte Mosers Hand, die immer noch auf dem Schenkel der Frau lag.

Er zog sie weg und setzte zu einer Erklärung an. „Man wird doch ...“

„Saubartl, verschwind, aber dalli“, unterbrach ihn Schwester Erika mit dem barschen Tonfall eines Feldwebels. Sie war dafür bekannt, in gewissen Situationen keinen Widerspruch zu dulden. Besonders dann, wenn sie unter Zeitdruck stand. Moser hatte im Grund nichts gegen die aparte Krankenschwester, die, wenn sie nicht gerade ihre Schwesterntracht trug, immer modisch gekleidet war. Ihr Tonfall gefiel ihm jedoch gar nicht. Er sah, wie sie sich der Greisin zuwandte.

„Und wir hören zu schreien auf“, sagte Schwester Erika zu ihr. Die alte Frau ließ sich nicht so einfach beruhigen. „Aus jetzt!“ Schwester Erika packte die Beine der Frau und hob sie geschickt ins Bett. Dann deckte sie die Alte zu. Die Protestlaute wurden schwächer, waren schließlich nur noch ein leises Wimmern.

Moser hatte sich währenddessen zur Tür gedreht. Die Gestalt im vordersten Bett regte sich. Moser nahm einen bandagierten Kopf wahr. Rote Haarsträhnen lugten unter dem Verband hervor. Die Steppdecke war bis über die Schultern gezogen. Darüber war noch eine braune Wolldecke gebreitet, in die mit beigen Druckbuchstaben Haus Waldesruh gewebt war.

Es waren die feinen Gesichtszüge, die Mosers Blick anzogen. Die flackernden Lider, die zarte Nase und die Lippen, die noch immer voll waren. Sie sah jung aus, war höchstens Mitte sechzig, schätzte er. Moser hatte keine Zweifel. Auch sie würde jetzt so aussehen. Die Erkenntnis ließ ihn unschlüssig vor dem Bett verharren. Gern hätte er gewartet, bis sie die Augen aufschlug, um zu prüfen, ob dieser erste Eindruck blieb. Gleichzeitig fürchtete er sich davor.

„Immer noch da? Sind wir heute schwerhörig?“ Schwester Erikas beißender Sarkasmus schreckte ihn auf. Moser unterbrach seinen Ausflug in die Vergangenheit. Das Keifen der Schwester ignorierte er. Erst an der Schwelle ließ er sich zu einem Kommentar herab.

„Wie bitte, ich hör wohl nicht recht?“, war das Letzte, was er von der Krankenschwester vernahm. Maja Berg und Cäcilie Haberlander las er auf dem Türschild. Maja, ein ungewöhnlicher Name, dachte er und ging weiter den Gang entlang. Ferdl wartete. Das war ihm eben wieder eingefallen. Sollte ihn die Giftwurzn ruhig beim Direktor vernadern. Das war im Augenblick sein geringstes Problem.

Zwei Wochen später

Maja drehte vorsichtig den Kopf. Das Dreibettzimmer war nicht besonders groß. Das Bett in der Mitte war im Moment nicht belegt. Drüben am Fenster lag Frau Haberlander. Die Zimmergenossin hatte ihr den Rücken zugewandt und atmete ruhig und gleichmäßig. Der Paravent lehnte zusammengefaltet an der Wand. Ein schlichtes Holzkreuz hing über der Tür. Der einzige Farbfleck im Raum war eine Luftbildaufnahme von Haus Waldesruh, und natürlich das grüne Linoleum am Fußboden, das an manchen Stellen schon ziemlich abgetreten war.

Das war also ihr neues Zuhause. Maja seufzte. Wie lange war sie schon hier? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Man hatte sie nach dem Krankenhausaufenthalt hierher auf die Pflegestation gebracht, damit sie die Folgen ihres Unfalls auskurieren konnte. War Frau Knopf, ihre Physiotherapeutin, heute schon bei ihr gewesen? Maja überlegte. Der Store war zugezogen. Draußen dämmerte es. Oder war es trüb vom Regen? Sabine Knopf kam jeden zweiten Vormittag, um Majas Gliedmaßen zu bewegen. Mobilität ist das Wichtigste, sagte sie immer, wenn Maja über die Anstrengung klagte und sich eine Pause erbat. Meist war sie nach den Übungen so erschöpft, dass sie sofort einschlief.

Sie bewegte ihre Zehen, zog sacht das Bein an. Es schmerzte immer noch, stellte sie fest. Aber insgesamt wurde es besser – bildete sie sich zumindest ein.

Langsam kehrten auch ihre Erinnerungen zurück – zumindest bruchstückhaft. Dass sie für den Rest ihres Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein würde, hatte der Professor im Krankenhaus gesagt, und dass sie sich darauf einstellen müsse, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Das ist das Beste für dich, glaub mir, hörte sie Hannes sagen. Dass Joes Neffe sie im Krankenhaus besucht hatte, bildete sie sich bestimmt nicht ein. Sie musste zugestimmt haben, dass man sie in ein Altersheim verlegte. Hatte sie nicht auch etwas unterschrieben? Sie stöhnte unwillkürlich auf. Das Nachdenken strengte sie an.

Statt des dicken Kopfverbands waren ihre Wunden nun mit Pflastern versorgt. Sie tastete mit den Fingerspitzen danach und spürte die Haarstoppeln, die aus der Kopfhaut sprossen. Vor ein paar Tagen hatte sie die Schwester um einen Spiegel gebeten. Sie hatte ihn gleich wieder weggelegt, so erschrocken war sie über ihren Anblick gewesen. Die eingefallenen Wangen, die rissigen Lippen und vor allem dieser traurige Blick mit dem abklingenden Veilchen unter dem rechten Auge – war das wirklich sie?

Wenn die Kopfschmerzen stärker wurden, schloss Maja die Augen. Sie wollte nicht so viele Tabletten nehmen. Eine Zeit lang war es ja ganz angenehm gewesen, immer wieder in diesen Dämmerzustand abzu­tauchen. Aber nun hatte sie genug davon. Auch von den Albträumen, die sie in der Phase zwischen Schlafen und Wachen gequält hatten. Sie wollte endlich wieder klare Gedanken fassen können. So konnte es schließlich nicht weitergehen!

Manchmal half es gegen die Schmerzen, wenn sie sich auf ihren Atem konzentrierte oder den Geräuschen in ihrer Umgebung lauschte. Das Pflegepersonal erkannte sie mittlerweile am Schritt. Schwester Erika hatte einen besonders energischen Gang. Frau Haberlanders Stöhnen konnte sie nicht ausblenden. Ihre Zimmernachbarin litt an Magenkrebs und hatte offenbar höllische Schmerzen, sobald die Wirkung des Morphiums nachließ. Maja läutete dann nach der Schwester, weil Frau Haberlander meist zu benommen dazu war.

Majas Blick fiel auf den weißen Schnabelbecher auf ihrem Nachttisch. Daneben verdarben die Reste vom Pudding, den es heute zu Mittag gegeben hatte. Das bedeutete, dass es schon Nachmittag oder früher Abend sein musste. Jetzt erinnerte sie sich auch, dass sie nach dem Mittagessen geschlafen und von daheim geträumt hatte. Joe war auf eine Tasse Kaffee zu ihr in den Garten gekommen. Er hatte ihr lebhaft gestikulierend von der Herausforderung erzählt, sein Gefühl in Farben auszudrücken, und war guter Stimmung ge­wesen, weil ihm offenbar etwas gelungen war. Dann hatte das laute Organ des Zivildieners das traute Beisammensein unterbrochen und Maja war aufgewacht.

Otto hatte Frau Haberlander erst gefüttert und dann unter Ächzen und Schnaufen auf den Leibstuhl gehievt. Maja hatte den Kopf zur Wand gedreht und versucht, in ihren Traum zurückzukehren. Sie war tatsächlich noch einmal eingeschlafen.

Neugierig schaute sie zur Tür, als es klopfte. Eine Frau in einer bunt gemusterten Kleiderschürze und knöchelhohen Gesundheitsschuhen stahl sich mit breitem Grinsen ins Zimmer. Sie kam fast jeden Tag. Maja hatte schon auf Mirlis Besuch gewartet. Die Frau war, wie immer, mit Wastl gekommen. Sie hielt Maja den Stoffhund unter die Nase, damit sie ihn mit einer Streicheleinheit begrüßte. Mirli setzte sich zu Maja auf die Bettkante und summte, während ihre Finger über Majas Arm strichen.

Mirli war um die siebzig, wie Maja von einer der Schwestern wusste. Ihr kindliches Gemüt ließ die behinderte Frau deutlich jünger erscheinen. Warum niemand darauf schaute, dass Mirli neue Zähne bekam, war Maja unverständlich. Mit den wenigen Ruinen, die sie noch im Mund hatte, tat sie sich bestimmt schwer beim Beißen. Zu essen bekam sie trotzdem genug. Mirli war fast ebenso breit wie hoch, hatte eine lustige Knollennase und kleine helle Augen unter buschigen Brauen.

Schon mehrmals hatte Maja versucht, Mirli in ein Gespräch zu verwickeln, doch die alte Frau hatte höchstens genickt oder gelacht. In einem ihrer spärlichen wachen Momente hatte ihre Bettnachbarin, Frau Haberlander, gesagt, die Alte sei nicht ganz richtig im Kopf und könne gar nicht reden. Eigentlich war das egal, denn Maja und Mirli verstanden sich auch ohne Worte.

Wenig später brachte Sonja, eine der Pflegehelferinnen, das Abendessen. The Beauty and the Beast, dachte Maja unwillkürlich, als die zartgliedrige, rothaarige Pflegehelferin hinter Mirli auftauchte. „Geh Mirli, du sollst dich doch nicht auf der Pflegestation herumtreiben!“, schimpfte Sonja.

Mirli zog schuldbewusst den Kopf ein.

„Sie tut ja nichts“, verteidigte Maja die alte Frau.

„Darum geht es nicht“, sagte Sonja. „Erstens gibt es Regeln und zweitens brauchen Kranke ihre Ruhe. Außerdem ist es sowieso Zeit fürs Abendessen.“ Sie nickte Mirli zu. „Geh hinüber in den Speisesaal, sonst musst du heute ohne Nachtmahl ins Bett.“

Mirli packte ihren Wastl und duckte sich an der Pflegehelferin vorbei aus dem Zimmer.

„Sind S’ doch nicht so streng mit ihr. Ich freu mich immer, wenn sie kommt!“, sagte Maja. „Sie vertreibt mir wenigstens die Zeit.“

„Schön!“ Sonja half Maja, den Kopfteil des Bettes zu verstellen, und schüttelte den Polster auf, der ihren Rücken stützte. Maja fielen dabei die vielen Sommersprossen auf den Armen der Pflegehelferin auf. Auch der helle Teint sprach dafür, dass Sonjas Haare naturrot waren.

„Schon wieder Grießkoch?“ Maja verzog das Gesicht.

„Gemüsesuppe hätte ich als Alternative“, bot die Pflegehelferin an.

Maja seufzte. „Ja bitte.“

„Wir sind leider kein Fünf-Sterne-Hotel“, scherzte Sonja. „Morgen kriegen S’ eine Käseplatte, wenn’s recht ist.“

Sie klappte das Tablett aus und stellte den Teller darauf. Auf Frau Haberlanders Nachttisch platzierte sie eine Schüssel mit Kompott. „Wenn ich es schaffe, komm ich später und helfe Ihnen beim Essen“, sagte sie und strich der Kranken über den Kopf. „Guten Appetit!“ Sie nickte Maja zu und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Die Suppe war lauwarm und schmeckte nach Kohlsprossen. Eines der wenigen Gemüse, die Maja gar nicht mochte. Sie zwang sich, trotzdem ein paar Löffel zu essen.

Nach einer Weile kam der Zivildiener, um das Ge­­schirr abzuräumen. „Keinen Hunger“, bemerkte er lapidar, als er Frau Haberlanders unberührtes Kompott auf den Servierwagen räumte. Dass die alte Frau seit der letzten Morphiumgabe immer noch schlief, war ihm offenbar entgangen. Wäre Maja nicht schon wieder eingedöst gewesen, hätte sie ihn bestimmt darauf aufmerksam gemacht.

Zwei Wochen später

Maja schrak auf. War das ein Schrei gewesen? Sie horchte angestrengt ins Dunkel. Ihr Herz klopfte wild. Hatte sie schlecht geträumt? Ein Fensterflügel klapperte im Wind. Ihre Zimmernachbarin schnarchte leise.

Vor einer Woche war sie in den ersten Stock des Altersheims verlegt worden. Man brauchte das Bett auf der Pflegestation für eine andere Frau und Majas Gesundheitszustand hatte sich mittlerweile so weit gebessert, dass sie ohne weiteres in eines der Zweibettzimmer im Haus umziehen konnte. Man hatte sie bei Frau Stadlhuber untergebracht, deren frühere Zimmergenossin erst kürzlich gestorben war. Maja hoffte, dass es nicht in diesem Bett geschehen war. Sie fand die Vorstellung, dass jemand auf ihrer Matratze seinen letzten Atemzug getan hatte, irgendwie gruselig.

Frau Stadlhuber, die schon ein gutes Stück über achtzig war, grunzte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Nach einer Weile setzte das Schnarchen wieder ein.

Maja lauschte erneut. Sie musste sich getäuscht haben. Vielleicht hatte sie im Halbschlaf ein Käuzchen oder eine Eule gehört? Wieder schlug der eine Fensterflügel gegen den Metallgriff des anderen. Außerdem war es kühl im Zimmer. Sie überlegte, ob sie das Fenster schließen sollte.

Das Aufstehen war ihr dann aber doch zu mühsam. Sie wickelte sich fester in ihre Decke. Die Äste der Birke vor dem Fenster warfen gespenstische Schatten an die Wand und den Plafond. Hoffentlich konnte sie wieder einschlafen. Sie versuchte, die Geräusche ihrer Mitbewohnerin zu ignorieren. Das unregelmäßige Klappern des Fensterflügels ging ihr auf die Nerven. Sie drehte sich zur Wand. Renate Stadlhuber murmelte irgendetwas. Maja spitzte die Ohren, verstand jedoch kein Wort. Sie wechselte neuerlich die Position. Ihre Hüfte schmerzte. Sollte sie die Schwester um ein Schlafmittel bitten? Daheim würde sie in einer solchen Situation einfach aufstehen und sich vor den Kamin setzen. Vielleicht ein Feuer machen und bis Tagesanbruch in die Flammen starren oder ein Buch lesen. Oder sie würde das Bild im Atelier fertig malen. Bestimmt würde sich ein Käufer dafür finden. Mit dem Geld könnte sie das Dach reparieren lassen.

Majas Augen brannten. Sie wischte sich über das Gesicht. Sie durfte sich nicht mit solchen Bildern quälen. Es war sinnlos. Sie hatte sich überreden lassen, ihr Haus aufzugeben und ins Altersheim zu ziehen, und musste jetzt mit ihrer Entscheidung leben. Sie sollten das Positive in der Veränderung sehen, hatte ihr die Physiotherapeutin geraten. „Ich bemüh mich ja“, murmelte Maja. Sie war müde und konnte doch nicht schlafen. Dann fiel ihr etwas ein, das fast immer geholfen hatte. Sie stellte sich vor, in der Hängematte zwischen ihren Apfelbäumen zu dösen. Die Sonne schien dabei warm auf ihre Beine. Vögel zwitscherten, eine dicke Hummel brummte an ihrem Ohr vorbei. Der Wind raschelte leise in den Blättern und wehte Fliederduft in ihre Nase. Unter der Weide saß Joe mit seinem Skizzenblock. Er legte ihn beiseite, kam auf sie zu und küsste sie sacht auf den Mund …

Die Sonne schien bereits hell ins Zimmer, als Maja die Augen aufschlug. Sie gähnte ausgiebig.

„Ausgeschlafen?“

„Guten Morgen!“ Maja warf einen Blick auf den Wecker auf ihrem Nachtkästchen. Normalerweise war ihre Zimmernachbarin um diese Zeit längst auf. Meist wurde sie von ihrem Rumoren im angrenzenden Badezimmer oder vom Rauschen der Klospülung geweckt. Frau Stadlhuber kletterte umständlich aus dem Bett und schlüpfte in ihre Patschen. Sie zog den Vorhang ganz beiseite und schloss das Fenster. „Bei der frischen Luft schläft es sich gleich besser, gell?“

Maja nickte.

Es klopfte an der Tür. Rosi, die Küchenhilfe, brachte Majas Frühstück. Maja durfte ihr Frühstück im Zimmer einnehmen, weil sie immer noch Hilfe beim Aufstehen und Anziehen brauchte. Die Ausnahmegenehmigung kam auch dem Personal entgegen, das am Morgen ohnehin genug Arbeit hatte.

Rosi stellte das Tablett auf dem Tisch vor dem Fenster ab. Ihre feisten Wangen waren gerötet. Die aschblonden Haare hatte sie zu einem Knoten aufgesteckt.

Maja drückte auf den Schalter, mit dem sich der Kopfteil ihres Bettes verstellen ließ. Der obere Teil des Lattenrosts surrte in Schräglage, sodass sie sich be­­quem an den Polster lehnen konnte. Rosi klappte das Tablett aus und stellte es auf das Bett.

„Und, was gibt es Neues?“, fragte Maja aufgeräumt.

Gerade als Rosi zu einer Antwort ansetzte, öffnete sich die Badezimmertür. „Guten Morgen, Tante Renate“, begrüßte Rosi ihre Großtante. „Ich hab dir ein Stück Topfenstrudel mitgebracht.“ Renate Stadlhuber lächelte. Sie war sichtlich erfreut, dass Rosi mit kleinen Aufmerksamkeiten immer wieder für Abwechslung im ansonsten eintönigen Speiseplan sorgte.

Maja schenkte sich Tee ein. Lieber wäre ihr Kaffee gewesen, aber die dünne Brühe, die zum Frühstück angeboten wurde, war für ihre Begriffe nicht trinkbar.

„Hast du gehört, was in der Nacht passiert ist?“, platzte Rosi heraus.

Ihre Großtante schüttelte den Kopf.

„Die Mirli ist tot.“

Maja, die eben damit begonnen hatte, Butter auf ihr Brot zu schmieren, legte das Messer zur Seite. „Unsere Mirli?“

Rosi nickte.

Mirli war auch nach Majas Wechsel von der Pflege­station auf eines der Seniorenzimmer immer wieder zu Besuch gewesen. Meist dann, wenn Renates Verwandte Süßigkeiten gebracht hatten. Die alte Frau war süchtig nach Zuckerln und Schokolade gewesen und schien einen sechsten Sinn dafür zu haben, wann wieder Nachschub gekommen war.

„Wie …?“

Rosi senkte die Stimme. „Eigentlich darf ich ja nichts sagen. Aber es bleibt eh unter uns, oder?“

„Natürlich“, beteuerte Renate Stadlhuber: „Erzähl schon!“

„Sie hat sich das Genick gebrochen.“

„Um Gottes Willen“, entfuhr es Maja.

„Wie ist denn das passiert?“, fragte Renate Stadl­huber.

„Aus dem Fenster ist sie geköpfelt und wahrscheinlich blöd bei der Umrahmung der Blumenrabatte aufgekommen.“

„Wann?“

„In der Nacht. Genau weiß ich es auch nicht.“ Rosi zog ein Taschentuch aus ihrem Arbeitsmantel und schnäuzte sich geräuschvoll.

Schreck durchzuckte Maja. War es Mirlis Todesschrei gewesen, der sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte?

„Ich hab nichts gehört. Ist auch kein Wunder. Seit ich die neuen Pulver nehme, schlafe ich wie eine Tote!“ Renate Stadlhuber schien die Pietätlosigkeit ihrer Wortwahl nicht zu bemerken.

„Mirlis Zimmernachbarin hat nichts bemerkt?“, fragte Maja.

Rosi hatte sich auf einen der Sessel gesetzt und die Gesundheitsschlapfen von ihren Füßen geschüttelt. „Sie war gar nicht in ihrem Zimmer, sondern angeblich in diesem Wohlfühlzimmer.“

Maja hatte schon von dem Zimmer gehört. Es war erst vor ein paar Wochen eingerichtet worden und diente als Rückzugsort für Bewohner, die mit ihren Besuchern allein sein wollten. Renate Stadlhuber nannte es spöttisch Romantikzimmer, weil vor kurzem ein Paar darin beim Küssen überrascht worden war.

„Mitten in der Nacht?“

Rosi zuckte die Schultern. „Die ist doch öfter in der Nacht durchs Haus strawanzt. Wahrscheinlich war sie wieder einmal unterwegs. Jedenfalls ist sie in der Früh im Garten gefunden worden. Die Polizei war auch da.“

„Tragisch“, murmelte Maja.

Rosi nickte. „Ja. Für den Schönwies auch. Der kann solche Schlagzeilen gar nicht brauchen.“

Renate Stadlhuber nickte zustimmend. Mit ihrer großen Brille wirkte sie wie eine Eule.

In Rosis Schürzentasche klingelte es. Sie hielt sich das Handy ans Ohr. „Gleich“, antwortete sie knapp. „Mein Typ ist gefragt. Vielleicht komm ich am Nachmittag noch einmal auf ein Tratscherl. Dann müssen wir auch über deinen Frisörtermin reden. Du wolltest ja eine frische Dauerwelle.“ Letzteres war an ihre Großtante gerichtet. „Also bis später.“ Sie schlüpfte in ihre Schlapfen und eilte aus dem Zimmer.

Zwei Tage später

Immer ein Schritt nach dem anderen, langsam, erst den rechten Fuß, Zeit lassen, wiederholte Maja in Gedanken. Sabines Worte begleiteten Maja bei ihren Übungen wie Musik. Die Physiotherapeutin hatte ihr zwar aufgetragen, sich nicht zu überfordern, aber Majas Ehrgeiz, die lästige Gehhilfe sobald wie möglich loszuwerden, spornte sie zu Höchstleistungen an. Gern hätte sie im Zimmer trainiert, unbeobachtet von den anderen. Aber Renate Stadlhubers hektische Suche nach einem alten Foto hatte sie vertrieben. Nicht zum ersten Mal hatte die Zimmernachbarin etwas verlegt. Sie kramte dann mit wachsender Aufregung in den Laden, den Taschen ihrer Kleidungsstücke oder den Tiefen ihrer Handtasche, kippte deren Inhalt auf das Bett, den Tisch und manchmal auch auf den Fußboden. Hatte sie das Gesuchte dann gefunden, was meistens der Fall war, schimpfte sie sich selbst ein Vergissmeinnicht.

Bei allem Verständnis für die Eigenheiten ihrer Mitbewohnerin lag Maja viel daran, wenigstens tagsüber ein paar Stunden ohne Renate Stadlhuber zu verbringen. Sie hatte sich vorgenommen, sobald es das Wetter zuließ, einen Großteil ihrer Zeit im Park zu verbringen. Drinnen fiel ihr immer öfter die Decke auf den Kopf.

Haus Waldesruh lag knapp fünfzig Kilometer von der Bundeshauptstadt entfernt und etwa zwei Kilo­meter außerhalb eines Dorfes mit knapp tausend Einwohnern. Die Region warb mit naturbelassenen Ausflugsgebieten und einem großen Netz an Rad- und Wanderwegen. Das wusste Maja aus einem Prospekt.

Auch über ihre unmittelbare Umgebung hatte sie bereits einiges in Erfahrung gebracht. Sie war im Haupthaus des Altersheims untergebracht, in dem sich die Verwaltung, eine kleine Pflegestation und etliche Zwei- und Dreibettzimmer befanden. Seitlich angebaut, aber mit dem Haus verbunden, gab es eine kleine Kapelle, in der eine Pastoralassistentin jeden Samstag einen Wortgottesdienst abhielt. Gegenüber vom Haupthaus lag ein zweistöckiges Gebäude mit insgesamt acht Wohneinheiten für betreutes Wohnen. Für Einzelpersonen gab es Garçonnièren, die Wohnungen für Paare waren etwas größer. Majas Erkundungsgänge waren bislang auf das Haupthaus beschränkt geblieben. Dabei waren die Gänge und die Eingangshalle ihre bevorzugten Aufenthaltsorte, weil sie hier Platz für ihre Gehübungen hatte.

Maja warf einen Blick auf die Uhr. Bis zum Essen blieb noch genug Zeit. Sie schob ihre Gehhilfe entschlossen vor sich her.

„Sie haben es aber eilig“, bemerkte Otto im Vorbeigehen frech.

„Sehr witzig“, murmelte Maja. Sie bedachte den Zivildiener, der kaum älter als ein Hauptschüler wirkte, mit einem bösen Blick. Otto fehlte es eindeutig an Respekt für die alten Herrschaften. Sie war nicht die Einzige, die so dachte, und sie fragte sich, was ihn wohl bewogen hatte, seinen Zivildienst in einem Altersheim zu leisten.

Otto wandte sich feixend um und übersah dabei Herrn Hollnsteiner, der eben mit dem Rollstuhl aus seinem Zimmer kam. Der Zivildiener rammte das Gefährt des alten Mannes frontal und konnte einen Sturz gerade noch verhindern. Er rieb sich fluchend das Knie. Der alte Hollnsteiner starrte ihn entgeistert an. „So ein Hans Guck-in-die-Luft“, sagte er nach einer Schrecksekunde.

„Weh getan?“ Maja verkniff sich ein schadenfrohes Grinsen.

„Mir geht’s gut“, antwortete der alte Mann. „Dir auch, oder?“ Er musterte den Zivildiener abwartend.

„Scheiße!“, fluchte Otto, bevor er sich bückte und die Medikamentenschachteln aufhob, die ihm beim Zusammenprall aus der Hand gefallen waren. Dann ging er humpelnd seines Wegs.

Hollnsteiner schüttelte den Kopf, wendete den Rollstuhl und hielt auf den Lift zu.

Maja dachte an Schildkröten, während sie weiter ihr Ziel ansteuerte. Es war bereits in Sichtweite. Wenig später stand sie direkt davor. Auf dem unscheinbaren Türschild war Wohlfühlzimmer zu lesen. Die Bezeichnung passt nicht, dachte Maja. Fenstersturzraum wäre treffender. Wie es wohl drinnen aussah? Sie griff nach der Klinke. Das Zimmer war versperrt. Womöglich ermittelte die Polizei noch? Andererseits müsste dann zumindest ein Siegel oder ein Absperrband angebracht sein. In den Fernsehkrimis war es jedenfalls immer so.

Maja überlegte, ob sie nach dem Schlüssel fragen sollte. Aber mit welcher Begründung? Nicht einmal Hannes besuchte sie. Aber mit ihm wäre sie sowieso nicht in dieses Zimmer gegangen. Ein wenig enttäuscht trat sie den Rückweg an.

Der alte Hollnsteiner stand mit seinem Rollstuhl vor dem Aufzug. „Wollen S’ hinunter?“, fragte sie. Er hob verwirrt den Kopf. Hatte er gedöst? „Ja, ja. Bitte!“

Sie drückte auf den Knopf und wartete geduldig, bis der alte Mann seinen Rollstuhl in die Kabine befördert hatte. Dann stieg auch sie ein. Gemeinsam fuhren sie ein Stockwerk tiefer.

Die Front der Eingangshalle war verglast, sodass auch an trüben Regentagen wie diesem ausreichend Tageslicht hereinfiel. Zwei Sitzgruppen und etliche Grünpflanzen vermittelten den Eindruck von Gemütlichkeit. Palmkätzchen, die mit bemalten Eiern geschmückt waren, standen in einer hohen Bodenvase neben einem der Sofas.

Die meisten Heimbewohner hielten sich, bis die Temperaturen ausgedehnte Aufenthalte im Garten erlaubten, tagsüber hier auf. Sie beobachteten das Kommen und Gehen von Mitbewohnern, Gästen und Lieferanten, unterhielten sich oder warteten am Wochenende auf Besuch. Auch einzelne Pfleglinge, die ihr Umfeld kaum mehr wahrnahmen, wurden hierhergesetzt oder im Rollstuhl hergeschoben. Damit waren sie unter Aufsicht und erhielten gleichzeitig Anregungen für ihre müden grauen Zellen.

Heute herrschte mehr Betrieb als sonst. Eine Gruppe aus dem Kindergarten scharte sich um den Sessel einer betagten Dame. „Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst …“, hörte Maja beim Näherkommen. Einige der Kinder schauten sich, während sie sangen, neugierig um. Eine junge Frau begleitete die Darbietung auf ihrer Gitarre. Die Greisin lächelte verzückt und klatschte den Takt zum Lied. Zur Feier des Tages hatte man sie herausgeputzt. Nur die Filzpantoffeln passten nicht so recht zum dunklen Kleid und der weißen Bluse mit dem Spitzenkragen.

„Frau Gsellmann war früher Kindergärtnerin“, sagte eine weißhaarige Frau, die dem Ständchen ebenfalls lauschte, zu Maja. Wie hieß sie gleich noch einmal?

„Herzig, die Kleinen.“

„Manchmal kommt es mir wie gestern vor, dass meine eigenen Kinder in dem Alter waren.“ Die Frau lachte.

„Ja, ja. Die Zeit vergeht. Schneller als einem manchmal lieb ist.“

Nachdem sich die Gitarrenspielerin und einzelne Kinder unter Applaus verbeugt hatten, trug ein Mädchen mit Zöpfen, die wie Antennen von ihrem Kopf ab­standen, ein Gedicht vor. Sogar einen Knicks brachte das Kind zustande, bevor sie der Jubilarin einen Blumenstrauß überreichte. Die ehemalige Kindergärtnerin streichelte dem Kind über die Wange und wischte sich gerührt die Tränen ab.

Maja hatte genug gesehen. Sie umklammerte die Griffe ihrer Gehhilfe und ging zur Anschlagtafel hin­über. Dort legte sie die nächste Pause ein. Für das Basteln des Osterschmucks wurden noch Interessierte gesucht, das Osteoporose-Turnen fand, wie immer, am Dienstag statt und für heute war eine Filmvorführung im Mehrzweckraum angekündigt – Jetzt schlägt’s 13, ein Film mit Hans Moser und Theo Lingen in den Hauptrollen. Für den darauf folgenden Monat war der Besuch einer Vorstellung im Landestheater geplant. Karten waren noch zu haben, wie auf dem Flugblatt stand. Sabine, die Physiotherapeutin, hatte ihr geraten, das eine oder andere Angebot in Anspruch zu nehmen, um Kontakte zu knüpfen und sich die Eingewöhnungsphase zu erleichtern. Ins Theater wäre Maja gerne mitgefahren, aber sie befürchtete, dass ihr mit der lädierten Hüfte die Busfahrt und das lange Sitzen zu viel sein würden.

Sie rückte ihre Gehhilfe zurecht und nahm das nächste Teilstück ihrer Trainingsstrecke in Angriff. Einen Schritt nach dem anderen, Zeit lassen, wiederholte sie in Gedanken. Beim Fenster traf sie Helene Stocker, die mit ihr am Mittagstisch saß. Frau Stocker hatte eine Vorliebe für breitkrempige Hüte und grellen Lippenstift.

„Grüß Sie, Frau Hauser!“ Maja grüßte freundlich zurück. Sie hieß zwar nicht Hauser, sondern Berg, wusste aber inzwischen, dass Helene oft in ihre eigene Welt abdriftete und in den Heimbewohnern Menschen zu erkennen glaubte, die in ihrem Leben früher eine Rolle gespielt hatten. Neben der Vase mit den Ostereiern saß Herbert Bloch. Er hatte offenbar endlich Nachschub erhalten. Der alte Mann liebte es, Luftpolster von Verpackungsfolien zu zerdrücken. Das knackende Geräusch, das entstand, sobald eine Blase platzte, erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung.

Maja lächelte und setzte ihren Weg fort.

„Himmelfix!“ Fast wäre sie über Nazls Spazierstock gestolpert. Der alte Mann, der eine Vorliebe für Kriegsfilme hatte und ein Ewiggestriger geblieben war, trug sein immer noch dichtes Haar akkurat ge­­scheitelt. Meist traf man ihn in seinem Trachtenanzug an.

„Passierschein“, schnarrte er und funkelte Maja böse an. Ein paar Köpfe drehten sich neugierig zur Quelle des Tumults hin. Jede Unterbrechung der Alltagsroutine war willkommen.

„Lassen Sie mich vorbei“, sagte Maja.

„Passierschein. Oder ich muss dich melden!“ Der Alte ließ nicht locker. Er hob drohend seinen Stock. Karl Svoboda, sein zuckerkranker Freund, kicherte belustigt. Er war, wie immer, an Nazls Seite und hielt eisern zu seinem Freund, wenn sich, was immer wieder vorkam, jemand über die beiden beschwerte.

„Na Pupperl, hama keinen Passierschein nicht? Der Herr General wartet!“, zischelte er. Sein falsches Gebiss saß schlecht, wie man an seiner Aussprache hörte.

„Ignaz, sekkier die Dame nicht“, mischte sich ein älterer Mann ein. Er hatte das Foyer eben erst betreten. Seine Haare waren feucht, auf der abgetragenen Lederjacke glitzerten Wassertropfen.

„Verschwind, Moser“, sagte Nazl, der sich um seinen Spaß gebracht sah.

Der Neuankömmling ignorierte Nazls aggressiv vorgebrachte Aufforderung und wandte sich an Maja. „Alles in Ordnung?“

Sie nickte und hantelte sich mit ihrer Gehhilfe weiter. Sie sehnte sich nach ein wenig Stille und wusste auch schon, wo sie diese finden würde.

***

Durch die bunten Scheiben fiel getöntes Licht. Ein üppiger Chrysanthemenstrauß schmückte den Altar. Friedhofsblumen, dachte Maja. Sie waren Joe zuwider gewesen, aber die Stimmung hier hätte er wohl gemocht. Das leise Prasseln des Regens auf dem Dach, das Spiel der Schatten auf dem Altartuch, wenn der Wind die Bäume vor den Fenstern bewegte, das harzige Aroma des Weihrauchs … Maja vermisste Joe. Dabei hatte sie in langen Jahren gelernt, im Alltag ohne ihn auszukommen. Sie erinnerte sich an einen Gedenkspruch, den sie einmal auf einem Grabstein gelesen hatte: Die Wunde, die dein Tod mir schlug, kann mein Tod nur heilen.