Jenseits auf Rezept - Lisa Lercher - E-Book

Jenseits auf Rezept E-Book

Lisa Lercher

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Beschreibung

Mord an der schönen blauen Donau - ein verzwickter Fall für Major Paul Eigner Sonja König, Männermagnet des neuen Therapiezentrums im Dorf, verdreht nicht nur zahlreichen Wachauern den Kopf, sondern weckt auch reichlich Eifersüchteleien. Als man sie schließlich tot aus der Donau fischt, hat Major Paul Eigner einiges zu tun. War es ein Verbrechen aus Leidenschaft? Hat sie einer ihrer Verehrer auf dem Gewissen? Oder ist alles doch ganz anders? Einen Unfall kann der Major jedenfalls ausschließen. Denn die Spuren an der Donau deuten eindeutig darauf hin, dass Sonja nicht ohne Kampf auf der Böschung ausgerutscht ist. Krimivergnügen mit der richtigen Portion Atmosphäre Umsichtig und klug ermittelt Major Eigner zwischen rivalisierenden Liebhabern, zerbrochenen Lebensträumen und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Hausarztes, der Sonja mehr als nur Chef war. Hinter der blankpolierten Fassade des neuen Therapiezentrums rumort es nämlich kräftig, denn nicht nur Sonja war in ihren Chef verliebt. Und dessen Mutter will von Problemen ihres Sohnes partout nichts wissen … Ein Krimi aus dem Herzen des dörflichen Lebens, verpackt in eine spannende Handlung mit zahlreichen Verdächtigen - ein behagliches Lesevergnügen! Weitere Bücher bei HAYMON tb: - Mord im besten Alter - Faule Marillen

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Lisa Lercher

Jenseits auf Rezept

Kriminalroman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Roman
Epilog
Glossar
Lisa Lercher
Zur Autorin
Impressum

Roman

Sie umklammert den Griff ihres Gehstocks. Was war das? Ein Stoß? Der Blick ihres Gegenübers ist kalt. Eine Hand greift nach ihr, packt sie am Arm. Sie öffnet den Mund, will protestieren, verschluckt sich am Schrei. Nur ein ängstliches Winseln entweicht ihren Lippen, als sie beim nächsten Stoß den Boden unter den Füßen verliert. Sie schlittert über glitschige Stufen in die modrige Kellerluft. Ihre Finger schrammen über raues Mauerwerk, die Schulter schlägt gegen die Wand. Vom Aufprall zur Seite geworfen, trudelt und kollert sie wie weggeworfenes Spielzeug hinunter zum gestampften Erdboden. Das Bewusstsein längst in tiefe Nacht entschwunden, kommt sie endlich zur Ruhe. Durch den geschundenen Körper geht ein sachtes Zittern, als mit dem letzten Lebenshauch auch ihr Geist erlischt.

Ihre Begleitung, eben noch als Gast bewirtet, zögert noch einen Moment lang, bevor sie sich vorsichtig in die Tiefe tastet.

Die Stille hat sich verändert, ist endgültig geworden. Aber vielleicht spiegelt dieses dichte Nichts, das ihr entgegenkriecht, auch nur die archaische Angst wider. Vor dem eigenen Verschwinden, der Auflösung, die folgt, wenn das Herz zu schlagen aufhört, die Organe versagen. Der Gast schüttelt die morbide Stimmung ab. Dafür ist jetzt keine Zeit. Es gibt Wichtigeres zu tun.

Der Körper der Toten liegt gekrümmt auf dem kalten Boden. Ein feiner Blutfaden kriecht aus dem Ohr und verliert sich unter dem Ohrläppchen in einer Halsfalte. Die Finger der linken Hand sind zur Faust geballt. Die geblümte Kleiderschürze und der beige Rock sind nach oben gerutscht und geben den Blick auf seidig glänzende Stützstrümpfe frei. Der Gast muss Gewissheit haben. Er beugt sich über das Opfer, stößt es sacht mit der Schuhspitze an. Bückt sich schließlich hinunter, legt zwei Finger auf den Hals, forscht nach verräterischem Puls. Vergeblich. Auch die Handfläche vor dem Mund erspürt keine Atemluft. Der Schein der Taschenlampe zerstreut den letzten Rest von Zweifel. Der Blick der Toten ist gebrochen, die eben noch aufblitzende Gier aus den Augen verschwunden.

Der Gast kann einen leisen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken. Ihm ist wohler, die Frau geborgen im Jenseits zu wissen. Er ist sich nicht sicher, ob er sie verletzt hätte liegen lassen können. Vielleicht hätte ihn dann ihr Geist heimgesucht, ihm Vorwürfe gemacht, dass sie noch hatte leiden müssen … Dann streift ihn kurz ein anderer Gedanke, seine Schultern verkrampfen sich. Nein, er hätte sie nicht einfach lebend zurücklassen können. Das Risiko, dass sie gefunden würde, mit ein paar Brüchen und Quetschungen davonkam und sich an die letzten Minuten erinnerte, wäre zu groß gewesen. Er hätte in jedem Fall … Er schiebt die Bilder, die sich ihm aufdrängen, energisch zur Seite und richtet sich auf.

Er sieht sich um, erneut erleichtert, dass es so einfach gewesen ist, beinahe unspektakulär. Es war weder Zeit für Panik, noch für einen Fluchtimpuls. Nur ein verwirrtes Staunen, der Mund, der hatte protestieren wollen, die Hand, die keinen Halt fand. Dann ein unkontrolliertes Kollern, das wirbelnde Muster der Kleiderschürze – als ob man durch ein Kaleidoskop schaute, der dumpfe Aufprall im Finale vor der unheimlichen Stille, die ihn noch immer umfängt.

Er hat sofort gewusst, dass sie den Köder schlucken würde. Er kannte die Sorte. Solche wie sie bekamen den Hals nie voll genug.

Der Besucher wirft einen letzten Blick auf sein Opfer, gibt acht bei den Stufen. Sie sind rutschig, die Kanten scharf. Trotzdem muss er sich beeilen, sämtliche Spuren beseitigen. Alles soll auf einen Unfall hindeuten. Er schließt die knarrende Holztür, öffnet sie dann doch einen Spalt. Die Vorstellung, was streunende Katzen, Marder oder Ratten mit der Leiche anstellen werden, lässt Gänsehaut über seinen Rücken rieseln.

***

Major Paul Eigner brühte seinen Shincha auf. So viel Zeit musste sein. Lieber hätte er den Grüntee vor dem Haus in der Morgensonne genossen. Der Wecker hatte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte gestreikt und Eigner damit einen hektischen Aufbruch beschert. Dabei war ihm Stress zuwider, erst recht gleich nach dem Aufstehen.

Seine Kollegin, Beate Ringelmoser, hatte den Schauraum bereits geöffnet, als er mit einer Viertelstunde Verspätung eingetroffen war. Sie hatte sich jeden Kommentar verkniffen, ihn stattdessen freundlich gegrüßt. Inzwischen wusste sie, dass er kein Morgenmensch war.

Während der Major das Sieb mit den Blättern in der hellgrünen Flüssigkeit schwenkte, bimmelte die Türglocke. Er seufzte. Nicht einmal der erste Schluck war ihm in Ruhe vergönnt. Die alte Frau, die an den Türen mit den Sicherheitsschlössern und an der Stellage mit den einbruchshemmenden Beschlägen vorbei in seine Richtung wuselte, begrüßte ihn mit einem gehetzten: „Guten Morgen Herr Inspektor! Ich hab Ihnen etwas mitbracht!“ Eigners Kollegin, die mit gerunzelter Stirn von ihren Unterlagen aufgeschaut hatte, flüchtete mit einem entschuldigenden Lächeln in den Nebenraum.

Der Major stellte seine Teeschale zur Seite. Die Aussicht auf ein paar beschauliche Minuten, die er mit seinem Sincha hatte verbringen wollen, war nun endgültig dahin. „Die Frau Gebetspichler. Was verschafft uns die Ehre?“, begrüßte er das kleine Weiblein, das ihn mit ihren flinken Bewegungen an eine Maus erinnerte. Er erhob sich halb aus seinem Schreibtischsessel. Vielleicht konnte er ihren Besuch ja abkürzen, wenn er ihr entgegenging?

„Bleiben S’ ruhig sitzen!“ Schneller, als er reagieren konnte, hatte sich die Frau auf dem Besuchersessel an der Seite seines Schreibtisches niedergelassen, kramte in der geräumigen Einkaufstasche und beförderte ein in Papier und Plastiksackerl gewickeltes Paket auf den Schreibtisch.

„Ich hab gestern Krapfen gebacken. Sie sind mit Rosenmarillenmarmelade gefüllt. Die hab ich voriges Jahr bei Ihrer Schwester gekauft. Der Teig ist so schön aufgegangen, sonst muss ich mich nämlich oft einmal ärgern. Sie wissen eh, da hat man die Schüssel an einen warmen Platz gestellt, freut sich, dass der Germteig so gut aufgeht, und dann reißt einer die Tür auf und schon ist das Malheur passiert. Sie glauben nicht, wie schnell das …“

Wann holte die Alte Luft?

„… dann hat mich die Marianne angerufen und gesagt, dass die Rosl tot ist, und dann sind Sie mir eingefallen.“ Die hellen Äuglein im faltigen Gesicht der Greisin blinzelten ihn abwartend an.

„Welche Rosl?“, fragte er.

„Die Nienführ Rosl. Die werden S’ nicht kennen. Die wohnt drüben, a bisserl außerhalb von Rossatz, Richtung Rossatzbach. Wissen S’ wo ich mein?“

Eigner nickte, obwohl er keineswegs sicher war.

„Jedenfalls ist die Rosl über ihre Kellerstiege g’stolpert und hat sich dabei den Hals gebrochen, hat die Marianne gesagt.“ Der Tonfall der Gebetspichlerin nahm eine Klagenuance an. „Es ist ein Jammer. Die Marianne kann einem wirklich leidtun. Als ob sie nicht schon genug eigene Sorgen hätt.“

Eigner interessierten die vielen Probleme der Frau Marianne, die er noch dazu nicht kannte, herzlich wenig. „Ein Unfall?“, vergewisserte er sich.

„Na freilich. Oder glauben S’, weil ich da bin …?“, die Alte schüttelte tadelnd den Kopf. „Nein, nein. Der Doktor hat g’sagt, dass es wahrscheinlich ein Schwächeanfall war, und deswegen wird sie sich derhaspelt haben. Dabei hab ich ihr öfters gesagt, dass sie sich feste Schuhe anziehen soll, wenn sie im Garten draußen unterwegs ist. Sogar eure Broschüre über die Stolperfallen im Haushalt hab ich ihr vorbeigebracht. Dann hat sie eh den Teppich im Badezimmer weggeräumt und im Vorhaus nur mehr im Winter einen Fetzen aufgelegt.“ Frau Gebetspichler hatte den Mantel aufgeknöpft und das Halstuch gelockert. Den Fehler, nachzufragen, ob sie ablegen wolle, hatte Eigner nur einmal gemacht.

„Und was kann ich …“, versuchte Eigner nun endlich selbst die Regie zu übernehmen. Die Gebetspichlerin unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Ein Unfall. Gott sei Dank. An was anderes mag ich gar nicht denken. Bei uns passiert sowieso schon genug. Denken S’ an den Klein Dürnspitzer Pfarrer, den man vor ein paar Jahren in dem Weingarten ausgegraben hat, oder an den Spitzer Bürgermeister, der mit den Zuckerln vergiftet worden ist …“

Eigner schaltete seine Ohren auf Durchzug und überlegte, wie er seine redefreudige Besucherin loswerden konnte. Er musste noch einige Termine vereinbaren und im Jugendzentrum nachfragen, ob der Sozialarbeiter, der ihn zu den Lehrlingen begleiten sollte, wieder gesund war.

„… oder an den Buben, der mitten im Supermarkt erschossen worden ist. Stellen Sie sich vor – die haben einen Film aus der Geschichte gemacht. Die Tochter meiner Nichte hat als Komparsin mitgespielt“, die Alte lächelte einen Moment lang verklärt.

„Frau Gebetspichler, ich muss dann …“, startete Eigner einen halbherzigen Versuch. Die alte Frau ließ sich nicht unterbrechen. Er sah hilfesuchend zu seiner Kollegin hinüber, die mit einem Packen Handzettel ins Büro zurückgekommen war und diese nun in einen Kasten räumte.

„Drogensüchtige hamma auch genug. Die vielen Nadeln, die im Park herumliegen. Fast hätt sich meine Axi da einmal gestochen, das arme Viecherl. Herr Inspektor, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine Lücke so ein Tier hinterlässt. Es vergeht kein Tag …“, war die Alte bei einem ihrer Lieblingsthemen angekommen.

„Ich stör ungern“, mischte sich Eigners Kollegin nun doch ein. „Aber gleich kommt eine Schulklasse. Wir müssen den Schauraum herrichten und da brauch ich die Hilfe von einem starken Mann.“ Sie nickte in Eigners Richtung.

„Ich muss sowieso weiter“, sagte die Alte merklich verstimmt. „Aber vorher müssen wir noch einen Termin ausmachen.“

„Einen Termin?“

„Sicher. Ich bin schließlich nicht zum Vergnügen da.“ Die Alte griff nach ihrer Einkaufstasche und zog eine verknitterte Zeitung hervor. „Ihr machts Werbung für eine Spezialberatung“, begann sie, „ich hab es in der Wachau-Post gelesen.“ Frau Gebetspichler hatte inzwischen die richtige Seite in dem Gratisblatt, das als Postwurfsendung an die Haushalte ging, gefunden. Sie tippte auf die Anzeige, die das jüngste Pilotprojekt des kriminalpolizeilichen Beratungsdienstes bewarb.

„Sie hätten also gern, dass jemand bei Ihnen vorbeikommt und Ihnen Tipps für die Sicherheit in den eigenen vier Wänden gibt?“, fragte Eigner

„Nicht irgendjemand“, berichtigte ihn die Frau. „Ich hätte gern, dass Sie kommen. Schließlich geht es bei sowas ums Vertrauen.“ Sie bedachte Inspektorin Ringelmoser mit einem giftigen Seitenblick. „Hätten S’ morgen Zeit?“

Eigner schüttelte den Kopf und griff nach dem Tischkalender. Nach kurzem Hin und Her hatten sich die beiden auf einen Termin geeinigt.

„Ich wohne nämlich allein, müssen S’ wissen. Da ist es manchmal schon ein bisserl unheimlich. Hören tu ich auch nicht mehr so …“

„Die Schulklasse“, brachte sich Eigners Kollegin in Erinnerung und tippte mahnend auf ihre Armbanduhr.

Frau Gebetspichler erhob sich ächzend. „Ich komm ein anderes Mal, wenn Sie mehr Zeit zum Plaudern haben“, sagte die Alte und wandte sich zur Tür.

„Da freu ich mich aber“, murmelte Eigner in seinen Schnauzbart.

„Mit so einer müssen S’ Deutsch reden“, sagte Beate, als die Tür hinter der Gebetspichlerin ins Schloss gefallen war. „Die sitzt sonst bis Dienstschluss da, weil ihr daheim fad ist.“

Beate Ringelmoser hatte sich neben seinem Schreibtisch aufgepflanzt. Ihre blauen Augen blitzen belustigt. Mit dem flotten Kurzhaarschnitt und dem spitzbübischen Grinsen im Gesicht wirkte sie wie höchstens Mitte vierzig. Dabei hatte sie den Fünfziger bereits vor zwei Jahren überschritten, wie Eigner aus dem Personalverzeichnis wusste. Beate hatte die Ärmel der Uniformbluse aufgekrempelt, die Jacke hing über der Lehne des Schreibtischsessels. „Meine Mutter war auch so eine. Ich weiß, wovon ich rede“, fügte sie hinzu.

„Sie tut mir halt leid“, bekannte Eigner.

„Geh, jemand wie die Gebetspichlerin findet auch woanders Unterhaltung, und wenn sie sich dafür beim Doktor ins Wartezimmer setzt.“ Seine Kollegin lachte auf. „Wissen S’, was mein Vater immer über solche Leute gesagt hat?“ Sie machte eine kurze Pause. „Dass man bei denen das Mundwerk extra erschlagen muss, wenn sie gestorben ist.“

Eigner schnaubte. Er kannte den Spruch. „Wann kommt die Schulklasse?“

Inspektorin Ringelmoser hob erstaunt die Augenbrauen. „Schulklasse? Kommt eine?“

Der Major schüttelte den Kopf. „Sie schwindeln eine arme, alte Frau an?“ Nun grinste auch er. „Wollen S’ vielleicht einen Krapfen?“

„Ich muss auf die Linie schauen.“ Beate Ringelmoser strich sich mit einem koketten Augenaufschlag über die Hüften.

„Aber geh. Sie sind genau richtig“, widersprach Eigner und griff nach dem Packerl, das seine Besucherin gebracht hatte. Die Mehlspeise kam ihm als Vormittagsjause gerade recht.

***

Auf der Zufahrt zur Donaubrücke ging es nur im Schritttempo voran. Ein Radfahrer in kurzen Hosen zischte über den Zebrastreifen. Die Vorboten sind schon da, registrierte der Major. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Touristen die Radwege unsicher machten. Dann musste man als Autorfahrer wieder besonders aufpassen, wenn einzelne Pedalritter gedankenverloren mitten auf der Straße anhielten, um ein mittelalterliches Haus zu fotografieren.

Er warf einen Blick auf den Fluss, der sich heute steingrau zeigte. Eigners Beziehung zur Donau war zwiespältig. Er hatte Respekt vor den Fluten, die bei Hochwasser Häuser mit Schlamm füllten, der hart wie Beton wurde, wenn er trocknete. Er würde nie vergessen, wie der Vater die bettlägerige Großmutter huckepack ins obere Stockwerk geschleppt hatte. Das ängstliche Wimmern der alten Frau klang ihm noch manchmal in den Ohren. Doch wenn der Fluss sich von seiner anderen Seite präsentierte – glitzernd und übermütig glucksend – und er zu einem erfrischenden Bad eintauchte, gab es keinen Ort, an dem er lieber gewesen wäre. Vielleicht war auch das ein Grund gewesen, warum es ihn nach seinem Herzinfarkt zurück zu seinen Wurzeln gezogen hatte.

Er blinkte, als er den Kreisverkehr in Richtung Römerhalle verließ. Tor zur Wachau, nannte sich Mautern, die kleine Stadt am rechten Donauufer, ein Stück flussabwärts von Krems gelegen. Der Major hatte zugestimmt, die neuen Informationsbroschüren auf seinem Heimweg gleich selbst ins Gemeindezentrum zu bringen. Beate Ringelmoser hatte ihn in ihrer praktischen Art zu dem kleinen Umweg überredet. Es sparte Steuergelder und außerdem schätzten es die Bürger, wenn die Behörde serviceorientiert war, hatte sie behauptet. Ein Lächeln glitt über Eigners Gesicht, als er an seine Kollegin dachte.

Er bog in die Rathausgasse ein, während er wieder einmal über sein Leben sinnierte. Es hatte sich alles gefügt: seine Rückkehr in die Wachau, wo er sich in dem von der Anna-Tant geerbten Häuschen eingerichtet hatte, der intensive Kontakt zu seiner Schwester Hanni, mit der er sich schon immer gut verstanden hatte und die Nähe zu seinem pflegebedürftigen Vater, der im Haushalt der Schwester lebte. Auch beruflich hatte er einen neuen Platz gefunden. Dass er bei der Kremser Kriminalpolizei eine ruhigere Kugel als auf dem Wiener Kommissariat schob, störte ihn nicht. Die Entscheidung, beim kriminalpolizeilichen Beratungsdienst auszuhelfen, hatte er auch noch nicht bereut. Die kleine Außenstelle war wegen Personalmangel nur tageweise besetzt, und als man erfahrene Beamte gesucht hatte, hatte er sich sofort gemeldet. Der Kontakt mit den Menschen, die sich Sicherheitsschlösser erklären ließen oder staunten, wie schnell und lautlos ein Einbrecher eine Balkontür öffnen konnte, machte ihm Spaß. Nur mit Schulklassen hatte er sich anfangs schwer getan. Das ruppige Auftreten pubertierender Burschen ging ihm auf die Nerven. Doch inzwischen wusste er, dass sie sofort interessiert zuhörten, wenn er erzählte, wie er einen Täter, der vom Balkon im dritten Stock nach draußen sprang, durch eine Kleingartensiedlung verfolgt, oder einen Schmuckdieb beim Duschen in einem Einfamilienhaus überrascht hatte.

Er stellte den Wagen vor dem Rathaus ab und trug den Karton mit den Foldern durch die Arkaden zum Gemeindeamt. Dort hielt er sich nicht lange auf, weil er auf seinem Heimweg auch noch beim Hausarzt Broschüren abgeben sollte.

Die Arztpraxis war in einem ehemaligen Winzerhof untergebracht. Die mächtige Linde auf dem Platz davor war mehr als dreihundert Jahre alt. Der Pächter der Café-Konditorei Lindenblick gegenüber stellte, sobald es warm genug war, Tische und Sessel im hinteren Teil des Platzes auf. Sein cremiges Schokoladeeis, das Erdbeersorbet, das nach frischen Früchten schmeckte, und die riesigen Eisbecher mit dem großen Berg Schlagobers waren über die Ortsgrenzen hinaus bekannt. An heißen Tagen musste man oft sogar warten, bis endlich ein Tisch frei wurde.

Heute parkten nur wenige Autos auf dem Platz. Eigner ging über Stufen zum geschnitzten Eingangstor hinauf. Sein Blick blieb am Messingschild neben dem Klingelbrett hängen. „Dr. med. Peter Donabaumer, Arzt für Allgemeinmedizin, ÖAK-Diplom für manuelle Medizin, alle Kassen“ war darauf graviert. Darunter fand sich ein Hinweis auf die Öffnungszeiten. Die Rampe für Rollstuhlfahrer, Mütter mit Kinderwägen und Menschen, denen das Stufensteigen schwerfiel, war bei seinem letzten Besuch vorigen Herbst noch nicht da gewesen. Dem jungen Arzt, der sich erst vor zwei Jahren in dem kleinen Ort niedergelassen hatte, eilte ein guter Ruf voraus. Er selbst hatte sich fachmännisch betreut gefühlt, als er den neuen Arzt wegen seiner schmerzenden Schulter aufgesucht hatte. Besonders gefallen hatte ihm das Verständnis des Mediziners für Eigners Hausmittelvorliebe – er nutzte vor allem Hochprozentiges, das man sowohl innerlich als auch äußerlich anwenden konnte. Zum Arzt ging er nur, wenn er mit seinem eigenen Latein am Ende war oder seine Schwester ihn sehr bestimmt dazu drängte.

Das Tor war nicht versperrt. Der lange Flur dahinter war mit gelben und braunen Fliesen ausgelegt. In einer verglasten Schautafel fand man Informationen über die Folgen von Zeckenbissen, die nächsten Impftermine und die Kontaktdaten für die Mutter-Kind-Treffen. Die Tür zum Wartezimmer stand weit offen, ebenso die Klotür gegenüber.

Über das knochige Hinterteil, das sich in sein Blickfeld drängte, spannten sich ausgewaschene Leggings. Eigner kannte die Frau, die sich über den Putzkübel beugte und dabei den Fetzen auswrang, bevor sie weiter das grüne Linoleum aufwischte. Er hatte Mitzi Weißenböck seit dem Vorfall damals nur mehr selten gesehen. Und wenn, hatte sie die Straßenseite gewechselt oder demonstrativ weggeschaut. Jedes Mal wenn er sie traf, nagte dieses leise Schuldgefühl an ihm, und er wusste ganz genau, wie er die Sache heute angehen würde, könnte er die Zeit zurückdrehen.

Er wollte sich eben bemerkbar machen, als die Tür zum Behandlungszimmer geöffnet und die Rückansicht einer Frau im weißen Kittel sichtbar wurde. „Du weißt doch selber, dass sie simuliert. Ich seh nicht ein, dass uns so jemand die Zeit stiehlt. Und wenn, musst du ein Extrahonorar verrechnen.“

„Ich werd schon mit ihr fertig. Mach dir keine Sorgen“, antwortete eine dunkle Männerstimme.

„Eben nicht. Sobald so eine vor dir sitzt, geht der barmherzige Samariter mit dir durch. Das ehrt dich, aber du musst auch ein bisserl auf den Umsatz schauen. Die Zeiten werden härter und du hast Angestellte, die sich auf dich verlassen.“ Damit wandte sich die Frau um und ging auf Zehenspitzen über den noch feuchten Boden hinter die Empfangstheke, die die Anmeldung vom Wartebereich trennte. Auch heute war sie, obwohl sie bestimmt einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich hatte, tipptopp beisammen, stellte Eigner fest. Die Frisur saß perfekt, als hätte Frau Donabaumer ihre halblangen Locken gerade eben erst neu arrangiert. Unter dem aufgeknöpften Arbeitsmantel lugte ein adrettes Kleid hervor, dazu trug sie Pumps mit flachen Absätzen. Die Perlenkette um ihren Hals unterstrich die damenhafte Erscheinung. Der einzige Schmuck an ihren langen schmalen Fingern war der Ehering, den sie noch immer trug, obwohl Donabaumer Senior schon vor ein paar Jahren gestorben war. Soviel Eigner wusste, war die Mutter des jungen Arztes seither allein geblieben und half ihrem Sohn in der Ordination.

Mitzi Weißenböck hatte, als Frau Donabaumer den Warteraum betrat, nur für einen Moment aufgeschaut, sich aber nicht bei ihrer Arbeit stören lassen. Inzwischen war sie bei der Türschwelle angelangt und stellte den Eimer mit dem Wischwasser auf die Fliesen im Vorraum. „Jessas!“ Sie stieß erschrocken gegen den Eimer, sodass Lauge auf den Boden spritzte. „Wollen S’, dass ich einen Herzkasperl krieg?“, fauchte sie Eigner an.

Der Major entschuldigte sich.

„Frau Mitzi?“ Elisabeth Donabaumer kam zur Tür. „Ein Notfall? Wir haben eigentlich schon zu!“, sagte sie, als sie Eigner bemerkte.

Inzwischen war auch der junge Arzt auf die Störung aufmerksam geworden. „Der Herr Major! Ist etwas passiert?“

„Nein, nein, alles in bester Ordnung.“

„Dem Vater geht’s besser?“

„Der wird schon wieder. Unkraut vergeht nicht!“ Eigner wich zur Seite, um Mitzi Weißenböck vorbeizulassen, die mit dem Kübel zum Klo marschierte und das schmutzige Wasser in die Muschel kippte. Neben der Arztwitwe wirkte die Putzfrau mit ihren ausgewachsenen Dauerwellen, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, derb. Dabei war Mitzi in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen, wie Eigner von alten Fotos im Album seiner Schwester wusste. Auch wenn der Altersunterschied zwischen den Frauen nicht groß war, lagen Welten zwischen den beiden.

„Ihre Schwester schaut auch gut auf ihn“, fuhr Donabaumer fort.

„Ich bin beruflich da!“

Der Arzt zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. Er war Mitte dreißig und überragte Eigner um einen halben Kopf. Auch war er im Gegensatz zum Major schlank und durchtrainiert. Eigner hatte ihn schon öfter mit dem Rad den Treppelweg entlangflitzen gesehen. Der Major erklärte sein Anliegen und hielt ihm eine der Broschüren hin.

„Selbstverständlich. Geben Sie ruhig her.“ Donabaumer griff nach dem Stoß. „Wenn Sie wollen, können wir auch im Therapiezentrum welche auflegen. Der Stefan hat heute früher Schluss gemacht, aber die Sonja müsste eh noch drüben sein. Ich geh gleich …“

„Mach du lieber hier fertig, damit wir nicht zu spät zum Konzert kommen“, unterbrach ihn seine Mutter und griff nach dem Tischkalender neben dem Computer.

„Kein Problem. Ich finde schon allein hinüber.“ Eigner verabschiedete sich von den Donabaumers und rief ein „Wiederschauen“ in Richtung Klo. Zur Antwort bekam er das Rauschen der Spülung.

Das Therapiezentrum war nur eine Seitengasse von der Arztpraxis entfernt. Die Vorderseite des Gebäudes war frisch renoviert und fügte sich zwischen ein massiges Bürgerhaus mit schlichter Fassade und ein Winzerhaus aus dem 17. Jahrhundert. Die Rückseite, die der Donau zugewandt war, umgab ein hoher Zaun. Er schützte vor neugierigen Blicken in den verglasten Anbau, wo man, wie Eigner gehört hatte, Massagen mit Blick auf das Wasser genießen oder sich in einem Whirlpool die Muskeln weichsprudeln lassen konnte. Das Zentrum, in dem neben Physiotherapie auch Moorpackungen, Infrarotbehandlungen und Seniorenturnen angeboten wurde, war erst letztes Jahr eröffnet worden. Der Major drückte auf den automatischen Türöffner und betrat den Vorraum, den eine Glasfront vom Empfangsbereich trennte. Der Warteraum war mit hellen Holzmöbeln eingerichtet, die Wände apfelgrün gehalten, dazu ein Schiffboden. Indirektes Licht verlieh der Nische mit den beiden weißen Lederfauteuils und dem Beistelltisch dazwischen eine gemütliche Atmosphäre. Dazu trugen auch die Pflanzen und der dezent plätschernde Zimmerbrunnen bei. Hier durfte man schon bei der Anmeldung für eine Behandlung in behagliches Wohlgefühl tauchen. Der Major spürte, wie er sich allein durch die ansprechende Umgebung entspannte.

Die Tür zur Wartezone war nur angelehnt. Neben der Theke stand eine langhaarige Blondine. Trotz der schlichten Baumwollhose und der hellen Bluse, die sie trug, hätte man meinen können, sie käme direkt vom Laufsteg. So eine war bestimmt gut für’s Geschäft, dachte Eigner, hübsches Gesicht, gute Figur, lange Beine. Der Mann im Kalmuckjanker, der die Unterarme auf die helle Holzplatte gelegt hatte und auf die junge Frau einredete, war der beste Beweis dafür.

Eigner stutzte, nachdem er einen zweiten Blick auf den Mann geworfen hatte. Was tat Roman Nothnagl hier? Plagten ihn etwa Rückenschmerzen?

So, wie sich sein Schwager vor der jungen Frau aufplusterte, erinnerte er Eigner an einen Gockel. Roman strich sich über das zurückgegelte schwarze Haar, das wie ein nasses Biberfell an seinem Kopf klebte. Die Physiotherapeutin lachte und zeigte dabei eine Reihe makellos weißer Zähne. Eigner konnte sich lebhaft vorstellen, wie sein Schwager die junge Frau mit begehrlichen Blicken in Gedanken auszog, während er sie mit Anekdoten aus seinem ereignisreichen Politikerleben zu beeindrucken versuchte. „Aber geh, liebe Sonja, so eine hübsche Frau kann ja gar nichts falsch machen. Ich wette, dass Ihnen die Männerherzen nur so zufliegen. Was werden Sie da mit einem wie mir …“

Genau, dachte der Major, und forschte nach Anzeichen, ob sich die junge Frau von seinem Schwager belästigt fühlte. Fehlanzeige. Sonja strahlte Nothnagl mit Unschuldsmiene an. „Herr Gemeinderat, ich werd mir Ihr Angebot durch den Kopf gehen lassen.“ Sie griff nach dem Terminkalender. „Wir sehen uns dann nächste Woche?“

„Sieben ganze Tage“, seufzte Nothnagl theatralisch.

Eigner hatte nun endgültig genug. „Ich störe ungern.“

„Du?“, entfuhr es seinem Schwager ertappt. „Gibt’s in Krems nichts zu ermitteln?“

„Grüß Gott. Wie kann ich helfen?“, fragte die junge Frau.

„Ich bring was vorbei.“

„Bist unter die Packlaustrager gegangen?“, spottete Nothnagl. „Ich hab geglaubt, die Postler wechseln in den Polizeidienst und nicht umgekehrt!“

Eigner reagierte nicht auf die Provokation seines Schwagers. „Eigner ist mein Name. Ich komm vom kriminalpolizeilichen Beratungsdienst in Krems. Wir würden gern unsere Informationsbroschüren auflegen. Wir haben eine neue Aktion, die sich vor allem an ältere Personen richtet. Doktor Donabaumer weiß Bescheid und ist einverstanden.“

„Selbstverständlich gerne. Ich bin übrigens Sonja König und Physiotherapeutin am Institut. Wenn Sie einmal etwas brauchen …“ Die junge Frau schenkte nun auch dem Major ein strahlendes Lächeln, was Nothnagl mit einer Grimasse kommentierte.

„Freut mich.“ Eigner griff nach dem Faltblatt, das sie ihm hinhielt. Wir bringen Bewegung in Ihr Leben, war auf der Vorderseite unter dem grünen Logo zu lesen.

„Da sind unsere Angebote aufgelistet“, erklärte Sonja.

Die Fotos auf der Rückseite des Werbeprospekts zeigten Sonja, einen Stefan Schöberl mit braunen Augen und einem Gesichtsausdruck, der Eigner an einen buddhistischen Mönch erinnerte, und eine Angelika Steiner mit asymmetrischer Fransenfrisur. Der Major hob grüßend die Hand. „Einen schönen Abend wünsch ich.“ An der Tür wandte er sich noch einmal um: „Soll ich der Hanni was ausrichten?“

„Passt schon!“, winkte sein Schwager unwirsch ab.

Eigner konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er Nothnagl mit seiner Frage noch ein wenig mehr in Verlegenheit gebracht hatte. Und das freute ihn.

***

Sein Vater hatte ihm keine Ruhe gelassen. Fluchend räumte Major Paul Eigner die Gläser zur Seite, die seine Schwester für Kompotte und Marmeladen sammelte. Eine fette Kellerspinne verkroch sich hinter den wurmstichigen Kasten, in dem Schirme, alte Regenmäntel, abgetragene Arbeitschuhe und Gummistiefel aufbewahrt wurden, für den Fall, dass man sie doch noch irgendwann einmal brauchte. Eigentlich sollte man langsam mit dem Ausmisten anfangen, überlegte der Major. Die Erben konnten mit dem meisten Glumpert bestimmt nichts anfangen, und ob es sich auf dem Flohmarkt verkaufen ließ, war auch nicht sicher.

Irgendwo musste das verdammte Trumm doch sein! Er stieß sich den Kopf an einem Regalbrett und fluchte. Er hätte doch auf seine Schwester warten sollen. Sie wusste sicher, wo der Rucksack verstaut war. Eigner konnte sich dunkel an das Prachtstück erinnern. Dickes hellgrünes Sackleinen mit braunen Lederriemen. Groß war er gewesen und hatte nach Moos und feuchtem Laub gerochen. Manchmal auch nach würzigem Speck und reifen Äpfeln, die der Vater bei einer Rast ausgepackt hatte. Während die Mutter eine Decke ausgebreitet, Thermoskanne und Becher bereitgestellt und Hanni bei den Vorbereitungen geholfen hatte, hatte Eigner, als jüngster der Geschwister, mit seinem Bruder Fritz gespielt. Der Major spürte einen unangenehmen Stich, als er seinen mittlerweile verunglückten Bruder über eine Wiese tollen sah. Solche Familienausflüge waren immer etwas Besonderes gewesen. Seine Mutter hatte sich die kleinen Wanderungen meist zu ihrem Geburtstag im Frühherbst gewünscht. Sie blühte dann richtig auf, sang mit Hanni im Duett und genoss den Tag, der zumeist bei einem Heurigen beschlossen wurde, in vollen Zügen.

Sein Vater, der die Hatscherei, wie er die Ausflüge nannte, für Zeitverschwendung hielt, hatte sich gefügt, weil er seiner Frau nur selten etwas abschlagen konnte. Wenn er dann satt und mit Hut auf dem Gesicht auf der Picknickdecke döste, hatte er jedoch immer einen recht zufriedenen Eindruck gemacht, erinnerte sich der Major.

Er zog die unterste Lade der Kommode auf, die gleich neben dem Kasten stand. Im schwachen Schein der Kellerlampe wirkte der Rucksack zwar ein wenig ramponiert, das Material schien aber von guter Qualität. Erst als Eigner den Keller verlassen hatte, um sich das gute Stück bei Tageslicht anzuschauen, sah er die Spuren, die der Zahn der Zeit hinterlassen hatte. Und die waren beträchtlich.

Die Stockflecken auf der Unterseite würden wohl nicht mehr zu beseitigen sein, selbst wenn er den Rucksack auskochte, falls das die Lederriemen überhaupt erlaubten. Das Leder selbst war brüchig, einer der Riemen gerissen. Die rostigen Schnallen hatten Abdrücke auf dem Gewebe hinterlassen. Der einstige Stolz seines Vaters roch muffig und ein wenig nach Schimmel. Vermutlich war er noch feucht gewesen, als er in der Kommode verstaut worden war.

„Was willst du denn mit dem alten Ding?“, riss ihn seine Schwester Hanni, die mit dem Einkaufskorb in der Hand von ihrem Auto her kam, aus den Gedanken. Hanni, eigentlich Johanna, hatte voriges Jahr ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert. Sie war groß und kräftig, ohne dick zu wirken, und Besitzerin mehrerer Marillengärten, die sie als eine der Pionierinnen in der Gegend biologisch bewirtschaftete. Durch ihr dichtes dunkles Haar zogen sich einzelne Silberfäden. Sie griff nach dem Rucksack, den Eigner angewidert von sich hielt. „Den kannst wegschmeißen. Der ist hin“, stellte sie fachkundig fest. „Da hilft nicht einmal mehr Fleckbenzin.“ Sie drückte ihm den Korb in die Hand. „Ich schneid noch schnell den Schnittlauch für die Suppe ab“, sagte sie und verschwand Richtung Garten. Der Major ging derweil in die Küche voraus, wo sein Vater am Küchentisch saß und die Zeitung studierte. Der alte Eigner hatte nach dem Tod seiner Frau das Haus an Hanni überschrieben und nur ein Zimmer im oberen Stock des Hauses behalten. Er hatte ein Halstuch umgebunden, und den Thymiantee, den ihm der Major als Mittel gegen den hartnäckigen Husten gekocht hatte, ausgetrunken.

Eigner legte den Rucksack auf den Tisch. „Der ist leider nicht mehr so gut beisammen“, kommentierte er. „Ich fürcht, den werd ich nicht brauchen können.“

Der Alte griff nach dem Leinen und rieb es zwischen den Fingern. „So eine Qualität kriegst du heute gar nimmer. Weißt noch, wie wir im Krieg damit in die Stadt hinüber gegangen sind und“, er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, „auf dem Schwarzmarkt unser Fleisch, den Schnaps und die Erdäpfel verkauft haben?“

Der Major erinnerte sich natürlich nicht, weil er damals noch gar nicht auf der Welt gewesen war. Offenbar waren dem Vater wieder einmal die Zeiten durcheinander geraten. Vermutlich war er mit seinem eigenen Vater, Eigners Großvater, unterwegs gewesen, um durch Verkauf und Tausch von Lebensmitteln für den Unterhalt der Familie sorgen zu können.

„Pfui Teufel, was legst mir denn den dreckigen Sack auf den Küchentisch“, schimpfte Hanni, als sie den Raum betrat.

Der Major griff schuldbewusst nach dem Rucksack.

„Gewaschen gehört er halt“, entgegnete der alte Eigner. „Dass die Weiberleut immer gleich so empfindlich sind.“ Er zwinkerte seinem Sohn zu.

Eigner hatte die Hand schon auf der Türschnalle, als sein Vater anbot: „Meine Goiserer kannst auch nehmen. Wenn sie dir zu groß sind, musst eben zwei Paar Socken anziehen. Ich bin immer gut damit gegangen.“

Der Major nickte halbherzig, weil er seinen Vater nicht kränken wollte. Auf gar keinen Fall würde er seine Wanderung in diesen abgetragenen Schuhen antreten. Schon aus Prinzip nicht, denn gutes Schuhwerk war das A und O für ein solches Vorhaben. Schließlich wollte er den Weg genießen und nicht nach zwei Tagen umkehren müssen, weil ihn seine Füße im Stich ließen. Eines war klar: für seine Wanderung musste er sich neu ausrüsten.

„Vergiss nicht auf den Buben“, rief ihm Hanni nach. „Der Zug kommt gleich nach eins!“

Eigner nahm seinen Enkel Simon am Bahnsteig in Empfang. Er hatte seine Tochter Verena mit Unterstützung Hannis überzeugt, dass man einen fast Zehnjährigen ruhig zutrauen durfte, die einstündige Zugreise allein zu bewältigen, noch dazu, wenn Krems Endbahnhof war und keine Gefahr bestand, dass der Bub nicht rechtzeitig ausstieg. Simon winkte seinem Großvater zu. An der Leine führte er Jackie, seinen Jack-Russel-Mischling. Der Hund zog das Kind zu den Stehern einer Plakatwand, wo er sich an den Duftmarken über die Neuigkeiten in der Provinz informieren wollte. Das Kind rief dem Hund etwas zu. Gleich darauf gallopierte Jackie mit freudigem Gekläff Richtung Major und zerrte nun den Buben hinter sich her.

Nachdem Eigner Kind und Hund ausgiebig begrüßt hatte, nahm er Simon den Rucksack ab.

Hanni erwartete sie schon. Sie bugsierte Simon in die Küche, wo sie ihm sein Lieblingsessen – Palatschinken mit Erdbeermarmelade – kredenzte. Der Hund schlang gierig die Wurstfleckerl hinunter, die vom gestrigen Mittagessen übrig geblieben waren. Eigner holte derweil das Fahrrad des Buben aus der Garage. Sie wollten es am Nachmittag gemeinsam putzen, die Kette schmieren und das Bremsseil erneuern, damit einer Ausfahrt nichts mehr im Wege stand. Dass der Bub dabei helfen wollte, freute Eigner, weil er ihm so auch gleich ein paar Handgriffe beibringen konnte. Der Major holte Kriechöl, ein paar alte Fetzen und die Schraubenschlüssel aus dem Keller. Dann trug er das Waffenrad seines Vaters ins Freie, weil er sich schon länger vorgenommen hatte, es zu reparieren. Es war zwar schwergängig, wenn es aber einmal lief, brauchte man sich kaum mehr anzustrengen. In Gedanken sah er sich schon mit dem Buben am Wasser entlang zischen. Er kannte ein paar Strecken, auf denen man den vielen Fahrradtouristen entging und in Ruhe die Landschaft genießen konnte.

Hanni hatte ihren Besuch mit Kaffee und Kuchen bewirtet und sah nun aus dem Fenster. Der Anblick ihres Bruders, der mit seinem Enkel in stiller Eintracht am Fahrrad schraubte, rührte sie. Paul hatte ein wenig zugenommen, was ihm nicht schlecht stand. Er trug ein Schirmkapperl auf seiner Glatze, sein Schnurrbart war frisch getrimmt. Die Melancholie, die sich gelegentlich, wenn er sich unbeobachtet glaubte, in seinem Gesicht spiegelte, war mit dem Einzug des Frühlings verschwunden. Hanni freute sich, dass die Lebensgeister ihres Bruders wieder erwacht waren. Sie hatte in den letzten Wochen auch kein einziges Mal den Verdacht gehabt, dass er wieder zu viel trank. Offenbar war sein Schnapskonsum ein Herbstproblem und hing mit seiner psychischen Verfassung zusammen. Das Kind tat ihm jedenfalls gut. Auch der Hund, grinste sie in sich hinein, weil sie wusste, dass ihr Bruder im Grunde mit Tieren nicht viel anzufangen wusste.

„Fragen wir ihn halt“, sagte sie zu ihrem Gast und schob den Sessel zurück. Die Frau folgte ihr nach draußen, wo Simon unter Eigners Aufsicht die Fahrradkette mit einer alten Zahnbürste bearbeitete.

„Geht eh was weiter?“

„Der Opa hat mir grad gezeigt, wie man die Kette richtig putzt“, berichtete Simon stolz.

„Prima.“

Eigner richtete sich auf, als er bemerkte, dass seine Schwester nicht alleine gekommen war. Er wischte sich die Finger an der Hose ab, bevor er der Frau die Hand gab. „Grüß Sie!“

„Ich weiß nicht, ob du die Marianne kennst, die Tochter von der Nienführ Rosl!“, stellte Hanni die beiden einander vor.

„Bis jetzt nicht.“ Eigner betrachtete die zierliche Frau mit den feinen Falten auf der Stirn und um den Mund. Sie trug Jeans und einen orangen Walkmantel. Die klobigen Waldviertler an ihren Füßen waren an den Spitzen abgestoßen. Eigner schätzte sie auf Ende vierzig.

„Die Marianne möcht gern was mit dir besprechen. Ich hab gemeint, dass du vielleicht helfen kannst oder zumindest Rat weißt.“

Eigner griff nach seiner Jacke, die er über das Gouvernal des Waffenrads gehängt hatte, und schlüpfte hinein.

„Simon, dich brauch ich in der Küche“, wandte sich Hanni an das Kind.

Als der Bub keine Anstalten machte, die Zahnbürste zur Seite zu legen, setzte sie nach. Diesmal etwas schärfer: „Jetzt gleich!“

Simon unterdrückte ein Murren. Auf dem Weg ins Haus drehte er sich mehrmals zum Major und der Frau um, die seinem Opa leise und von Schluchzern unterbrochen ihr Herz ausschüttete.

***

Das gelbe Haus auf der Anhöhe war von Weingärten umgeben. Die Nachmittagssonne spiegelte sich in den Fenstern. Leichter Wind war aufgekommen und brachte den Duft des Frühlings mit sich. Primeln und Gänseblümchen frischten das stellenweise noch vom Winter verdorrte Gras im Garten auf. Im Schatten der Veranda blühten die letzten Schneerosen in grauen Blumentrögen.

Das Haus stammte dem Baustil nach aus den 1970ern und war gut gepflegt. Das Dach sah neu gedeckt aus, die braunen Balken glänzten frisch gestrichen. Farbe hätte auch die Bank unter dem Nussbaum vertragen. Der Tisch davor war gegen den Stamm gekippt.

Marianne, die Tochter der Verstorbenen, war vorausgegangen und wartete ein Stück neben dem Haus. Hier musste es zum Erdkeller hinuntergehen, in dem man die alte Frau vor ein paar Tagen gefunden hatte. Marianne steckte einen großen Schlüssel ins Schloss und zog die Tür zu sich heran, während sie sperrte. „Das Licht ist kaputt“, sagte sie dann. „Ich hol schnell die Taschenlampe!“

Während sie zum Haus hinübereilte, stieß Eigner die braune Holztür weiter auf. Eine Kellerassel floh vor dem eindringenden Tageslicht. Die Wände zu beiden Seiten der steinernen Stiege waren grob verputzt. Die Stufen waren uneben und verloren sich im Dämmerlicht. Auch ein jüngerer Mensch hätte hier ohne weiteres das Gleichgewicht verlieren können – und sein Leben, wenn es dumm herging, überlegte der Major. Dumpfer Kellergeruch stieg ihm in die Nase. Er betrachtete die unregelmäßige Mauer. Bestimmt hatten die Kollegen nach Blutspuren oder Haarbüscheln Ausschau gehalten.

„Hier!“ Frau Marianne reichte dem Major eine LED-Lampe, deren kaltes Licht den Abgang gleich darauf erhellte.

„Wo haben Sie sie gefunden?“, fragte Eigner über die Schulter.

Marianne war oben an den Türrahmen gelehnt stehen geblieben. „Ganz unten.“

„Zeigen Sie mir die Stelle.“

Frau Marianne zögerte. Eigner wusste, dass sie lieber vor dem Keller gewartet hätte. Aber er konnte ihr nicht ersparen, dass sie ihm die traumatischen Szenen noch einmal schilderte.

„Sie haben also zuerst das Haus und dann den Garten abgesucht, weil Ihre Mutter nicht ans Telefon gegangen ist, obwohl Sie mehrfach angerufen haben. Dann haben Sie mit der Taschenlampe hier herunter geleuchtet und sie am Boden liegend gefunden. Richtig?“

Marianne nickte. Sie hatte den Fuß zaghaft auf die erste Stufe gesetzt.

„War die Tür offen?“

Die Frau überlegte nicht lange. „Ein Stück, ja.“

„Wie sind Sie überhaupt auf den Gedanken gekommen, dass Ihre Mutter hier drinnen sein könnte?“

„Der Schlüssel ist außen gesteckt. Normalerweise hängt er im Vorzimmer neben dem Spiegel.“

Der Major nickte. „Was könnte Ihre Mutter im Keller gewollt haben?“

„Das ist es ja, was mich so quält. Seit der Knieoperation hat Mutti Stufen gemieden. Und über diese Stiege wäre sie allein gar nicht gekommen. Außerdem steht der Keller seit Jahren leer. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie da wollte. Früher ja, da waren Weinfässer und Flaschen unten und im vorderen Teil haben wir manchmal Erdäpfel gelagert. Aber das ist eigentlich schon gar nicht mehr wahr, so lange ist das her. Mutti hat ihr Gemüse in der Speis aufbewahrt. Was braucht so ein alleinstehender alter Mensch auch noch viel?“ Frau Marianne tastete sich an der Wand entlang zu Eigner hinunter. Vermutlich lenkte es sie ab, wenn sie reden konnte.

Der Major richtete den Lichtkegel auf den gestampften Boden, wo er nach den Aussagen der Tochter vermutete, dass die Mutter gelegen hatte. „Hier?“

Frau Marianne nickte und griff nach dem Taschentuch, mit dem sie sich über Augen und Nase wischte. „Da, so“, sagte sie mit erstickter Stimme und deutete auf die Erde.

„Quer zu den Stufen?“

Die Frau nickte.

„Der Kopf war rechts?“

Frau Marianne nickte erneut.

„Gekrümmt ist sie dagelegen, wie ein Embryo.“ Frau Marianne wandte sich ab und rang um Fassung. „Die Kleiderschürze war ein Stück hinaufgerutscht, die Strumpfhose an der Wade zerrissen. Sie hat ihre orthopädischen Hausschuhe mit dem Klettverschluss getragen.“

Eigner ließ den Lichtstrahl Zentimeter für Zentimeter über die angezeigte Stelle gleiten. Dann ging er in die Hocke und tastete den Boden ab. Er hatte keine Ahnung, wonach er suchen sollte. Und er fand auch nichts – außer ein paar Steinchen und einem welken Blatt.

„Sie sind dann also herunter …“ Er wartete, dass Frau Marianne weitersprach.

„Ich hab gerufen und bin dann langsam über die Stufen … irgendwie hab ich so eine Ahnung gehabt.“ Frau Marianne hatte erneut zu ihrem Taschentuch gegriffen.

„Haben Sie sie berührt?“

„An der Schulter … und im Gesicht.“ Marianne starrte an Eigner vorbei ins Leere, als würde sie die Szene gerade noch einmal erleben. „Ich hab ihre Wange … sie war ganz kalt.“

„Ist Ihnen irgendetwas komisch vorgekommen? Ein Gegenstand, der nicht hierhin gehört … ein Geruch …“

Die Frau wandte ihr Gesicht dem Major zu. Sie schüttelte den Kopf.

„Und dann?“

„Ich hab die Polizei angerufen.“