Mord im Kreuzviertel - Henrike Jütting - E-Book

Mord im Kreuzviertel E-Book

Henrike Jütting

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Beschreibung

Ein finsteres Geheimnis aus einer anderen Zeit Als der Münsteraner Lyriker Karl Wagner die ehemaligen Mitbewohner aus Studienzeiten anlässlich seines 70. Geburtstags zu sich nach Hause einlädt, freut sich Vera Langen­kämper, die Tante von Kommissarin Katharina Klein, sehr. Die pensionierte Richterin kehrt in jenes Haus im Kreuzviertel zurück, in dem sie vor fünfzig Jahren in einer Wohngemeinschaft lebte. Doch was als unbeschwerte Zeitreise in die frühen Siebzigerjahre beginnt, nimmt schon bald eine erschütternde Wendung. Nach einer grausigen Entdeckung im Keller des alten Hauses scheinen sich verstörende Vorfälle aus der Vergangenheit zu wiederholen – das Wiedersehen der damaligen WG-Mitglieder droht aus dem Ruder zu laufen. Es kostet Katharina und ihre Kollegin Eva Mertens große Mühe, das Geflecht von ungelösten Fragen zu entwirren und Licht in die Dunkelheit des Vergangenen zu bringen.

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Beliebtheit




Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Schweigende Wasser

Villa 13

Schatten über der Werse

Spiel im Nebel

Henrike Jütting wurde 1970 in Münster geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau und studierte dann in Bremen Soziologie und Kulturwissenschaften. Anschließend promovierte sie in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und arbeitete in Bremen, Brüssel und Celle.

Seit 2005 lebt sie mit ihrer Familie wieder in ihrer Heimatstadt Münster. 2017 erschien ihr erster Krimi unter dem Titel Schweigende Wasser.

Die beliebte Reihe um die Münsteraner Kommissarin Katharina Klein umfasst inzwischen bereits fünf Bände.

HENRIKE JÜTTING

MORDIMKREUZVIERTEL

Originalausgabe

© 2023 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von © claudettethebat - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-650-9

E-Book-ISBN 978-3-95441-657-8

Für meine (Groß-)Familie

Rache ist eine Handlung,die man begehen möchte,weil und wenn man machtlos ist.(Georg Orwell)

INHALT

PROLOG

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

25. KAPITEL

26. KAPITEL

27. KAPITEL

28. KAPITEL

29. KAPITEL

PROLOG

Februar 1966

Zum dritten Mal an diesem Vormittag kamen Almut Kaminski, Leiterin der Wohngruppe 2 des Städtischen Kinderheims Dortmund, die Tränen. Der Anlass war ein kurzer, unscheinbarer Artikel hinten im Lokalteil der Tageszeitung. Fräulein Kaminski schniefte und blinzelte die Tränen weg. Sie stand in der winzigen Teeküche, die zu den Gemeinschaftsräumen ihrer Wohngruppe gehörte, und goss Kaffee in einen Becher. Mit dem Getränk in der Hand ging sie zurück in den länglichen Wohnraum, der einen grauen Linoleumboden und senfgelbe Wände hatte. Die Sitzecke bestand aus einem verschlissenen Sofa, übersät mit undefinierbaren Flecken, und einem Sammelsurium unterschiedlicher Sessel. Eine wohlmeinende Spende einiger Dortmunder Bürger. In der anderen Hälfte des Zimmers stand ein Tisch mit sieben Stühlen. Hier machten die Kinder ihre Schularbeiten, und wenn die Jüngeren Lust hatten, wurde hier auch gemalt oder gebastelt. Die Zeitung lag immer noch aufgeschlagen auf dem zerkratzten Tisch. Fräulein Kaminski las den Artikel ein weiteres Mal.

Siebenjähriger Jungeertrinkt in einer Bachverrohrung

Vor zwei Tagen ist ein Junge aus dem Städtischen Kinderheim Dortmund in der unterirdischen Verrohrung eines Baches im Norden der Stadt tödlich verunglückt.

Der Siebenjährige ist aus bislang ungeklärtem Grund in das Rohrsystem geklettert und muss dort ausgerutscht sein, wie die bisherigen Ermittlungen ergeben haben. Sein Leichnam, der eine schwere Kopfverletzung aufweist, wurde etwa hundert Meter von der Einstiegsstelle entfernt gefunden. Der Junge hat offenbar durch die Verletzung das Bewusstsein verloren und ist im knietiefen Wasser ertrunken.

Die Kriminalpolizei und das Städtische Tiefbauamt weisen aus gegebenem Anlass eindringlich daraufhin, Rohrleitungen und Abwasserkanäle nicht zu betreten.

Bevor die Tränen erneut fließen konnten, trank Fräulein Kaminksi schnell einen Schluck Kaffee. Er war lauwarm und schmeckte bitter. Der arme, kleine Franz. Was für eine Tragödie! Franz war einer der Jüngsten aus Fräulein Kaminskis Gruppe. Er war erst zwei Monate zuvor aufgrund trauriger Umstände aus einem katholischen Kinderheim zu ihnen gekommen.

Franz entpuppte sich als lieber, ruhiger und, wenn man ehrlich war, auch ein bisschen zurückgebliebener Junge. Fräulein Kaminski hatte ihn sehr gemocht und auch immer etwas Mitleid mit ihm gehabt. Ihre Kollegin Monika hatte sie deshalb häufig gescholten. »Fang nicht damit an, dir deine Lieblinge auszugucken. Du schaffst damit nur Probleme. Für die Kinder und auch für dich.«

Die junge Frau ging hinüber zu einem der drei Fenster. Ihre kleinen, runden Hände umklammerten den Kaffeebecher. An Fräulein Kaminski war alles rund: ihre Hände, ihre Schultern, ihre Hüften und sogar ihr Kopf mit den kurzen Haaren, die sie so geschnitten trug wie ihr Idol Twiggy, das bekannte Fotomodell aus England. Der Haarschnitt war leider auch das Einzige, was sie optisch mit der dürren Twiggy gemein hatte.

»Kügelchen« und manchmal auch »die Kugel« wurde sie hinter ihrem Rücken von den Kindern genannt. »Achtung, die Kugel kommt« oder »Frag doch Kügelchen« hatte sie schon oft zischen oder flüstern hören und gutmütig darüber hinweggesehen. Es gab schlimmere Spitznamen.

Fräulein Kaminski war noch nicht lange als Erzieherin im Kinderheim tätig. Nach ihrer Ausbildung hatte sie eine Zeitlang in einem Kindergarten gearbeitet, aber die Arbeit dort hatte ihr zum Schluss keinen Spaß mehr gemacht. Ewig das gleiche Programm. Morgenkreis, Frühstück, Bastelrunde, Spielstunde im Freien, Abschlusskreis. Tagein, tagaus. Aber sie war erst vierundzwanzig Jahre alt und erwartete noch ein bisschen mehr vom Berufsleben als immer den gleichen Trott. Im Kinderheim hatte sie viel mehr Möglichkeiten, unterschiedliche Dinge anzubieten. Allein schon deshalb, weil die Gruppe altersgemischt war. Zwischen sechs und sechzehn Jahren waren ihre Schützlinge. Sieben Kinder gehörten zu ihr.

Allerdings stellte Fräulein Kaminski auch schnell fest, dass der Umgang mit den Heimkindern gar nicht so einfach war, wie sie sich das vorgestellt hatte. Jeder von ihnen hatte sein Päckchen zu tragen. Vor allem die Älteren waren schwierig, um nicht zu sagen aufsässig.

Auch mit dem Heimleiter Dr. Eckert verstand sie sich nicht besonders gut. Er war einer von der alten Schule. Ein kleiner Mann mit Halbglatze und Oberlippenbart, den man nur in seinem grauen Anzug sah. Der Vater von Fräulein Kaminski, ein Gewerkschaftsfunktionär, pflegte zu sagen, kleine Männer seien mit besonderer Vorsicht zu genießen. Sie kompensierten ihre geringe Größe oft durch einen übertriebenen Hang zur Selbstdarstellung und ein übergroßes Geltungsbedürfnis. Napoleon, Stalin und Hitler dienten ihm als Beleg. Nun mochte Fräulein Kaminski ihren Chef mit keinem der drei Diktatoren vergleichen, empfand ihn aber als unnachgiebig, streng und autoritär. Sie wollte es anders machen, kam aber immer wieder an ihre Grenzen und musste bei einigen Fällen einräumen, dass eine harte Hand den Kindern manchmal ganz guttat.

Während Almut Kaminski gedankenverloren aus dem Fenster starrte, tauchte plötzlich eine Gruppe von Kindern auf. Drei davon bereits im jugendlichen Alter, die anderen beiden waren zehn und zwölf. Alle fünf gehörten in ihre Gruppe. Mit zusammengekniffenen Augen konzentrierte sich Fräulein Kaminski auf die drei Jugendlichen, einen hochgewachsenen Jungen und seine beiden Begleiterinnen. Wolfgang war der Gruppenälteste, und der Erzieherin war bereits nach einem Tag klar gewesen, dass er den Ton angab. Nach zwei weiteren Tagen wusste sie auch, dass er einige der Kinder nach Herzenslust schikanierte. Unterstützt wurde er dabei von den beiden Mädchen, die ihn stets wie eine Leibgarde umschwirrten. Wolfgang war so groß und kräftig wie ein Achtzehnjähriger und hatte einen Bürstenhaarschnitt. Almut Kaminski hatte ihn schon ein paar Mal zurechtweisen müssen und ihn auch schon mit Stubenarrest belegt, aber Wolfgang war hartnäckig.

Alle Kinder kuschten vor ihm, und als sie versucht hatte, zwei Kinder aus einer anderen Wohngruppe zum Reden zu bringen, um zu erfahren, was Wolfgang für Spielchen mit ihnen trieb, kam nur ein stummes Kopfschütteln.

»Die sind völlig eingeschüchtert«, sagte sie zu ihrer Kollegin Monika, die daraufhin antwortete: »Das stimmt. Aber ich würde mich mit dem Wolfgang nicht anlegen. Außerdem sorgt er auch für eine gewisse Ruhe zwischen den Gruppen.«

Über so eine Einstellung konnte Fräulein Kaminski nur den Kopf schütteln, und sie nahm sich vor, Wolfgang sehr genau im Auge zu behalten.

Die Kinder unten im Hof steuerten eine Bank an, die so etwas wie einen zentralen Treffpunkt darstellte. Wolfgang setzte sich und streckte seine langen Beine aus. Eins der Mädchen setzte sich auf seinen Schoß. Der Junge sagte etwas zu einem der jüngeren Kinder, worauf die beiden Mädchen gekünstelt lachten.

Fräulein Kaminskis Gedanken wanderten wieder zu Franz. Er war vorgestern Nachmittag nicht alleine am Weiherbach gewesen. Hubert und Bruno, die beiden Jungs, die jetzt mit Wolfgang und den Mädchen an der Bank herumhingen, hatten sich auch dort aufgehalten. Sie waren es auch gewesen, die aufgeregt zu ihr gerannt gekommen waren, um zu berichten, dass Franz in den Tunnel geklettert war und nicht mehr herauskam. Die Erzieherin hatte Dr. Eckert informiert, der die Feuerwehr verständigte. Einer der Feuerwehrmänner hatte Franz aus dem Tunnel geborgen.

Später hatte Dr. Eckert die Jungen in die Mangel genommen. Sie waren bei ihrer Behauptung geblieben, Franz sei von sich aus in den Tunnel geklettert. Einfach so.

So wie er immer mal wieder Dinge tat, die nicht wirklich Sinn und Verstand hatten. Treuherzig hatten die beiden Jungen dem Direktor geradeheraus in seine stahlblauen Augen geblickt und er ließ sie schließlich ziehen.

Fräulein Kaminski aber glaubte kein Wort davon. Franz war viel zu ängstlich gewesen, als dass er ohne triftigen Grund in eine Rohrleitung geklettert wäre, durch die kniehohes, eiskaltes Wasser floss.

Die Erzieherin hatte einen ganz anderen Verdacht, und wie sie so am Fenster stand und direkt auf den selbstgefälligen Wolfgang und seine beiden albernen Gefährtinnen hinabblickte, bildete sich ein wütender Kloß in ihrem Hals. Sie würde einen Eid darauf schwören, wenn man es von ihr verlangte, dass Wolfgang und die beiden Mädchen da ihre Finger im Spiel gehabt hatten.

»Na wartet«, murmelte sie grimmig. »Das werde ich euch nicht durchgehen lassen.«

Doch tief in ihrem Inneren wusste Almut Kaminski, dass sie nichts würde ausrichten können. Gar nichts. Manchmal gab es eben keine Gerechtigkeit.

1. KAPITEL

»Wenn ich gewusst hätte, was da auf uns zukommt, hätte ich mich niemals darauf eingelassen«, schimpfte Katharina Klein, Kommissarin bei der Kripo Münster, laut vor sich hin. Sie rutschte auf den Knien im Wohnzimmer herum und bearbeitete die Ränder des Parkettfußbodens mit einem Schleifgerät. Der dabei entstehende Schleifstaub kitzelte ihr unentwegt in der Nase und hatte schon zu tränenden Augen und mehreren Niesattacken geführt.

Ihr Freund Klaas reagierte nicht auf Katharinas Bemerkung. Ungerührt schob er im Zeitlupentempo eine Bandschleifmaschine diagonal durch den Raum. Dabei achtete er penibel darauf, so vorzugehen, wie es der Mitarbeiter des Baumarkts erklärt hatte.

»Klaas!«, brüllte Katharina gegen den Lärm der Schleifmaschine an.

Klaas schaute hoch und sah, wie Katharina mit der Hand in der Luft herumwedelte. Er stellte die Maschine aus und nahm die Ohrenschützer ab. »Was ist denn jetzt wieder?«

»Wollen wir nicht eine Pause machen und etwas essen?«

Klaas schüttelte den Kopf. »Ich mache noch ein bisschen weiter. Sonst werden wir nie fertig.«

Katharina stieß einen Seufzer aus. Sie war von Anfang an skeptisch gewesen, als Klaas voller Begeisterung vorgeschlagen hatte, den gesamten Fußboden in ihrer neuen Wohnung selber abzuschleifen. »Das Geld können wir besser sparen und woanders reinstecken. In eine neue Couch zum Beispiel«, hatte er Katharina zu überzeugen versucht.

Katharinas Zweifel wurden dadurch nicht ausgeräumt. »Das ist total aufwendig«, war ihr Gegenargument gewesen. »Ich habe das bei Edith mitbekommen. Das ist nicht damit getan, einfach mal so mit einer Schleifmaschine über den Boden zu rutschen.«

»Das ist mir schon klar. Aber mein Bruder hat das auch selber gemacht. So kompliziert kann das also nicht sein.«

»Dein Bruder werkelt jedes Wochenende an seinem Haus herum. Der ist Heimwerker durch und durch. Das können wir beide von uns nicht gerade behaupten.«

Doch schließlich stimmte Katharina zu. Immerhin hatte sie sich schon bei der Auswahl der neuen Wohnung durchgesetzt. Ursprünglich wollten Klaas und sie in ein kleines Häuschen im Herz-Jesu-Viertel ziehen. Heiner Keller, ein Kollege von Katharina, hatte den Kontakt zu seiner Schwester hergestellt, die zusammen mit ihrem Mann aus beruflichen Gründen aus Münster wegziehen wollte. Das Häuschen und die Lage gefielen Katharina und Klaas gut, aber im allerletzten Augenblick war alles geplatzt. Kirsten hatte Katharina angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie Hamburg sausen ließen. Ihr Mann könne sich von seinem geliebten Münster nicht trennen.

Von ihrem jetzigen Zuhause, einer Erdgeschosswohnung mit Garten und akzeptabler Miete, waren sie auch von Anfang an begeistert gewesen. Die Wohnung befand sich in der Staufenstraße, einer ruhigen Wohnstraße, gesäumt von den für das Erphoviertel typischen Giebelhäusern.

Einziger Haken, wenn auch nur aus Klaas’ Sicht, waren die drei Pitbull-Terrier, die dem Nachbarn zur Linken gehörten. Bei der Erstbesichtigung der Wohnung hatten sie die drei Muskelprotze im Garten nebenan einen Fußball zerfleddern sehen. Danach hatte Klaas die Wohnung ohne ein weiteres Wort verlassen. Seit einem Beißunfall in seiner Kindheit hatte er panische Angst vor größeren Hunden.

Nachdem es aber mit dem kleinen Haus im Herz-Jesu-Viertel nicht geklappt hatte, bestand Katharina darauf, die Wohnung in der Staufenstraße noch mal in Betracht zu ziehen. So kam es, dass Katharina Klaas dazu überredete, die Wohnung ein zweites Mal zu begutachten und zu überlegen, ob die Vorzüge nicht die Anwesenheit von drei Hunden im Nachbarhaus in den Schatten stellten. Kurz nach dem zweiten Besichtigungstermin hatten sie den Mietvertrag unterschrieben. Anfang Dezember waren sie eingezogen und seitdem mit der Renovierung der Wohnung beschäftigt. Bis Weihnachten hatten sie es geschafft, die Wohnung zu streichen. Im Januar hatten sie sich beide Urlaub genommen. Katharina eine Woche, Klaas zwei. In dieser Zeit wollten sie sich um den Fußboden kümmern. Die erste Woche war bereits um. Da im Kommissariat 11 aber nicht viel los war, hatte Katharina ihren Urlaub um eine halbe Woche verlängert. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass die Aufarbeitung des Fußbodens viel aufwendiger war, als sie sich das vorgestellt hatten. Bislang hatten sie nur das Schlafzimmer geschafft. Katharina war der Verdacht gekommen, dass Klaas sich mittlerweile auch fragte, ob es nicht besser gewesen wäre, sie hätten das Abschleifen des Bodens einem Profi überlassen.

Gerade als Katharina das Schleifgerät wieder in Betrieb nehmen wollte, klingelte es an der Tür und gleichzeitig ihr Handy. Klaas, der schon wieder seine Ohrenschützer aufgesetzt hatte, bekam weder das eine noch das andere mit. Katharina zog ihr Handy aus der Gesäßtasche und ging zur Wohnungstür. Im Display sah sie, dass ihre Mutter Edith sie anrief. »Hallo Mama.«

Wie immer redete ihre Mutter sofort drauf los. »Katharina, du musst mir helfen!«, schniefte Edith in den Hörer. Ihre Stimme klang eigenartig erstickt.

»Was ist los?«, fragte Katharina alarmiert. »Ist etwas passiert?«

Mit dem Hörer in der einen Hand betätigte sie mit der anderen den automatischen Türdrücker und öffnete die Wohnungstür.

»Ja, das kann man so sagen. Ich habe eine Katzenhaarallergie. Ich habe das gar nicht gewusst, aber ich reagiere so heftig auf Mr. Spook, dass er keinen Tag länger hierbleiben kann.«

Katharina, die Schlimmeres erwartet hatte, atmete erleichtert auf und nickte grüßend ihrer Nachbarin Brigitte zu, die mit einem Korb über dem Arm die fünf Stufen zur Wohnungstür heraufkam.

»Du hast Veras Kater bei dir? Warum?« Vera war Ediths ältere Schwester.

»Weil die liebe Vera für eine Woche hier in Münster einen Freund besucht und sie niemanden gefunden hat, der den Kater bei ihr zu Hause versorgt. Da hat sie mich gefragt, ob er für diese Woche bei mir wohnen kann. Aber, wie gesagt, ich reagiere absolut allergisch auf seine Haare. Ich habe einen Hautausschlag im Gesicht und auf den Armen, der mich fast wahnsinnig macht. Außerdem höre ich überhaupt nicht mehr auf zu niesen.«

»Und was soll ich da jetzt machen?« Katharina ließ ihren Blick durch den Flur schweifen. »Zu uns kann er auf gar keinen Fall. Hier ist Chaos. Der einzige Raum, wo es einigermaßen wohnlich ist, ist die Küche.«

»Ja, ja, ich weiß von eurer Dauerbaustelle. Er soll nicht zu euch. Es geht nur darum, ob du den Kater zu Vera ins Kreuzviertel bringen kannst. Sie weiß schon Bescheid. Es ist wohl kein Problem, dass Mr. Spook dort hinkommt.«

Katharina zögerte. Eigentlich hatte sie genug zu tun. Andererseits … Ihr Blick fiel auf Brigitte. Ihre Nachbarin war etwas kleiner als Katharina, hatte ihr graues Haar zu einem sportlichen Kurzhaarschnitt schneiden lassen und strahlte Katharina gut gelaunt aus ihren lebhaften, blauen Augen an. Für den kurzen Weg hatte sie sich weder eine Jacke noch richtige Schuhe angezogen. Sie trug eine dunkelblaue Jogginghose mit drei pinken Streifen an der Naht, Hausschuhe aus Filz und einen gemütlich aussehenden Pullover. Die Nachbarin gab ihr mit Gesten zu verstehen, dass sie etwas zu Essen dabeihabe. Katharina nickte ihr zu und deutete auf die Küchentür. Hoffentlich nicht auch wieder Prosecco, dachte sie. Die frisch verrentete Brigitte wohnte rechts von ihnen. Seit sie mitbekommen hatte, dass sie tagsüber zu Hause waren, kam sie mindestens einmal am Tag mit Suppe, Salat oder frisch gebackenem Kuchen zu ihnen herüber. Anfangs hatte Katharina sich darüber gefreut, bedeutete es doch, dass sie sich bei der ganzen Renoviererei nicht auch noch ums Essen kümmern musste. Inzwischen aber ging ihr Brigitte ziemlich auf die Nerven. Das Problem war, dass die Nachbarin, wenn sie einmal da war, so schnell nicht mehr ging. Sie suchte Gesellschaft, das war Katharina spätestens nach Brigittes viertem Besuch klargeworden.

»Was ist denn jetzt?«, fragte Edith ungeduldig.

Katharina hatte sich entschieden. Klaas, der sich über Brigittes Besuche immer freute wie ein Schneekönig, konnte mit ihr zusammen Kartoffelsalat oder was auch immer essen, sie würde in der Zeit den Kater zu ihrer Tante Vera bringen.

Katharina fand einen Parkplatz direkt vor dem modernen Mehrparteienhaus, in dem ihre Mutter seit einigen Jahren im Dachgeschoss ein großzügiges Loft bewohnte.

Als Edith ihr die Wohnungstür öffnete, erkannte Katharina sie kaum wieder. Ihr Anblick war mitleiderregend. Die Augen waren verquollen, ihr Gesicht aufgedunsen und von einem hellroten Ausschlag überzogen. Die Quaddeln waren auch auf ihren Handrücken und Unterarmen zu sehen. Edith trug einen eng sitzenden, schwarzen Hausanzug aus Samt. Eigentlich ein Hingucker, jetzt aber übersät mit Katzenhaaren.

Nach der Begrüßung erklärte Edith mit kratziger Stimme: »Ich habe Mr. Spook schon in seine Transportbox verfrachtet. Wie man hört, gefällt es ihm nicht besonders gut.«

Von irgendwoher kam ein gedämpftes, langgezogenes Miauen. Katharina blickte sich um. In der einen Ecke des Flurs hatte Edith schon alle Katzenutensilien zum Abtransport bereitgestellt.

»Wo hast du ihn denn gelassen?«

»Draußen auf der Dachterrasse.«

Katharina folgte Edith ins Wohnzimmer. »Bei wem ist Vera eigentlich eingeladen?«

Edith zog am Griff der Terrassentür, die daraufhin geräuschlos aufglitt. »Du weißt doch, dass deine Tante mal während ihres Studiums für eine Zeitlang mit dem Lyriker Karl Wagner in einer WG gewohnt hat. Ich habe dich vor Jahren mal zu einer Lesung von ihm geschleppt. Erinnerst du dich?«

»Ja, vage.«

Edith verdrehte die Augen. »Auf jeden Fall lebt er immer noch in dem gleichen Haus wie damals und hat nun anlässlich seines Geburtstags Vera und die anderen Mitbewohner zu einem einwöchigen Aufenthalt nach Münster eingeladen.«

»Mir war gar nicht klar, dass Vera überhaupt noch Kontakt zu ihrer ehemaligen WG hatte. Das ist doch ewig her.«

»Doch, hatte sie. Zwar nur sporadisch, aber hin und wieder haben sie sich gesehen. Obwohl außer Karl Wagner niemand mehr in Münster wohnt. Zwei von denen leben sogar in Bayern, wenn ich mich richtig erinnere.«

Katharinas Blick glitt hinüber zu der Kunststoffbox, aus der die klagenden Töne kamen. »Dann will ich mal gleich los, damit Mr. Spook schnell wieder aus seinem kleinen Gefängnis herauskommt.« Sie umfasste den Tragegriff der Katzenbox. »Oh, die ist aber schwer.«

»Da sitzt ja auch ein properer Kerl drin«, sagte Edith und nieste dreimal hintereinander.

Das stimmte. Bei Mr. Spook handelte es sich um einen Kater der Rasse Maine Coon. Damit gehörte er zu den größten aller Rassekatzen. Vom Äußeren erinnerte er an einen kleinen Luchs. Nicht nur wegen seiner kräftigen Statur und dem langen, teilweise zottigen Fell, sondern auch wegen seiner breiten Ohren, die an ihren Enden pinselartige Fellbüschel aufwiesen. Von seinem Wesen glich Mr. Spook, wie für die Rasse typisch, eher einem Hund als einer Katze. Er suchte nach menschlicher Gesellschaft, war gutmütig und sehr verschmust.

Katharina ließ sich von Edith den schnellsten Weg zur Heerdestraße erklären. »Das Kreuzviertel ist ja eine Katastrophe mit dem Auto, aber in der Ecke geht es«, sagte Edith. »Das Haus ist leicht zu erkennen. Es steht ganz am Ende der Straße auf der Ecke. Roter Backstein und eine dunkelbraune Haustür.«

»Das finde ich«, sagte Katharina und verabschiedete sich.

2. KAPITEL

Das Kreuzviertel lag nur wenige Gehminuten nördlich von Münsters Innenstadt entfernt und war eine beliebte Wohngegend, mit der Heilig-Kreuz-Kirche als Mittelpunkt. Kein anderes Quartier in Münster wies eine so geschlossene Bebauung auf wie dieses Viertel. Viele Straßen waren gesäumt von prächtigen Altbauten der Gründerzeit, die sich nahtlos aneinanderreihten. So hübsch die Häuser anzusehen waren, so hoch waren auch die Mieten. Aus diesem Grund hatten Katharina und Klaas bei ihrer Suche nach einer gemeinsamen Wohnung das Kreuzviertel gar nicht erst in Betracht gezogen.

Bei Karl Wagners Haus handelte es sich zwar nicht um eines der typischen Jugendstilhäuser, aber es war sicherlich genauso alt. Das kastenförmige Einfamilienhaus stand mittig auf einem Grundstück in unmittelbarer Nähe zur Promenade. Eingefasst wurde es von einer dichten Hecke, deren Blätter jetzt im Januar braun und trocken waren. Die Hecke war so hochgewachsen, dass man von der Straße aus nur die Fenster des ersten Stocks und das Dach sehen konnte. Auf das Grundstück gelangte man durch ein verschnörkeltes, schmiedeeisernes Gartentor, das in die Hecke eingelassen war. Katharina drückte gegen das angelehnte Tor, das sich nicht mehr richtig schließen ließ und von dem die weiße Farbe an vielen Stellen abgeplatzt war. Ein mit unebenen Steinplatten ausgelegter Weg führte zum Haus. Die Backsteinfassade, die verwitterten Fensterläden und die düster wirkende Haustür machten einen wenig einladenden Eindruck.

Katharina hatte Karl Wagner als einen Mann mit grauer Haarmähne, einem Barett auf dem Kopf und mit schwarzer Hornbrille in Erinnerung. Auf der Lesung hatte er wild gestikulierend und mit überlauter Stimme aus einem schmalen Büchlein unzusammenhängendes Zeug vorgetragen. Das menschgewordene Klischee eines Verfassers von schrägen Gedichten und absurden Prosatexten, hatte Katharina damals gedacht. Es musste über zehn Jahre her sein, dass sie bei ihm auf der Lesung war.

Sie drückte auf den Klingelknopf, und während sie wartete, betrachtete sie die eindrucksvoll verzierte massive Holztür. Ein faustgroßer, etwas bizarrer Tierkopf, der sich unterhalb der blickdichten Glasscheibe befand, starrte ihr ausdruckslos entgegen.

Die Tür wurde mit einem Schwung aufgerissen, und Katharina stand ihrer Tante Vera gegenüber, die ein Sektglas in der Hand hielt und über das ganze Gesicht strahlte.

Vera Langenkämper hatte optisch nicht viel Ähnlichkeit mit ihrer jüngeren Schwester. Edith war mittelgroß und schlank. Ihrer Figur sah man das regelmäßige Pilatestraining an. Vera dagegen war eine große Frau, die seit ihrem fünfzigsten Lebensjahr mit einem deutlichen Übergewicht zu kämpfen hatte.

Ediths blond gefärbte Haare waren glatt und zu einem perfekt geschnittenen Pagenkopf frisiert. Veras Haare hatten dieselbe Länge, waren aber silbergrau, lockig und sahen immer etwas buschig aus. Edith achtete auf modische und jugendliche Garderobe. Vera mochte weite, flatternde Kleidung in zarten Pastelltönen. »Farben, die sie leider überhaupt nicht tragen kann«, wie Edith es nicht müde wurde, Katharina gegenüber anzumerken. Mindestens genauso oft teilte sie ihr Unverständnis darüber mit, dass es ihre Schwester nie geschafft hatte, mal ein paar Kilo abzuspecken. »Sie müsste sich einfach mehr bewegen«, pflegte Edith zu sagen. »Aber ihr Bewegungsdrang entspricht dem einer Parkbank.«

Katharina interessierten der Kleidungsstil und das Gewicht ihrer Tante herzlich wenig. Sie mochte Vera sehr, und so bequem sie war, umso beweglicher war ihr Geist. Katharina kannte kaum jemanden, der einen so analytischen und messerscharfen Verstand besaß wie Vera. Bis zu ihrer Pensionierung sieben Jahre zuvor war sie als Vorsitzende Richterin beim ersten Strafsenat des Oberlandesgerichts Hannover tätig gewesen.

»Hallo! Da seid ihr ja schon!« Mit ihrer freien Hand zog Vera Katharina an sich. Der vertraute, blumige Tante-Vera-Duft stieg Katharina in die Nase. »Wenn ich gewusst hätte, dass Edith so heftig auf Mr. Spooks Haare reagiert, hätte ich gleich gefragt, ob er hierherkommen kann. Das tut mir wirklich leid für sie.«

»Das konnte ja niemand wissen. Bei dir zu Hause hatte sie ja nie Probleme.«

Vera hielt Katharina die Tür auf. »Wir sind gerade beim Aperitif.«

»Um halb fünf nachmittags?«, fragte Katharina lächelnd. »Andere trinken um diese Zeit Tee.« Sie hatte die Transportbox abgestellt, und Vera machte sich sogleich daran, den Verschluss der Klappe zu öffnen.

»In unserem Alter verschiebt sich alles nach vorne. Um zehn Uhr sind wir ja schon wieder müde und wollen ins Bett.« Katharinas Tante ließ den Kater aus der Box. »Ich hoffe nur, dass hier nicht auch jemand unter einer bislang noch nicht entdeckten Katzenhaarallergie leidet.« Während sie das sagte, strich Mr. Spook seiner Besitzerin laut maunzend um die Beine. Sogleich blieben an Veras Stoffhose jede Menge Katzenhaare hängen. »Ach du dummer Kerl«, schimpfte Vera liebevoll und kraulte den Kater hinter den Ohren. »Gott sei Dank ist Mr. Spook nicht so ortsbezogen wie sein Vorgänger. Fritz hätte ich niemals für eine Woche einfach so in eine andere Umgebung mitnehmen können. Das wäre totaler Stress für den gewesen.«

Aus dem Inneren des Hauses ertönte eine Stimme. »Vera! Bring deine Nichte doch mit rein!«

Vera sah Katharina fragend an. »Das war der Gastgeber. Wie sieht’s aus? Hast du noch ein halbes Stündchen Zeit?« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Stimmengewirr. »Das ist wirklich eine nette Runde.«

Katharina zögerte einen Moment. Dann stimmte sie zu. »Aber wirklich nur kurz. Wir sind noch immer bei der Renovierung unserer Wohnung, und da will ich Klaas mal lieber nicht allzu lange alleine lassen.«

Im Wohnzimmer saßen in einer Sitzgruppe aus Leder drei Männer und zwei Frauen, die alle in Veras Alter waren und sich nun höflich umwandten, als Katharina und ihre Tante den Raum betraten. Als Erstes wurde Mr. Spook bewundert. Er war ihnen vorausgelaufen, seinen imposanten Schwanz steil aufgerichtet.

»Das ist ja ein Hübscher.«

»Diese Augen! Wunderschön.«

»Aber ein ganz schöner Brocken. Der braucht bestimmt viel Futter.«

»Wie bist du auf den Namen gekommen, Vera? Er hat gar nichts Spukiges an sich. Er wirkt eher gemütlich.«

Diese Frage hatte die kleinere der beiden Frauen gestellt. Sie hatte ein rundes Gesicht und kurze, rotbraune Haare, die frisch getönt aussahen. Ein Wirbel am Haaransatz sorgte dafür, dass ihre Haare dort wie kleine Stacheln zu allen Seiten abstanden. Auf Katharina wirkte das sympathisch.

»Also, eigentlich wollte ich ihn Paul nennen. Nach meinem verstorbenen Mann. Aber dann habe ich festgestellt, dass der Kater die Angewohnheit hat, ganz plötzlich wie aus dem Nichts von irgendwoher aufzutauchen. Gerade war er noch in der Küche, zwei Sekunden später räkelt er sich auf dem Sofa, und ich habe nicht mitbekommen, wie er so schnell dorthin gekommen ist. Am Anfang fand ich das wirklich unheimlich. Deshalb der Name.«

Karl Wagner betrachtete den stattlichen Kater versonnen. »Es gab ja schon mal eine Katze hier im Haus …« Er ließ den Satz auströpfeln. Niemand sagte ein Wort. Alle Blicke ruhten auf Mr. Spook, der ungerührt am Kaminsims schnupperte.

Katharina fragte sich, ob sie sich das nur einbildete, aber sie hatte den Eindruck, dass Vera plötzlich etwas besorgt aussah.

Ohne den Kater aus den Augen zu lassen, fuhr Wagner fort: »Wie hieß die noch gleich? Minni? Martha? Molly?«

Mr. Spook hatte vom Kamin abgelassen, gähnte und rieb sich an Veras Schienbeinen. Sie fasste mit beiden Händen unter den Bauch ihres Lieblings und hob ihn hoch. Mit abwesendem Blick pustete sie zwischen seine Ohren, die daraufhin lustig zuckten. »Sie hieß Minka.« Dann klärte sich Veras Blick wieder, sie setzte Mr. Spook ab und legte eine Hand auf Katharinas Arm. »Und das hier ist meine Nichte Katharina«, sagte sie betont munter.

Katharina nickte grüßend in die Runde, und die Spannung, die entstanden war, verflüchtigte sich. Während die Aufmerksamkeit Mr. Spook gegolten hatte, hatte Katharina sich ein wenig umgesehen. Im Kamin knisterte leise ein Feuer. Die breiten Landhausdielen und die vollgestopften, deckenhohen Bücherregale gaben dem Raum zusätzlich eine gemütliche Note. Allerdings hatte das Zimmer, wie wahrscheinlich das gesamte Erdgeschoss, auch etwas Düsteres. Durch die kleinen Sprossenfenster drang nicht viel Licht ins Haus. Zusätzlich standen nahe am Haus eine Menge immergrüne Büsche und Sträucher, die das Tageslicht schluckten.

»Hallo! Einfach hinsetzen. Möchtest du etwas trinken?«

Es war Karl Wagner, der Katharina angesprochen hatte. Die Hornbrille und die kleine Schirmmütze, die schräg auf seinem Kopf saß, gehörten offenbar immer noch zu seinen Markenzeichen. Ansonsten hatte er aber in den vergangenen zehn Jahren sichtlich abgebaut. Seine Haare waren dünn und wirkten stumpf. Das Gesicht des Lyrikers war eingefallen, und ein mobiles Sauerstoffgerät erleichterte ihm über einen Schlauch und eine Nasenbrille das Atmen. Trotzdem strahlte er eine gewisse Vitalität aus.

»Gerne, aber bitte keinen Sekt.«

»Wir trinken Champagner, nicht einfach Sekt«, erklärte Karl Wagner, »aber du kannst natürlich auch gerne Orangensaft haben.« Er prostete Katharina zu. »Wir halten uns hier nicht mit Förmlichkeiten auf. Ich bin Karl.«

Katharina setzte sich auf das Sofa, und Vera drückte ihr ein Glas Saft in die Hand. Nacheinander deutete sie auf ihre übrigen Studienfreunde. »Ich darf kurz vorstellen. Das sind Antje, Gabriele, Hans und Theo.« Die vier älteren Herrschaften hoben ebenfalls ihre Gläser.

Antje, die Frau mit den kurzen Haaren und dem Wirbel, sagte: »Die Familienähnlichkeit ist nicht zu übersehen. Du hast die gleichen grünen Katzenaugen wie Vera und den gleichen Lockenkopf. Aber Vera war früher blond, nicht brünett.«

Katharina nippte an ihrem Orangensaft und lächelte höflich. Im letzten Sommer hatte sie sich einen kurzen Bubikopf schneiden lassen, inzwischen waren ihre Locken aber wieder kinnlang und somit war ihre Frisur der von Vera tatsächlich nicht unähnlich. Antje erwiderte ihr Lächeln und Katharina dachte, dass sie sich bestens als flotte, gutgelaunte Seniorin auf jeder Apotheken-Umschau machen würde. Fehlte nur noch eine Dose mit Vitaminkapseln in ihrer Hand.

Gabriele machte auf Katharina einen weniger lockeren Eindruck. Ihre Schultern waren kantig, als würde der Strickpullover, den sie trug, auf einem Kleiderbügel hängen. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte eingegraben, die ihrem Gesicht einen besorgten Ausdruck verlieh. Durch ihre Goldrandbrille schaute sie Katharina mit ernsten, grauen Augen an.

Hans erinnerte Katharina von der Statur her an ihren Chef. Er war genauso hager und hochgewachsen. Sein Haar war altersentsprechend ergraut, aber immer noch voll und akkurat geschnitten. Die vielen Fältchen in seinem sonnengebräunten Gesicht und um die Augen herum machten ihn nicht alt, sondern attraktiv.

Der Mann, den Vera als Theo vorgestellt hatte, hatte einen Schultergürtel wie ein Eishockeyspieler. Sein Jackett spannte in diesem Bereich etwas. Nachdem er Katharina zugeprostet hatte, lehnte er sich zurück, schlug die Beine übereinander und legte einen Arm auf der Sofalehne ab. Seine Bewegungen waren immer noch fließend. An seinem Handgelenk befand sich eine klobige Sportuhr, die aussah, als hätte sie noch viel mehr Funktionen, als nur die Anzahl der Schritte zu zählen.

Katharina konnte sich vorstellen, dass Theo sein Leben lang Sport getrieben hatte, aber gutes Essen und Wein auch nicht verachtete. Sein Bauch wölbte sich unübersehbar über den Bund seiner Hose.

Eine Weile wurde darüber geplaudert, was Karls Gäste in den ersten zwei Tagen bereits von Münster gesehen hatten und was sie noch besichtigen wollten. Bei allen, außer bei Vera, lag der letzte Münsterbesuch schon einige Jahre zurück.

Katharina erfuhr, dass Antje in München und Gabriele in Brühl lebten. Hans hatte es nach seiner Studienzeit nach Passau verschlagen, und Theo wohnte in der Nähe von Frankfurt.

Antje sah Katharina neugierig an. »Vera hat schon öfters erwähnt, dass ihre Nichte bei der Kripo arbeitet. Ich schaue ja liebend gerne den Tatort aus Münster und natürlich Wilsberg. Sind die Fälle, mit denen du zu tun hast, auch so spannend?«

»Ehrlich gesagt, schaue ich weder Tatort noch Wilsberg, und meine Arbeit besteht oft aus viel Routine und sehr kleinteiliger Ermittlungsarbeit.«

»Verstehe«, sagte Antje und sah etwas enttäuscht aus.

Katharina, die keine Lust verspürte, mehr ins Detail zu gehen, wandte sich an Karl. »Vera hat mal erwähnt, dass dir das Haus schon damals gehörte. Ist das hier dein Elternhaus?«

Der Lyriker erklärte, dass das Haus seinem Onkel gehört habe, der alleinstehend gewesen sei. »Für ihn lag es nahe, mir das Haus zu vererben. Meine Eltern waren ja versorgt, und es gab sonst niemanden außer mir. Mit Hans habe ich dann die WG gegründet. Es war natürlich komfortabel, mit zwanzig Jahren schon ein Haus zu besitzen. Zumal die Wohnungssituation für Studenten Anfang der siebziger Jahre auch in Münster eine Katastrophe war. Das Haus hatte aber vor fünfzig Jahren überhaupt noch nicht den Wert, den es heute hat, allein aufgrund seiner Lage.«

Hans fügte hinzu: »Ganz bestimmt nicht. Das war ein sanierungsbedürftiger Altbau, so wie fast alle Häuser hier im Viertel.«

»Man kann es sich heute kaum vorstellen, aber in den siebziger Jahren war das Kreuzviertel sehr von Studenten geprägt.« Vera steckte sich eine Olive in den Mund. »Billige Studentenbuden und Wohngemeinschaften gab es hier in Hülle und Fülle. Erst Ende der siebziger Jahre wurde das Viertel durch entsprechende Sanierungsprogramme auf Vordermann gebracht.« Katharinas Tante piekste mit einem Zahnstocher eine weitere Olive auf. »In einem Zeitungsbericht habe ich mal gelesen, dass in Münsters Kreuzviertel ein Bevölkerungsmix herrscht. Aber was ich bisher so wahrnehme, so wohnen hier doch vor allem gutverdienende, junge Eltern, die ihre Kinder mit dem Lastenrad zur Kita bringen, dann auf dem Biomarkt einkaufen und vorher noch einen Latte Macchiato mit Hafermilch trinken. Oder täuscht das, Karl?«

»Vielleicht ein wenig zugespitzt«, erwiderte der Angesprochene lächelnd.

»Bist du denn immer hier wohnen geblieben?«, wandte sich Katharina an den Gastgeber.

Der Lyriker nickte. »Im Februar 1973 hatten wir im Keller einen Brand. Danach war das Haus für eine Weile nicht bewohnbar. Die anderen haben sich etwas anderes gesucht, und ich hatte dann keine Lust mehr auf WG im eigentlichen Sinn. Ich habe das komplette Erdgeschoss an ein Hippiepärchen mit Kind und Hund vermietet und habe mich in den ersten Stock zurückgezogen. Wir haben nur die Küche gemeinsam genutzt. Später habe ich dann nur noch mit meiner jeweiligen Freundin hier gewohnt.« Er lächelte verschmitzt. »Und noch mal später wurde mein Haus zu einem beliebten Treffpunkt für liebe Kollegen und Kolleginnen von überallher. Das ganze Jahr über war das hier ein Kommen und Gehen. Ich habe das sehr genossen. Meine Beziehungen haben meist nicht lange gehalten, aber so war ich fast nie alleine. Erst in den letzten fünf Jahren ist es ruhiger geworden.« Er deutete auf das Sauerstoffgerät. »Was vor allem an meiner Krankheit liegt. Ich kann einfach nicht mehr so wie früher. Aber zu meinem Siebzigsten wollte ich mir noch mal ein bisschen Leben in die Bude holen und ein kleines Revival organisieren. Da Hans und Antje so weit weg wohnen, habe ich gleich für eine ganze Woche eingeladen. Es soll sich ja auch lohnen und nicht in Strapazen ausarten. Platz genug habe ich ja.«

»Das war ein sehr schöner Einfall von dir, Karl«, sagte Vera. »Auch die Idee, uns für mehrere Tage einzuladen. Das ist einfach etwas ganz anderes, als sich nur für einen Nachmittag in einem Restaurant zu treffen.«

»Ich freue mich, dass ihr gekommen seid«, sagte Karl. »Auf uns und eine schöne gemeinsame Zeit!« Wieder stießen die Gläser hellklingend aneinander.

Katharina ließ ihren Blick derweil über den Couchtisch gleiten. Er war übersät mit alten, zum Teil zerknitterten Fotos. Dazwischen stapelten sich Fotoalben und Kartons unterschiedlicher Größe. »Wenn ihr also nicht gerade die Stadt besichtigt, dann schwelgt ihr in alten Erinnerungen«, stellte sie fest und nahm wahllos eine Schwarz-weiß-Aufnahme in die Hand.

»Ja, bei unseren vorherigen Treffen ist das immer zu kurz gekommen«, sagte Gabriele. »Diesmal haben wir alle unsere alten Alben und Fotos mitgebracht.«

»Und auch schon herzlich gelacht«, ergänzte Vera. »Mein Gott, wie wir aussahen. Und wie jung wir waren.« Sie tippte mit ihrem Zeigefinger gegen ihre Wange. »Falten, Altersflecken und unansehnliche Äderchen waren da noch Lichtjahre von uns entfernt.«

»Ach, komm, Vera«, protestierte Gabriele milde. Sie strich sich über ihr langes Haar, das die gleiche Farbe hatte wie ihr grau-weißer Pullover. »Du hast doch nichts von alledem.« Das stimmte. Der Vorteil von Veras vollen Wangen war, dass ihre Haut immer noch verhältnismäßig straff und frisch wirkte.

»Irgendeinen Vorteil muss so ein Übergewicht ja auch haben«, sagte Vera gut gelaunt.

Katharina betrachtete das Foto in ihrer Hand. Es zeigte drei Männer und vier Frauen Anfang zwanzig, die sich in einer unaufgeräumten Küche um einen Tisch herum fläzten. Die meisten von ihnen hielten Zigaretten in der Hand. Dass die Aufnahme aus den siebziger Jahren stammte, war unverkennbar. Zwei der Männer hatten lange Haare. Einer von ihnen hatte eine Sonnenbrille im John-Lennon-Stil auf der Nase und blies eine Rauchwolke in Richtung des Fotografen. Obwohl das Foto knapp fünfzig Jahre alt sein musste, erkannte Katharina in den beiden langhaarigen Männern Karl und Hans. Der dritte Mann hatte einen kurzen, dichten Lockenkopf und schaute als Einziger von den sieben nicht in die Kamera, sondern zur Seite.

Eine der Frauen stand hinter ihm und hatte ihre Arme um seine Schultern geschlungen. In ihrem Haar steckte eine riesige Sonnenbrille.

Vera schaute Katharina über die Schulter. »Ah, das ist eins der wenigen Bilder, wo wir alle zusammen drauf sind.«

Katharina tippte auf die junge Frau hinter dem Stuhl. »Bist du das, Vera?«, fragte sie amüsiert.

»Ja. Damals noch rank und schlank, wie du siehst. Und der junge Mann, dem ich mich da um den Hals geworfen habe, ist Theo.«

Katharina warf dem heutigen Theo einen Blick zu. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht.«

Theo zwinkerte ihr vergnügt zu und klopfte leicht mit der flachen Hand auf seine glänzende Vollglatze, die in einem eigenartigen Kontrast zu seinen auffälligen, fast schwarzen Augenbrauen stand. »Na, das ist wohl kein Wunder.«

»Antje und Gabriele erkenne ich auch, aber wer ist das?«

Katharina zeigte auf eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren, die, der damaligen Mode entsprechend, in der Mitte gescheitelt waren.

Vera nahm Katharina das Foto aus der Hand. »Das ist Margit Meyer, genannt Margo. Sie war eine Weile mit Karl zusammen und hat hier gewohnt, bis sie sich heimlich, still und leise verkrümelt hat und wir nie wieder etwas von ihr gehört haben.«

Katharina entging nicht, dass sich bei Erwähnung des Mädchens die Atmosphäre im Raum ein weiteres Mal veränderte. Wieder breitete sich ein Schweigen aus. Die starre Stille hielt an, bis sie von Vera unterbrochen wurde. Sie hatte den Blick immer noch auf das Foto geheftet. »Das könnte sogar die letzte Aufnahme mit ihr sein. Das war doch der Abend der Party. Kurz vor Weihnachten muss das gewesen sein.«

Antje streckte die Hand nach dem Foto aus, und Vera reichte es ihr über den Tisch hinweg. »Stimmt. Ich erinnere mich. Onno war es, der das Bild gemacht hat. Kurz danach war Margo dann weg.« Antje gab das Foto weiter.

Als Hans einen Blick auf die Aufnahme warf, sagte er leise: »Mein Gott, die Margo.« Mit einer Hand rieb er sich über sein Kinn.

»Ich war nicht böse drum, als sie weg war«, erklärte Antje. »Es war wirklich nicht leicht, friedlich mit ihr zusammenzuwohnen. Wer weiß, wo das noch alles hingeführt hätte.«

»Nein, leicht war es wirklich nicht«, bestätigte Vera.

Da niemand etwas hinzufügte, griff Katharina nach einem in Kunstleder gebundenen Fotoalbum. »Darf ich mal reinschauen?«

»Natürlich«, sagte Hans.

Katharina blätterte eine Seite nach der anderen um. Die Fotos zeigten die ehemalige WG beim gemeinsamen Kochen, beim Essen oder im Wohnzimmer bei Sit-Ins mit anderen jungen Leuten in Schlaghosen und engen Pullovern. Weiter hinten gab es auch Aufnahmen, wo einige der WG-Mitglieder auf Demos zu sehen waren. In Jeans, Parka und mit gemusterten Tüchern um den Hals gewickelt.

»Eine WG zu gründen beziehungsweise in einer WG zu leben«, klärte Karl die Kommissarin auf, »war im Grunde ein politisches Statement. Es war Ausdruck einer linksalternativen Lebensweise. Damals galt der Satz: Jeder, der auch nur ein bisschen politisch konsequent ist, wohnt in einer WG.«

Katharina legte das Fotoalbum zurück. »Das ist wirklich ein Stück Zeitgeschichte«, sagte sie begeistert. »Wenn ich das so sehe, bereue ich fast, dass ich nie in einer WG gewohnt habe.«

»Es war teilweise aber auch ziemlich anstrengend«, sagte Antje. »Vieles von dem damaligen WG-Kult wurde später auch ziemlich verklärt. Wenn ich nur an die ewige Diskutiererei abends in der Küche denke.« Sie winkte ab.

»Oh, ja«, pflichtete ihr Gabriele bei. »Bis zum Umfallen haben wir alles, aber auch wirklich alles auseinandergepflückt.«

»Das gehörte halt dazu«, warf Vera ein. »Die Diskussion an sich galt nun mal als Austauschmedium jenseits der hierarchisch-autoritären Strukturen, von denen wir uns ja um jeden Preis abgrenzen wollten.«

In diesem Augenblick betrat eine junge Frau das Wohnzimmer. Anmutig, fast lautlos bewegte sie sich durch den Raum. Ihr Haar trug sie streng nach hinten gekämmt und zu einem festen Dutt hochgesteckt. Dadurch kamen ihr fein geschnittenes Gesicht und die halbmondförmigen Augenbrauen perfekt zur Geltung. Sie hielt eine Dose mit Tabletten in der Hand.

»Ah, Agnieszka, ist es schon wieder so weit?«

Die Angesprochene lächelte und nickte. »Ja, Herr Wagner, vier Stunden sind um.« Selbst bei diesem kurzen Satz war der starke Akzent der Frau nicht zu überhören.

Karl griff nach einem Wasserglas und nahm zwei Tabletten entgegen. »Meine Lungenfibrose ist nicht zu heilen, aber gegen den Lungenhochdruck kann man immerhin etwas tun«, sagte er zu Katharina, bevor er sich die Tabletten auf die Zunge legte und mit einem Schluck Wasser hinunterspülte. Mit Blick auf die junge Frau, die abwartend neben ihm stand, setzte er hinzu: »Seit einiger Zeit kümmert sich Agnieszka um den Haushalt und um mich. Es wurde doch zu mühsam, alles alleine zu bewältigen. Sie ist ein Segen für mich.«

Katharina grüßte die Haushaltshilfe freundlich und warf dann einen Blick auf ihr Handy. »Oh, ich muss mal langsam wieder los. So lange wollte ich gar nicht wegbleiben. Es hat mich aber sehr gefreut, euch alle kennenzulernen.« Sie erhob sich. »Ich wünsche euch noch eine schöne Zeit zusammen.«

Vera stemmte sich vom Sofa hoch. »Ich bringe dich noch zur Tür.«

Im Flur umarmte Katharina ihre Tante und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Danke, dass du Mr. Spook vorbeigebracht hast«, sagte Vera, »und viel Erfolg noch beim Renovieren. Edith sagte, es sei ganz schön viel zu tun.«

Katharina winkte ab. »Ich mag gar nicht darüber nachdenken. Ab Mittwoch muss ich auch wieder arbeiten.« Vera tätschelte Katharina den Arm. »Ihr macht das schon. Und wenn alles fertig ist, komme ich mal zum Tee vorbei.«

3. KAPITEL

September 1972

»Also, Leute, das ist Margo. Sie zieht nächste Woche für Klaus hier ein.«

Karl hatte die Küche betreten. Er zog den Reißverschluss seines Parkas auf und hängte ihn über eine Stuhllehne. Anschließend fischte er aus seiner Hosentasche ein Gummiband, griff in sein schulterlanges, welliges Haar und fasste es zu einem Zopf zusammen.

Die junge Frau in seinem Schlepptau ließ ein knappes »Hallo« hören und schaute sich dann mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck in der Küche um.

Vera, Antje, Gabriele und Hans musterten die Neue überrascht.

»Das ging ja schnell«, sagte Antje.

»Hallo Margo«, kam es von Hans.

Vera runzelte die Stirn. »Entschuldige, Margo, nichts gegen dich, aber …«, sie wandte sich an Karl, »wollten wir nicht gemeinsam entscheiden, wer hier einzieht? Auch wenn das dein Haus ist und du der Vermieter bist, finde ich es nicht gut, dass du das einfach allein bestimmst. Schließlich bilden wir hier eine gleichberechtigte Gemeinschaft, dachte ich zumindest.«

Karl zog einen Stuhl zu sich heran. »Die liebe Vera wieder. Immer hat sie irgendetwas zu nörgeln.«

»Wieso?«, sprang Antje ihrer Mitbewohnerin zur Seite. »Es stimmt doch, was sie sagt.«

Karl verdrehte die Augen und ließ sich übertrieben seufzend auf dem Stuhl nieder. Mit einer Handbewegung bedeutete er Margo, es ihm gleichzutun. »Seit wann reiten wir hier so auf Prinzipien herum? Ich habe immer gedacht, zu unserem politischen Selbstverständnis gehört auch ein großes Maß an Toleranz. Im Grunde sollte es so sein, dass man, egal mit wem, in einer WG zusammenleben kann.«

Jetzt war es Vera, die die Augen verdrehte. »Du hättest trotzdem heute Morgen mal den Mund aufmachen können.«

Gabriele, die seit zwei Wochen an einem Ungetüm von Schal arbeitete, legte ihr Strickzeug zur Seite. »Möchtest du einen Tee, Margo?«, fragte sie und blickte den Gast mit ihren treuen Augen an, die durch ihre dicken Brillengläser noch vergrößert wirkten.

»Ja klar, warum nicht«, antwortete Margo. Zu Vera sagte sie: »Wenn du ein Problem hast, mit Leuten zusammenzuwohnen, die du nicht seit dem Kindergarten kennst, dann suche ich mir halt etwas anderes. Aber dann solltest du dich mal fragen, ob du das WG-Prinzip verstanden hast.«

Vera hob die Hände. »Ist ja gut. Ich habe ja gesagt, das geht nicht gegen dich.« Sie schob das rote Haarband zurecht, das dafür sorgte, dass ihr die langen Locken nicht ständig ins Gesicht fielen.

Gabriele hatte sich erhoben und suchte in einem Küchenschrank nach einer Tasse für Margo. »Ich finde, wo Margo jetzt schon mal hier ist, kann sie auch hier bleiben.«

Vera wandte sich an Hans. »Wusstest du denn davon?«

Hans strich sich über sein Kinn, obwohl er, im Gegensatz zu Karl, keinen Bart trug. Dafür ließ er sich aber seit einiger Zeit Koteletten stehen, und sein Haar war inzwischen deutlich über die Ohren und den Nacken hinausgewachsen. Er schüttelte den Kopf, ohne seinen Blick von Margo abzuwenden.

Gabriele wurde im Küchenschrank fündig und schenkte Margo Kräutertee aus einer bauchigen, dunkelgrünen Keramik-Teekanne ein.