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Die langen Schatten der Vergangenheit … Im Jahr 1986 wird der angesehene Münsteraner Arzt Dr. Fred Neuhaus erschlagen in seinem Schwimmbad aufgefunden. Am Beckenrand hockt seine verstörte Ehefrau und gesteht die furchtbare Tat. Fast vierzig Jahre später entdeckt die Kommissarin Katharina Klein einen Toten in der Nähe des Hafenbeckens von Münster. Es handelt sich um Arndt Neuhaus, den inzwischen 54-jährigen Sohn des Arztes. Auch er ist Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Zusammen mit ihrer Kollegin Eva Mertens gelangt Katharina zu der Überzeugung, dass der gegenwärtige Fall nur aufgeklärt werden kann, wenn das schreckliche Ereignis von damals neu aufgerollt wird.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2025
Henrike Jütting
Hafentod
Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:
Schweigende Wasser
Villa 13
Schatten über der Werse
Spiel im Nebel
Mord im Kreuzviertel
Hafentod
Henrike Jütting wurde 1970 in Münster geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau und studierte dann in Bremen Soziologie und Kulturwissenschaften. Anschließend promovierte sie in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und arbeitete in Bremen, Brüssel und Celle.
Seit 2005 lebt sie mit ihrer Familie wieder in ihrer Heimatstadt Münster. 2017 erschien ihr erster Krimi unter dem Titel Schweigende Wasser.
Die beliebte Reihe um die Münsteraner Kommissarin Katharina Klein umfasst inzwischen bereits sechs Bände.
Originalausgabe
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Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von © Patrick Niebergall - stock.adobe.com
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-95441-723-0 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95441-730-8 (eBook)
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
Für Münster, meine Stadt.
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
(Thomas Hobbes)
1986
Arndt Neuhaus leerte seine Coladose, zerdrückte sie in der Hand und ließ sie auf den Bürgersteig fallen. Mit dem Fuß kickte er die Dose vor sich her. Bei jedem Tritt versuchte er, den Blick seiner Mutter, in dem Niedergeschlagenheit und Resignation Wurzeln geschlagen hatten, ein Stückchen weiter aus seinem Gedächtnis zu drängen. Er empfand Mitleid für sie, hatte aber keine Ahnung, wie er ihr helfen konnte.
Arndt war auf dem Weg zu seinem besten Freund Tobias, mit dem er sich für den heutigen Samstagabend verabredet hatte. Außerdem würden Cara, Jule und Danilo da sein. Es kam selten vor, dass sie sich bei Tobi trafen, denn er hatte fast nie sturmfreie Bude. Das lag vor allem an seinen kleinen Geschwistern. Heute hatten Tobis Eltern sie bei den Großeltern untergebracht, da sie bei Freunden eingeladen waren.
Der Weg zu Tobi war nicht weit. Arndt musste nur den Adlerhorst bis zur Mondstraße hochlaufen, links abbiegen, und dann kam schon nach wenigen Hundert Metern der Ginsterweg, in dem Tobi wohnte. Außer Danilo wohnten sie alle im Umkreis von einem Kilometer am Anfang der Mondstraße, die als Querverbindung die beiden Ausfallstraßen nach Warendorf und Wolbeck miteinander verband. Danilo wohnte weiter hinten an der Mondstraße in einem der Mietshäuser, die von der Stadt Münster in der Nachkriegszeit erbaut worden waren.
Im Ginsterweg war Tobis Haus das vorletzte auf der linken Seite. Es war eins von vier akkurat gepflegten Eigenheimen, wie sie typisch für diese Ecke von Mauritz waren. Eingeschossig, roter Backstein, kleiner Vorgarten. Arndt war gerade auf der Höhe des Nachbarhauses angekommen, vor dem ein älterer Mann energisch einen Buchsbaum mit einer Heckenschere bearbeitete, als er hinter sich das Quietschen einer Fahrradbremse hörte. Er wandte sich um und blickte in Caras eisblaue Augen. Cara, die mit richtigem Namen Carina hieß, sprang vom Rad und streifte den Kopfhörer ihres Walkmans ab. Dabei achtete sie darauf, dass ihre mühevoll aufgeföhnte und mit viel Haarspray fixierte Mähne nicht in Unordnung geriet. Aus den Kopfhörern tönte Madonnas Papa don't preach.
Cara griff in die Innentasche ihrer Jeansjacke und stellte den Walkman aus. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf den Fahrradkorb. »Ich habe Blue Curacao und O-Saft dabei.«
Arndt verzog angewidert das Gesicht. »Ich finde, das schmeckt voll ätzend.«
Vor Tobis Haus stellte Cara ihr Rad ab, und Arndt kickte die Coladose mit einem letzten gezielten Tritt in den Rinnstein.
»Hast du gar keinen Alk dabei?«, fragte Cara, während sie vor der Haustür darauf warteten, dass Tobi ihnen öffnete.
»Hab ich diesmal Tobi überlassen. Er wollte Bier besorgen.«
Die Tür wurde aufgerissen. Mit einem irren Blick und hektischen Bewegungen winkte Tobi seine Freunde herein. »Kommt schnell! Die Mission hat begonnen! Sie sind überall. Haben das Haus umstellt und begehren Einlass. Habt ihr den Anführer bemerkt? Getarnt als alter Mann schnibbelt er nebenan die Hecke!«
Arndt verdrehte die Augen. »Du hast echt 'nen Sockenschuss«, brummte er.
Cara schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie an einen der Garderobenhaken. »Herr Wallhorn schnibbelt nicht die Hecke, sondern stutzt den hässlichen Busch vor seinem Küchenfenster«, stellte sie richtig. Die Clique hatte sich an die Science-Fiction- und Horror-Passion von Tobi längst gewöhnt.
»Tobias, du bist hyperaktiv, laut und aufgedreht«, hatte ihr Mathelehrer mal vor der ganzen Klasse zu Tobi gesagt. Obwohl Arndt normalerweise nichts auf Herrn Beckers Meinung gab, war an dieser Beschreibung etwas dran. Arndt selbst war genau das Gegenteil. Er wurde von den Lehrern häufig als ruhig, ernst und ein wenig introvertiert beschrieben. Auch optisch hatten die beiden Freunde nicht viel gemein. Sie hatten zwar derzeit die gleiche Frisur, vorne kurz und im Nacken etwas länger, aber das war es auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Tobi war blond, mittelgroß, kräftig gebaut und wendig. Genau wie es einem Kreisläufer beim Handball zugute kam. Arndt war hochgewachsen, schlaksig und kam mit seinen schwarzen Haaren und den dunkelblauen Augen ganz nach seinem Vater.
»Okay, das war schlecht«, räumte Tobi jetzt grinsend ein.
»Grottenschlecht, aber das kennen wir ja von dir.« Arndt deutete auf die Küchentür. »Hast du das Bier kaltgestellt?«
»Klar. Bedien dich. Ihr könnt schon mal ins Wohnzimmer gehen. Ich hole noch ein bisschen Knabberzeug aus dem Keller.«
Als Tobi mit einer Rolle Chipsletten und einer Packung Salzstangen wieder aus dem Keller kam, klingelte es erneut.
Julia und Danilo standen vor der Tür. Die Freunde begrüßten sich, und als die beiden Neuankömmlinge an Tobi vorbei ins Haus traten, brachten sie nicht nur die würzige Herbstluft mit herein, sondern auch einen Duftmix aus Axe und My Melody, unterlegt von einem leichten Schweißgeruch. Das süßliche Deo und der Schweiß stammten eindeutig von Jule.
»Puh, ich bin viel zu warm angezogen«, schnaufte sie und schälte sich aus ihrer Winterjacke. »Meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich meine dicke Jacke anziehe. Für den Rückweg.« Jule verdrehte die Augen und fuhr sich mit der Hand über ihre Kurzhaarfrisur. Als Kind waren ihre Haare dunkelrot gewesen. Feuermelder, Duracell oder Kupferkopf hatten sie die Mitschüler in der Grundschule genannt. Mit Eintritt in die Pubertät waren die Haare heller geworden und die Sommersprossen auf den Armen und im Gesicht weniger. Dafür konnte Jule dem lieben Gott – oder wem auch immer – nicht genug danken. Dick und rote Haare, das war einfach zu viel. Im Grunde war Jule nicht richtig dick, aber schlank wie ihre Freundin Cara war sie auch nicht.
Jule zog ihr Sweatshirt mit einem Ruck über Bauch und Po. »Wohnzimmer?«, fragte sie dann, und als Tobi nickte, marschierte sie quer durch den Flur. Die Jungs folgten ihr.
Im Wohnzimmer der Familie Pape herrschte das übliche gemütliche Durcheinander. Kinderspielzeug auf dem Fußboden. Wäschestapel auf dem Esstisch, Bilderbücher auf der Couch. Dort hatte Cara es sich schon gemütlich gemacht. Sie musterte ihre Freundin. »Ist das Sweatshirt von Fruit of the loom?«
Jule nickte, kam zur Sitzecke hinüber und ließ sich in einen Sessel plumpsen. »Was gucken wir eigentlich?«, fragte sie, während sie aus ihrem Rucksack eine Tüte Schokolinsen kramte.
»Auf jeden Fall nicht schon wieder La Boum oder E.T.«, sagte Danilo. Er schob einen Stapel Wimmelbücher zur Seite und ließ sich neben Cara auf das Sofa fallen.
Cara warf Jule einen bedeutungsvollen Blick zu. Genau darauf hatten sie spekuliert. Die Mädchen hatten ausgemacht, dass Jule sich nicht neben Cara setzen würde, in der Hoffnung, dass Danilo es tat.
Danilo gehörte erst seit einem Jahr zu ihrer Clique. Cara hatte sofort ein Auge auf den neuen Klassenkameraden geworfen. Danilos Eltern waren im Rahmen des 1955 mit Italien geschlossenen Anwerbeabkommens Anfang der Siebzigerjahre von Italien nach Münster gezogen.
Danilo war eine Sportskanone und Mannschaftskapitän beim Fußballverein Germania Mauritz. Cara hatte von Anfang an von seinen dunklen Augen, seinem schwarzen Lockenkopf und dem markanten Kinn geschwärmt. Jule teilte Caras Schwärmereien für den hübschen Neuen, hatte aber sofort eingesehen, dass sie gegen ihre blauäugige, blonde Freundin niemals eine Chance haben würde. Obwohl Jule gegenüber ihrer besten Freundin keinen Neid auf deren Aussehen empfand, freute es sie doch insgeheim, dass Danilo nicht so auf Cara reagierte, wie die es gerne gehabt hätte.
»Er ist einfach nur wahnsinnig schüchtern gegenüber Mädchen«, wiederholte Cara ständig.
Oder er steht einfach nicht auf blond und dünn, dachte Jule bei sich, stimmte ihrer Freundin aber pflichtschuldig zu.
Tobi hockte vor dem aufgeklappten Fernsehschrank und inspizierte die Videosammlung. »Ghostbusters, Beverly Hills Cop, Indiana Jones, Der Weiße Hai, Das Fenster zum Hof«, las er laut vor.
»Ich würde gerne was richtig Gruseliges sehen«, erklärte Cara und öffnete die Dose mit den Chipsletten.
»Ja, lasst uns einen Horrorfilm gucken«, stimmte Arndt zu.
Tobi zog zwei Videofilme heraus. »Ihr könnt euch einen aussuchen. Nebel des Grauens oder Halloween 2.«
Sie entschieden sich für den Letzteren, den außer Tobi noch keiner gesehen hatte. Die nächsten anderthalb Stunden verfolgten die fünf Jugendlichen im stockdunklen Wohnzimmer, wie Michael Myers sich mordend auf den Weg zu einem Krankenhaus machte, um die dort eingelieferte Laurie Strode umzubringen.
Cara fand, dass es eine sehr gute Idee gewesen war, einen Horrorfilm zu gucken. So konnte sie ihr Gesicht immer wieder an Danilos Brust drücken, ohne dass das aufdringlich wirkte. Danilo hatte seinen rechten Arm zwar nicht um ihre Schultern, aber immerhin auf der Sofalehne abgelegt. Cara verstand das als Aufforderung, sich an ihn zu kuscheln, wenn es zu heftig wurde.
Am Ende des Films stand Tobi auf, um das Licht wieder anzuknipsen, und Danilo zog seinen Arm wieder zu sich.
Warum war der bloß so schüchtern? Das grenzte doch an Verklemmtheit, dachte Cara und spürte einen leichten Schwindel. Der Likör war ihr zu Kopf gestiegen, obwohl sie ziemlich viel Orangensaft hineingemischt hatte.
Auch die Jungs waren nicht mehr ganz nüchtern, und Jules Gesicht glühte wie eine Heizbirne. »Horrorfilme sind irgendwie nichts für mich«, sagte sie und warf sich die letzten drei Schokolinsen in den Mund. »Ich war mit meiner Mutter in Stand by me – Das Geheimnis eines Sommers. Den fand ich super.«
»Nicht dein Ernst, oder? Der war gnadenlos langweilig«, lautete Tobis vernichtendes Urteil. »Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was das Geheimnis gewesen sein soll. Da gab es doch gar kein richtiges Geheimnis.«
Jule verdrehte die Augen. »Du hast den Film nicht verstanden, Tobi. Darum ging es auch gar nicht. Es ging um die Freundschaft von vier unterschiedlichen Jungen und ums Erwachsenwerden. Das ist ein Coming-of-age-Film.« Jule sah jetzt aus wie ihre Mutter, wenn die vor der Klasse stand und über Gedichte, Kurzgeschichten oder Novellen sprach. Jules Mutter unterrichtete die Freunde seit der achten Klasse im Fach Deutsch.
Tobi zuckte mit den Schultern. »Für mich war das jedenfalls nix. Wenn im Titel eines Films das Wort Geheimnis auftaucht, dann erwarte ich, dass es auch eins gibt.«
»Ich habe letztens in einer Illustrierten meiner Mutter gelesen, dass jeder Mensch mindestens ein Geheimnis hat, von dem niemand weiß.« Cara fegte ein paar Krümel von ihrem Sweatshirt, über das sie ein Netzhemd gezogen hatte.
Tobis Gesicht hellte sich wieder auf. »Ich weiß, was wir jetzt machen. Jeder von uns muss ein Geheimnis von sich erzählen. Aber ein richtiges. Nicht irgendeinen Quatsch.« Mit blitzenden Augen sah er in die Runde. »Okay?«
»Du mit deinen Geheimnissen«, ließ Arndt wenig begeistert verlauten.
Die anderen zögerten ebenfalls. »Ich weiß nichts«, moserte Jule. »Ich habe keine Geheimnisse vor euch.«
»Wetten, doch?« Tobi sprühte jetzt vor Eifer. »Denk einfach mal nach. Von mir aus kann ich auch den Anfang machen.«
Dieser Vorschlag fand nach einigem Hin und Her Zustimmung.
Tobi machte es sich mit angezogenen Beinen auf seinem Sessel bequem. »Also, was ich euch jetzt verrate, ist wirklich mein größtes Geheimnis.« Ein feierlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht.
Arndt hatte plötzlich das Gefühl, dass sein bester Freund es gar nicht abwarten konnte, mit seinem Geheimnis herauszuplatzen.
»Ich schreibe an einem Roman.« Triumphierend sah Tobi von einem zum anderen. »Es wird ein Science-Fiction-Roman«, spezifizierte er.
»Was auch sonst«, murmelte Danilo.
Jule starrte Tobi mit großen Augen an. »Echt? Das ist ja klasse. Worum geht's da?«
Tobi legte einen Zeigefinger auf seinen Mund. »Einzelheiten müssen vorerst geheim bleiben. Aber es geht auf jeden Fall um eine Gruppe Aliens, die auf die Erde kommen und dort irgendetwas machen. Das Besondere an ihnen ist, dass sie ihr Äußeres verwandeln können. Auf der Erde sind sie von richtigen Menschen nicht zu unterscheiden. Lediglich eine Tätowierung hinter dem linken Ohr zeichnet sie als Aliens aus.«
»Aha. Sehr spannend«, meinte Cara lahm. Man konnte ihr ansehen, dass sie eine aufregendere Enthüllung erwartet hatte.
»Jetzt ist einer von euch dran«, erklärte Tobi.
Danilo knabberte an einer Salzstange. Er sah plötzlich ernst aus. »Ich könnte euch ein Geheimnis verraten.«
Cara sah ihren Schwarm höchst interessiert an. »Dann mal los!«
Danilo holte Luft, setzte zum Sprechen an, brach dann aber wieder ab. Cara bemerkte, wie er kaum sichtbar den Kopf schüttelte. Anschließend sagte er: »Gut. Ich erzähle euch eine kleine Geschichte. Das Geheimnis um Großmutter Ginas Schuppen.«
Die Blicke der anderen hingen an seinen schön geschwungenen Lippen.
»Als ich ein kleiner Junge war«, begann Danilo, »habe ich meine Sommerferien immer bei Großmutter Gina in Alberobello verbracht. Großmutter hatte auf ihrem Grundstück einen Schuppen stehen. Er war ziemlich zugewachsen, und nie ist jemand dort hineingegangen. Durch die beiden kleinen Fenster konnte man nicht ins Innere sehen. Sie waren zu schmutzig. Von Anfang an hatte Großmutter mir eingeschärft, dass ich den Schuppen auf gar keinen Fall betreten darf. Natürlich wurde ich dadurch erst recht neugierig, aber Großmutter Gina war ziemlich streng. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, ihr nicht zu gehorchen. In einem Sommer, da war ich zehn Jahre alt, da hatte Großmutters Katze Junge bekommen, und ich habe die ganzen Ferien mit den Katzenbabys gespielt. Besonders eins hatte ich ins Herz geschlossen. Es war ein kleiner schwarz-weißer Kater, und ich taufte ihn Lucky. Eines Tages war Lucky verschwunden. Ich habe ihn überall gesucht, aber ich konnte ihn nicht finden. Da hörte ich irgendwann ein klägliches Miauen. Es kam direkt aus dem verbotenen Schuppen. Ich lauschte an der Tür. Es gab keinen Irrtum. Lucky war in dem Schuppen und maunzte, als ginge es ihm an den Kragen. Ich stand davor und wusste nicht, was ich tun sollte.« Danilo senkte seine Stimme und sprach leiser weiter. »Schließlich überwand ich meine Angst vor Großmutter Ginas Strafe und zog die Tür zum Schuppen auf.« Er hielt inne. »Und wisst ihr, was ich dort sah?« Mit seinen großen, dunkelbraunen Augen sah er von einem zum anderen. Seine Freunde starrten ihn gebannt an.
»Nein«, flüsterte Jule stellvertretend für alle.
Danilo beugte sich vor. Jetzt wurden seine Augen ganz schmal und sein Gesichtsausdruck unergründlich. »Nichts«, sagte er schließlich und schlug sich lachend auf den Oberschenkel. »Überhaupt nichts.«
Die anderen buhten und johlten.
»Nicht mal die Katze?«, fragte Jule.
»Nein«, sagte Danilo leichthin. »Die saß auf dem Dach und kam dort nicht mehr herunter.«
Cara sah Danilo an. »Eigentlich ist das jetzt kein Geheimnis, was du da erzählt hast«, meinte sie. »Aber sei‘s drum. Die Geschichte war trotzdem gut.«
»Fand ich auch.« Tobi grinste und hielt Danilo seine Flasche zum Anstoßen hin.
Während die beiden Jungs ihre Bierflaschen mit einem dumpfen Klong gegeneinanderstießen, ruhte Caras aufmerksamer Blick immer noch auf dem dunkelhaarigen Danilo. Sie war sich sicher, dass er zuerst etwas anderes hatte erzählen wollen, sich dann aber für die Katzengeschichte entschieden hatte.
Arndt räusperte sich. »Wollt ihr was von mir hören?«
»Ja klar, Mann!« Tobi klopfte seinem Freund auf den Rücken.
»Im Gegensatz zu Danilo kann ich es auch ganz kurz machen. Allerdings geht es nicht direkt um mich. Es geht um meinen Vater.« Arndt verstummte.
»Ja? Und?« Tobi sah seinen Freund ungeduldig an.
»Mit ihm stimmt was nicht.«
»Wie meinst du das?«, fragte Cara. »Was stimmt mit deinem Vater nicht?«
Arndt zuckte mit den Schultern. »Er ist komisch. Redet kaum. Arbeitet ohne Ende. Früher hat er immer nur mittwochnachmittags Hausbesuche gemacht. Inzwischen macht er das auch freitagnachmittags, obwohl da sonst immer schon Wochenende für ihn war.«
»Seit wann geht ein Orthopäde auf Hausbesuche?«, hakte Jule misstrauisch nach. »Das machen doch nur normale Hausärzte.«
»Mein Vater besucht ältere Patienten, die schon lange bei ihm sind und die nicht mehr so gut aus dem Haus kommen.«
Jule nickte, aber die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen war ein Zeichen dafür, dass sie nicht überzeugt war.
Arndt fuhr fort. »Er schließt sich auch oft in seinem Schlafzimmer ein.«
»Dein Vater hat ein eigenes Schlafzimmer?« Tobi sah irritiert aus.
Arndt nickte. »Ihr kennt doch unser Haus. Es gibt genug Zimmer, und da meine Mutter Schlafstörungen hat und nachts oft aufsteht, haben sie halt getrennte Schlafzimmer.«
Arndts Elternhaus war keines jener beengten Siedlungshäuschen, in denen Jule, Cara und Tobi mit ihren Familien lebten. Er wohnte im sogenannten Vogelviertel von Mauritz, das zu einer der besten Wohnlagen Münsters zählte. Im Grünen und doch nahe an Münsters Innenstadt standen dort teilweise mondäne Häuser auf großzügigen Grundstücken mit gepflasterter Einfahrt vor der Doppelgarage und riesigen Gärten mit Teich und geräumiger Terrasse. In Arndts Haus gab es sogar ein Schwimmbad im Keller.
»Ach so.« Tobi nickte.
»Ich habe einen Verdacht, aber ich weiß nicht, ob er stimmt«, fuhr Arndt fort.
Die anderen wurden wieder hellhörig. Es war einfach spannend, etwas über die Angelegenheiten anderer Leute zu erfahren.
»Ich glaube, mein Vater geht fremd.«
»Echt?« Tobi starrte seinen besten Freund mit großen Augen an. »Dein Vater? Denkt man gar nicht von ihm. Passt irgendwie nicht.«
»Das glaube ich nie und nimmer«, sagte Danilo.
Arndt sah seinen Freund an. »Na ja, du kennst meinen Vater eigentlich nicht, oder?«
»Doch. Also, nein. Nicht richtig. Aber ich bin doch mit meinem Knie bei ihm in Behandlung.«
»Ach ja, stimmt.« Arndt fiel es jetzt wieder ein. Ein Mannschaftskamerad hatte Danilo vor einigen Monaten aus Versehen vors Knie getreten, und seitdem hatte Danilo immer wieder Probleme damit.
»Er ist ein total netter Typ. Ich traue ihm so etwas einfach nicht zu«, erklärte Danilo.
Jule zog die Augenbrauen hoch. »Nett sein und fremdgehen schließt sich ja wohl nicht aus.« Sie wandte sich an Arndt. »Was ist denn mit deiner Mutter? Hast du mit ihr über deinen Vater gesprochen?«
Arndt winkte ab. »Ihr kennt doch meine Mutter.«
Das stimmte – und doch wieder nicht. Richtig eng waren sie erst seit dem Gymnasium befreundet, und in dem Alter spielten die Eltern der Freunde keine große Rolle mehr. Man kannte sie vom Guten-Tag-Sagen und kurzen Begegnungen, aber mehr auch nicht.
Da niemand auf Arndts Bemerkung reagierte, fügte er hinzu: »Meine Mutter ist krank. Also, nicht richtig krank. Sie hat Depressionen und nimmt Medikamente. Die machen sie müde. Sie kann sich zu nichts aufraffen. Das Leben geht sie einfach nichts mehr an. Das war früher schon so, aber es ist schlimmer geworden. Sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Sie leidet darunter, dass mein Vater überhaupt nicht mehr für sie da ist.«
Jule sah nachdenklich vor sich hin. »Deine Mutter tut mir echt leid.«
»Frag mich mal«, erwiderte Arndt. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es guttat, endlich mal darüber zu reden. Über seine depressive Mutter und seinen merkwürdigen Vater.
»Wie lange ist dein Vater denn schon so?«, wollte Jule nun wissen.
»Schon länger. Erst ist es mir gar nicht so aufgefallen. Aber irgendwann dann doch. Ich habe ihn auch mal gefragt, was los ist. Da hat er gesagt, nichts sei los, und hat mich einfach stehen lassen.«
Arndt erwähnte nicht, dass er seinen Vater daraufhin angeschrien hatte, dass er ihm das nicht glauben würde. »Wenn nichts los ist«, hatte er gebrüllt, »warum bist du dann immer weg? Warum kümmerst du dich nicht mehr um Mama?«
Sein Vater hatte ihn ernst und traurig angesehen und gesagt: »Ich kann Mama nicht helfen. Sie müsste in Behandlung gehen. Eine Therapie machen. Aber das will sie nicht.«
»Wenn dein Vater wirklich mit einer anderen pennt«, sagte Cara, »sollte deine Mutter sich scheiden lassen. Das hat meine Tante auch gemacht, und danach ging es ihr hundertmal besser als in ihrer bekackten Ehe. Ihre Anwältin hat sogar dafür gesorgt, dass sie das Haus bekommt.«
»Dafür müsste sie aber erst mal wissen, ob Herr Neuhaus wirklich was mit einer anderen hat«, wandte Tobi ein.
»Was wäre denn«, fragte Jule, »wenn wir versuchen, genau das herauszufinden?«
Gegenwart
Katharina Klein, Kommissarin bei der Kripo Münster, erhob sich von ihrem Bürostuhl und streckte den Rücken durch. »Es wird wirklich Zeit, dass wir wieder mehr nach draußen kommen«, stöhnte sie. »Nach einem Bandscheibenvorfall ist zu viel Sitzen Gift.«
»Nach einem leichten Bandscheibenvorfall«, wurde sie von ihrer Kollegin Eva Mertens korrigiert, die dabei nicht den Blick vom Bildschirm ihres Computers hob.
»Ob leicht oder nicht, es war schmerzhaft genug«, erwiderte Katharina.
Vor einiger Zeit hatte die Kommissarin abends starke Beschwerden im unteren Rückenbereich verspürt. Den Tag über hatte sie im Kleingarten ihrer Mutter Edith und deren Freund Ben mehrere Stunden ein Gemüsebeet umgegraben. Der Schmerz hatte bis in die Oberschenkel ausgestrahlt und wurde von einem unangenehmen Kribbeln und Ziehen begleitet. Für ihren Freund Klaas ten Venne, Physiotherapeut von Beruf, hatte die Diagnose sofort festgestanden. Es war lediglich seinen erfahrenen Händen und vielen Schmerztabletten zu verdanken, dass Katharina an jenem Wochenende nicht in der Notaufnahme gelandet war. Der Besuch beim Orthopäden am Montagmorgen brachte die Gewissheit. Katharina hatte einen Bandscheibenvorfall erlitten. Allerdings war es nicht so schlimm gewesen, wie sie zunächst befürchtet hatte. Der Arzt verschrieb ihr manuelle Therapie und riet zu sanften Sportarten wie Pilates oder gemäßigtem Yoga. So kam es, dass Katharina regelmäßig in Klaas' Praxis auftauchte und sich von ihm oder einer seiner Kolleginnen behandeln ließ. Klaas überredete sie außerdem dazu, sich beim Pilates-Studio um die Ecke anzumelden. Katharina hatte eigentlich keine große Lust dazu gehabt, aber da Klaas keine Ruhe gab, ging sie zu einer Probestunde. Inzwischen hatte sie sich fest angemeldet und freute sich sogar auf die Dienstagabende.
Im Stehen fuhr sie ihren Rechner herunter. Entgegen der allgemeinen Vorstellung, Beamte der Kriminalpolizei würden sich permanent im Außendienst befinden, sah die Realität oft anders aus. Wenn die Kommissarinnen nicht gerade mit einer Ermittlung befasst waren, verbrachten sie einen Großteil ihrer Arbeitszeit am Schreibtisch. Gerade hatten sie einen Fall von schwerer Brandstiftung abgeschlossen, die auch in den Zuständigkeitsbereich des KK11 gehörte. Nun waren sie mit Aktenpflege, dem Verteilen von Beweismitteln auf die verschiedenen Asservate und dem Erstellen einer Kriminalstatistik hinsichtlich Brandstiftung und ihrer Motive beschäftigt.
»Ich bin dann weg«, sagte Katharina.
Eva bequemte sich jetzt doch dazu hochzublicken. »Ist wieder kollektives Ein- und Ausatmen und anschließendes Weinchentrinken angesagt?«
Katharina ignorierte den spitzen Unterton in Evas Stimme. Es war ihr nicht entgangen, dass ihre Freundin seit einiger Zeit etwas verschnupft reagierte, wenn die Sprache auf ihr Pilatestraining kam. Katharina hatte den Verdacht, dass das mit den drei Frauen zusammenhing, die sie im Kurs kennengelernt hatte und mit denen sie ein wenig in Kontakt gekommen war. Cara, Jule und Laurence waren Freundinnen und gingen nach dem Kurs immer auf einen Wein ins Piccolo. Ein kleiner, aber feiner Italiener an der Warendorfer Straße, mit dessen Besitzer Danilo die drei Frauen befreundet waren.
Von Anfang an hatte Katharina im Kurs neben Laurence gelegen und die kleine, quirlige Französin, die fast akzentfrei Deutsch sprach, sofort sympathisch gefunden. Nach der dritten Pilatesstunde hatte Laurence gefragt, ob Katharina Lust habe, auf einen Absacker mit ins Piccolo zu kommen. Katharina hatte spontan zugesagt. Seitdem war es beschlossene Sache, dass sie mit dabei war, und die Kommissarin freute sich auf die Abstecher ins Piccolo, das eigentlich Il Piccolo Principe, also Der kleine Prinz, hieß. Seit ihrer Rückkehr von Köln nach Münster vor inzwischen fast zehn Jahren war Katharinas Freundes- und Bekanntenkreis immer überschaubar geblieben. Sie hatte das nie gestört. Ihr Job füllte sie aus, sie verstand sich bestens mit ihren Kollegen, und Eva war nicht nur eine Kollegin, sondern auch eine sehr gute Freundin geworden. Und genau da schien es nun auch zu haken. Katharina vermutete, dass Eva etwas eifersüchtig war. Sie bezeichnete die drei Frauen als Katharinas Pilates-Mädels.
»Ja genau«, antwortete sie nun auf Evas Frage, »und morgen früh komme ich erst gegen zehn. Ich bin vorher bei Klaas in der Praxis. Erst Fango, dann Physio.«
Eva seufzte, rieb sich mit einer Hand den Nacken und bog den Kopf von links nach rechts. »Ich muss mir das auch mal alles verschreiben lassen und mich dann in Klaas' begnadete Hände begeben.«
»Oder du kommst einfach mit zum Pilates«, schlug Katharina vor. »Es gibt richtig gute Übungen für den Nacken.«
Eva winkte ab. Katharina brachte den Vorschlag nicht zum ersten Mal an. Aber Eva war sich sicher, dass es nicht ihr Ding war, auf einer harten Matte rumzuliegen, den inneren Reißverschluss zu schließen und sonst wo hinzuatmen. Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr hochgebundener blonder Pferdeschwanz hin und her schwang. »Nee, danke. Du weißt ja, ich brauche beim Sport laute Musik und muss richtig ins Schwitzen kommen. Ich gehe heute Abend ins Gym.« Mit diesen Worten zog Eva die oberste Schublade ihres Schreibtisches auf und kramte einen Kinderriegel hervor.
Das Studio Brinkmann-Pilates lag am Kaiser-Wilhelm-Ring und war von der Staufenstraße, in der Katharina und Klaas wohnten, nur wenige Minuten entfernt. Es befand sich direkt neben einem der historisch bedeutendsten Gebäude des Erphoviertels. Die Villa ten Hompel, früher Fabrikantenvilla, diente heute als Gedenkstätte für Verbrechen der Polizei während der NS-Zeit.
Als Katharina im Umkleideraum in ihre Sportleggings geschlüpft war und den Trainingsraum betrat, war es schon kurz nach halb sieben. Maike Brinkmann, eine der vier Trainerinnen und Gründerin von Brinkmann-Pilates, lächelte ihr zu, während ihre seitlich ausgestreckten Arme kleine Auf- und Abbewegungen machten. Mit dem Kinn deutete sie auf eine freie Matte direkt vor ihr. Katharinas Blick schweifte durch den Raum. Normalerweise war ihr Stammplatz ganz hinten. Doch dort entdeckte sie zwei Frauen Mitte zwanzig, die sie noch nie gesehen hatte. Dafür fehlte Laurence.
»Bleib gerne bei mir hier vorne«, sagte Maike, »dann kann ich dich auch gleich korrigieren, falls du die Übungen nicht ganz sauber ausführst. Gerade bei einem Bandscheibenvorfall ist das besonders wichtig.«
Katharina blieb nichts anderes übrig, als sich direkt vor Maike zu stellen, neben der sie sich so gelenkig vorkam wie ein Besenstiel.
Nach der Stunde kam Maike zu Katharina und sagte: »Du musst unbedingt etwas mehr auf deine Haltung achten. Du hast kaum Körperspannung und stehst ganz oft da wie ein nasser Sack. Das ist ganz schlecht für jemanden mit Rückenproblemen.«
Auf der Straße ahmte Jule die Pilateslehrerin so perfekt nach, dass Katharina lachen musste. Sie mochte Jules lockere Art. Bestimmt hatte sie als Lehrerin am Gymnasium keine Schwierigkeiten mit pubertierenden Jugendlichen. Inzwischen wusste die Kommissarin, dass Jule und Cara sich seit der Schulzeit kannten. Laurence dagegen gehörte erst seit drei Jahren dazu. Da hatte die Französin Arndt geheiratet, mit dem Jule und Cara auch schon seit Jugendzeiten befreundet waren. Genauso wie mit Tobi, den sie öfter erwähnten. Außerdem gehörte noch Danilo dazu, der mit seinem Mann Enrico das Piccolo betrieb.
Cara schob ihr Rennrad aus dem Fahrradständer. Sie war mit Abstand die Sportlichste unter den drei Freundinnen. Bis vor zwei Jahren hatte sie jedes Jahr einen Triathlon absolviert. Sie sah so jugendlich, frisch und durchtrainiert aus, dass Katharina niemals gedacht hätte, dass zwischen Cara und Laurence, die neununddreißig war, vierzehn Jahre lagen.
»Wie sieht's aus?«, fragte Cara jetzt. »Kurz noch zu Danilo? Oder lassen wir das heute ausfallen?«
Jule zögerte kurz. Dann sagte sie: »Ach, klar. Lass uns noch etwas trinken gehen.
Das Piccolo war nur wenige Radminuten vom Pilates-Studio entfernt. Katharina, Cara und Jule schlängelten sich hintereinander durch den schmalen Gang des schlauchartigen Raums, an dessen Ende sich eine kleine Theke und dahinter die Küche befanden. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Knoblauch und gebratenem Fisch.
Danilo stand hinter der Bar und lächelte ihnen entgegen. »Buonasera, ragazze. Das Gleiche wie immer?«
»Für mich diesmal ein Radler, bitte«, sagte Cara.
»Dann also zwei Radler und einen Weißwein.«
Die Frauen nickten und quetschten sich an einen Tisch, der direkt vor der Theke an der Wand stand. Ein Tischaufsteller mit der Aufschrift Reserviert hielt andere Gäste davon ab, sich hier niederzulassen. Katharina zog ihre Jacke aus und ließ den Blick durch das Restaurant schweifen. Links und rechts vom Gang standen jeweils sechs Bistrotische mit wunderschön geschwungenen schwarzen Sockeln und hellen Mamorplatten hintereinander an der Wand entlang. Fast jeder Tisch war besetzt. Aus den beiden Boxen, die unter der Decke angebracht waren, erklang leise Gitarrenmusik.
Danilo kam zum Tisch und stellte die Getränke ab. »Laurence ist heute Abend zu Hause geblieben?« Er nahm damit die Frage vorweg, die Katharina nach dem Anstoßen auch hatte stellen wollen.
Cara und Jule nickten gleichzeitig. Jule griff nach ihrem Weinglas. »Die haben wohl noch einiges zu erledigen wegen des Begräbnisses.«
Danilo blieb am Tisch stehen. »Was meint ihr, werden wir zur Beerdigung eingeladen?«
»Ich habe heute Mittag kurz mit Laurence gesprochen. Sie sagte, dass ihre Schwiegermutter sich eine Bestattung in ganz kleinem Kreis gewünscht habe.«
»Gott sei Dank. Ich hasse Beerdigungen.« Der Chef vom Piccolo gab einen Seufzer der Erleichterung von sich.
Katharina betrachtete ihn, während sie einen Schluck von ihrem Radler trank. Die italienischen Wurzeln sah man Danilo an. Seine Augen und Brauen waren so dunkel wie sein dichter, fast schwarzer Lockenkopf.
Bei einem der ersten Besuche im Piccolo hatte Cara Katharina erzählt, dass sie früher unsterblich in Danilo verknallt gewesen sei. »Er war so unfassbar hübsch. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass er nicht auf Frauen steht. Irgendwann hatte ich einen Verdacht, aber sein offizielles Coming-out hatte er erst mit Ende zwanzig.«
Die Kommissarin hatte genug Vorstellungskraft, sich den mittlerweile ziemlich beleibten Danilo mit seinen Hawaiihemden und dem vollen Gesicht als gut aussehenden Jugendlichen vorzustellen.
»Wir sollten eine gemeinsame Beileidskarte schicken«, schlug Jule vor.
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Danilo zu, bevor er sich zum Gehen wandte.
Katharina wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe. »Laurences Schwiegermutter ist gestorben? Das tut mir leid.«
Cara griff nach ihrem Glas. »Ja. Aber das muss man wohl als Erlösung sehen. Sie war schwer krank und zum Schluss auch ziemlich dement.«
»Ihr kanntet sie wahrscheinlich gut, oder? So lange, wie ihr alle schon befreundet seid.«
Jule und Cara wechselten einen Blick. »Na ja«, antwortete Cara zögernd. »Natürlich haben wir sie gekannt. Aber gut? Das wohl eher nicht.«
»Arndt hat sehr an seiner Mutter gehangen«, erklärte Jule. »Und es gibt da eine tragische Geschichte, die aber inzwischen Vergangenheit ist.«
»Ah, verstehe«, sagte Katharina und versuchte, nicht allzu interessiert zu wirken. Sie besaß eine berufsbedingte Neugier an zwischenmenschlichen Tragödien, wollte diese aber jetzt nicht so offensichtlich preisgeben.
Jule hob den Kopf und lächelte Katharina halbherzig an. »Ich glaube nicht, dass du das verstehen kannst.« Sie stockte. »Obwohl, du bist ja bei der Kripo. Du kennst dich ja wahrscheinlich mit solchen Dingen aus.«
»Jetzt machst du mich aber doch etwas neugierig«, erklärte Katharina.
Da platzte es aus Jule heraus: »Arndts Mutter hat 1986 ihren eigenen Mann, also Arndts Vater …«
Cara verzog missbilligend den Mund. »Jule!«, unterbrach sie ihre Freundin. »Das gehört doch jetzt überhaupt nicht hierhin.«
»Aber das ist doch kein Staatsgeheimnis. Außerdem könnte Katharina sowieso in Nullkommanichts herausfinden, was mit Arndts Mutter damals los war. Sie sitzt doch an der Quelle.«
Cara seufzte und zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst.«
Jule wandte sich wieder Katharina zu. »Frau Neuhaus hat ihren Mann umgebracht. Damals. 1986.« Sie zog schaudernd die Schultern hoch. »Und das Krasseste ist, wir waren dabei.«
Katharina starrte ihre Pilates-Freundin an. »Wie jetzt?«
»Also, nicht direkt dabei, aber wir waren an jenem Abend alle bei Arndt zu Hause und haben da ein bisschen Party gemacht.«
Cara mischte sich nun auch in das Gespräch ein. »Arndt hatte sturmfrei. Seine Eltern waren bei Freunden eingeladen. Herr Neuhaus hat die Feier früher verlassen, weil es ihm nicht gut ging. Arndts Mutter ist etwas später mit einem Taxi hinterhergefahren. Im Schwimmbad des Hauses sind sie dann aufeinandergetroffen, und irgendwie kam es zu einem Streit, der eskaliert ist. Das Ende vom Lied war, dass Frau Neuhaus ihrem Mann mit voller Wucht einen Tonkrug gegen den Kopf geworfen hat. Herr Neuhaus ist daraufhin ins Wasser gefallen und ertrunken.«
»Mein Güte«, ließ Katharina verlauten. »Und wo wart ihr währenddessen?«
»Wir waren alle im Delirium und auf das ganze Haus verteilt«, sagte Jule. »Unsere Party war etwas aus dem Ruder gelaufen. An einiges konnte ich mich am nächsten Morgen gar nicht mehr erinnern.«
Cara ergriff wieder das Wort. »Wir haben nicht nur gekifft, sondern auch ohne Ende gesoffen. Wodka-O und Tequila und so'n Zeug. Hart-Alk eben. Ich bin irgendwann im ersten Stock im Gästezimmer zu mir gekommen.« Sie hielt kurz inne. »Ich war es übrigens, die den toten Herrn Neuhaus entdeckt hat.« Caras Blick glitt ins Leere. Mit leiserer Stimme fuhr sie fort: »Diesen Anblick werde ich nie in meinem Leben vergessen. Fred Neuhaus trieb leblos im Becken. Arme und Beine von sich gestreckt, das Jackett aufgebläht. Das Wasser um ihn herum war hellrot verfärbt. Es war so grausig. Frau Neuhaus kauerte am Beckenrand. So starr, als hätte man Blei in ihre Eingeweide gegossen. Sie stand wohl unter Schock. Erst als ich auf sie zuging, kam plötzlich Leben in sie, und sie wurde ganz hysterisch. Immer wieder warf sie die Hände in die Luft und rief: Komm nicht näher! Ruf die Polizei! Er ist tot! Ruf die Polizei!«
Jule erschauerte ein weiteres Mal. »Ich war so froh, dass ich es nicht war, die die beiden gefunden hat.«
Katharina schüttelte den Kopf. »Was hat die Frau dazu gebracht, dass sie ihrem Mann so etwas antut?«
»Dazu hat sie sich nie im Detail geäußert. Sie hat nur angegeben, dass sie gestritten haben und sie aus lauter Wut nach dem erstbesten Gegenstand gegriffen hat. Das war ein massiver Tonkrug, in dem Trockenblumen steckten«, erklärte Jule. »Sie hat ihren Mann ziemlich hart damit getroffen. Die Kopfverletzung war zwar nicht tödlich, aber so schwer, dass Herr Neuhaus das Bewusstsein verlor. Er ist ins Wasser gestürzt und dann ertrunken.«
»Warum hat Frau Neuhaus nicht versucht, ihren Mann aus dem Wasser zu retten? Dachte sie, er sei bereits tot?«
»Ja. Zumindest hat sie das behauptet. Fest stand, dass Frau Neuhaus an einer Depression litt und es Probleme in der Ehe gab.«
Katharina leerte ihr Glas in einem Zug. »Schlimme Sache. Wie ging es weiter? Was passierte mit eurem Freund Arndt?«
Cara hatte sich das Zopfband aus ihren Haaren gezogen und schüttelte sie nun mit einer Hand auf. Sie hatten den gleichen Blondton wie Evas Haare, waren aber feiner und reichten nicht ganz bis zur Schulter. »Frau Neuhaus wurde wegen schweren Totschlags verurteilt und bekam lebenslänglich. Arndt hat dann bis zum Beginn seines Studiums bei seiner Tante und seinem Onkel gelebt. Der Anwalt von Frau Neuhaus hat nach fünfzehn Jahren die Anwendung des § 57 StGB erwirkt, und die restliche Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.«
»Hat euer Freund seiner Mutter die Tat nicht übel genommen? Jule, du hast vorhin gesagt, er habe sehr an ihr gehangen.«
»Ja, hat er auch«, bestätigte die Lehrerin. »Er war natürlich geschockt damals, aber Arndt hat nie mit seiner Mutter gebrochen. Im Gegenteil, als sein Vater tot war, wurde seine Bindung zu ihr noch enger. Trotz der schlimmen Geschichte. Frau Neuhaus war schwer depressiv. Arndt hat diesen Ausraster auf ihre Krankheit geschoben. Na ja, und jetzt ist Frau Neuhaus in einem Seniorenheim hier in Münster gestorben.« Jule griff nach ihrem Schal, den sie über ihre Stuhllehne gehängt hatte, und wickelte ihn mehrfach um ihren Hals. Ein Zeichen, dass sie aufbrechen wollte.
Katharina warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie blieben in der Regel nie länger als eine Dreiviertelstunde, und die war so gut wie um. Die Kommissarin rückte mit ihrem Stuhl vom Tisch weg. »Dann wird es wohl nichts mit Laurences Geburtstagsfeier am Samstag, oder?«, fragte sie.
Doch zu ihrem Erstaunen erklärte Jule: »Ich gehe davon aus, dass Laurence ihren vierzigsten Geburtstag trotzdem feiern wird. Selbst dann, wenn Arndt Einwände haben sollte. Was Laurence sich in den Kopf gesetzt hat, zieht sie in der Regel auch durch. Aber letztendlich war es ja abzusehen, dass Angelika Neuhaus bald sterben würde. Sie war alt, dement und bei schlechter Gesundheit. Es trifft Arndt nicht unvorbereitet.«
Katharina musste zugeben, dass sie sich über diese Antwort freute. Laurence hatte sie vor zwei Wochen eingeladen und darauf hingewiesen, dass Klaas selbstverständlich auch willkommen sei. Jule hatte ihr versichert, dass die Partys bei Laurence und Arndt immer ziemlich cool seien. »Das Essen und der Wein kommen von Danilo und Enrico. Allein deshalb lohnt es sich schon zu kommen.«
Nicht nur wegen des Essens und der Aussicht, an einem Samstagabend mal wieder auszugehen, bekam Katharina gute Laune. Sie war auch auf Tobi und Arndt gespannt.
Als Katharina wieder Richtung Staufenstraße radelte, geisterte ihr die Geschichte von Laurences Schwiegermutter, die ihren eigenen Mann getötet hatte, noch immer durch den Kopf. Sie musste an Cara und Jule denken. Und an Danilo, der ja damals auch dabei gewesen war. Diese Tragödie hatte sich vor fast vierzig Jahren zugetragen, aber traumatische Erlebnisse hatten nun mal die Eigenschaft, ihre langen Fangarme bis in die Gegenwart auszustrecken. Katharina musste sich schon sehr täuschen, wenn sich nicht noch alle drei fest im Griff dieser Fangarme befanden.
Am Samstagabend stand Katharina vor dem Schlafzimmerschrank und begutachtete sich kritisch im Spiegel. Sie trug ein funkelnagelneues Outfit, fühlte sich aber in dem schwarzen Minirock, den Stiefeln und dem eng anliegenden Oberteil nicht richtig wohl.
Klaas kam ins Schlafzimmer und blieb überrascht stehen. »Oh, das ist ja mal ein ganz anderer Look.« Er ging einmal um Katharina herum und nickte dabei anerkennend. »Ungewohnt, aber top. Ich habe dir ja immer schon gesagt, dass du so etwas sehr gut tragen kannst.«
»Jaja, ich weiß.« Katharina drehte sich um und verrenkte sich fast den Kopf, um sich von hinten sehen zu können. »Ist der Rock nicht ein bisschen zu kurz?«
»Für mich nicht. Aber wenn du etwas fallen lässt, dann solltest du jemanden bitten, es für dich aufzuheben, und vielleicht bleibst du besser den ganzen Abend stehen.«
»Haha.« Katharina überlegte, ob sie ein Selfie machen sollte, um es Eva zu schicken. Aber sie entschied sich dagegen. Zu präsent war ihr noch Evas Reaktion, als sie ihr erzählt hatte, dass Laurence in der Innenstadt ein angesagtes Modegeschäft besaß und sie dort ein bisschen geshoppt hatte. »Du?«, hatte Eva erstaunt gefragt und ihre linke Augenbraue dabei in einem sanften Bogen nach oben gezogen. »Seit wann interessierst du dich für Mode?« Dann hatte sie mit dem Kopf geschüttelt und sich wieder ihrem Bildschirm zugewandt.
Eine halbe Stunde später machten sich Katharina und Klaas auf den Weg. Sie gingen zu Fuß, da Katharina mit dem engen Rock nicht auf ihrem Mountainbike fahren konnte. Allein das Aufsteigen wäre zu einem Problem geworden. Zwischen der Staufenstraße und der Dechaneistraße, in der Laurence und Arndt wohnten, lagen nur zehn Minuten Fußweg. Das Erpho- und das Mauritzviertel waren benachbarte Wohnviertel, lediglich getrennt durch die Warendorfer Straße. Die Kommissarin hatte sich bei Klaas untergehakt.
»Ist schon interessant, dass deine Pilates-Freundinnen und der Rest der Clique alle in dem Viertel wohnen geblieben sind, in dem sie als Kinder aufgewachsen waren«, meinte Klaas.
»Das stimmt nicht ganz«, erwiderte Katharina. »Erstens sind sie dort nicht wohnen geblieben, sondern nach Jahren wieder hingezogen, und zweitens trifft das nicht auf alle zu. Jule und Danilo wohnen hier bei uns im Erphoviertel. Die anderen, also Cara, dieser Tobi und Laurence mit ihrem Mann Arndt, wohnen zwar in Mauritz, aufgewachsen sind sie aber ein Stück weiter östlich. In der Nähe der Mondstraße.«
»Trotzdem ist es ungewöhnlich, dass Leute, die sich seit Jugendzeiten kennen, im Erwachsenenalter wieder so nahe beieinander wohnen.«
»Das hat sich nach und nach so ergeben. Erst wohnten nur Cara und Tobi wieder in der Ecke. Dann wollten Arndt und Laurence aus der Innenstadt weg und haben das Haus in der Dechaneistraße gefunden. Danilo wohnt schon seit Jahrzehnten im Erpho, und Jule ist dann nach ihrer Scheidung vor acht Jahren eher zufällig hier gelandet.«
Katharina und Klaas erreichten die Dechaneistraße, die zu beiden Seiten gesäumt war von einer geschlossenen Reihe sehr hübsch anzusehender Stadthäuser. Vor einem dieser Giebelhäuser mit Fachwerk, Erker und Sprossenfenster blieben sie stehen.
Klaas stieß einen bewundernden Laut aus. »Schönes Haus. Wohnen die hier alleine?«
»Nein. Hier gibt es zwei Klingeln.« Katharina betätigte die untere.
Kurze Zeit später wurden sie von einer strahlenden Laurence begrüßt. Sie hatte ihr kurzes, schwarzes Haar mit viel Gel im Stil der 20er-Jahre frisiert. Ihr dunkelrot geschminkter Mund wirkte fast wie eine offene Wunde in ihrem weißen Gesicht. In der Hand hielt sie eine halb gefüllte Sektflöte.
»Katharina, wie schön! Und mit Begleitung!«, rief Laurence und begrüßte ihre Gäste mit Wangenküsschen.
Katharina und Klaas gratulierten, und Klaas streckte der Gastgeberin einen üppigen Herbstblumenstrauß aus Astern, Chrysanthemen und Dahlien entgegen. »Danke für die Einladung.«
Laurence schnupperte an den blasslilafarbenen Astern. »Was für schöne Blumen. Kommt rein. Jetzt fehlt nur noch Cara. Zuverlässig wie immer hält sie auch heute ihre übliche fünfzehnminütige Verspätung ein.« Laurence wirbelte auf ihren hohen Absätzen herum, und einem Vögelchen gleich flatterte sie ihnen voraus. Das Ende eines hauchdünnen Seidenschals, den sie eng um ihren Hals geschlungen hatte, wehte wie eine blutrote Fahne hinter ihr her.