Schweigende Wasser - Henrike Jütting - E-Book

Schweigende Wasser E-Book

Henrike Jütting

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Beschreibung

Die Toten reden nicht, aber die Vergangenheit kennt ihre Geheimnisse Ein Baggersee bei Münster Mitte der 90er-Jahre. Sechs Jugendliche haben ihn zu ihrem Lieblingsplatz auserkoren und feiern dort an lauen Sommerabenden. Außenseiter Uli möchte zur Gruppe dazugehören. Eine ihm aufgezwungene Mutprobe läuft jedoch aus dem Ruder – Uli versinkt im See und taucht nicht mehr auf. Geschockt geloben die sechs Freunde, für immer Stillschweigen über den tatsächlichen Verlauf dieses Abends zu wahren. Doch zwanzig Jahre später holt sie die Vergangenheit ein. Einer von ihnen glaubt, den vermeintlich toten Uli in der Stadt gesehen zu haben und trommelt die alte Clique zusammen. Auch Katharina Klein, heute Kommissarin bei der Kripo Münster, ist eine von ihnen. Beim Wiedersehen auf dem alten Gehöft »Drei Eichen« ereignet sich etwas Schreckliches …

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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Villa 13

Schatten über der Werse

Spiel im Nebel

Mord im Kreuzviertel

Henrike Jütting wurde 1970 in Münster geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau und studierte dann in Bremen Soziologie und Kulturwissenschaften. Anschließend promovierte sie in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und arbeitete in Bremen, Brüssel und Celle.

Seit 2005 lebt sie mit ihrer Familie wieder in ihrer Heimatstadt Münster. 2017 erschien ihr erster Krimi.

HENRIKE JÜTTING

SCHWEIGENDE WASSER

Überarbeitete Neuauflage

Die Originalausgabe erschien 2017 im wesText Verlag, Hückelhoven

© 2023 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de · E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung

von © Vera Kuttelvaserova - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-651-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-658-5

INHALT

PROLOG

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

25. KAPITEL

26. KAPITEL

27. KAPITEL

PROLOG

30. August 1995

Irgendetwas war anders. Katharina stand dicht am Ufer, krallte ihre Zehen ins Gras und starrte über den See, der vor ihr lag wie eine dunkle ovale Scheibe.

Hinter ihrem Rücken hörte sie die anderen palavern. Doros Stimme. Durchdringend und ungeduldig. Noch gereizter als sonst. »Was bist du nur für’n kleiner Schisser?«

Die Strahlen der untergehenden Sonne setzten den Kran an der gegenüberliegenden Seite scheinbar in Flammen. Wie ein riesiges Urtier, dachte Katharina und schlug einen von diesen unzähligen summenden Plagegeistern, die an diesem Abend in Wolken unterwegs waren, von ihrem nackten Oberarm.

Sie wusste, was anders war. Der Sommer ging zu Ende. Trotz Mücken und Sonnenuntergang kündigte sich der Herbst an, streckte seine Finger nach den sorglosen Sommerabenden aus. Sein feuchter würziger Geruch hatte den Duftcocktail aus trockenem Gras, Sonnenöl und Hitze bereits verdrängt und damit auch das unbeschwerte Gefühl, das mit sechseinhalb Wochen Sommerferien einherging.

Katharina warf einen Blick über die Schulter. Doro ließ ein T-Shirt, das sie zu einem schmalen Streifen gedreht hatte, wie ein Pendel hin- und herschwingen. Die freie Hand hatte sie in die Taille gestützt. Ihr Haar war schon fast wieder trocken und fiel ihr – von Wasser und Luft gekräuselt – bis über die Schultern.

»Von verbundenen Augen habt ihr aber gestern nichts gesagt.« Uli stocherte mit einem Ast im Feuer herum. Funken flogen auf. Winzige glühende Pünktchen.

»Von verbundenen Augen habt ihr aber gestern nichts gesagt«, äffte Doro ihn nach. »Dann haben wir das wohl vergessen zu erwähnen. Mit verbundenen Augen einmal zur anderen Seite und zurück. Dann gehörst du zu uns.«

»Kannste knicken, das mach ich nicht. Nicht mit verbundenen Augen.«

»Waschlappen.« Doro sah Uli verächtlich an.

»Aber recht hat er. Von verbundenen Augen habe ich auch nichts gehört.« Lorenz hielt Rieke ein abgerissenes Stück Papier unter die Nase.

»Oh Mann, Lorenz!«, maulte Rieke. »Warum kannst du uns nicht mal richtig zeichnen. Ich sehe soooo scheiße aus.«

Frederik linste Rieke über die Schulter. »Und die Oberweite kommt auch nicht ganz hin, so ’nen Vorbau hast du doch gar nicht«, feixte er.

»Blödmann!« Rieke streckte ihm die Zunge heraus.

»Hallo? Könnt ihr vielleicht mal euren Arsch bewegen, damit wir anfangen können?« Doro fuchtelte wieder mit dem T-Shirt in der Luft herum.

»An uns liegt es nicht.« Lorenz hob beide Hände. »Wir sind bereit. Verbundene Augen oder nicht, mir ist das ganz egal.« Er angelte eine weitere Dose Bier aus seinem Rucksack und öffnete sie mit einem leisen Zischen. Schaum sprudelte aus der Öffnung, lief über den Rand der Dose und über seine Hand. Schnell hielt Lorenz sich das Bier an den Mund. »Boah, was für ein Mist und dann ist es auch noch pisswarm.«

»Mach doch nicht so’n Stress, Doro. Ist doch grad so gemütlich.« Manu fing an, vor sich hin zu summen: Oh, oh, oh, oh, I’m feeling like sunday morning …

»Ihr seid echt solche Lahmärsche.« Doro verdrehte die Augen.

Katharina wandte sich vom Ufer ab und setzte sich wieder zwischen Rieke und Manu. »Wir haben ja schon ganz schön was weggezogen heute Abend.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung zu der Ansammlung leerer Bierdosen. Es ertönte ein trockenes Klackern, als sie ihre leere Büchse auf den Haufen warf. »Ich habe jedenfalls genug.« Sie musste aufstoßen und schmeckte bitteren Hopfen.

Doro stand immer noch. Sie hatte das T-Shirt unter den Arm geklemmt und zündete sich eine Zigarette an. »Was ist jetzt, Uli? Wird das heute noch was?« Sie ließ einen Rauchkringel in den Abendhimmel steigen.

Frederik sprang auf. »Doro hat recht. Los, Uli, kleine Badesession.«

»Was ist das eigentlich für’n ein Scheiß mit dieser Aufnahmeprüfung. Seid ihr eine Babybande oder was? Aufnahmeprüfung, Mutprobe, das ist doch was für Zehnjährige.« Uli schielte von unten zu Doro hinauf. Doro schaute auf ihn hinunter. Dann ging sie in die Hocke und kam ganz nah an sein Gesicht heran.

»So? Für Zehnjährige, ja?« Sie sprach ganz leise. Die anderen hatten Schwierigkeiten, sie zu verstehen. »Seit Wochen hängst du dich ungebeten an uns dran und gestern kommst du auf meine Party, obwohl ich dich nicht eingeladen habe. Denkst du, du kannst das umsonst haben? Nee, mein Lieber. Wir kennen uns alle seit der ersten Klasse. Wenn du bei uns mitmachen willst, dann lässt du dir jetzt die Augen verbinden und schwimmst einmal durch diesen scheiß See.«

»Mach lieber, was sie sagt.« Manu hatte sich auf den Rücken gelegt, die Beine angewinkelt, die Arme hinter den Kopf verschränkt. »Sonst bekommt sie schlechte Laune und das ist gaaaaanz übel. Außerdem ist es gleich dunkel.«

Doch Uli rührte sich nicht. Katharina lehnte sich zurück, stützte sich auf die Unterarme und ließ ihren Blick wieder über das Wasser gleiten. Rieke hatte recht. Nicht mehr lange, dann würde es stockdunkel sein.

Den ganzen Sommer über waren sie hierher zum Baggersee gekommen, zu einer kleinen Lichtung direkt am Ufer, mitten zwischen dichtem, in sich verwachsenem Buschwerk. Auf dieser Seite des Sees war das Baden eigentlich verboten. Schilder wiesen auf Lebensgefahr hin, wegen der Tiefe und unterschiedlicher Temperaturzonen im Wasser.

»Okay«, sagte Doro jetzt übertrieben seufzend. »Wenn du jetzt nicht willst, dann warten wir, bis du genug Mumm gesammelt hast, und vertreiben uns die Zeit hiermit.« Aus ihrer Strandtasche zog sie eine durchsichtige Flasche mit einem roten Verschluss in Form eines Sombreros. »Lasst uns Flaschendrehen machen. Auf wen die Flasche zeigt, der muss den Tequila exen.« Doro schnippte ihre Zigarettenkippe auf den sandigen Boden.

»Die ganze Flasche ist ein bisschen heftig«, sagte Rieke. »Die halbe und die dann auf ex.«

»Okay. Und danach«, Doro wandte sich an Uli, »bist du endlich dran, denn irgendwann müssen wir ja auch mal wieder nach Hause.«

Uli verzog spöttisch das Gesicht. »Jaja, Frau Gebieterin.«

»Dir wird das Grinsen noch vergehen. Schmeiß mal die Wasserflasche rüber, Kati. Und wir müssen uns alle in einen Kreis setzen.«

Sie rückten ein Stück vom Feuer weg. Warum machen wir immer das, was Doro in den Kopf kommt? Katharinas Würgereflex meldete sich schon allein bei dem Gedanken, noch einen einzigen Schluck Alkohol trinken zu müssen.

Doro schob mit der Hand kleine Äste und Steinchen zur Seite und legte die Flasche in die Mitte. »Jemand was dagegen, wenn ich drehe?«

»Nein, nein, mach nur«, sagte Lorenz.

»Dass eins klar ist …« Doro schaute eindringlich in die Runde. »Auf wen die Flasche zeigt, der muss den Schnaps trinken. Keine Ausreden dann.«

»Klar.« Frederik zog geräuschvoll die Nase hoch.

Doro setzte die leere Wasserflasche in Bewegung. Wie ein Kinderkreisel drehte sie sich. So schnell, dass die Schrift auf dem Etikett verschwamm. In Katharinas Magengegend marschierte eine Armee von Ameisen auf und ab. Sie hielt den Atem an. Die Flasche wurde langsamer und langsamer. Nun war es abzusehen. Sie würde genau bei ihr anhalten. Katharina schloss die Augen und öffnete sie sofort wieder. Der Flasche fehlte der Deckel. Die Öffnung zeigte wie ein kleiner, kreisrunder Schlund auf … Katharina spürte, wie ihr Magen ein Stück absackte. Nein! Die Flasche zeigt nicht auf sie, sondern auf die leere Stelle zwischen Rieke und ihr.

»Ha!«, rief Rieke, »das zählt nicht. Das kann man nicht eindeutig erkennen, ob Kati oder ich.«

Doro nickte. »That’s right. Noch mal. Aber wir müssen näher zusammenrücken, sonst haben wir gleich wieder dasselbe Problem.«

Doro drehte die Flasche ein weiteres Mal. Diesmal nicht mit ganz so viel Schwung. Sie kreiste ein paar Mal um sich selbst, verlor schnell an Geschwindigkeit und hielt bei – Katharina drückte ihre Daumen so fest, dass es wehtat – bei Uli.

Allgemeines erleichtertes Geseufze. Uli starrte Doro finster an. »Das hast du extra gemacht.«

»Nee, mein Lieber. Bei diesem Spiel kann man nicht tricksen.« Doro hielt Uli die Flasche hin. »Bitte schön, Uli, wohl bekomms.«

Uli blieb reglos sitzen. »Ich mach das nicht. Ich sauf doch nicht die Flasche leer. Ich bin doch nicht bekloppt.«

Doros Augen waren nur zwei schmale Schlitze. »Oh doch, das machst du jetzt. Da sei dir mal ganz sicher.«

Uli rappelte sich auf. »Ich hau ab. Bis Montag in der Schule.« Er drehte sich um.

Wie ein Pfeil schoss Doros Fuß nach vorne. Uli kam ins Straucheln und fiel hin. Katzengleich sprang Doro auf ihn und krallte sich an ihm fest. Über die Schulter rief sie: »Los! Bewegt euren Arsch! Der haut sonst ab!«

Lorenz war in null Komma nichts bei Doro und setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Ulis Beine, der rücklings auf dem Boden lag. Frederik brauchte ein bisschen länger, um auf die Füße zu kommen. Er hielt Ulis Arme fest, damit er nicht länger um sich schlagen konnte. Uli war eingeklemmt wie in einen Schraubstock. Hasserfüllt starrte er Doro an, die auf seinem Brustkorb thronte. »Du miese kleine Schlampe«, zischte er.

»Na, na.« Lorenz verlagerte sein Gewicht.

Doro beugte sich zu Uli hinunter, sodass ihr Haar ihn am Kinn kitzelte. Er konnte ihr Parfüm riechen. Irgendwas Fruchtiges. Und er konnte die Ansätze ihrer Brüste sehen.

»Gefällt dir der Anblick, du kleiner Wichser?« Sie kam noch näher an Ulrich heran. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast.

»Du bist ’n Miststück. Ich hasse dich!« Uli sammelte Speichel in seinem Mund zusammen, aber bevor er Doro ins Gesicht spucken konnte, saß Doro schon wieder aufrecht.

»Kati, gib mal den Schnaps rüber. Jetzt wollen wir doch mal sehen, wie viel unser Uli-Boy verträgt. Und danach ist Schwimmstunde.« Sie schleuderte ihr schwarzes Haar nach hinten. »Kati! Pennst du oder was?«

Katharina rührte sich nicht. Ihr Blick war auf Ulrich geheftet, der wehrlos am Boden lag. Wie festgetackert. Das ging alles überhaupt nicht.

»Kati, verdammt. Mach schon!« Doro. Genervt. Ungeduldig. Katharina rührte sich immer noch nicht. Zu Hause war sie immer die Brave. Die Vernünftige. Die Rücksichtsvolle. Sie war es so leid.

Ein Schatten strich über ihre Köpfe hinweg. Kurz darauf ein heiseres Rufen. Katharina schaute fragend zu Rieke und Manu hinüber. Schulterzucken. Sie griff nach der Flasche und erhob sich, ging langsam auf Doro zu, blickte aber Uli an. In seinen Augen war nichts als Panik. Wieder zögerte sie. »Bitte, Kati, sag ihnen, die sollen mich loslassen.«

Doro streckte eine Hand aus. »Gib schon.«

Zu Hause musste sie immer nur funktionieren. Im Zeitlupentempo reichte sie Doro die Flasche.

»Das könnt ihr nicht machen!«, schrie Uli plötzlich aus vollem Hals. »Ihr könnt mich nicht zwingen!« Er schleuderte seinen Kopf von einer auf die andere Seite und zuckte mit dem ganzen Körper. Es sah grotesk aus.

»Ach, Uli-Boy, was meinst du denn, was wir alles können«, sagte Doro mit sanfter Stimme und drehte die Flasche auf.

Hinter ihnen lag der See wie eine ovale Scheibe. Dunkel und still.

1. KAPITEL

22 Jahre später

Der Schmerz kam unvermittelt, fuhr wie ein Blitz in ihre Lendenwirbelsäule. Katharinas Hände umklammerten den Rand der Behandlungsliege.

»Die Frau Kommissarin darf nicht so verkrampfen. Das verschlimmert den Schmerz nur. Wenn Sie hier …«, Klaas ten Venne, staatlich anerkannter Physiotherapeut, drückte mit seinem Daumen auf eine Stelle etwas oberhalb des Steißbeins, »locker bleiben, dann tut es auch nicht so weh. Also ausatmen … und … loslassen …«

»Ist etwas schwierig«, stieß Katharina zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wenn man das Gefühl hat, es stecke einem ein Messer im Rücken.«

»Ja, es kann mal zwicken bei dieser Art von Behandlung. Aber das wird schon. Wenn Ihre Hüfte und Wirbelsäule erst mal wieder richtig mobilisiert sind, dann werden Ihre Schmerzen bald weggehen.«

»Ich kann’s kaum erwarten.«

Der Therapeut tastete Rücken, Schultern und Nacken ab. »Sie sind aber auch extrem verspannt. Sie müssen mal locker lassen, Frau Kommissarin. Immer schön easy. Ich werde jetzt noch mal versuchen, Ihre verklebten Faszien zu lockern und dann haben Sie es für heute geschafft.«

Katharina legte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Das weiche Frottee der Unterlage roch waschmittelfrisch und kitzelte sie beim Einatmen an der Nase. »Nur zu, Herr Physiotherapeut. Verklebte Faszien, das klingt ja grausig.«

Klaas ten Vennes warme, ölige Hände bearbeiteten sanft ihre untere Rückenpartie und lösten ein angenehmes Ziehen zwischen ihren Beinen aus. Gerade noch rechtzeitig konnte Katharina einen wohligen Seufzer unterdrücken. Du lieber Himmel, dachte sie. So weit ist es schon gekommen, dass ich die Behandlung beim Physiotherapeuten als erregend empfinde.

»Waren Sie denn jetzt mal mit Ihrem Mountainbike unterwegs?«, fragte Klaas.

Katharina hielt die Augen geschlossen. »Ich fahre ziemlich viel damit, aber nur in der Stadt, und dafür ist es ja eigentlich nicht da. Aber ich bin immer heilfroh, wenn ich eine Parklücke für mein Auto gefunden habe, die noch einigermaßen fußläufig zu meiner Wohnung ist. Und dann mag ich es dort nicht mehr wegbewegen. Das ist der Nachteil, wenn man in der Stadt wohnt.«

»Wo wohnen Sie denn?«

»Im Erphoviertel. Lönsstraße, Ecke Manfredstraße.«

»Ach, schau an, die Frau Kommissarin. Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie in einem von diesen Häusern aus den Dreißigerjahren wohnen. Sandsteinfarben und mit dunkelbrauner Holztür?«

»Genau.«

»Beneidenswert. Ich komme da manchmal mit dem Rad vorbei.«

»Wohnen Sie in der Nähe?«

»Ja, aber einmal über den Ring rüber. Brüderstraße.«

»Kenne ich. Direkt am Café Kling Klang. Auch eine nette Gegend.«

»Das Kling Klang ist meine Stammkneipe.«

»Dann hätten wir uns eigentlich schon mal dort treffen müssen.« Katharina hielt kurz inne. »Ich komme einfach nicht dazu, mal raus zu fahren mit dem Rad«, bemerkte sie dann.

Klaas’ Hände arbeiteten sich in sanften Knetbewegungen ihren Rücken hinauf. »Das kenne ich. Ich nehme mir das auch jedes Wochenende vor und dann kommt doch wieder was dazwischen. Man müsste sich mal verabreden zu einer Ausfahrt, dann gäbe es keine Ausrede mehr.«

»Mmh.« War das ein konkretes Angebot? Oder ein allgemeiner, in den Raum geworfener Gedanke? Und hatte das, was ständig dazwischen kam, mit der zierlichen, asiatisch aussehenden Kollegin zu tun? Katharina hatte sich schon öfter gefragt, ob die beiden mehr als eine gemeinsame Praxis verband. Sie kam bereits mit ihrem dritten Rezept hierher und bei jedem Behandlungstermin hatte sie mehr von ihrem Physiotherapeuten erfahren und er von ihr. Es machte Spaß, sich mit ihm zu unterhalten und nicht nur das. Klaas ten Venne begann sie zu interessieren, und wenn sie nicht völlig daneben lag, dann war das umgekehrt genauso.

»Wie war denn die Fortbildung letzte Woche?«, fragte sie schläfrig, weil sie nicht wusste, was sie zu dem Fahrradthema sagen sollte.

»Mäßig. Die Dozentin erinnerte mich ganz unangenehm an eine Großtante von mir, aber Berlin ist natürlich immer einen Besuch wert. Wann waren Sie das letzte Mal dort?«

Katharina wollte gerade antworten, als sich ihr Handy meldete. Sie tastete nach dem Hocker, der neben der Liege stand. Darauf lagen ihr Pullover, Unterhemd, BH und ganz zuoberst vibrierte ihr Handy, das von dem Kleiderstapel zu rutschen begann.

»Tut mir leid, aber ich konnte es nicht abstellen«, sagte sie über die Schulter. »Ich bin im Dienst.«

»Kein Problem. Wir sind sowieso fertig. Wenn Sie sich angezogen haben, machen wir vorne einen neuen Termin.«

Katharina wischte über das Display. »Katharina Klein.«

»Kati? Hier ist Manu. Manuela Meißner.« Unsicheres Lachen. »Du erinnerst dich hoffentlich?«

Stille. Eine Sekunde, zwei, drei.

»Kati? Bist du noch dran?«

»Äh, ja. Manu? Das ist ja wirklich eine …«

»Überraschung, ja. Ich habe die Handynummer von deiner Mutter. Ich habe dich nicht im Telefonbuch gefunden.«

Katharina hatte sich aufgesetzt. Durch die hauchfeinen Gardinen konnte sie sehen, wie feiner Nieselregen die Fensterscheiben besprühte.

»Manu, das ist echt … also, ich weiß gar nicht … Wie lange …?«

»Zweiundzwanzig Jahre«, sagte Manu.

Katharina klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und angelte nach ihrem BH. »Und? Lebst du in Münster? Was machst du?«

»Ich bin Tierärztin und habe eine Praxis am Rand von Wolbeck.«

»Dann also doch Tiermedizin und nicht Jura.« Katharina schlüpfte in ihre Jeans.

»Genau, Tiermedizin in Wien, weil es dort ohne Numerus clausus ging und seit sechs Jahren wieder hier. Kati, es gibt einen Grund, warum ich anrufe und sei mir nicht böse, dass ich dich damit so überfalle. Ich habe Uli gesehen.«

Um ein Haar wäre Katharina das Handy weggerutscht. »Wie bitte?«

»Uli. Ulrich Sobowski.«

Katharinas Herz stolperte und wummerte dann mit doppelter Geschwindigkeit gegen ihren Brustkorb. Da war es. Dieses Gefühl, das sie manchmal morgens nach einem dieser Träume auch hatte. Es legte sich wie ein Eisenring um ihre Brust und nahm ihr die Luft zum Atmen.

»Kati?«

»Ich bin noch dran. Das ist Quatsch, Manu. Uli ist tot. Du kannst ihn nicht gesehen haben.«

»Wenn ich es dir sage. Der lief höchst lebendig vor mir her. Erst dachte ich, ich hätte eine Erscheinung.«

»Du hattest eine.« Katharina lehnte sich mit dem Po gegen die Liege. »Wo soll das denn gewesen sein und wann?«

»In der Innenstadt. Gestern. In dieser schmalen Gasse, die von der Überwasserkirche zum Domplatz führt. Da lief er vor mir her. Zuerst bin ich wegen seines Gangs auf ihn aufmerksam geworden. Erinnerst du dich? Er hat immer so nachgefedert beim Gehen. Seemannsgang, oder wie nennt man das? Und dann seine Haare. So häufig ist dieses Fuchsrot ja nicht.«

»Aber er ist ertrunken, Manu. Vor unseren Augen.«

»Er ist vor unseren Augen untergegangen, ja. Seine Leiche hat man aber nie gefunden, wenn ich dich daran erinnern darf. Er könnte also noch leben. Ich habe auch sein Profil gesehen. Das war Uli!«

»Aber gesprochen hast du nicht mit ihm?«

»Nein. Auf dem Domplatz habe ich ihn aus den Augen verloren. Es war Markt.«

Katharinas Herzschlag normalisierte sich. Der Druck auf ihrem Brustkorb blieb jedoch.

»Ich weiß nicht. Hast du schon mit den anderen darüber geredet? Hast du überhaupt noch zu irgendjemandem Kontakt?«

»Nein. Ganz am Anfang in Wien noch ein bisschen zu Rieke. Ich habe ihre Nummer gegoogelt, aber niemanden erreicht. Von dir habe ich ja nur deine Durchwahl im Polizeipräsidium gefunden. Kommissarin Klein, nicht schlecht! Dann habe ich Frederiks Nummer im Netz ausfindig gemacht. Und der Witz war, als ich ihn angerufen habe, hatte ich auf einmal Doro am Hörer.«

»Ach was.«

»Ich war auch ziemlich baff. Sie allerdings auch.«

»Die wohnen zusammen?«

»Nicht nur das. Sie haben vor einigen Jahren geheiratet und leben außerhalb von Münster auf einem Resthof.«

»Ist ja witzig.«

»Ich habe Doro das mit Uli erzählt. Sie meinte natürlich, ich hätte Halluzinationen gehabt, und hat mich tatsächlich gefragt, ob ich Drogen nehme. Sie ist noch ganz die Alte.«

»Um ehrlich zu sein, so richtig kann ich mir das mit Uli auch nicht …«

Manu fiel Katharina ins Wort. »Doro hat vorgeschlagen, sich bei ihnen auf dem Hof zu treffen. Sie war Feuer und Flamme für ihre Idee. Auch da ist sie noch ganz wie früher. Ich konnte kaum einen Satz zu Ende sprechen. Sie hat den kommenden Samstag vorgeschlagen und wollte versuchen, Rieke und Lorenz zu erreichen, und ich sollte es bei dir versuchen.«

Katharina ging in die Hocke und band sich die Schnürsenkel zu. Ein Treffen mit der alten Clique? Nach so vielen Jahren Funkstille?

»Ich habe auch erst gezögert«, hörte sie Manu sagen. »Wer weiß, wie das wird? Vielleicht haben wir uns gar nichts mehr zu sagen. Und dann gleich mit Übernachtung. Das war nämlich Doros Vorschlag. Wenn, dann über Nacht, meinte sie. Damit sich das auch lohnt und wir auch was trinken können. Sie war gar nicht mehr zu bremsen.«

Katharina richtete sich auf. »Ach, warum nicht. Ich hätte Zeit. Ist doch ganz schön, alle mal wieder zu sehen.«

»Okay, dann bin ich auch dabei.« Manu hielt kurz inne. »Kannst du dir vorstellen, wie mir das mit Uli zugesetzt hat? Ich hab am ganzen Körper gezittert und bin anschließend sofort nach Hause. Auf einmal war alles wieder da. Dieser schreckliche Abend am See.«

Die Tür öffnete sich und Klaas’ Kopf erschien. Er gab Katharina durch Handzeichen zu verstehen, dass er das Behandlungszimmer für den nächsten Patienten brauchte.

Katharina nickte ihm zu und sagte zu Manu: »Doch, das kann ich mir gut vorstellen. Am Samstag können wir ja noch mal darüber reden. Ich muss jetzt aufhören.«

Sie verabschiedeten sich und vereinbarten, noch einmal zu telefonieren, wenn Manu mit Doro gesprochen hatte.

Katharina verließ das Behandlungszimmer. Hinter dem Empfangstresen stand Klaas über ein Terminbuch gebeugt. Er schaute hoch und lächelte sie an. »Der nächste Termin wäre am 19. Oktober um elf Uhr. Können Sie das einrichten?«

»Ja, das wird schon gehen.«

Klaas kritzelte das Datum auf ein Zettelchen und reicht es Katharina. »Und wegen des Radfahrens – am Wochenende bin ich nicht da, aber wie wäre es denn am Montag um siebzehn Uhr? Dann ist es noch ungefähr eine Stunde hell. Ansonsten hätte ich auch zwei Stirnlampen. Ich hole Sie ab.«

»Äh … Montag?« Sie warf einen schnellen Blick hinüber zu Klaas’ Kollegin, die neben ihn getreten war und nun auch in dem Terminbuch blätterte. »Ich glaube, das passt«, sagte Katharina. »Aber ich bin völlig aus der Form. Also versprechen Sie sich nicht zu viel davon.«

»Geht mir genauso, aber wir werden schon von der Stelle kommen. Bis Montag also!« Klaas strahlte Katharina an, während seine Kollegin ihre fein geschwungenen Augenbrauen zusammenzog.

Sechs Kilometer Luftlinie von Katharina entfernt legte Manu das Telefon aus der Hand und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Das Grundstück, auf dem ihr Holzhaus stand, reichte bis hinunter zur Werse. Zwischen den Zweigen der beiden Trauerweiden hindurch konnte sie die grüne Wasseroberfläche sehen. Zwei Wasserhühner zogen vorüber, wurden durch irgendwas aufgeschreckt und verschwanden eilig im Dickicht des Ufers.

Ob es wirklich eine gute Idee war, ein ganzes Wochenende miteinander zu verbringen? Mit Rieke, Lorenz, Frederik, Kati und vor allem mit Doro? Menschen, mit denen sie über zwanzig Jahre keinen Kontakt hatte? Andererseits brannte sie darauf, ihnen die Einzelheiten von ihrer Begegnung mit Uli zu erzählen. Obwohl Begegnung ja nicht ganz das richtige Wort war.

Um sich abzulenken, setzte sie sich auf das Sofa, klappte ihren Laptop auf und loggte sich bei der Online-Partnervermittlung Find The Right ein. Sie überprüfte ihr Postfach. Noch immer hatte sich niemand gemeldet, der sie näher interessiert hätte. Sie fuhr den Laptop wieder herunter.

Manu erhob sich und machte sich daran, in der Küche ein wenig Ordnung zu schaffen. Dabei dachte sie erneut über den kommenden Samstag nach und wie es wohl sein würde, die anderen wiederzusehen. Ein Klopfen an der Tür ihres Häuschens riss sie aus ihren Gedanken. Thies, ihr Nachbar, im farbbesprenkelten Blaumann und mit diesem wunderbar schüchternen Lächeln auf den Lippen wollte wissen, ob er sich ihren Rasenmäher ausleihen konnte.

»Nur wenn du noch auf einen Tee hereinkommst«, sagte Manu und hielt ihm die Tür auf. »Ich muss erst heute Mittag in der Praxis sein.« Als sie hinter Thies ins Wohnzimmer ging, beschloss sie, nicht mehr über das Treffen nachzudenken, sondern es einfach auf sich zukommen zu lassen.

2. KAPITEL

Katharina saß mit Wolldecke auf dem Schoß und einem Glas Rotwein in der Hand vorm Fernseher und versuchte vergeblich, einem Bericht zu folgen. Doch ihre Gedanken kreisten immer wieder um das Gespräch mit Manu und ihre Behauptung, Uli gesehen zu haben. Das plötzliche Türklingeln riss sie aus ihren Gedanken.

Katharina schälte sich seufzend aus ihrer Decke. Hin und wieder kam es vor, dass ihre Mutter Edith ihr einen unangekündigten Besuch abstattete. Meistens war sie dann auf dem Weg nach Hause von einem geselligen Abend mit Schülern ihres Sprachinstituts und machte dabei einen Abstecher ins Erphoviertel. Im Gegensatz zu Katharina fand sie immer einen Parkplatz vor der Tür.

»Was riecht hier so komisch?«, hörte Katharina ihre Mutter aus dem Flur rufen. Sie hatte die Tür geöffnet und war wieder ins Wohnzimmer zurückgegangen, um sich in ihre Decke zu kuscheln.

»Das kommt aus dem Abfluss der Badewanne«, rief sie zurück. »Ich habe Herrn Wuttke schon Bescheid gesagt.«

»Du musst da Kaiser Natron reinkippen. Das hilft immer. Hallo erst mal.« Etwas atemlos kam Katharinas Mutter ins Wohnzimmer. Ihre Wangen waren gerötet, das Haar feucht. Sie beugte sich zu ihrer Tochter hinunter und küsste sie auf die Wange. Dann ließ sie sich aufs Sofa fallen. »Puuuh, die Treppen schaffen einen aber echt.«

»Regnet es immer noch?«

»Ach, hör auf. Das ist furchtbar draußen. Immer wieder diese Schauer. Meinen Spaniern vergeht schon der Spaß.«

»Auch ein Glas?«

»Ja, bitte. Aber nur ein Halbes, sonst muss ich das Auto noch stehen lassen. Wir waren in der Altstadt etwas essen. Ist ’ne muntere Truppe diesmal.«

Katharina erhob sich und schlurfte in ihren dicken Socken und Jogginghose in die Küche.

»Hast du was mit deinen Haaren gemacht?«, fragte sie, als sie zurückkam.

Edith zupfte mit ihren Fingerspitzen an ihrem Pagenkopf herum. »Nur etwas Farbe ins Spiel gebracht.«

»Etwas ist gut. Du bist komplett blond! Das fällt selbst in diesem Schummerlicht auf.« Katharina reichte ihrer Mutter das Glas.

»Wenn du den ganzen Tag mit jungen Menschen zusammen bist, dann willst du nicht aussehen, als hättest du nur noch ein Jahr bis zur Rente.« Sie nahm das Glas entgegen und prostete Katharina zu. »Mmh, der ist gut. Wirklich.« Sie ließ den Wein im Glas kreisen. »Wo ist der her?«

»Vom Aldi.«

»Kaum zu glauben.« Edith nahm noch einen Schluck. Dann neigte sie den Kopf zur Seite und musterte ihre Tochter. »Siehst abgespannt aus. Du arbeitest zu viel. Es ist Donnerstagabend. Warum gehst du nicht aus?«

»Weil Donnerstagabend ist. Ich muss morgen arbeiten.«

»Sag ich doch. Du denkst nur an die Arbeit. Warum verabredest du dich nicht mal wieder mit Martina und ihrer Clique. Ich weiß, dass ihr nicht genau die gleiche Wellenlänge habt, aber wenigstens ist sie unternehmungslustig.«

Nicht die gleiche Wellenlänge – so kann man es auch bezeichnen, dachte Katharina. Noch heute erinnerte sie sich nur mit Grauen an jenen Samstagabend vor zwei Jahren, an dem sie mit ihrer Cousine aus Fuestrup und deren überdrehten Freundinnen auf einer Ü-30-Zeltparty in Angelmodde gelandet war. Ihre schlimmsten Befürchtungen in puncto Musik und Aufdringlichkeit der Männer waren noch übertroffen worden. Nach der dritten Runde Schlüpferstürmer hatte Katharina ein Taxi zurück nach Münster genommen.

»Übrigens!«, Edith schien nicht wirklich eine Antwort auf ihre Frage zu erwarten. »Gestern ist ja was passiert – ich war völlig von den Socken.«

»Mmh, lass mich raten: Irgendeine deiner Freundinnen ist Oma geworden?«

»Quatsch. Nein, Manu hat gestern bei mir angerufen und nach deiner Nummer gefragt. Die Manu von früher. Hat sie dich schon erreicht?«

Katharina stellte ihr Glas ab. »Ja, hat sie. Heute Mittag.«

»Ja und? Was wollte sie? Ihr habt doch lange gar keinen Kontakt mehr gehabt.«

»Sie wollte mir sagen, dass sie Uli gesehen hat.«

Edith ließ das Glas, das sie gerade zum Mund geführt hatte, wieder sinken. Katharina lächelte in sich hinein. Es kam selten vor, dass es ihrer Mutter die Sprache verschlug.

»Ulrich? Aber … das …«

»… ist gar nicht möglich«, vervollständigte Katharina den Satz. »Das habe ich ihr auch gesagt. Sie wird ihn verwechselt haben. Aber sie schwört, dass es Uli war.«

»Ojemine, ich dachte, das Kapitel hätten wir abgehakt. War ja schlimm genug. Meine Güte, was wart ihr damals alle mit den Nerven runter. Und kein Mensch hat verstanden, warum er unbedingt betrunken schwimmen gehen wollte. Was haben wir Eltern uns für Sorgen um euch gemacht, nachdem er ertrunken ist. Ich glaube, ich habe an die hundert Mal mit den Eltern von Manu und Rieke telefoniert, die ja unbedingt wollten, dass ihr allesamt zum Schulpsychologen marschiert, aber das kam für euch ja gar nicht in die Tüte.«

»Richtig. Wir treffen uns übrigens nächsten Samstag alle bei Doro und Frederik. Die haben geheiratet und leben etwas außerhalb auf dem Land.«

»Ach, das ist ja für Kinder auch schön. Oder haben die etwa auch keine?«

»Weiß ich nicht.«

»Und Manu?«

»Mama, ich weiß es nicht, ich glaube nicht. Jedenfalls hat sie nichts davon gesagt.«

»Na ja, egal. Aber schön, dass ihr euch mal wiederseht. Dann kommst du wenigstens mal raus.«

»Ich komm genug raus, Mama.«

»Aber du hast keine Freunde und kaum soziale Kontakte.«

»Ich habe Eva und Tim. Ich mag meinen Job und bin sehr zufrieden mit meinem Leben, so wie es ist. Es ist alles gut.«

Edith zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Ich muss wieder los. Aber eine Sache noch. Ich war gestern kurz bei deinem Bruder. Da hat mal wieder die Bezugsbetreuerin gewechselt. Diesmal ist es eine ganz junge Frau. Ich fand sie etwas überengagiert, um ehrlich zu sein.«

»Wie kann man denn im Umgang mit Menschen wie Johann überengagiert sein?«

»Ach, ich weiß nicht. Mach dir selbst ein Bild. Mir ging sie jedenfalls auf die Nerven.«

»Die Vorgängerin ging dir auch auf die Nerven.«

»Allerdings. Mir liegt einfach dieses Pädagogengetue nicht.« Edith erhob sich. »Ich werd dann mal wieder. War ein langer Tag.«

Eine halbe Stunde später lag Katharina im Bett. Müde von den zwei Gläsern Rotwein fand sie trotzdem keinen Schlaf. Edith hatte recht. Es war tatsächlich ein Drama gewesen – damals. Alle hatten sie bemitleidet, die armen Jugendlichen, die hilflos mit ansehen mussten, wie ihr waghalsiger Freund vor ihren Augen ertrank. Niemand kam auf die Idee, ihnen Vorwürfe zu machen, denn niemand hatte ihre Geschichte bezweifelt. Weder ihre Eltern noch Sobowskis oder die Polizei. Und Ulis Leiche wurde trotz Einsatz aller zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten in den Untiefen des Baggersees nicht gefunden.

Die Jugendlichen blieben bei jeder Befragung bei ihrer abgesprochenen Geschichte. Uli hatte Tequila mitgebracht, sie hatten alle davon getrunken, aber Uli am meisten und er hatte sich nicht davon abbringen lassen, auf den See hinauszuschwimmen, wo er dann plötzlich von der Bildfläche verschwunden war, als hätte ihn jemand an den Beinen nach unten gezogen.

Keiner von ihnen verplapperte oder widersprach sich, und ihre Eltern sorgten dafür, dass man sie bald in Ruhe ließ.

Sie hatten sich geschworen, nie den wahren Ablauf des Abends zu verraten. Auch Katharina hatte sich in all den Jahren daran gehalten. Nachdem sie Ulis Trauerfeier hinter sich gebracht hatten, erwähnten sie den Abend am See auch untereinander nicht mehr. Die Vorklausuren für das Abitur standen an und damit hatten sie sowieso nicht mehr viel Zeit, sich zu treffen.

Zu dem Zeitpunkt begann Katharina damit, die Sache mit Uli zu verdrängen, denn anders wusste sie nicht mit dem bohrenden Schuldgefühl umzugehen. Mit jedem Jahr, das ins Land ging, verblasste die Erinnerung an diesen Spätsommerabend mehr und mehr. Nur die Träume blieben – und ihre Abneigung gegen Baggerseen.

Katharina drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ihr Schlafzimmer war nur durch die Nachttischlampe erhellt.

Edith hatte noch mit etwas anderem recht gehabt. Sie hatte es in zwei Jahren nicht geschafft, sich einen Freundeskreis aufzubauen. In Köln, wo sie nach dem Ende ihrer Ausbildung hängen geblieben war, hatte sie einen riesigen Freundes- und Bekanntenkreis gehabt und war jeden Abend unterwegs gewesen, trotz des Berufes.

Immer mal wieder dachte sie darüber nach, ob es ein Fehler gewesen war, nach Münster zurückzugehen. Aber nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters hatte sie den Wunsch verspürt, dem Rest ihrer Familie und vor allem ihrem Bruder Johann nah zu sein. Und im Großen und Ganzen war sie ja auch zufrieden. Sie hatte Eva und Tim. Sie waren zwar Kollegen, aber auch Freunde. Und über diese total verpfuschte Beziehung mit Frank war sie inzwischen hinweg.

Katharinas Gedanken wanderten zurück zu Manu. Es hatte sie überrascht, als ihr Anruf in Nullkommanichts alles Verdrängte wieder hervorgeholt hatte.

Nur mal angenommen, Manu hätte sich nicht getäuscht und es war Uli, den sie gesehen hatte, dann würde das bedeuten … dann hieße das …

Katharina erlaubte sich zum ersten Mal, seit sie mit Manu gesprochen hatte, den Gedanken zu Ende zu denken. Dann hieße das, sie wären nicht verantwortlich für den Tod eines Menschen!

3. KAPITEL

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« Die Verkäuferin lächelte professionell und schaute die Kundin über ihre halben Brillengläser hinweg an.

Rieke ließ den Blick über das Regal mit den Babyschlafsäckchen gleiten. Ihre Schwester hatte ihr genau beschrieben, welchen sie sich zur Taufe für ihre Tochter wünschte. »Ich suche einen …«

»Schlafsack fürs Kleine? Für Ihr Baby oder soll es ein Geschenk sein?« Die Verkäuferin hatte bereits einen Schlafsack aus dem Regal gezogen und auseinander gefaltet. »Das hier ist zum Beispiel einer der Marke ›Sweet Dreams‹. Der hat den Vorteil …«. Sie redete scheinbar, ohne Luft zu holen. Ohne aufzublicken fragte sie: »Wie alt ist das Kleine denn?«

Rieke zögerte kurz. »Neun Monate.« Warum sagte sie das?

»Ah, okay. Dieses Modell gibt es auch noch zwei Nummern größer. Aber wenn der kleine Schatz schon neun Monate ist, dann kann ich Ihnen auch noch was anderes zeigen. Dieser hier wird auch sehr gerne genommen. Da haben die Kleinen etwas mehr Bewegungsfreiheit. Das brauchen sie ja in dem Alter.«

»Stimmt«, sagte Rieke. »Sie ist ganz schön quirlig.« Ihr Kopf wurde heiß.

»Ein Mädchen also. Dann lag ich ja mit der Farbe schon mal gar nicht so falsch.«

Die Verkäuferin zeigte Rieke noch verschiedene Modelle. Unifarben, mit Blümchen, mit Teddys. Rieke schaute gar nicht richtig hin. Sie zeigte auf einen dunkelblauen Schlafsack mit kleinen gelben Sternen. »Ich nehme den da.« Sie wollte nur so schnell wie möglich raus aus dem Laden. »Und dann brauche ich noch ein bisschen Babygeschirr.«

An der Kasse roch sie den Schweiß unter ihren Achseln. Sie drehte langsam durch. »Äh … wegen des Schlafsacks …«

»Ja?« Die Verkäuferin hielt mitten in ihrer Bewegung inne.

»Kann ich ihn für einen Tag zurücklegen? Ich möchte es mir gerne noch mal überlegen.«

»Natürlich geht das«, sagte die Verkäuferin mit gerunzelter Stirn und legte den Schlafsack zur Seite. »Aber bei dem Geschirr darf’s bleiben?«

»Ja, klar, das nehme ich.« Rieke hatte diese dezidierten Geschenkebestellungen ihrer Schwester noch nie sonderlich gemocht. Sollte sie sich doch selbst einen Schlafsack kaufen.

Während die Verkäuferin das bunte Plastikgeschirr einpackte, ließ Rieke den Blick über runde Kleiderständer gleiten, die dicht behangen mit Babyjäckchen und Stramplern für jeden Geschmack etwas boten. Es gab so hübsche Anziehsachen für Babys.

Drei Monate war es nun her, dass sie ihre Fehlgeburt hatte. Als sie erfuhr, dass sie nach Jahren vergeblichen Versuchens endlich schwanger war, da waren Babyfachgeschäfte zu ihren Lieblingsorten geworden. Sie verströmten eine ganz eigene Atmosphäre. Die zarten Farben, der Geruch nach neuen Textilien – überall war der unvergleichliche Zauber des Anfangs zu spüren.

Jetzt bekam sie beim Anblick all dieser Dinge Atemnot. Warum konnte diese lahme Kuh von Verkäuferin nicht ein bisschen schneller machen?

»Das wären dann 31,95.«

Rieke kramte in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld, als die Tür des Geschäfts aufgestoßen wurde. Automatisch warf Rieke einen Blick zum Eingang. Eine stark geschminkte Frau in den Sechzigern im Kamelhaarmantel und Lederhandtasche über dem Arm betrat den Laden. Rieke wandte schnell den Kopf ab. Die Frau war ihre Tante Brigitte, die Schwester ihres Vaters.

»Rieke!« Brigitte kam strahlend auf sie zu. »Kaufst du was für die Taufe?« Sie umarmte ihre Nichte.

Rieke wurde fast schwindelig von dem schweren Parfüm ihrer Tante. »Ja, ich hab’s mir gerade einpacken lassen.«

Brigitte umfasste Riekes Schultern und musterte sie eingehend. »Wie geht’s dir denn, Kind? Deine Mutter hat mir gestern erzählt, dass Christoph ausgezogen ist. Das tut mir so leid.«

»Es geht schon«, murmelte Rieke und warf einen verstohlenen Blick zur Verkäuferin, die so tat, als sei sie mit der Kasse beschäftigt.

»Das renkt sich bestimmt wieder ein. Gib ihm eine kleine Auszeit und du wirst sehen, er kommt zu dir zurück.«

Rieke spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Warum musste Brigitte gerade hier und jetzt damit anfangen? Warum musste sie gerade heute Nachmittag in dieses verfluchte Geschäft kommen?

»Ihr habt ja nun auch wirklich keine leichte Zeit hinter euch. Da kann die beste Ehe in eine Krise geraten«, plapperte Brigitte weiter. Es störte sie offenbar überhaupt nicht, dass die Verkäuferin alles mitbekam. »So viele Versuche und dann die Fehlgeburt. Das muss man erst mal verkraften.«

Der Kopf der Verkäuferin schnellte hoch. Rieke stopfte das Geschenk in ihren Bastkorb. »Ich muss weiter.«

»Es ist schon ungerecht. Manche bekommen ein Kind nach dem anderen und sind dann mit allem überfordert und andere, denen man von Herzen ein Kind gönnt, können keins bekommen«, posaunte Brigitte indiskret heraus.

»Machs gut, Brigitte. Wir sehen uns bei der Taufe.« Rieke stürmte aus dem Laden und dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

Als sie sich im quirligen Marktcafé einen Cappuccino und ein Glas Leitungswasser bestellte, hatte Rieke sich wieder halbwegs gefangen. Sie saß an einem Zweiertisch am Fenster und beobachtete das rege Treiben draußen. Studenten auf Fahrrädern, Rentner und die obligatorischen gut gekleideten Münsteraner Ehepaare auf dem Weg zu einer der vielen Boutiquen rund um den Prinzipalmarkt. Ein jüngerer Mann kam mit einem Kleinkind an der Hand vorbeispaziert. Beide hielten ein Eis in der Hand. Das Kind strahlte seinen Papa an und er schaute fürsorglich zu ihm hinunter. Rieke wandte schnell den Blick ab. Aus ihrer Handtasche kramte sie ein weißes Röhrchen mit blauer Aufschrift heraus, schüttete sich zwei Tabletten in die Hand und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.

Fehlte nur noch, dass sich zwei Hochschwangere am Nebentisch niederließen und sich lauthals über ihre letzte Sitzung beim Geburtsvorbereitungskurs austauschten.