Mord in Verona - Todesengel - Máire Brüning - E-Book

Mord in Verona - Todesengel E-Book

Máire Brüning

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Beschreibung

Jeder muss sterben – die Frage ist nur, wie.   Verona, im Winter 1267 Kaum hat sich der ehemalige Söldner Yon Moreno mit seinem neuen Amt als Beamter der Justiz arrangiert, erschüttert ein grausamer Mord die Stadt. Das Opfer, ein bekannter Notar, scheint willkürlich gewählt. Während Yon sich auf die Suche nach Hinweisen macht, kommt die junge Ärztin Ada einem gefährlichen Geheimnis aus seiner Vergangenheit auf die Spur. Plötzlich steckt Yon in einer Zwickmühle. Der raffinierte Mörder ist ihm immer einen Schritt voraus und Ada, deren Scharfsinn er dringend gebrauchen könnte, zeigt ihm die kalte Schulter. In einem Mordfall, in dem jeder verdächtig ist, müssen Yon und Ada alle ihre Fähigkeiten einsetzen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen und das Leben Unschuldiger zu retten. Werden sie es schaffen, den raffinierten Mörder zu entlarven, bevor es zu spät ist?     Ein mitreißender mittelalterlicher Krimi über die Abgründe der menschlichen Seele, und die Grenzen der Gerechtigkeit.

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Máire Brüning

Mord in Verona - Todesengel

Der 2. Fall für Yon und Ada

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Verona, Dezember 1267

 

Verona, Dezember 1267Eliodoro Galdi, freier Notar und Mitglied in der Gilde der Richter, Anwälte und Notare, saß in der verschwenderisch ausgestatteten Kapelle seines befestigten Hauses in der Nähe der Ponte di Pietra und erfreute sich des Daseins. Draußen stieg eine milchige Dezembersonne über den Hügeln von Verona auf und färbte den Himmel blassrosa. Es war ein stiller Morgen. Kein Läuten durchdrang die eisige Kälte in den Straßen. Kein metallisches Echo brach sich in den steinernen Schluchten der Häuser, erfüllte die Stadt mit ihren Mauern und Türmen und wurde von den umliegenden Dörfern aufgenommen. Seit fünf Wochen schon schwiegen die Kirchenglocken. Papst Clemens war es leid gewesen, sich mit dem fortgesetzten Ungehorsam des Stadtherrn konfrontiert zu sehen. Dass Mastino della Scala den exkommunizierten Stauferherzog Konradin wie einen geschätzten Gast behandelte, setzte dem Ganzen die Krone auf und hatte der Stadt die strengste Strafe eingebracht, die dem Papst zu Gebote stand.Eliodoro Galdi scherte sich nicht um solche Dinge. Groß und imposant, mit glatt rasiertem Gesicht, blauen Augen und einem Mund, der gern lachte, stand Elio in der Blüte seines Lebens. Es ging ihm gut. Herzog Konradins Anwesenheit verhalf ihm zu einem Strom von Klienten, die seine Börse füllten und für seine geistlichen Bedürfnisse hatte er diesen Ort hier.Zufrieden sah er sich in der Kapelle um. Am vorderen Ende war der kleine Chor, dessen üppige Ausgestaltung er vor Kurzem in Auftrag gegeben hatte. Zur Linken befand sich ein Marienaltar und zur Rechten hatte er seine neu erworbene Statue von Bischof Zeno aufstellen lassen. Zu ihm konnte er kommen, wann immer er Anleitung und Rat nötig hatte. Elio schmunzelte. An diesem Morgen stand ihm der Sinn jedoch nicht nach Kontemplation. Er brauchte eine kurze Verschnaufpause von den Vergnügungen, denen er sich in der Nacht hingegeben hatte. Es war eine ausgezeichnete Entscheidung gewesen, am Vorabend Madonna Claudias Freudenhaus aufzusuchen, befand er. Seine erwählte Bettgespielin hatte ihm alle Wünsche erfüllt, ohne sich zu zieren.Eliodoro Galdi trat vor den Altar, beugte das Knie und bekreuzigte sich. Für gewöhnlich verrichtete er um diese Tageszeit seine Morgenandacht. Nach den unkeuschen Freuden, die er sich gegönnt hatte, schien es ihm angebracht, ein wenig Reue zu zeigen. Doch in der Kapelle war es eisig kalt, wohingegen ihn in seiner Schlafkammer ein prasselndes Kaminfeuer, eine mit Seide bezogene Pelzdecke und ein weicher Frauenkörper erwarteten. Er lächelte versonnen. Hastig sprach er eine Bitte um Vergebung seiner Sünden, entzündete eine dicke Wachskerze für Bischof Zeno und verließ die Kapelle. Seine Schlafkammer lag am anderen Ende des langen Flures, der die Kapelle mit der großen Halle verband. Vor der Tür blieb er kurz stehen und lauschte. Gewiss lag seine bezaubernde Gespielin im tiefen Schlummer der Ermattung.So leise er konnte, bewegte er den Türgriff und trat ein. Eine Wolke weißen Staubes ging auf ihn nieder. Was zur Hölle war das? Hustend und halb blind, stolperte er in den Raum. Er versuchte, sich den Staub aus den Augen zu wischen. Ein Schatten kam auf ihn zu, hob die Arme, Wasser ergoss sich über seinen Kopf. Galdi entfuhr ein grässlicher Schrei. Er stürzte zu Boden, zuckte wie besessen und schlug um sich, doch der entsetzliche Schmerz ließ sich nicht vertreiben.

1

Yon Moreno stand in der Mitte seiner spartanisch eingerichteten Schlafkammer in der Casa delle Farfalle und wünschte sich weit weg. Er hasste es, sich herausputzen zu müssen. Mastino della Scala, der Capitano von Verona, hatte darauf bestanden, dass er zu dem anberaumten Festbankett erschien. Es würde die erste Bewährungsprobe sein, die sein neuer Rang als Beamter der Justiz mit sich brachte. Am liebsten hätte Yon schallend gelacht, angesichts der absurden Kehrtwende, die sein Leben gemacht hatte. Ausgerechnet er, ein ehemaliger Assassine, war nun Hüter von Gesetz und Ordnung! Er warf einen kurzen Blick auf die Herrin des Hauses und verkniff sich ihr zuliebe die abfällige Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. Madonna Claudia hatte mit beinahe mütterlichem Stolz die Zeremonie zu seiner Ernennung verfolgt. Dass mit der Erhebung zum Beamten der Ritterschlag für ihn einhergegangen war, betrachtete sie als gerechte Belohnung für alles, was er geleistet hatte. Immerhin, so erklärte sie jedem, der es hören wollte, hatte er einen gefährlichen Verräter entlarvt und damit Herzog Konradin von Staufen den Allerwertesten gerettet.Yon schüttelte bei sich den Kopf. Er machte sich nichts aus Macht und Reichtum. Das alles hatte er einmal besessen – und was hatte es ihm eingebracht? Ein Leben auf der Flucht und ein bis in seine Grundfesten erschüttertes Selbstverständnis.Er konnte sich glücklich schätzen, dass Ser Apollon, der Hüter von Mastino della Scalas Netzwerk aus Agenten und geheimen Zuträgern, ihm diese Chance auf ein neues Leben einräumte. Wenn da nur nicht der fade Beigeschmack von Erpressung gewesen wäre. Ser Apollon hatte seinen wahren Namen herausgefunden und kannte seine Verbindung zu dem spanischen Grafen Santiago de Cabrera. Ein Wissen, das Yon Moreno an den Galgen bringen konnte, ungeachtet der Verdienste, die er sich in den vergangenen Wochen erworben hatte. Wenn er eines hasste, war es dieses Damoklesschwert, das über seinem Haupt schwebte.»Nun schaut nicht so sauertöpfisch drein, mein lieber Yon«, rügte Madonna Claudia. Sie war damit beschäftigt, mithilfe einer Bürste das letzte Stäubchen von seinem besten Gewand aus dunkelgrüner Seide zu entfernen. »Ihr könnt nicht bei einem Festbankett erscheinen und dabei aussehen, als wäret Ihr gerade vom Pferd gestiegen. Nachdem Ihr eine außerordentlich staubige Landstraße passiert habt, wohlgemerkt.«Yon ließ sich auch jetzt nicht zu einer Äußerung hinreißen. Das hätte Claudia nur beflügelt. Es genügte, dass Micheletto, sein Freund und Leibwächter, sich auf seine Kosten amüsierte. Der Kerl lümmelte auf einer Bank an der Wand und konnte gar nicht mehr aufhören zu feixen.Schließlich ließ Claudia die Bürste sinken, trat einen Schritt zurück und musterte Yon von den ordentlich gekämmten schwarzen Locken bis zu seinen auf Hochglanz polierten Lederstiefeln. »Jetzt könnt Ihr Euch sehen lassen«, bemerkte sie mit einem zufriedenen Lächeln.Yon verbeugte sich artig und nahm Mantel und Hut entgegen, die Micheletto ihm reichte.Sie verließen Claudias Haus und machten sich zu Fuß auf den kurzen Weg zum Palazzo della Ragione, wo das Festbankett stattfinden sollte.»Wird Herzog Konradin anwesend sein?«, erkundigte sich Micheletto. »Ich habe sagen hören, er sei unpässlich.«»Ach wo«, gab Yon zurück. »Der junge Herr hat zwei Nächte lang zu tief in den Becher geschaut. Das zählt nicht.«Die diensthabenden Wachsoldaten vor dem Eingang des Palazzo nahmen bei Yons Anblick eilig Haltung an und rissen die Doppeltür auf.Yon lächelte. »Danke Pietro. Giuseppe, wie geht es deiner Frau? Ist das Kind geboren?«»Noch nicht, Herr. Aber die Hebamme glaubt, dass es nicht mehr lange dauern kann. Betet für mich, dass Gott mir einen gesunden Sohn schenkt.«»Das will ich gerne tun«, sagte Yon und trat ein. Kopfschüttelnd folgte Micheletto ihm die Treppe hinauf. »Warum machst du dir die Mühe, dir den Namen jedes einzelnen Soldaten zu merken?«Yon zuckte die Schultern. »Alte Gewohnheit schätze ich.«Ein Diener nahm ihnen die Mäntel ab und ein Weiterer führte sie einen Korridor entlang und öffnete die Tür zum luxuriösen Bankettsaal des Rathauses. Stimmengewirr schlug ihnen entgegen. Yon zögerte. Mit einem Mal wünschte er sich, Ada Contarini an seiner Seite zu haben. Doch die junge Ärztin war schon vor Wochen abgereist, um die Weihnachtstage auf der Burg ihres Vaters zu verbringen, und er wusste nicht, wann sie nach Verona zurückkehren würde.Yons Blick glitt über die mit schneeweißen Leinentüchern bedeckten Tafeln. In der Mitte des Ehrentisches stand ein juwelenbesetzter Salzbehälter in Form einer Burg, umgeben von einer Reihe vergoldeter Kelche. All diese Kostbarkeiten glitzerten im tanzenden Licht hunderter Kerzen, die den Saal mit warmem Glanz erfüllten. Diener eilten geschäftig umher, wuschen den neu ankommenden Gästen die Hände, zeigten ihnen ihre Plätze und reichten Erfrischungen und kleine Leckereien, um die Wartezeit auf den Beginn des Essens zu verkürzen.Doch es war nicht die Pracht der Tafel, die das Auge des Betrachters fesselte, sondern Mastino della Scala. Mit seiner beeindruckenden Größe, dem massigen, kraftvollen Körperbau eines Kampfhundes, scharfen Gesichtszügen und einer wahren Mähne sandfarbenen Haares stach er aus jeder Menge hervor. Er besaß enorme Energie, die ihn umgab, wie eine Aura. Er lauschte einer Unterhaltung zwischen seinem Bruder Alberto und Herzog Konradin von Staufen. Gelegentlich ließ auch Konradins Ritter, Otto von Füssen, einige Worte ins Gespräch einfließen.»Du solltest dem Capitano Deine Aufwartung machen«, bemerkte Micheletto.In diesem Moment sah Otto zur Tür, entdeckte Yon und kam mit freudigem Lächeln auf ihn zu. »Yon, alter Junge, lass dich ansehen! Gut siehst du aus. Die neue Würde steht dir.«»Ich hoffe, dass ich die Erwartungen auch erfüllen kann«, erwiderte Yon. »Ich bin mir da längst nicht so sicher.«»Nun stell dein Licht nicht unter den Scheffel«, schalt Otto. »Du hast bewiesen, dass du weißt, was du tust. Komm, ich bringe dich zu Mastino della Scala. Der Capitano möchte dich einigen Mitgliedern des Großen Rates vorstellen.«Die Nachricht von seiner Ankunft musste sich schneller verbreitet haben als Feuer. Die Gruppe von jungen Adeligen, Kaufleuten, Notaren und Rechtsgelehrten, die ihn umringte, wurde mit jedem Augenblick größer. Nach all den Jahren als unbeachteter Söldner hatte Yon sich noch nicht an seinen neuen Ruhm gewöhnt.Yon verbeugte sich höflich vor dem Herzog und seinem Gastgeber. Mastino ergriff ihn am Arm und dirigierte ihn zu einer Gruppe in kostbare Stoffe gekleideter Männer, die allesamt dem Magistrat oder dem Großen Rat angehörten. Mastino stellte ihn vor und umriss seine bisherigen Verdienste.»Wir erwarten anständige Arbeit von Euch, mein Junge«, sagte Pinamonte Casalodi, der reichste Tuchhändler von Verona.»Gewiss, Herr«, erwiderte Yon. »Ich bin bereit, mein Bestes zu geben.«Casalodi nickte. »Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Ihr der Stadt bisher Ehre gemacht habt. Nur das zählt, nichts sonst.«Yon hatte nicht geahnt, dass Casalodi die Schuldigkeit des Einzelnen der Gemeinschaft gegenüber so wichtig nahm und er wurde auch gleich eines Besseren belehrt, als dieser hinzufügte: »Der Capitano pflegt diejenigen großzügig zu belohnen, die sein Ansehen in der Stadt mehren, wisst Ihr.« »Ich fürchte, mir ist entgangen, woraus diese Belohnung besteht«, bemerkte Micheletto.»Macht«, antwortete Casalodi. »Und Einfluss.«»Damit braucht Ihr Ser Moreno nicht kommen«, bemerkte Micheletto spöttisch. »Ich habe noch nie einen Mann kennengelernt, der sich weniger aus diesen Dingen macht, als er.«Mastino streckte eine Hand aus und ergriff Casalodis Schulter. »Merkt Euch diese Worte, Pinamonte«, sagte er, »denn sie sind wahr. Ser Moreno ist nicht bestechlich.«Am Eingang entstand Unruhe, als die Diener einen neuen Gast hereinführten. Yon wandte den Kopf Richtung Tür und sah einen Geist.Ein Gesicht in der Menge, eines unter vielen, die sich im Saal drängten. Das Ganze dauerte höchstens zwei Herzschläge, vier stolze Schritte durch die dicht gedrängten Gäste, aber Yon erstarrte und sein Magen sackte durch bis zu seinen Kniekehlen. Er sah noch einmal hin in der wahnwitzigen Hoffnung, dass ihm sein Verstand das Bild nur vorgegaukelt hatte. Der Mann schaute zurück. Starrte zurück, was aber vielleicht nur daran lag, dass er ebenso wie Yon das Gefühl hatte, eine Erscheinung zu sehen, die gar nicht da sein konnte.Dann war er wieder genauso plötzlich verschwunden, als wäre er im Gedränge untergegangen und Yon blieb bis ins Mark erschüttert zurück.Konnte es allen Ernstes sein?Die Haare waren anders. In Yons Erinnerung war das Gesicht immer glatt rasiert und von einem streng zurückgebundenen Haarschopf umrahmt, weshalb er wohl etwas länger gebraucht hatte, es unter dem säuberlich gestutzten Bart und der offen getragenen nachtschwarzen Mähne wiederzuerkennen. Vielleicht hätte er die Verbindung trotzdem nicht ziehen können, hätte er nicht einen Augenblick die unverwechselbare Präsenz des Mannes gespürt, die jeden Raum vereinnahmte, den er betrat.Santiago de Cabrera. Sein Bruder, der ihn mit einem Fingerschnippen an den Galgen bringen konnte.Vor zehn Jahren hatten sich ihre Wege auf eine Weise getrennt, die kein Wiedersehen zuließ. Yon hatte gewusst, dass er ein Risiko einging, wenn er in Verona blieb, doch er hatte den Gedanken an die Konsequenzen von sich geschoben. Nun saß er in der Falle. Er rückte unauffällig näher an den Pulk der Kaufleute heran, versuchte, sich zwischen ihnen unsichtbar zu machen.Mastino della Scala hatte Santiago erspäht und trat ihm lächelnd und mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Willkommen zurück, Capitano.« Die beiden Männer umarmten sich wie Brüder.Ein Kribbeln kroch Yons Wirbelsäule hinauf. Als er verstohlen hinschaute, sah er  Santiagos Blick auf sich gerichtet. Sein zweifarbiges Auge schien Blitze zu schleudern, ein Eindruck, der vermutlich nur vom flackernden Licht der Kerzen hervorgerufen wurde. Trotzdem wünschte sich Yon, ein Loch möge sich im Boden auftun und ihn verschlingen.»Wie mir berichtet wurde, habt Ihr während meiner Abwesenheit nicht an Langeweile gelitten«, bemerkte Santiago. »Die Verräter sind verurteilt und hingerichtet, nehme ich an.«Mastino nickte. »Gewiss. Kommt, ich möchte Euch mit Ser Moreno bekannt machen. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, das Komplott aufzudecken. Ser Apollon konnte ihn für seine Kanzlei gewinnen.«Yon blieb nichts anderes übrig, als vorzutreten. Seine Kehle war wie ausgedörrt und so beschränkte er sich auf eine stumme Verbeugung.Santiago musterte ihn ungläubig. Sein Blick ging von Yon zu Mastino und wieder zurück. »Das ist der Mann, der sich Yon Moreno nennt …? Gott.«»Ja, das ist Ser Moreno«, fiel Micheletto ihm ins Wort. »Ser Apollon betrachtet ihn als wichtiges Mitglied der familia.«Santiago schien etwas erwidern zu wollen, doch Micheletto sah ihn unverwandt an, bis Santiago sich schließlich abwandte und die Lippen grimmig aufeinanderpresste.Yon hätte am liebsten einen erleichterten Seufzer ausgestoßen, doch er riss sich zusammen. Er dankte Micheletto mit einem kurzen Nicken für die Rettung und machte, dass er aus Santiagos unmittelbarer Reichweite kam.Mastinos Majordomus erschien und mit ihm wehte der Duft nach gewürztem Fleisch, schmelzendem Käse, Olivenöl und warmem Brot herein und ließ den Gästen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Mastino löste sich von der Gruppe der Männer und schlenderte zu seinem obersten Hofbeamten hinüber, der leise auf ihn einredete. Mastino sah sich um, entdeckte Yon und winkte ihn zu sich. Seine träge, amüsierte Miene war verschwunden. »Kommt mit«, sagte er knapp.Yon folgte ihm hinaus in den Korridor. Von der Treppe her kam ihnen einer der Wachsoldaten entgegen, einen verängstigt dreinblickenden jungen Mann im Schlepptau. Yon stutzte. Der Bursche gehörte zum Haushalt des Notars Eliodoro Galdi, mit dem Yon in den vergangenen Wochen recht gut bekannt geworden war.»Was ist geschehen?«, fragte Mastino della Scala barsch.»Ser Galdi«, stotterte der Diener. »Mein Herr ist … verschwunden.«»Was soll das heißen, verschwunden? Wie kommst du auf diesen Gedanken?«»Er hätte heute Abend eine Verabredung mit einem wichtigen Klienten gehabt, bloß ist er nicht erschienen.«Mastino runzelte die Stirn. »Es sieht Ser Galdi nicht ähnlich, eine geschäftliche Absprache zu vergessen.«»Seine liebsten Stiefel fehlen, aber sein Mantel ist da«, fuhr der Bursche fort. »Die Tür seiner Schlafkammer ist verschlossen, was dafür spricht, dass Ser Galdi ausgegangen ist. Für gewöhnlich hinterlässt er mir jedoch eine Nachricht, wann ich ihn zurückerwarten kann. Aber da war nichts …«»Du kannst lesen?«, fragte Mastino. »Hat Galdi dir das beigebracht?«»Ja, Herr.«Mastino drehte sich zu Yon um. »Nun, mein lieber Yon, es scheint, als hättet Ihr hier Eure erste Aufgabe. Findet heraus, was mit Ser Galdi geschehen ist.«»Ich kümmere mich darum«, sagte Yon, der nur zu froh war, dem Bankett entfliehen zu können.Mastino machte eine zustimmende Geste. »Ich erwarte Euren Bericht«, sagte er und kehrte in den Bankettsaal zurück.Yon wandte sich dem Burschen zu. »Wie heißt du?«, fragte er.»Benedetto, Herr. Benedetto d´Angelo Venturelli.«»Schön. Benedetto d´Angelo Venturelli. Ich werde dir jetzt eine Reihe von Fragen stellen und du bemühst dich bitte, sie so genau wie möglich zu beantworten.«»Ja, Herr.«»Wann hast du Ser Galdi zum letzten Mal gesehen?«»Das war gestern Abend, Herr. Ser Galdi erwähnte, dass er auszugehen gedenke und meine Dienste nicht mehr benötigt würden. Er gab mir ein paar Münzen und sagte, ich könne mir bis zum nächsten Morgen freinehmen. «»War das ungewöhnlich?«»Nein, Herr.«»Du bist also heute Morgen in die Casa Galdi zurückgekehrt. Was geschah dann?«»Ich ließ Ser Galdis Haushälterin ein, damit sie mit den Vorbereitungen zum Mittagsmahl anfangen konnte, und ging meiner Arbeit nach. Mir hätte schon da auffallen müssen, dass es im Haus zu still war, aber …« Er brach kopfschüttelnd ab.»Du hast dir nichts dabei gedacht, weil Ser Galdi öfter die Zeit vergisst, wenn er die Nacht mit einer hübschen Dame verbringt, richtig?«, beendete Yon den Satz für ihn.Benedetto nickte verlegen und sah auf seine Schuhspitzen.»Erzähl weiter.«»Ser Galdi versäumt jedoch nie eine Verabredung mit einem Klienten«, murmelte Benedetto. »Als er weder zum Essen noch zu seiner Verabredung erschien, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich habe im ganzen Haus nach ihm gesucht, vom Weinkeller bis unter das Dach. Ich habe an die Tür seiner Schlafkammer geklopft ... nun ja, eher gehämmert, ohne Erfolg.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Verzeiht mir, Herr, ich ... Was denkt Ihr, was geschehen ist?«»Ich weiß nicht.« Yon schüttelte den Kopf und seufzte.»Kommt mit, Herr. Bitte!«Yon schickte nach Soldaten und ließ Micheletto holen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er sich auf eine unangenehme Überraschung gefasst machen musste.

2

Geführt von dem jungen Diener marschierten Yon und Micheletto mit ihren vier Soldaten schnell und schweigend durch die noch immer belebten Straßen der Stadt zum Haus des Notars Eliodoro Galdi in der Via Cappelletta.Zwei brennende Lampen hingen neben der Eingangstür aus nietenbeschlagenem Eichenholz. Yon ließ seinen Blick entlang der Fassade nach oben wandern. Einmal mehr fiel ihm auf, wie schwindelerregend gleichförmig die Straßen von Verona waren. Alle Wände waren aus demselben Stein gehauen, mit Marmor verkleidet, gelegentlich unterbrochen von Fresken und den verblichenen Farben der Mosaike in den halb verfallenen alten Mauern. Verona war kein üppiger Ort, die grünen Gärten der Reichen waren vor den neugierigen Blicken der einfachen Leute durch hohes Mauerwerk abgeschirmt. Selbst vom Glockenturm der Kathedrale aus waren kaum Bäume oder gar Büsche zu sehen, sondern nur bleicher Stein, Marmor und Ziegeldächer.Benedetto hatte den Schlüsselbund von seinem Gürtel gelöst, doch er fummelte derart ungeschickt herum, dass Yon es nicht mehr mit ansehen konnte. Er nahm ihm kurzerhand die Schlüssel ab, schloss die Pforte auf, nahm eine Lampe vom Haken neben dem Eingang und ließ seine Männer eintreten. Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte, aber gewiss nicht den heimeligen, von Gebäuden umschlossenen Innenhof, in dem blakende Fackeln eine Reihe kostbarer Gewächse in tanzende Schatten auf den Marmorfliesen verwandelte. Rechter Hand führte eine Treppe zu den Repräsentationsräumen im ersten Stock, deren oberes und unteres Podest sorgfältig inszenierte Begrüßungszeremonien gestattete. Links von ihm ragte ein Wirtschaftsgebäude auf, von der Stirnseite warf das Wohnhaus mit seinen doppelten Bogenfenstern seinen Schatten in den Hof. Dazwischen lag die Kapelle, und weinberankte, steinerne Arkaden verbanden die Eingangstür und die Gebäude miteinander.Yon befahl seinen Männern, das Untergeschoss zu durchsuchen. Er selbst blieb unter den Arkaden zurück, er konnte am besten denken, wenn er allein war. Er sah sich um. Ein gewölbter Durchgang zu seiner Rechten führte vermutlich in die Küche, daneben befand sich Benedettos Schlafkammer, wusste er. Er probierte die linke Tür. Galdis Kanzlei war verschlossen. Yon suchte nach dem richtigen Schlüssel und trat ein. Anstelle der üblichen Binsen lag direkt hinter der Tür ein grob gewebter Läufer auf dem Boden. Yon ging weiter in das Zimmer hinein. Es machte beinahe die Hälfte des Wirtschaftsgebäudes aus. Tagsüber gewiss ein freundlicher, offener Raum mit großzügigen, auf den Hof hinausgehenden Fenstern, die jetzt mit hölzernen Läden verschlossen waren. Ein mit Büchern gefülltes Regal nahm eine komplette Wand ein.Yon stellte seine Lampe auf den massiven Schreibtisch und sah ihn sich näher an. Ein sorgfältig verarbeitetes Stück mit einem passenden Stuhl dazu. Er setzte sich.In der Mitte des Raumes stand ein weiterer Tisch mit zwei Schreibpulten, jedes bestückt mit Tintenbehälter, Bimssteinen und Schreibfedern. Hier saßen tagsüber Galdis Gehilfen. Yon zupfte an den säuberlich zugeschnittenen Pergamentbögen herum, die akkurat  gestapelt auf dem Tisch lagen. Sie waren mit Hilfslinien versehen und offensichtlich  für eine Reihe von Urkunden bestimmt. Galdi schien nicht unter einem Mangel an Kunden zu leiden.Als Micheletto rief, stand er auf und ging in den Hof. Wie erwartet, hatten die Soldaten nichts Verdächtiges gefunden. Sie stiegen in das obere Stockwerk hinauf, durchquerten die Halle, spähten in alle Räume und versammelten sich schließlich vor der Schlafkammer des Hausherrn. Die Tür war aus schwerem Ulmenholz mit stabilen Lederscharnieren. Micheletto donnerte mit der Faust dagegen, dass es Tote hätte aufwecken können. »Ser Galdi! Wenn Ihr uns hören könnt, öffnet diese Tür!« Nichts rührte sich.»Dick wie ein Franzosenschädel«, murmelte Micheletto. »Es wird ein hartes Stück Arbeit, sie aufzubrechen.«»Wir kommen nicht darum herum«, sagte Yon. »Gibt es hier irgendwo geeignetes Werkzeug?«Benedetto nickte. »In der Kapelle, Herr. Wir haben Steinmetze im Haus, die den Chor verschönern sollen. Sie haben ihre Gerätschaften in der Sakristei gelagert.«Zwei der Soldaten gingen los, um sich in der Kapelle umzusehen. Sie brachten schwere Schlägel herbei und begannen, damit auf die Tür einzuhämmern.»Konzentriert euch auf die Scharniere«, sagte Yon.Inzwischen war er tief besorgt. Eliodoro Galdi stand in den besten Jahren und hatte einen robusten Eindruck gemacht. Was die Möglichkeit eines überraschenden Anfalls jedoch nicht ausschloss. Einmal mehr wanderten seine Gedanken zu Ada und er wünschte sich, die junge Ärztin an seiner Seite zu haben. Sie war kompetent und erfahren auf einem Gebiet, auf dem er sich nur unzureichend auskannte.Doch Ada war abgereist. Ein Plan, den sie zuvor mit keiner Silbe erwähnt hatte. Hatte seine vermeintliche Abreise sie aus der Stadt vertrieben? Sei nicht vermessen, schalt er sich. Sie hat dich ohne das geringste Bedauern gehen lassen. Oder doch nicht? Der Abschiedskuss, den sie ihm mit auf den Weg gegeben hatte, war alles andere als unschuldig gewesen und einer der Gründe, warum es ihm nicht gelang, sie aus seinen Gedanken zu verbannen.Plötzlich gab es einen Knall. Die Tür verzog sich. Das obere Scharnier war gebrochen. Die Soldaten schlugen nun auf das untere Scharnier ein, das abrupt abriss.Die Männer drückten die Tür nach innen. Yon und Micheletto schoben sich eilig  an ihnen vorbei und betraten die opulent eingerichtete Schlafkammer. Es gab einen Kamin, einen Tisch mit zwei Stühlen, ein Himmelbett mit schweren Bettvorhängen und eine Truhe für Kleidung am Fußende des Bettes.Das Feuer im Kamin war fast heruntergebrannt, die Kerzen auf ihrem Halter erloschen. Micheletto ging zum Kamin und schürte das Feuer, bis es wieder hell brannte und die flackernden Flammen die Dunkelheit im Raum zurückdrängten. Langsam ging Yon um die Truhe herum.Dann sah er den Toten.Yon hob die Hand. »Bleibt zurück«, gebot er den Soldaten. »Und fasst nichts an. Micheletto, mach Licht.«Micheletto gehorchte. Er entzündete die Kerzen auf dem mehrarmigen Leuchter und brachte ihn zu Yon. »Du meine Güte«, entfuhr es ihm.Der Leichnam lehnte sitzend, in aufrechter Position, am Seitenbrett des Bettes. Der Kopf war in den Nacken gerutscht, das Kinn stand vor, wie eine Zinne. Der Mund war offen, als hinge der letzte Schrei des Toten noch in der Luft. Der Mann hatte keine Augen mehr. Dort, wo sie einmal gewesen waren, befanden sich nur noch zwei milchig trübe Kugeln. Keine Pupillen, keine Farben, kein Blick. Gar nichts. Wie ein groteskes Ding saß er da. Einer der Augäpfel war so zerstört, dass er begonnen hatte auszulaufen. Das Gewebe in der Augenhöhle, rund um die Nase und um den Mund war rot und angeschwollen, als hätte den Toten ein Wespenschwarm überfallen. Es war nur noch zu erahnen, wie er einmal ausgesehen hatte.Yon starrte den Leichnam an. Er trug Beinlinge, weiche Hausschuhe, ein Hemd und darüber einen langen Hausmantel. Am Boden neben der Leiche stand eine Pfütze. Yon fühlte vorsichtig an einem Beinling. Er war durchnässt. Auch das Hemd und der Mantel. Erst dachte er an Urin, doch dann sah er, dass sogar die Haarsträhnen, die dem Toten an der Stirn klebten, nass waren.»Ist das Ser Galdi?«, fragte Micheletto.Yon hockte sich nieder und betrachtete den unversehrten Teil des Gesichts. »Schwer zu sagen. Aber da es sich um Galdis Haus und seine Schlafkammer handelt, können wir wohl davon ausgehen.« Er zog einen Pelz von Bett herunter und bedeckte damit den Kopf des Toten. »Benedetto, komm einmal her.«Der Diener gehorchte zögernd.»Erkennst du diese Kleidungsstücke? Gehören sie Ser Galdi?«Benedetto starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Toten und nickte. »Wer ... wer hat das getan?«, stammelte er.»Das werden wir herausfinden«, erwiderte Yon. »War dein Herr Junggeselle?«»Er war einmal verheiratet. Aber seine Frau starb vor Jahren an einem Fieber. Andere Verwandte hatte er nicht.«Yon erhob sich und sah sich im Zimmer um. »Ich brauche mehr Licht.«Wortlos entzündete Micheletto weitere Kerzen und verteilte sie im Raum. Dabei schien ihm etwas aufzufallen, denn er winkte Yon herbei und zeigte ihm eine Reihe weißer Spritzer am Türrahmen und der Wand.Yon nahm eine Kerze, beugte sich über den Boden und betrachtete ihn eingehend. In den Ritzen der Bodenbretter fand sich eine helle, pulvrige Substanz.»Branntkalk«, stellte Yon fest.Micheletto nickte. »Du hast recht.«Yon drehte sich zu Benedetto um. »Sagtest du nicht etwas von Arbeiten in der Kapelle?«»Ja. Ser Galdi hat Verschönerungsarbeiten vornehmen lassen, damit seine neue Heiligenfigur besser zur Geltung kommt.«»Ich schätze, wir sollten uns die Kapelle näher ansehen, wenn wir hier fertig sind.«Yon richtete sich auf und setzte seinen Rundgang durch den Raum fort. Auf einer Truhe entdeckte er einen Eimer, der seltsam deplatziert wirkte. Er spähte hinein und runzelte die Stirn.Micheletto sah zu ihm herüber. »Was hast du, Yon?«Yon hob den Eimer hoch, trug ihn zum Tisch und drehte ihn herum. Ein schlichter Rosenkranz glitt mit leisem Klappern auf die Tischplatte.Benedetto riss die Augen auf. »Das ist nicht Ser Galdis Rosenkranz.«»Was ist mit dem Eimer?«, fragte Yon.»Oh, der gehört hierher«, erwiderte der Diener. »Mein Herr besteht darauf, dass immer ein gefüllter Wassereimer neben dem Kamin bereitsteht. Für Notfälle.«»Da drüben«, Yon streckte den Finger aus, »ist also der Kamin, wo der Eimer zu stehen hätte.«»Ja«, sagte Micheletto. »Aber jemand hat ihn auf der Truhe platziert, damit wir  den Rosenkranz finden. Warum?«»Ein Zeichen? Eine Nachricht des Mörders?«»Die wir nicht verstehen.«»Noch nicht«, sagte Yon. »Aber wir werden schon dahinterkommen.«Er ging zur Tür, rief einen der Soldaten zu sich und trug ihm auf, den Zunftkonsul der Richter und Notare vom Ableben seines Zunftbruders zu unterrichten. Da Ser Galdi keine Verwandten besaß, war es die Aufgabe der Gilde, sich um die Vorbereitung zur Beisetzung zu kümmern. »Und sieh zu, dass du einen Karren für den Transport der Leiche auftreiben kannst.«Schließlich wandte er sich dem jungen Benedetto zu, der mit hängenden Armen dastand und nicht recht zu wissen schien, was er als Nächstes tun sollte. »Führe mich zur Kapelle«, sagte Yon.Galdis Hauskapelle lag am anderen Ende des Flurs. Yon schob die Tür auf und sah sich in dem weiß gekalkten Raum um. Zwei bunt bemalte Heiligenfiguren, ein Weib und ein Bärtiger, wachten in gegenüberliegenden Nischen über die Gläubigen, zu Füßen des Bärtigen war eine schlichte Halterung für Opferlichter angebracht. Auf einem der Dorne steckte eine dicke Wachskerze, die im Luftzug tropfte und flackerte. Konnte Elio sie entzündet haben, bevor er am Abend seine Schlafkammer aufgesucht hatte? Nein, befand Yon. Die Kerze hätte dann vollkommen heruntergebrannt sein müssen. Wahrscheinlicher erschien ein Zeitpunkt in den frühen Morgenstunden.»War es Ser Galdis Gewohnheit, eine Morgenandacht zu verrichten?«, fragte er Benedetto.»Ja, Herr. Ser Galdi kam jeden Morgen hierher. Er hat diesen Ort geliebt.«Yon nickte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und überlegte es sich dann anders. Er wies mit der Linken auf das figurenreiche Steinrelief, das auf halber Höhe die Wand unter den schmalen, hohen Fenstern zierte. »Eliodoro Galdi scheint große Pläne hinsichtlich der Ausgestaltung seiner Kapelle gehabt zu haben. Dieses Werk trägt die Handschrift von Meister Pisano. Höchst bemerkenswert.«Micheletto stieß ein nichtssagendes Brummen aus. Vermutlich hatte er noch nie von Meister Niccolò Pisano gehört und wusste nicht, wie schwierig es war, den viel beschäftigten Bildhauer zu verpflichten. Die beiden Männer setzten ihren Rundgang fort. Überall stapelten sich Werkzeuge und Baumaterialien der Handwerker. In der Sakristei fand Yon einen Bottich, der zur Hälfte mit Branntkalk gefüllt war. Er zeigte ihn Micheletto. »Die Mordwaffe stammt eindeutig von hier.«»Ja. Nur leider verrät uns das nicht, wie sie in Galdis Schlafkammer gekommen ist.«»Wir müssen die Handwerker befragen.«»Ganz recht.«»Wer außer ihnen wusste von dem Kalk? Wer hätte Gelegenheit gehabt, sich unbemerkt aus dem Bottich zu bedienen?«Micheletto schaute zu Benedetto. »Er ist ebenfalls verdächtig, oder?«Yon hob vielsagend die Schultern. »Ich denke, wir stecken ihn über Nacht ins Verlies. Nicht, dass er uns abhandenkommt.«Es klopfte. Auf Yons Aufforderung öffnete sich die Tür, und Flavio di Girolami, sein oberster Büttel, trat über die Schwelle, gefolgt von Giuseppe und Pietro, die eine Bahre mit sich führten.»Ser Yon, wir stehen Euch zur Verfügung.«Yon schickte die beiden Soldaten in Galdis Schlafkammer, um die Leiche aufzuladen. Während Micheletto Benedetto im Auge behielt, nahm Yon Flavio beiseite.»Ist es wahr, dass der ehrenwerte Ser Elio Galdi ermordet wurde?«, fragte der Büttel.»Ja.«»Zur Hölle mit dem feigen Hund, der das getan hat!«, knurrte Flavio.Yon legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Du sollst drei Dinge für mich tun, Flavio. Erstens: Schicke deine Männer zu den Nachbarn und versuche herauszufinden, wer Ser Galdi zuletzt gesehen hat. Micheletto wird euch begleiten, damit niemand sagen kann, dir fehle es an der nötigen Autorität. Zweitens: Finde Ser Galdis Schreiber und bestelle sie zum Verhör ins Rathaus. Und drittens: Ich wünsche, dass du Galdis Burschen, Benedetto, in Gewahrsam nimmst. Sperre ihn in eines der unteren Verliese, aber gib ihm Wasser und etwas zu essen.«»Warum, Messèr Yon? Was hat er getan?«»Das weiß ich noch nicht genau. Aber ich will ihm gleich die Flausen austreiben, damit er nicht glaubt, mir bei der Befragung morgen irgendwelche Lügenmärchen auftischen zu können.«

3

Yon schlief schlecht in dieser Nacht, was jedoch wenig mit dem grausamen Anblick von Galdis Leiche zu tun hatte. Dergleichen hatte er auf unzähligen Schlachtfeldern gesehen. Damit konnte er umgehen. Es war die unerwartete Begegnung mit seinem Bruder, die wie ein Felsen auf seiner Seele lastete. Er hatte gewusst, dass eine Konfrontation mit Santiago unvermeidlich gewesen war, doch wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er einen weniger öffentlichen Ort gewählt. Noch immer drohte sein Herzschlag auszusetzen, wenn er an diesen fürchterlichen Augenblick im Bankettsaal dachte, in dem seine Zukunft, ja sein Leben an einem seidenen Faden gehangen hatte. Zu seiner Überraschung hatte Santiago geschwiegen – für den Moment. Was geschehen würde, sollte sein Bruder sich entschließen, die Waffenruhe zu beenden, wollte Yon sich nicht ausmalen.Er verließ sein Bett, kleidete sich in Beinlinge, Stiefel und eine schlichte Tunika aus dunkler Wolle. Waffengurt und Soldatenmantel vervollständigten seine Ausrüstung. Einen Moment lang dachte er darüber nach, Micheletto eine Nachricht zu schicken, doch dann ließ er es bleiben. Sein Besuch bei Santiago war seine Angelegenheit und ging niemanden etwas an.Der Mond war gerade untergegangen und hatte einen samtenen Mantel über die Stadt gebreitet, als er sein Pferd aus Claudias Stall führte. Sein Atem bildete weiße Wolken in der kalten Luft. Yon sah zum Himmel auf, an dem unzählige Sterne funkelten. Sein Aufbruch hätte noch gute zwei Stunden Zeit gehabt. Selbst wenn er langsam ritt, würde er vor Tagesanbruch an seinem Ziel ankommen. Aber das war ihm gleichgültig. Er musste sich bewegen, musste etwas tun, sonst verlor er über seinen Grübeleien noch den Verstand.Er ließ sich von Claudias verschlafenem Stallknecht eine Fackel reichen und führte sein Pferd am Zügel durch die stillen Straßen. Die Stadttore waren geschlossen, aber dank seines neuen Status öffnete ihm der Torwächter ohne großes Gewese die Fußgängerpforte. Nachdem er das Tor passiert hatte, stieg er auf und machte sich auf den Weg ins Valle del Tasso, dem Besitz seines Bruders.Yon ritt langsam am Ufer der Adige entlang, die in dieser Nacht sanft dahinplätscherte. Ein leiser Geruch wie nach Schnee hing in der Luft. Ein feiner Nieselregen fiel, manche von den Tropfen glitzerten weiß im Fackelschein, und wenn sie auch nicht liegen blieben, erinnerten sie doch nachhaltig daran, dass der Winter das Land jederzeit mit Eis und Kälte überziehen konnte. Yon hoffte, dass dieser Tag noch fern war. Wenn der Schnee zu früh kam, würde Ada vermutlich bis zum Frühling auf der Burg ihres Vaters bleiben und diese Zeit kam ihm plötzlich ungeheuer lang vor. Was sie wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass er Verona nicht verlassen hatte?Nimm dich zusammen, schalt er sich. Er konnte es sich nicht leisten, mit dem Kopf in den Wolken durch die Gegend zu reiten. Er hob die Fackel und warf einen Blick rundum, um sich zu orientieren. Wenn er sich recht erinnerte, musste er in Kürze eine Weggabelung erreichen, die ihn vom Flussufer wegführen würde. Er ließ sein Pferd im gleichen gemächlichen Tempo weiterlaufen und so zeigte sich schon ein Hauch von Grau am Horizont, als er den Eingang ins Valle de Tasso erreichte. Er zügelte sein Pferd und betrachtete das Bild, das sich ihm bot und das kaum noch etwas mit seiner Erinnerung gemein hatte.Was vor zehn Jahren nicht mehr als ein schmaler Pfad gewesen war, der sich in willkürlichen Wendungen ins Tal geschlängelt hatte, war einer gepflasterten Straße gewichen, die beinahe schnurgerade auf das Eingangstor von Santiagos befestigtem Gutshaus zulief. Von seinem erhöhten Standort aus hatte Yon einen guten Blick auf Wachtürme und die Dächer der Gebäude, deren Anzahl sich verdoppelt zu haben schien. Ein schwacher Lichtschein verriet ihm, dass die Wachtürme besetzt waren. Santiago würde schon lange, bevor er das Tor erreichte, von seiner Ankunft erfahren. Nun, das ließ sich nicht ändern.Yon setzte sein Pferd wieder in Bewegung. Es war ein wenig heller geworden, doch nicht sehr viel. Schwere, hell und dunkelgrau getupfte Wolken hingen über den abgeernteten Weinbergen. Die Hufe seines Pferdes klapperten über die Brücke, die den Wassergraben überspannte. Die Tore standen einladend offen und Yon ritt ungehindert in den Hof ein. Santiagos Skorpione gingen ihrem Tagewerk nach, ohne seine Ankunft sonderlich zu beachten. Aber Yon war sicher, dass er beobachtet wurde. Gewiss war der Wehrgang mit Bogenschützen bemannt, die mit ihren Pfeilen auf ihn zielten.Mit langsamen, gemessenen Bewegungen saß er ab. Ein Knecht erschien, griff nach den Zügeln seines Pferdes und führte es weg. Unschlüssig blieb Yon mitten im Hof stehen. Wie aus dem Nichts tauchten drei Skorpione an seiner Seite auf. Der Erste zeigte stumm auf sein Schwert und machte eine auffordernde Geste. Yon löste seinen Gürtel und reichte ihm die Waffe.»Folgt uns!«Sie nahmen ihn in die Mitte und führten ihn in die Wohnhalle. Yon erspähte seinen Bruder, der mit dem Rücken zur Tür vor dem Kamin stand und sich mit einer Hand am Kaminsims abstützte. Jetzt drehte er sich langsam herum und richtete seinen ausdruckslosen Blick auf Yon. »Durchsucht ihn!«Die Skorpione kamen feixend auf ihn zu, aber Yon tat ihnen nicht den Gefallen, Widerstand zu leisten. Schweigend und ohne Gegenwehr ließ er die Durchsuchung über sich ergehen. Er konnte Santiago sein Misstrauen nicht einmal übel nehmen. Unter umgekehrten Vorzeichen hätte er ebenso gehandelt.»Nichts, Capitano«, meldete einer der Skorpione schließlich. »Er ist unbewaffnet.«Santiago neigte in einer knappen Geste den Kopf und die Soldaten zogen sich zurück.Yon rührte sich nicht und sagte kein Wort.Sein Bruder starrte ihn an und sein rechtes Auge hatte einen kalten, seltsam leblosen Glanz wie von nassem Schiefer. Sein linkes Auge mit dem blauen Fleck in der dunklen Iris wirkte frostig. »Raoul.« Santiagos Stimme klang flach, tonlos, wie die eines Mannes, der kaum noch zu atmen vermochte. »Was willst du?«Yon legte eine Hand auf sein Herz und verbeugte sich höflich. »Ich bin gekommen, um Euch zu danken, Signore. Für Euer Schweigen.«Die Worte schienen Santiago zu überraschen. Er stieß einen seufzenden Atemzug aus. »Weiter. Was noch?«»Nur meinen Dank. Und vielleicht ... eine Bitte.«»Ich höre.«»Ihr habt Raoul damals begnadigt. Nun lasst ihn auch in Frieden sterben.«Santiago sagte nichts. Er stand da wie ein Fels, doch seine Arme hingen kraftlos herunter. Schließlich sagte er: »Ich habe von Yon Moreno gehört. Ich dachte, er sei ein Mann, den ich achten könnte. Nun bin ich mir dessen nicht mehr sicher.«Yons Kehle war mit einem Mal wie zugeschnürt. Er hatte mit zornigen Vorwürfen gerechnet, mit Drohungen. Damit konnte er umgehen. Doch dieser ruhigen Ablehnung hatte er nichts entgegenzusetzen.»Ich bin Yon Moreno«, sagte er.Santiago schüttelte den Kopf. »Bedaure, Raoul, es fällt mir schwer, das zu glauben.«Yon sah zu Boden. »Ich verstehe.«Santiago schnaubte. »Warum Verona, du elender Halunke? Du hättest nach Venedig gehen können, nach Burgund, nach Outremer. Warum musste es ausgerechnet Verona sein?«»Es war nicht meine Wahl.«»Was du nicht sagst.«Yon sah auf. »Ich bin mit Herzog Konradins Heer gekommen. Ich dachte, es ginge nur um ein paar Wochen Winterruhe, bevor wir weiterziehen.«Sein Bruder warf ihm mit hochgezogenen Brauen einen Blick zu. »Du gehörst nicht mehr zum Heer des Herzogs, habe ich mir sagen lassen.«»Nein.«»Was denkst du, Raoul?«, fragte Santiago. »Ist es nicht an der Zeit, mit all dem heuchlerischen Gebaren aufzuräumen und uns auf Ehrlichkeit zu besinnen, die Gott gefällig ist?«Yons Kiefermuskeln waren auf einen Schlag wie versteinert, und er wusste, er war kreidebleich geworden. Hatte Claudia mit seinem Bruder gesprochen, ihm gar die wahren Gründe für seine Rückkehr nach Verona genannt? Bei ihr wusste man nie, obwohl Yon ihr so viel Hinterhältigkeit nun doch nicht zutraute. Er sah seinem Bruder in die Augen, versuchte, zu erkennen, was dieser dachte, doch das Unterfangen war fruchtlos. Yon seufzte tonlos, dann verneigte er sich vor Santiago. »Ich gebe Euch völlig recht, Signore. Ich weiß, dass Ihr Euch meiner nicht als eines Mannes erinnert, dessen herausragende Eigenschaft Aufrichtigkeit gewesen wäre. Doch ich versichere Euch, dass die vergangenen zehn Jahre mich einiges gelehrt haben. Mir gefällt die Aufgabe, die Ser Apollon mir übertragen hat. Ich möchte sie ausführen, so gut ich es vermag. Ich bitte Euch lediglich um stillschweigende Duldung.«Santiago öffnete den Mund, als wolle er etwas erwidern, dann zögerte er und warf Yon einen prüfenden Blick zu. »Aus deinen Worten schließe ich, dass Mastino della Scala nicht weiß, wer sich hinter Yon Moreno verbirgt.«»Ser Apollon und Madonna Claudia hielten es für besser, ihn nicht einzuweihen.«»Apollon und Claudia. So, so. Du hast mächtige Fürsprecher, wie mir scheint.«Yon schnitt eine Grimasse. »Argwöhnische Beobachter trifft es wohl eher.«Santiago nickte, und es war unmöglich zu erraten, was er dachte. »Imre Talarico wusste über deine Arbeit nichts Schlechtes zu sagen.«Dafür gewiss über andere Dinge, dachte Yon. »Du musst Talent für dieses Amt haben, wenn Ser Apollon bereit ist, deine Vergangenheit zu übersehen. Solche Nachsicht sieht ihm nicht ähnlich.«»Ich habe nicht um die Aufgabe gebeten. Aber ich bin bereit, es zu versuchen.«Santiago trat zu einem der Sessel vor dem Kamin, blieb aber dahinter stehen, als brauche er ein Bollwerk und legte die Hände auf die Rückenlehne. »Ich weiß nicht, ob ich dir vergeben kann, Raoul«, sagte er. »Du hast meine Gemahlin entjungfert und alles darangesetzt, mich zu ermorden. Glaubst du, das vergisst man so leicht?«Yons Herzschlag beschleunigte sich, aber er klammerte sich an seine Maske der Gelassenheit. »Ich fürchte, Ihr habt da eine Kleinigkeit falsch in Erinnerung. Ich bestreite nicht, mit Eurer Gemahlin das Bett geteilt zu haben. Aber es geschah zu einem Zeitpunkt, da wusstet Ihr noch nicht einmal, dass sie existiert. Wollt Ihr mir zum Vorwurf machen, dass ich eine hübsche Frau begehrt habe?«Santiago starrte ihn schweigend an und Yon sank der Mut. Er erkannte, dass er Santiagos Groll unterschätzt hatte und das beschämte ihn im gleichen Maße, wie es ihn mit bösen Vorahnungen erfüllte.Unbewusst wechselte er in das Katalanisch ihrer Heimat. »Ich ahnte nicht, dass unser Onkel mir die Ermordung meines eigenen Bruders aufgetragen hatte«, sagte er. »Das ist keine Entschuldigung, ich weiß. Aber gleichwohl ist es die Wahrheit.«»Und wenn es dir klar gewesen wäre?«, fragte Santiago. »Wie hättest du dich dann entschieden?«Yon schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vermutlich hätte es nichts geändert. Ich kann nur sagen, wie sehr es mich beschämt, ein solcher Finsterling gewesen zu sein.«Santiago schwieg.Yon hob den Blick und studierte einen Moment Santiagos Gesicht. Es war ernst, wie er es kaum anders kannte, aber er entdeckte einen neuen Zug um den Mund, der vielleicht Bitterkeit, vielleicht auch nur Entschlossenheit ausdrückte, der seine Lippen schmal erscheinen ließ und nicht Gutes verhieß.Yon wartete gebannt.»Also schön«, sagte Santiago schließlich. »Meine stillschweigende Duldung sei dir gewährt. Aber es gibt eine Bedingung.«»Welche?«»Ich verlange eine schriftliche Zusage, dass du dich von meiner Familie und mir fernhältst. Setze ein Dokument auf, lass es von Claudia bezeugen und vergiss nicht, es zu unterzeichnen. Ich möchte es noch vor dem Weihnachtsfest in den Händen halten.«»Wie Ihr wünscht.«»Damit wir uns richtig verstehen: Ich zähle auch Renier und Ada Contarini zu meiner Familie. Du wirst dich von ihnen ebenso fernhalten, wie von den Offizieren der Skorpione.«Als Santiago verstummte, blickte Yon zu Boden, damit sein Bruder nicht sah, was er in ihm ausgelöst hatte. Der distanzierte Respekt, den er bislang für Santiago gehegt hatte, war mit erschütternder Plötzlichkeit in Widerwillen umgeschlagen. Und in Zorn. Dieser Zorn war so groß, übte solche Macht über ihn aus, dass Yon einen Moment glaubte, er müsste sich mit fliegenden Fäusten auf seinen Bruder stürzen. Aber er beherrschte sich und blieb, wo er war. Was hatte er erwartet?Dass Santiago ihm vergab und ihn mit offenen Armen willkommen hieß?Nicht einmal ein Heiliger hätte das fertiggebracht.Als er einigermaßen sicher war, dass er sich wieder trauen konnte, sagte er: »Ich bitte zu bedenken, dass Ada und Renier Contarini als die besten Ärzte in Verona gelten. Ich muss mit ihnen zusammenarbeiten, wenn ich ...«»Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen, denn mir ist es todernst mit meinen Bedingungen.« Santiago klatschte in die Hände und die beiden Skorpione, die Yon durchsucht hatten, betraten die Halle. Gewiss hatten sie vor der Tür gewartet.»Mein Besucher möchte gehen«, sagte Santiago. »Gebt ihm seine Waffen zurück und bringt ihn zum Tor.«Yon verneigte sich, die Hand auf der Brust, und ging vor den Skorpionen her zur Tür.