Mord mit Meerblick - Ranka Nikolić - E-Book
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Mord mit Meerblick E-Book

Ranka Nikolić

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Beschreibung

Hier wird gnadenlos gemordet - mitten in der Urlaubsidylle!

In der kroatischen Hafenstadt Rijeka wird ein Mann ermordet aufgefunden. Für Sandra Horvat und ihr Team von der Mordkommission wirft der Fall einige Fragen auf. Dass Sandra nebenbei auch noch die skurrilen Reibereien zwischen ihren Kollegen Milic´ und Zelenika in den Griff bekommen muss und einen neuen Kollegen anzulernen hat, macht die Sache nicht gerade einfacher. Danijel Sedlar ist ein Mann mit festen Meinungen, was zwischen den beiden für jede Menge Zündstoff sorgt. Leider ist er auch unverschämt attraktiv, sodass sie ihm nur schwer widerstehen kann …

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Buch

In der kroatischen Stadt Rijeka wird ein Mann namens Anton Paulić erstochen aufgefunden. Inspektor Sandra Horvat, die Leiterin der Ermittlungen, hat mit Zelenika und Milić zwei erfahrene Kollegen an der Hand, nur leider hegen die beiden eine leidenschaftliche Hassliebe füreinander und sorgen immer wieder für so manch schräge Situation.

Als wäre das nicht schon genug, muss Sandra auch noch einen neuen Kollegen ins Boot holen: Danijel Sedlar ist ein Mann mit unverrückbaren Standpunkten, was zwischen ihm und Sandra für jede Menge Zündstoff, aber auch für das ein oder andere Knistern sorgt. Dass er zudem noch unverschämt attraktiv ist, macht die Sache nicht gerade leichter. Gemeinsam ermitteln die vier in der sengenden kroatischen Sommerhitze, verhören Familie und Bekannte des Ermordeten und legen Paulićs abgründiges Leben Schicht für Schicht frei …

Autorin

Ranka Nikolić wurde 1966 in Rijeka geboren, kam im Alter von drei Jahren nach Deutschland und lebt heute mit ihrer Familie in München – allerdings nicht, ohne ihrer Heimat Kroatien, der sie sich nach wie vor sehr verbunden fühlt, mindestens drei Besuche im Jahr abzustatten. Sie begann bereits als Jugendliche mit dem Schreiben von Gedichten und Kurzgeschichten und gibt ihre Erfahrung heute als Leiterin von Schreibseminaren weiter. Mord mit Meerblick ist ihr erster Kriminalroman im Blanvalet Verlag.

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Ranka Nikolić

MORD

MIT

MEERBLICK

Ein Kroatien-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Das Zitat von Luka Benčić entstammt dem Online-Zeitungsartikel der »Jutarnji List« vom 15.06.2014 (http://www.jutarnji.hr/domidizajn/inspiracije/grad-rijeka/3481817/). Wir danken Herrn Benčić für die freundliche Genehmigung zur Übersetzung und zum Abdruck.
Copyright © 2017 by Ranka Nikolić> Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann. © 2017 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Ulrike Gallwitz Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: Getty Images/O-che; Getty Images/Daniel Lepadatu/EyeEm Karte: © Tina Strube

So ist Rijeka, völlig schizophren: Kirche, Gefängnis und

Kneipe zusammen auf ein paar Quadratmetern.

Sünde, Strafe und Vergebung (…) Rijeka ist eine Stadt,

die mehr Geschichte verschlungen hat, als sie verdauen

kann, was man bei jedem Schritt spürt – und man kann

nicht behaupten, dass das alles nicht einen

eigenen Charme hätte.

Luka Benčić, Journalist

Personenregister

DIE HAUPTFIGUREN:

Sandra Horvat, die ermittelnde Inspektorin der Mordkommission in Rijeka. Sie mag ihren Job, neigt aber auch zu Grübeleien.

Danijel Sedlar, der Neue im Revier. Er ist attraktiv, intelligent und denkt rational. Da er das Kino liebt, vergleicht er Menschen gerne mit Schauspielern oder Filmfiguren.

Mihajlo Zelenika, Sandras exzentrischer Kollege serbischer Abstammung. Sein derber Humor lockert so manche Situation auf.

Jakov Milić,ein weiterer Kollege vonSandra, derniemandem einen bissigen Kommentar schuldig bleibt. Er ist ein Muttersöhnchen und wohnt im Hotel Mama – und er steht dazu.

Vladimir Mandić, Sandras eigenwilliger aber fairer Vorgesetzter.

Ika, die Polizeirevier-Putzfrau: eine gute Seele, die ihre eigene Art hat, mit dem Leben fertig zu werden.

NatašaHorvat, Sandras Schwester, die für den großen Trip in die USA spart. Mit ihrer Schwester hat sie nur wenig gemeinsam.

Irma Horvat, Sandras Mutter, die es nicht lassen kann, an ihren Kindern herumzunörgeln und sie mit so manchen Skurrilitäten zu konfrontieren.

WEITERE PERSONEN:

Jelena Jurić, Freundin und Nachbarin von Sandra, arbeitet als Kellnerin im Restaurant »Mornar«.

Tamara Ibrahimović, Schreibkraft bei der Mordkommission, spricht ausschließlich im Telegrammstil.

Ilija Perica, Gerichtsmediziner, lässt sich gerne um seine Meinung bitten.

Sikirica arbeitet bei der Spurensicherung, mit seinen gerade mal einssechzig kann man ihn schnell übersehen.

SOWIE:

Anton Paulić, Mordopfer

Eva Jakšić, Prostituierte, wohnt in dem Mietshaus, in dem der Mord geschah.

Ana und Albert Marković, altes Ehepaar, Nachbarn aus dem Haus

Iva und Ron Travić, Ehepaar aus Opatija mit Zweitwohnung in Rijeka

Fabijan Novosel und Mirko Rak, Freunde von Anton Paulić

Odri Rendulić, Ex-Freundin von Anton Paulić

Leonard Bičanić, Besitzer des Midnight Café

Elvira Veluka, Mordopfer aus dem Schnellkochtopf-Fall

Mato Vlastić, Mitarbeiter der Straßenreinigung

1

Mato Vlastić steckte sich eine Zigarette zwischen die rauen Lippen. Im Radio lief in den frühen Morgenstunden immer Musik aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Wahrscheinlich wegen all der Greise, dachte er, die unter Schlaflosigkeit leiden und um diese Zeit Tee trinkend im Nachthemd Radio hören. Mato schlief immer von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags, nachdem er von der Arbeit nach Hause gekommen war.

Das Dröhnen des Motors nahm er nach zweiundzwanzig Jahren gar nicht mehr richtig wahr. Er mochte seine Arbeit, obwohl das die meisten Leute, die er kannte, nicht verstehen konnten. Die wenigen Verwandten und Freunde, die er hatte, wurden nicht müde, ihn über offene Stellen zu informieren. Während er mitten in der Nacht durch Rijeka fuhr und die Straßen der Stadt säuberte, saß er friedlich in seinem Wagen, ließ hin und wieder Wasser auf den Asphalt spritzen und hatte danach das Gefühl, etwas Nützliches getan zu haben. Ihm war es zu verdanken, dass die Einwohner und Touristen Rijekas durch saubere Straßen spazierten, jeden Tag aufs Neue. Was sollte daran schlecht sein? Aber ihm war klar, dass es Leute gab, die seine Arbeit nicht würdigten, ja, sie sogar für minderwertig hielten. Dabei waren sie sich nicht im Klaren darüber, was für eine Freiheit er dabei genoss. Mato hatte keinen Vorgesetzten, der ihn in einer Tour anpfiff, und er musste sich mit keiner Kundschaft herumplagen. Doch das Schönste an seiner Arbeit war, dass er nicht freundlich sein musste und für sich alleine sein konnte. Mato hörte die Musik, die er wollte, rauchte so viele Zigaretten, wie er Lust hatte, und musste nicht lächeln, um irgendjemandem zu gefallen.

Er hasste die Menschen nicht, aber er fand es anstrengend, sich mit ihnen abzugeben. In seinem Appartement hatte er zwei Katzen und einen Fernseher, das reichte ihm zum Leben. Seine kleine Welt machte ihn zufrieden, manchmal sogar glücklich. Es gab nichts, was ihm fehlte, außer etwas mehr Geld vielleicht, aber wer hätte das nicht von sich behaupten können?

Frühmorgens war die Stadt jedes Mal wie ausgestorben. Nur selten fuhr ein Auto vorbei, und auf den Gehsteigen bekam man kaum eine Menschenseele zu Gesicht. Gemächlich tuckerte Mato an der Placa vorbei, wo es in ein paar Stunden hoch hergehen würde. Komisch, dachte er, dass niemand das kroatische Wort tržnicafür den Marktplatz verwendete. Aufgrund der italienischen Minderheit im Land hatte man zahlreiche italienische Wörter in den Sprachgebrauch übernommen, wenn auch in abgewandelter Form. Aber sie hörten sich immer noch ähnlich an – so wie eben Piazza und Placa. Die Einwohner Rijekas kauften hier ihr Obst, ihr Gemüse und ihren Fisch. Die weniger gut Betuchten suchten nach allen möglichen Dingen, die es billiger gab als in den Kaufhäusern. Mato beispielsweise erstand seine Socken, Unterwäsche und Schuhe an den zahllosen kleinen Ständen. Allerdings war das Obst und Gemüse längst nicht mehr so erschwinglich wie früher. Heute bekam man das pestizidgespritzte Zeug im Supermarkt oft günstiger. Und erst der Fisch! Für einen einfachen Mann wie ihn kostete er ein Vermögen. Manchmal schlenderte Mato nach der Arbeit über die Placa und sah den Verkäufern zu, wie sie ihre Ware aufbauten und sich auf das bunte Treiben vorbereiteten, oder er schlenderte in den Pavillons herum und kaufte Käse. Die ausgestellten Tierleichen versuchte er dabei so gut es ging zu ignorieren. Am liebsten ging er in die Fischhalle, wegen der schönen Atmosphäre. Von innen sah sie ein bisschen wie eine Kirche oder ein Theater aus, fand er. Wenn er eine der Verkäuferinnen um fünf Sardinen bat, guckten sie für eine Sekunde irritiert, reagierten aber freundlich. Einmal hatte ihm eine ältere Dame drei Sardinen zusätzlich draufgelegt. »Die schenke ich Ihnen«, hatte sie gesagt. Das hatte er sehr nett gefunden, sich aber gleichzeitig gefühlt, als würde er Almosen entgegennehmen. Hin und wieder setzte er sich nach den Einkäufen für einen Moment auf die Parkbank vor dem Nationaltheater, das sich direkt neben der Placa befand, und fütterte Tauben.

Der Vollmond stand hell am Himmel, was Mato besonders mochte. Vollmondnächte hatten etwas Mystisches, was die Menschen empfänglicher zu machen schien. Mato zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückte sie dann in einem winzigen Aschenbecher aus. Schon wieder alles voll mit Touristenautos. Von Juni bis August verstopften sie die Straßen, und am Hafen wurden sie von ihren Besitzern oft über mehrere Tage abgestellt. Mato mochte diesen Abschnitt, rechts die Placa und links der Hafen. Früher war Rijeka einer der wichtigsten Umschlagplätze Europas gewesen und heute noch der größte Kroatiens. Hier wurde Handel in Containern betrieben mit Erz, Erd- und Mineralöl, Baumaterial, Getreide und vielem mehr. Am Passagierterminal brachten die Fähren Fluten von Menschen in andere Städte oder auf die umliegenden Inseln.

Mato hielt einen Moment inne und bewunderte den Anblick, wie sich der Mond im Meer spiegelte. Das Einzige, was ihn während seiner Nachtschichten manchmal nervte, waren die jungen Leute, die sich scharenweise ins Nachtleben stürzten, in ihre Rockfestivals und Clubs. Im Radio hatte er gehört, dass gerade wieder irgendwo ein »Electro Club« aufgemacht hatte, was immer das sein mochte. Für manche stellte gerade die Tatsache, dass in Rijeka nicht um Mitternacht die Bürgersteige hochgeklappt wurden, eine besondere Attraktion dar. Für Mato nicht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte das Jungvolk die dreizehn Kilometer nach Opatija weiterfahren können. Besonders hoch her ging es zu Maškare1, da war die Stadt regelrecht im Ausnahmezustand. Obwohl er währenddessen jedes Mal viel zu putzen und zu reinigen hatte, mochte er die Straßenfeste, mischte sich ins bunte Treiben der verrückt gewordenen Menschenmassen und fühlte sich wohl.

Während er so dahinfuhr, blickte er nach links zum Hafen, wo ein riesiges Schiff namens Marco Polo vor Anker lag. Marco Polo! Über dessen Herkunft stritten sich die Kroaten und Italiener noch heute, über diesen Kerl, der angeblich die ganze Welt bereist hatte. Die Kroaten sagten, er sei auf Korčula geboren, für die Italiener hingegen war er einer der ihren. Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt …

Kein Zweifel, Mato liebte die Hafenatmosphäre, ganz besonders an Silvester, wenn die Sirenen der Schiffe ertönten und überall Raketen abgefeuert wurden. Für ihn eindeutig die schönste Nacht des Jahres. Das fröhliche Stimmengewirr, das von den Schiffssirenen übertönt wurde. Seit einigen Jahren gab es hier sogar Partyschiffe und ein Botel.

Leider hatten sie gerade erst August, und Silvester lag noch in weiter Ferne. Jetzt, zur Sommerzeit, ging er nach der Arbeit gerne an den Strand, wenn das Meer noch ruhig vor ihm lag. In der Stadt konnte man an manchen Stellen baden, aber er fuhr am liebsten mit dem Bus nach Lovran, hinter Opatija, oder nach Kostrena, beides etwas außerhalb. Dort konnte er in aller Ruhe aufs Meer hinausblicken und über das Leben nachdenken. Am späten Vormittag, wenn es laut wurde und Touristen und Einheimische mit ihren tragbaren Kühlschränken und ausklappbaren Stühlen kamen, packte er seine Sachen zusammen und ergriff die Flucht.

Mato blickte nach rechts, zu den Mietshäusern. Etwas ließ ihn innehalten und aus seinen Gedanken auftauchen. Etwas, das ihm die Kehle zuschnürte.

Er drückte auf die Bremse, und der Wagen kam abrupt zum Stehen. Eine Weile saß Mato wie vom Donner gerührt da und starrte auf ein gepflegtes gelbes Mietshaus. Die Eingangstür war gestern entfernt worden und würde wohl heute oder morgen durch eine neue ersetzt werden. Auf dem Fliesenboden im Inneren des Hauses war eine große Lache zu sehen, daneben die Umrisse von etwas, das er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Angst machte sich in ihm breit, kroch ganz langsam von seinen Beinen hinauf zum Herzen und dann in seinen Kopf, wo er sie am wenigsten ertragen konnte.

Bitte mach, dass es kein Blut ist …

Blut lähmte seinen Körper und seinen Geist. Mato schluckte. Er wusste nicht weshalb, doch er spürte das Unheil in den Gliedern. Das Gefühl wurde immer stärker. Aber er konnte doch nicht einfach weiterfahren, als hätte er nichts gesehen! Er reckte den Kopf aus dem Beifahrerfenster.

Was, wenn das dort ein Mensch war, der noch lebte? Und was, wenn ihm selbst jemand ein Messer in den Rücken stieß, sobald er sich in den Hauseingang traute? Unsinn, versuchte er sich zu beruhigen. Rijeka war kein amerikanischer Großstadtmoloch, wo ständig jemand Amok lief oder mordete. Er überwand sich und stieg aus dem Wagen.

Sein Herz fing an zu hämmern, und sein Mund wurde trocken. Mato näherte sich dem Hauseingang und sah, was er im tiefsten Inneren befürchtet hatte: Einen leblosen Körper.

»Oh, mein Gott!« Mato eilte neben die Gestalt, rief: »Hallo, können Sie mich hören?«, obwohl er wusste, dass es unsinnig war. Die Welt begann sich zu drehen, und er erbrach sich auf den Gehsteig. Er wischte sich den Mund am Jackenärmel ab und lief zum Wagen. Dort rief er mit seinem Handy die Polizei, die sein atemloses Gestotter kaum verstehen konnte.

1 Karneval

2

Das einzig Gute an diesem Morgen war, dass sie früh um halb vier noch nicht mit dem Verkehr kämpfen musste. Sandras Laune war miserabel, und das nicht so sehr, weil man sie wegen eines Mordes in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt hatte, schließlich geschah das nicht zum ersten Mal. Nein, ihr Unmut rührte von ihrem Kaffeedefizit her. Wenn sie etwas hasste, dann einen Morgen ohne Koffein. Seit sie nicht mehr rauchte, hatte sich ihre Sucht von Nikotin auf Koffein verlagert. Aber fünf Tassen Kaffee waren immer noch besser als ein Päckchen Walter Wolf. Früher hätten bestimmt schon drei zerdrückte Kippen in ihrem Aschenbecher gelegen. Manchmal fehlte ihr das Rauchen, besonders wenn sie angespannt war.

Sie hatte nur zwei Stunden geschlafen, weil sie mit ihrer Nachbarin Jelena über deren blöden Freund Siniša geredet und seine Unzuverlässigkeit analysiert hatte. Dabei war es der Kerl gar nicht wert, dass man so viel über ihn sprach. Komisch, dachte sie, Jelena war eine kluge Frau, die Fehler und Schwächen anderer Menschen mit bewundernswerter Schärfe analysieren konnte, aber was Siniša anging, war sie eine Meisterin im Verdrängen.

Am Ende des Hafens bog Sandra in die Riva Boduli ein, die neben der Placa verlief. Zelenika hatte gesagt, das Mietshaus läge zwischen einem Delikatessengeschäft und einem Laden für Angelbedarf. Schon von weitem sah sie die Polizeiautos und die Absperrung. Ihr Blick fiel auf das glitzernde Wasser im Hafen und die Schiffe, die vor Anker lagen. Sie hatte keine allzu große Affinität zum Meer, was etwas untypisch für eine Kroatin war, doch im Moment wäre sie tausend Mal lieber auf einem dieser Touristenschiffe gewesen, als einen Mordfall zu untersuchen. Aber ihre Arbeit ließ ihr ohnehin kaum Zeit für Mußestunden am Strand. Im Gegensatz zu den kalten Scheinwerfern der Polizeiautos wirkten die Lichter auf den Schiffen einladend. Sie fror ein wenig. Nachts konnte es manchmal recht kühl sein, bis es gegen sieben langsam anfing, wärmer zu werden, und sich schließlich um neun eine mitunter unerträgliche Hitze über die Stadt legte.

Sie brachte ihren Wagen am Ufer zum Stehen und gähnte noch einmal kräftig, bevor sie ausstieg.

Ilija Perica, der Gerichtsmediziner, nickte ihr schon von Weitem lächelnd zu. Zumindest schien er das zu glauben. Um wirklich zu lächeln, war er zu cool. Er stand neben den anderen im Hauseingang und trug noch seine Handschuhe.

»Guten Morgen, wenn man das so sagen kann«, rief er in Sandras Richtung. Bei ihm hörte sich jedes Wort auf eine merkwürdige Art gewichtig an, so als hätte es einen tieferen Sinn. Sie kannte niemanden, bei dem dieses Phänomen so ausgeprägt war wie bei Perica.

Sie lächelte gequält. »Morgen. Ja, um diese Uhrzeit können wir uns eigentlich nur gegenseitig bemitleiden.« Sie sah zu ihren Kollegen Mihajlo Zelenika und Jakov Milić hinüber, hob kurz die Hand zum Gruß und wandte sich dann wieder an den Gerichtsmediziner, der gerade auf die Leiche deutete.

»Du lieber Gott«, stöhnte Sandra beim Anblick des vielen Bluts.

»Och, nennen Sie mich doch Milić«, hörte sie eine Stimme hinter sich.

Ihr Kollege grinste sie an. Sein trockener Humor hatte schon so manche anstrengende Nacht erträglicher gemacht. Mit seinen lustigen braunen Knopfaugen hinter der randlosen Brille und den dunklen Locken sah er eher aus, als würde er in einem Kindergarten arbeiten als bei der Mordkommission.

Mihajlo Zelenika beendete sein Gespräch mit einem Uniformierten und trat ebenfalls zu ihnen. »Hey, Horvat. Wie geht’s«, sagte er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.

Mihajlo Zelenika war serbischer Abstammung und machte einen guten Job. Sandra fand es bedauerlich, dass er sein Alkoholproblem auch nach mehrmaligen Versuchen noch nicht im Griff hatte. Mittlerweile sah man ihm die Trinkerei an, sein Gesicht wirkte müde und war von feinen roten Äderchen durchzogen. Er wäre ein attraktiver Mann gewesen, groß und kräftig, mit honigfarbenem Haar und den grünsten Augen, die sie je gesehen hatte. Eine greise Zeugin hatte mal zu ihm gesagt: »Sie haben die Augen einer Hexe. Vielleicht haben Sie den bösen Blick!« Zelenika hatte erwidert, seine Frau würde das schon lange vermuten.

»Sie haben Glück, Horvat«, sagte Perica, während er mit seinen behandschuhten Händen herumfuchtelte, »das Opfer hatte einen Ausweis dabei.«

»Ach ja?« Sandra warf einen Blick ins Innere des Hauses. Die Spurensicherung war immer noch bei der Arbeit.

Zelenika meldete sich zu Wort: »Sein Name ist Anton Paulić.« Er deutete lässig auf das Mordopfer, als würde er ihr das neueste Automodell vorführen. Nach den vielen Jahren bei der Mordkommission war Zelenika sichtlich abgebrüht. »Der Kerl ist einunddreißig.«

»Darf ich?« Sandra griff nach der großen Taschenlampe, die Sikirica von der Spurensicherung in der Hand hielt.

»Natürlich«, nickte der Kollege schüchtern. Sikirica war nicht größer als einssechzig und wog vielleicht fünfzig Kilo. Im Präsidium hatte Zelenika mal laut gerufen: »Ist Sikirica noch da? Oder hat er sich in einer Schublade versteckt?« Sikirica war gekränkt gewesen, und Sandra hatte Zelenika gebeten, künftig auf solche Späßchen zu verzichten. Alles in allem hatte Sandra noch nie mehr als drei Worte am Stück von Sikirica gehört.

Sandra besah sich den Toten. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Der Schnitt verlief mitten durch eine Tätowierung, die sich bis zum Kinn zog. Durch das viele Blut konnte man das Motiv nicht mehr erkennen. Der Mann hatte mittellanges schwarzes Haar. Sein Gesicht war auf eine primitive Art attraktiv. Sie sah auf den ersten Blick, dass es sich nicht gerade um einen Sohn aus gutem Hause handelte. Wenn sie etwas konnte, dann in Gesichtern lesen. In diesem hier lag Schmerz und Wut. Sie merkte immer, wenn jemand vom Leben gebeutelt war, egal, wie viel Armani und Gucci die Fassade hergab. Wahrscheinlich brachte das der Job mit sich, auch wenn Milić der Ansicht war, dass sie ein besonderes Talent dafür hatte.

»Bestimmt ein Junkie«, bemerkte Milić.

Sandra sah ihn an und schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß nicht recht. Er sieht mir gut genährt aus. Auch sein Gesicht lässt nicht auf harten Drogenkonsum schließen.« Sie gab Sikirica die Taschenlampe zurück.

»Danke«, murmelte er und lächelte wieder schüchtern.

»Was?«, meinte Sandra, in Gedanken noch immer bei dem Opfer. »Wofür?«

»Wegen der Taschenlampe. Weil Sie sie mir zurückge… ach, egal.«

»Ach so, ja. Bitte sehr, Sikirica.«

Zelenika blickte von einem zum anderen. »Seid ihr beide auf Valium, oder was?«

»He, es ist ziemlich früh am Morgen«, grummelte Sandra und fügte dann hinzu: »Jedenfalls sieht mir unsere Leiche nicht nach einem Junkie aus. Dafür ist der Typ viel zu kräftig und gepflegt.«

»Ja«, murmelte Milić. »Außerdem hatte er zweitausend Kuna2 und hundertfünfzig Euro bei sich. Hat den Täter nicht interessiert.«

»Hm … verstehe.«

»Seltsam, so was«, brummte Zelenika vor sich hin. »Ich meine, wenn ich schon jemanden absteche, dann nehm ich doch auch das Geld, oder?«

»Du schon«, warf Milić ein, »du würdest deine eigene Großmutter für ein paar neue Reifen verkaufen.«

Genervt rollte Zelenika mit den Augen. »Denk doch einfach mal logisch, ja?«

»Tolle Idee«, sagte Milić ironisch. »Das versuche ich normalerweise zu vermeiden.«

Zelenika ging nicht darauf ein. »Der Mörder denkt sich: Was soll’s, der Kerl braucht’s doch eh nicht mehr. Und schlimmer als Mord ist Diebstahl ja nun nicht. Die paar Scheine machen das Kraut auch nicht mehr fett.«

Sikirica lachte leise auf und senkte dann den Blick. Für Perica war das Gespräch sowieso unter seiner Würde.

»Ach, übrigens«, meinte Milić plötzlich an Sandra gewandt. »Ich hoffe, Sie haben sich Freitag, an Velika Gospa3, nicht freigenommen.«

»Nein, habe ich nicht.« Sandra war nicht gerade eine Vorzeigekatholikin, sehr zum Missfallen ihres Vaters – und noch mehr ihrer Mutter. Immerhin feierte sie Weihnachten und Ostern und hatte ein Kruzifix in der Küche hängen, das sie von ihrer Mutter zu ihrem dreißigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sandra war nur einmal auf Trsat gewesen, obwohl es der älteste Marienwallfahrtsort Kroatiens war und die Menschen am 15. August von überall herbei pilgerten. 2003 war das gewesen, als der Papst zu Besuch war. Wie oft hatte sie sich schon vorgenommen, ihre Mutter mal wieder zu begleiten, aber ihre Arbeit ließ es meistens nicht zu.

»Wieso?«, hakte Sandra nach. »Haben Sie sich denn freigenommen?«

»Na ja«, wand sich Milić, »ich habe meiner Mutter versprochen, wenn es irgendwie geht …, nehme ich mir einen Tag Urlaub.«

»Nur zu. Ich habe Anfang September zwei Wochen Urlaub.« Bei diesem Gedanken löste sich Sandras Anspannung für einen Moment. »Jelena und ich fliegen für eine Woche nach Sizilien.«

Alle kannten ihre Freundin, weil Sandra sie auf jede Weihnachtsfeier mitnahm. Jelena war seit drei Jahren wieder zurück in ihrer Geburtsstadt. Im Alter von zwei Jahren war sie mit ihren Eltern nach München ausgewandert und dort aufgewachsen. Während eines Sommerurlaubs hier in Rijeka hatte sie sich Hals über Kopf in Ivica verliebt, sich Knall auf Fall in München abgemeldet und geheiratet. Nach nur zehn Monaten war die Ehe geschieden worden. Ivica hatte sich als aggressiv, untreu und spielsüchtig entpuppt. Zurück nach Deutschland wollte Jelena nun nicht mehr, denn sie hatte keine Kraft mehr, wieder bei null anzufangen.

An Jelena war etwas Mütterliches, das jeden auf Anhieb für sie einnahm. Milić hatte ihr letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier Avancen gemacht, doch er war ihr nicht »Manns genug« gewesen, wie sie sich ausgedrückt hatte. »Das ist bestimmt einer, der dich ’ne Stunde streichelt, dir jede Strähne aus dem Gesicht streicht und jede einzelne Sommersprosse abküsst, bevor er zur Sache kommt.«

»Jelena!«, hatte Sandra schaudernd gerufen. Zu spät: Tagelang hatte sie das Bild des sich zärtlich-anbiedernden Milić nicht mehr aus dem Kopf bekommen, und jedes Mal, wenn er ihr über den Weg gelaufen war, war Unbehagen in ihr aufgestiegen.

»Na toll, ich habe erst im Dezember wieder Urlaub«, seufzte Zelenika.

Milić sah ihn an. »Selber schuld, wenn du deinen ganzen Urlaub im Juni verpulverst.«

»Ich nehme im Juni Urlaub, weil wir dieses verdammte Ferienhäuschen auf Mali Lošinj haben, das meine Frau geerbt hat.«

»Ja«, entgegnete Milić, »und das scheint dich unglaublich glücklich zu machen.«

»Wer hat Paulić eigentlich gefunden?« Sandra versuchte, das Gespräch wieder auf die Arbeit zu lenken. Ihre beiden Kollegen konnten sich gnadenlos in ihre Wortgefechte hineinsteigern. Zelenika hatte Milić sogar schon mal vor die Füße gespuckt, um später zu behaupten, er hätte ein Haar im Mund gehabt.

»Unser Braveheart da drüben.« Milić machte eine Kopfbewegung Richtung Hafen. Sandra erblickte ein Fahrzeug der Straßenreinigung und daneben einen Mann, der nervös rauchend auf und ab ging.

»Der scheint ziemlich runter mit den Nerven.« Sandra wusste, dass nicht jeder einen Leichenfund verkraftete. Aber ihre Kollegen hatten nicht immer Verständnis dafür, dass andere weniger abgebrüht waren als sie selbst.

»Ja«, murmelte Zelenika. »Ich glaube, er hat in einer halben Stunde ein halbes Päckchen geraucht.«

»Wie heißt er?«, wollte Sandra wissen.

Zelenika warf einen Blick auf seinen Notizblock. »Mato Vlastić.«

Sandra ging zu dem fahrig umherlaufenden Mann. Je näher sie ihm kam, desto größer und besorgter schienen seine Augen zu werden.

»Herr Vlastić?«

»Ja?«, erwiderte er aufgeregt. »Hören Sie, ich habe den Mord nicht gesehen, und ich habe außerdem schon alles erzählt.« Gierig zog er an seiner Zigarette. »So, wie Sie den Mann da sehen, habe ich ihn gefunden. Das schwöre ich beim Grab meiner Stiefmutter. Verstehen Sie, ich weiß von nichts!«

»Okay«, antwortete Sandra beruhigend. »Geht es Ihnen denn gut?«

»Könnte besser sein.« Er musterte sie von oben bis unten. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Ich bin Inspektor Sandra Horvat. Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall.«

Matos Stirn legte sich in Falten. Er sah aus, als hätte sie ihm soeben offenbart, dass sie die Königin von Saba war. »Sie sind ein Inspektor?«

»Nun ja, eine Inspektorin.«

»Ist das nicht gefährlich? Was sagen denn Ihre armen Eltern dazu?«

»Äh, Herr Vlastić, vielleicht könnten wir uns wieder auf den Toten konzentrieren.«

»Entschuldigung.« Er zog wieder an seiner Zigarette und blickte auf seine Schuhe.

»Kein Problem.« Sie lächelte ihm freundlich zu. »Wie und wann haben Sie die Leiche gefunden?«

Als Mato zu seinem Bericht ansetzte, war Sandra enttäuscht, dass er nicht mehr gesehen hatte. »Als Sie die Straße hier entlangfuhren«, versuchte sie es noch einmal, »ist Ihnen da niemand begegnet? Kurz bevor Sie den Toten gefunden haben?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Denken Sie noch mal gründlich nach. Vielleicht haben Sie ja doch etwas gesehen und es nur nicht richtig registriert.«

Er dachte nur kurz nach. »Na ja, es geht schon hin und wieder mal jemand durch die Straßen, aber ich guck da nicht so genau hin, wissen Sie.«

»Es wäre aber wichtig«, beharrte Sandra, »ich kann gut verstehen, dass Sie sich gerade nicht konzentrieren können. Schlafen Sie eine Nacht darüber und denken Sie dann noch mal gründlich nach.«

»In Ordnung, Frau Inspektor. Ihr Kollege da drüben, der mit dem zerknitterten Gesicht …«

»Zelenika?«

»Ja, genau. Der hat mir seine Karte gegeben, falls mir noch was einfällt oder so.«

Sandra nickte und fügte hinzu: »Und jetzt beruhigen Sie sich. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

Er hob den Kopf und sah sie an. »Ich ertrage solche Situationen nicht. Als ich klein war, da …, na ja, egal.« Er winkte ab.

»Schon gut. Fahren Sie nach Hause. Allerdings müssen wir noch einen Vernehmungstermin ausmachen.«

Erschrocken riss er die Augen auf. »Wieso?«

»Sie sind ein wichtiger Zeuge und haben ein Mordopfer gefunden. Ich werde mich später bei Ihnen melden, dann vereinbaren wir einen Termin, ja?«

»Wenn’s sein muss.« Mato schnippte seine Zigarette weg und seufzte müde.

Sandra hatte sich schon halb abgewandt, als sie noch einmal innehielt und fragte: »Sie werfen Ihre Kippe auf die Straße? Das wundert mich, bei Ihrem Beruf.«

»Na was glauben Sie denn, wer das morgen früh sauber macht?«

Sandra zuckte die Schultern. »Okay, schon klar.« Sie verabschiedete sich und ging wieder zu ihren Kollegen hinüber. »Perica? Können Sie schon etwas sagen?«

Der Gerichtsmediziner holte tief Luft, warf einen Blick auf die Leiche und sah dann von Sandra zu Milić und schließlich zu Zelenika. Wer ihn kannte, wusste, dass Perica diese theatralischen Momente brauchte wie die Luft zum Atmen.

»Hey, Perica, soll ich dir ein Mikrofon hol…« Weiter kam Zelenika nicht, weil Milić ihn in die Rippen stieß. »Nimm die Leute doch einfach mal so, wie sie sind«, flüsterte er.

»Wenn ich das nicht täte, wärst du längst ’ne Politesse.«

»Psst«, machte Sandra und sah die beiden verärgert an. Sie sehnte sich mehr denn je nach ein bisschen Ruhe und einem doppelten Espresso. »Wenn ihr nicht endlich still seid, lass ich euch von euren Eltern abholen.«

Ein paar der Uniformierten grinsten. Sandra wandte sich wieder an den Gerichtsmediziner: »Also, Perica. Schießen Sie los.«

»Nun ja, das Ganze scheint mir eher ein Akt der Angst gewesen zu sein. Wie Sie sehen, verläuft der Schnitt unterhalb des Kiefers. Ein Profi hätte wohl eher seitlich zwischen Kiefer und Schulter zugestochen.«

Milić nickte. »Und warum nicht ein schneller Stich in den Brustkorb statt in den Hals?«

Zelenika drehte seinen Stift zwischen den Fingern. »Der Täter könnte Angst gehabt haben, dass sein Opfer noch um Hilfe schreit. Bei einer durchgeschnittenen Kehle geht das nicht mehr.«

»Möglich«, meinte Perica nur knapp.

Sandra klappte den Kragen ihres schwarzen Blazers hoch. »Ja, das kann durchaus sein. Wann ist es denn ungefähr passiert?«

Perica hob nachdenklich den Kopf und genoss die vielen Blicke, die auf ihm ruhten. »Ich muss erst noch ein paar Untersuchungen vornehmen, aber ich würde sagen, vor etwa einer Stunde, weil das Blut bisher nur dort getrocknet ist, wo es dünne Rinnsale gebildet hat. Alles Weitere dann im Laufe des Tages, Horvat.« Er zog sich die Handschuhe aus und drehte sich um.

»Danke, Perica.« Sie sprach noch kurz mit Sikirica von der Spurensicherung, der ihr aber noch nichts von Belang mitteilen konnte.

»Warum steht hier eigentlich keiner der Nachbarn blöd rum wie sonst auch immer?«, fragte Sandra an ihre beiden Mitarbeiter gewandt.

Zelenika grinste. »Ein altes Ehepaar war bis gerade eben noch da. Die wohnen aber im dritten Stock und haben nichts gehört. Sind beide ziemlich taub. Wir konnten sie erst nach dem fünften Klingeln aus dem Bett holen.«

»Nein«, warf Milić ein, »die sind nicht beide taub.«

»Na gut, taub und blind.«

»Er ist fast taub, und sie ist fast blind. Das haben mir die beiden selbst gesagt.«

»Das haben sie dir gesagt?« Zelenika grinste ungläubig. »Wir sind fast taub und fast blind?«

»Nein, die Frau sagte: Ich sehe ganz, ganz schlecht, und mein Mann ist so gut wie taub.«

»Wie heißen die beiden?«, wollte Sandra wissen.

»Ana und Albert …« Zelenika blickte auf seine Notizen. »Marković. Sie haben uns auch über die anderen Mieter aufgeklärt. Zwei Parteien sind über die Feiertage weg, eine Wohnung steht gerade leer, und im ersten Stock links wohnt ein junges Paar, das die Wohnung als Stadtwohnung nutzt, ansonsten aber in Opatija wohnt. Und dann ist da noch die Frau, die aussieht wie eine Tunte.«

»Wie bitte?« Sandra hoffte, sich verhört zu haben.

»Eine Frau, die aussieht wie eine Tunte«, wiederholte Zelenika. »Wie heißt sie noch mal, Milić? Du hast es dir doch aufgeschrieben.«

Milić blätterte in seinem Block und sagte schließlich: »Eva Jakšić.«

»Aha«, sagte Sandra. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Mit der Tunte? Ja, aber die sagt, sie hat nichts gehört, weil sie nachts immer Ohrenstöpsel trägt.«

»Aber sie hat euch doch auch klingeln gehört.«

Zelenika zog eine Grimasse. »Angeblich ist ihr in der Zwischenzeit ein Stöpsel rausgefallen. Tja, so was liest sich immer lustig im Bericht, nicht wahr?«

»Und das Ehepaar, das eigentlich in Opatija lebt?«, fragte Sandra weiter.

»Offenbar nicht da. Es hat niemand aufgemacht.«

Sandra seufzte. »Also nur die seltsame Frau und die zwei Alten, die nichts gesehen haben und noch dazu schlecht hören?«

»Nein«, meldete sich Milić wieder, »er hört schlecht, aber sie …«

»Ja, Milić, wir haben’s kapiert«, rief Zelenika.

Sandra sah auf die Uhr. Es war zu spät, um noch mal nach Hause zu fahren, und zu früh, um ins Büro zu gehen.

Zelenika gähnte. »Was ist? Gehen wir auf einen Kaffee in den Drecksladen um die Ecke? Ich glaube, der hat die ganze Nacht auf.«

»Drecksladen klingt verlockend«, meinte Milić.

Beim Stichwort Kaffee setzte Sandra sich in Bewegung. »Gehen wir.«

2 1 € entspricht ca. 7,5 Kuna

3 Mariä Himmelfahrt

3

Als Sandra die Tür des Lokals öffnete, stellte sie fest, dass Zelenika mit dem »Drecksladen« nicht übertrieben hatte. Kroatische Gastronomen investierten normalerweise viel Geld in eine geschmackvolle Einrichtung und achteten auf Sauberkeit, doch dieser Schuppen hier war an Nachlässigkeit nicht zu überbieten. Das Mobiliar stammte noch aus der Zeit Jugoslawiens, bestehend aus Spanplatten in Eiche-Optik. Braune Stühle mit schwarzen Metallbeinen, gelbliche Wände, die mal weiß gewesen sein mussten, und Gardinen in derselben Farbe. Wenn in einem Restaurant schon Gardinen an den Fenstern hingen … Sandra schüttelte sich. Die Tische waren nicht abgewischt, und in den Aschenbechern türmten sich Kippen. Früher durfte man überall rauchen, danach galt pauschal das Nichtrauchergesetz. Seit einiger Zeit durfte man in einigen Lokalen wieder rauchen, wenn der Gastwirt eine geeignete Lüftung installiert hatte. Manche Lokale machten sich das zunutze, andere ließen ihren Laden bewusst rauchfrei. Nur Milić war ein noch militanterer Nichtraucher als Sandra. Im Gegensatz zu ihr hatte er noch nie im Leben eine Zigarette geraucht.

Sie setzten sich an den saubersten Tisch, ans Fenster.

Zelenika zündete sich eine Zigarette an. Offenbar hatte er das Gefühl, sich anpassen zu müssen. »Das Opfer kommt mir bekannt vor, aber ich habe keine Ahnung, weshalb.« Genüsslich blies er den Rauch aus.

»Mal sehen, was der Computer so hergibt«, meinte Sandra. »Wir finden sicher etwas. Der Typ ist ja recht markant. Tattoos, verlebtes Gesicht, machohaftes Outfit, viel Kohle im Geldbeutel, Rolex und manikürte Hände.«

Milić zog seine Jacke aus. »Hey, Zelenika, schrei doch bitte mal prollmäßig nach der Bedienung. Das kannst du so schön.«

Sandra grinste, doch Zelenika, gänzlich unbeeindruckt, tat Milić den Gefallen. »Hey, Bedienung! Muss man sich seinen Kaffee hier selber kochen, oder was?«

Eine etwa fünfzigjährige Frau mit strähnigem Haar und grellrotem Lippenstift schlurfte zu ihrem Tisch. »Sie sind ja sehr charmant.«

Milić nickte. »Und heute ist einer seiner guten Tage.«

»Was darf’s sein?«, fragte sie genervt.

Zelenika musste gar nicht erst fragen. »Zwei doppelte Espresso für die beiden. Mir bringen Sie einen Milchkaffee mit aufgeschäumter Milch, aber nicht in der Tasse, sondern im Glas. Und tun Sie noch einen extra Schuss Milch rein, aber keine kalte. Obendrauf kommt etwas Kakaopulver. Und wenn Sie noch einen Keks dazu hätten, wäre ich überglücklich.«

Die Kellnerin legte die Stirn in Falten, sah ihn an, als hätte er gerade vor ihren Augen einen Kanarienvogel verschluckt, und stapfte dann zum Tresen zurück.

Sandra dachte nach und fragte an Zelenika gewandt: »Glaubst du nur, dass du den Toten kennst, oder hattest du vielleicht schon mal mit ihm zu tun?«

»Kann ich nicht sagen. Ich komme momentan nicht drauf, aber irgendwas in meinem Kopf bringt ihn mit einer Straftat in Verbindung.«

Sandra überlegte. »Hatte er sonst noch etwas bei sich?«

Zelenika schüttelte den Kopf. »Nur seinen Geldbeutel. Darin waren sein Pass und das Geld. Außerdem ein Mitgliedsausweis vom Fitnessclub und eine Monatskarte für den Bus.« Er nahm einen letzten tiefen Zug aus seiner Zigarette.

»Kein Autoschlüssel?«

»Nein«, meldete sich Milić zu Wort, »das hat uns auch gewundert. Wahrscheinlich wohnt er in der Nähe, oder er hat gar kein Auto.«

Ein Kroate ohne Auto? Das war praktisch undenkbar, überlegte Sandra. Ein Mann musste weiß Gott nicht alles haben, aber ohne Auto war er unten durch.

»Er hat sich mit jemandem getroffen«, fuhr Zelenika fort. »Ziemlich ungewöhnliche Zeit, und warum in einem Mietshaus?«

Milić nickte. »Der Mord war geplant, ganz klar. Was hätte er sonst alleine in dem Hauseingang verloren, und das Geld ist auch noch da. Muss also Rache oder ein ähnliches Motiv gewesen sein.«

Die Bedienung brachte den Kaffee. In Zelenikas Glas steckte ein Strohhalm. »Was soll ich denn damit?«, schimpfte er und warf ihn angewidert auf den Tisch. »Ich bin doch kein nuckelndes Kleinkind.«

»Wie ich sehe, tragen Sie einen Ehering«, sagte die Bedienung unvermittelt. »Wo haben Sie Ihre Frau denn kennengelernt? Im Dschungel, da wo Sie aufgewachsen sind?«

»Nein«, erwiderte Zelenika amüsiert. »In der Bibliothek. Bei den Ratgebern für den Umgang mit schwierigen Mitmenschen.«

Die Bedienung nickte, gespielt einsichtig. »Viel hat’s nicht gebracht, aber zumindest haben Sie’s versucht.« Sie drehte sich um und schlurfte davon.

»Warum kannst du nicht ein bisschen freundlicher zu den Leuten sein?«, fragte Milić.

Zelenika sah ihn gespielt unschuldig an. »Ich bin doch freundlich.«

Milić kniff die Augen zusammen. »Das soll wohl ein Witz sein?«

»Ich kann doch nichts dafür, wenn die anderen Leute sich so dämlich anstellen.« Er machte eine kleine Pause. »Ich … na ja, ich versuche gerade, nichts mehr zu trinken. Vielleicht bin ich deshalb etwas griesgrämiger als sonst.«

Sie schwiegen eine Weile. Sandra tätschelte seine Hand und sagte: »Wenn man will, kann man alles schaffen.« Dasselbe hatte er ihr vor siebzehn Monaten gesagt, als sie die schlimmste Zeit ihres Lebens durchgemacht hatte. Er hatte sich um sie gekümmert, ihr Suppe vorbeigebracht und ihr auf eine unbeholfene Art ebenfalls die Hand getätschelt. Sie arbeiteten schon lange zusammen, und er war der einzige Kollege, der auch ihre andere Seite kannte, ihre verletzliche, die sie sonst niemandem zeigte. Zelenika gegenüber hatte sie keine Angst, Autorität einzubüßen. Er hatte sie durch die Anfangszeit bei der Mordkommission gebracht und sie vor den Chauvi-Sprüchen ihrer männlichen Kollegen beschützt. Zelenika hatte jedem das Maul gestopft, der ihr nicht den nötigen Respekt entgegengebracht hatte. Das würde sie ihm nie vergessen.

Zelenika schluckte. »Vorgestern stand meine Frau mit zwei gepackten Koffern vor mir. Sie sagte, entweder der Alkohol oder sie. Das hat mich beinahe umgebracht. Wenn ich nicht endlich versprechen würde aufzuhören, dann sei es für immer vorbei.« Er lächelte bitter. »Sie hat jetzt einen Psychofritzen für mich gefunden, da muss ich dreimal die Woche hin.«

»Wann hast du eigentlich damit angefangen?«, fragte Milić.

»Das kann ich nicht genau sagen.« Zelenika spielte mit dem Strohhalm, der auf dem Tisch lag. »Das war so eine schleichende Sache. Irgendwie ist es immer mehr geworden, und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich das Zeug brauche.«

Milić nippte an seinem Kaffee. »Du packst das schon.«

Sandra sah Zelenika an. »Du hast eine tolle Familie und du hast uns. Wir stehen zu dir, und du kannst jederzeit mit uns reden, Zelenika.«

»Danke. Aber bitte erzählt es nicht weiter. Wenn ich es nicht schaffe, stehe ich als totaler Versager da.«

»Du wirst es schaffen. Aber wir erzählen es nicht weiter, wenn du das nicht möchtest. Nicht wahr, Milić?«

»Ist doch Ehrensache.« Milić blickte auf seine zierlichen Hände. »Da scheint ja vorgestern ein übler Tag für uns beide gewesen zu sein.«

»Wieso?« Zelenika nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.

»Dolores hat Schluss gemacht.«

Zelenika und Sandra sahen ihn schweigend an, und als Milić nicht weitersprach, sagte Zelenika: »Hör zu, mein Freund. Ich habe es dir immer und immer wieder gesagt, aber du scheinst es einfach nicht zu kapieren.«

»Eine Frau soll mich so akzeptieren, wie ich bin, mit all meinen Ecken und Kanten.«

»Milić …«

»Und ich dachte wirklich, Dolores sei anders.«

Zelenika schnaubte verächtlich. »Wann wirst du endlich begreifen, dass Frauen keine Muttersöhnchen wollen?«

Milić setzte sich kerzengerade hin. »Ich bin kein Muttersöhnchen.« Er wandte sich an Sandra. »Was ist denn bitteschön schlimm daran, dass ich noch bei meiner Mutter wohne? Einer Frau sollte der Respekt, den ich für meine Mutter empfinde, doch wohl eher imponieren, oder nicht?«

Sandra atmete hörbar aus. »Na ja …« In Kroatien war es nichts Ungewöhnliches, bei den Eltern zu wohnen, bis man heiratete, was auch am Wohnungsmangel lag. So manchem ging es allerdings eher um seine Bequemlichkeit. In den letzten Jahren, in etwa seit der Jahrtausendwende, waren immer mehr Paare unverheiratet zusammengezogen und hatten Kinder bekommen. Bis dahin wäre es für kroatische Eltern ein mittelschweres Drama gewesen, wenn die Kinder in wilder Ehe eine Familie gegründet hätten.

»Blödsinn!«, warf Zelenika ein. »Das ist doch abtörnend. Was sagst du denn einer Frau nach einer heißen Nacht? Tut mir leid, aber ich muss jetzt nach Hause, sonst macht Mami sich Sorgen?«

»Quatsch! Ich kann nach Hause kommen, wann ich will.«

»Dass du das extra erwähnst, macht mir Angst.«

»Also, nur so aus Neugierde, Milić.« Sandra beugte sich vor. »Was machen Sie eigentlich, wenn Sie Feierabend haben? Diese Serien für alte Damen müssen Sie doch entsetzlich langweilen, oder?«

»Ich habe einen eigenen Fernseher in meinem Zimmer.«

»In deinem Kinderzimmer wolltest du wohl sagen«, bemerkte Zelenika. »Hoffentlich habt ihr in der Zwischenzeit die Cowboytapeten und das Gitterbettchen ausgetauscht.«

Milić zog eine genervte Grimasse. »Ich habe dir gerade erzählt, dass Dolores Schluss gemacht hat, und du kritisierst nur an mir herum.«

Zelenikas Gesichtszüge wurden weicher. »Tut mir leid. Ich mag Dolores, das weißt du.«

Milić schien über etwas nachzudenken: »Vielleicht sollte ich sie noch mal anrufen … Vielleicht sollte ich zu ihr ziehen?«

Zelenika grinste. »Nimmst du deine Mutter dann mit?«

»Das wäre natürlich ideal«, erwiderte Milić unbeeindruckt, »aber darauf lässt sich Dolores wahrscheinlich nicht ein.«

Zelenika und Sandra warfen sich einen Blick zu. Zelenika stützte verzweifelt den Kopf in die Hände und sah Milić an. »Ich gebe dir nur einen einzigen Rat mit auf den Weg, und das, obwohl ich wahrscheinlich ein größerer Verlierer bin als du.«

»Ich liebe deine Art, Menschen zu motivieren.«

»Pack deine Klamotten zusammen, küss deiner Mutter die Hand und mach die Socken scharf, Kumpel.«

»Das würde meiner Mutter das Herz brechen.« Milić sah seinen Kollegen verständnislos an.

Zelenika machte das Victoryzeichen. »Glücklich derjenige, der niemals erwachsen wird.«

4

Sandra hatte sich nach dem »Drecksladenbesuch« umsonst auf ihr sauberes Büro gefreut. Als sie die Tür öffnete, sah es darin noch genauso aus wie gestern. Der Papierkorb quoll über, und auf ihrem Schreibtisch war immer noch der Kaffeering zu sehen. Normalerweise war Ika eine zuverlässige Putzfrau, aber langsam kam sie in die Jahre und wurde immer vergesslicher. Letzte Woche hatte sie zum Beispiel nicht daran gedacht, die Damentoilette zu reinigen und Klopapier aufzufüllen. Bedauerlicherweise hatte sie am nächsten Tag auch noch frei gehabt. Aber irgendwie schaffte Sandra es nicht, sie zu kritisieren, weil Ika ihr immer selbst gebackenen Kuchen und manchmal auch Gemüse aus ihrem kleinen Garten mitbrachte. Abgesehen davon waren Ikas Launen allseits gefürchtet. Sie konnte einem ganz schön über den Mund fahren. Aus irgendeinem Grund hatte sie einen gewissen Einfluss auf die Leute hier. Mandić, ihr Chef, befolgte brav jeden Ayurveda-Rat, den er von ihr bekam, und seine Frau betrachtete Ika mittlerweile als eine Art Gesundheitsguru. Die beiden waren vor vielen Jahren mal ins Gespräch gekommen und seitdem telefonierten sie regelmäßig miteinander. Frau Mandić