Mord mit Schnucke - Brigitte Kanitz - E-Book

Mord mit Schnucke E-Book

Brigitte Kanitz

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Beschreibung

Die Heide bebt!

Die Kommissarin Hanna Petersen wird nach Hassellöhne strafversetzt, einem Örtchen in der Lüneburger Heide. Doch die Idylle trügt ... Als ein Tourist bei einer Jagd ums Leben kommt, ist Hanna davon überzeugt, dass es kein Unfall war. Ihre Ermittlungen gestalten sich jedoch schwierig: Eine Heidschnuckenherde verwischt die Spuren im Wacholder, die Hasellöhner schweigen plötzlich wie ein Grab, und der junge Dorfpolizist Fritz Westermann verwirrt Hanna mit seinem Charme. Nur die alte Luise steht ihr bei – mit selbstgebrautem Wacholderschnaps, der alle Probleme dieser Welt lösen soll …

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Seitenzahl: 312

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Buch

Ein Jagdunfall trübt die Idylle im Örtchen Hasellöhne in der Lüneburger Heide. Zwar mochte niemand den verunglückten Banker aus der Großstadt, doch man fürchtet sofort, dass der Vorfall ungewünschte Aufmerksamkeit auf alle Beteiligten ziehen wird. Zu Recht: Schon stolpert Hanna Petersen heran. Die ehrgeizige junge Kommissarin ist aus Hamburg nach Hasellöhne versetzt worden, und weder wild gewordene Heidschnuckenherden noch griesgrämige Dorfbewohner sollen sie davon abhalten, den Fall aufzuklären. Denn Hanna ist davon überzeugt, dass es sich nicht um einen Unfall, sondern um Mord handelt. Wenigstens die Unterstützung ihrer betagten Vermieterin Luise ist ihr bei ihren Ermittlungen sicher. Und diese teilt großzügig ihr Allheilmittel gegen alle Leiden dieser Welt mit ihr: ihren selbstgebrauten Wacholderschnaps …

Autorin

Brigitte Kanitz, Jahrgang 1957, hat nach ihrem Abitur in Hamburg viele Jahre in Uelzen und Lüneburg als Lokalredakteurin gearbeitet. Die Heide und ihre Menschen hat sie dabei von Grund auf kennen- und lieben gelernt. Sie tanzte auf Schützenfesten, interviewte Heideköniginnen, begleitete einen Schäfer mit seinen Heidschnucken über die lila-rote Landschaft und trabte mit der berittenen Polizei durch den Naturschutzpark rund um Wilsede. Inzwischen lebt und schreibt sie in Italien.

Weitere Informationen finden Sie unterwww.brigittekanitz.de

Außerdem von Brigitte Kanitz bei Blanvalet lieferbar:

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Brigitte Kanitz

Mord mit Schnucke

Heidekrimi

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Originalausgabe Januar 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: bürosüd, München Redaktion: Rainer SchöttleES · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-10979-0V002
www.blanvalet.de

Für Christine und Ulrike. Ihr seid die besten Schwestern der Welt!

Prolog

Das Prachtexemplar stand perfekt in der Schusslinie. Ein Sechzehnender.

Was für ein kapitaler Bock! Der Jäger leckte sich die Lippen. So einer fehlte ihm noch in seiner Sammlung. Er sah die Trophäe schon vor sich. An der Wand über seinem Schreibtisch in der Bank. Direkt neben dem Wildschweinkopf und den kleineren Geweihen.

Sollten die Besucher sich doch angeekelt abwenden! War ihm gleichgültig. All diese feinen Hamburger Bürger, die sich im Tierschutz engagierten und abends ein ordentliches Stück Fleisch auf dem Teller verlangten, konnten ihm gestohlen bleiben. Die wussten nichts von den Adrenalinschüben, die sein Körper brauchte. Die hatten noch nie diese reine Waldluft eingeatmet, die sich mit dem Duft der nahen Heide vermischte. Die kannten nicht das erhebende Glücksgefühl eines echten Mannes, der seine Urinstinkte auslebte.

Der Jäger hielt den Atem an. Dies war der Moment, den er am meisten genoss. Die Sekunde, bevor sein Finger den Abzug betätigte. Der Augenblick, in dem er sich einbildete, es gäbe so etwas wie einen fairen Kampf zwischen ihm und dem Wild.

Dann der Knall.

Der Bock sprang davon.

Der Zeigefinger des Jägers zuckte unkontrolliert. Zu spät löste sich der Schuss aus seiner Jagdflinte, die Kugel verfehlte ihr Ziel.

Eine andere Kugel hatte getroffen.

Ein kleines Gerät auf dem Gartentisch vibrierte und schmetterte dann mit Pauken und Trompeten den Bayerischen Defiliermarsch in den goldenen Septembernachmittag. Hanna Petersen fuhr aus ihrem Liegestuhl hoch. Bis gestern noch hatte ihr Smartphone ganz normal geklingelt. Für diesen Streich kam nur ein Mensch in Frage.

»Westermann«, knurrte Hanna und sprang auf. »Dich bring ich um.«

War bloß grad keiner da zum Umbringen. Polizeikommissar Fritz Westermann befand sich mit dem Großteil der Einwohnerschaft von Hasellöhne auf der diesjährigen Treibjagd, dem Höhepunkt schlechthin im kulturellen Leben des Ortes.

Kulturell, dachte Hanna, wie man’s nimmt. Persönlich hatte sie was gegen erschossene Tiere. Gegen erschossene Menschen auch, aber das war eher beruflich bedingt.

Luise kam auf die Terrasse und verzog geradezu angewidert die Mundwinkel. Sie war durch und durch Preußin. Alles, was südlich von Hannover lag, war ihr suspekt.

»Schätzchen, nimm lieber ein schönes Volkslied«, sagte sie, als besäße Hanna die Entscheidungsgewalt über ihre Klingeltöne. »Zum Beispiel ›Auf der Lüneburger Heide‹.Würde auch besser passen.«

Luise war ihr ein paar Generationen voraus und ausgesprochen wahlheimatverbunden. Sie summte das Lied vor sich hin, während Hanna hektisch auf dem Smartphone herumhackte, um es zum Schweigen zu bringen. Nicht, dass die Nachbarn noch die Polizei riefen wegen einer bayerischen Ruhestörung. Oder die Feuerwehr. Die Polizei war ja schon da und machte gerade zwei Schritte auf den Gartenteich zu. Zur Not musste das Smartphone einen schnellen Wassertod sterben.

Luise sang jetzt: »Valleri, vallera, und juchheirassa, und juchheirassa …«

Hanna blieb unschlüssig stehen.

Die Bayern gaben nicht auf.

»Einfach rangehen!«, rief ihr Luise zu und schmetterte dann was vom Muskatellerwein, der ausgetrunken werden muss, weil er vom langen Stehen sauer wird.

»Darauf bin ich noch gar nicht gekommen«, erwiderte Hanna genervt. Das Problem war nur: Ihr Smartphone war neu, hatte tausend tolle Funktionen, von denen sie maximal zehn Prozent kapierte, und die richtige Taste musste erst mal gefunden werden.

Endlich!

»Petersen«, meldete sie sich knapp und legte ihre ganze schlechte Laune in ihren Nachnamen. War nicht wenig. Wenn es Westermann war, dann konnte der was erleben.

Und wäre stattdessen Hendrik dran gewesen, dachte sie noch, dann hätte er eben Pech gehabt. Oder sie selbst. Schwer zu sagen. Exfreunde, die keine »Ex« mehr sein wollen, sind eine komplizierte Angelegenheit.

Es war nicht Hendrik.

Die Stimme war zu einer Art Raunen gesenkt, und was sie sagte, jagte ihr an diesem ungewöhnlich warmen Tag einen kalten Schauder über den Rücken. »Mord. Im Wald von Fallersleben. Kommen Sie schnell!«

Ihre linke Ohrmuschel wurde heiß, weil sie das Smartphone so fest dagegendrückte. »Wenn das ein Scherz sein soll, dann rate ich Ihnen …«

»Kein Scherz«, kam es heiser zurück.

Hanna sah plötzlich einen Mann vor sich, der ein Taschentuch über das Telefon legte, um seine Stimme zu verzerren. Wer oft genug Tatort schaute, wusste, wie das ging.

Trotzdem kam ihr diese Stimme ganz schwach bekannt vor.

Oder?

»Banker Heiner Hansen ist tot. Beeilen Sie sich.«

»Bin schon unterwegs!«, rief Hanna aus und erntete einen verblüfften Blick von Luise, die mit ihrem Gesangsvortrag durch war und so tat, als würde sie nicht lauschen. »Wer …«

Rasch schaute sie auf das Display. »Nummer unterdrückt«, stand da.

Hätte sie sich denken können. Die Verbindung war inzwischen unterbrochen. Keine Chance, den anonymen Anrufer zu entlarven.

Auch gut, dachte sie. Das war jetzt nicht das Wichtigste. Sie tastete nach ihrem Waffenholster. Vergeblich. Hanna hatte an diesem Sonntag frei. Ihre Dienstwaffe schlummerte oben in ihrem Schlafzimmer im Tresor. Der Anrufer hatte Hanna auf einem Liegestuhl in der Sonne erwischt, wo sie sich alle Mühe gab, einen ganz normalen freien Tag zu genießen, ohne an die wachsende Zahl ihrer Feinde zu denken.

»Ich muss weg!«, rief sie nun Luise zu und sprintete ins Haus.

»Was ist denn passiert?«

Hanna schenkte sich die Antwort. In spätestens einer halben Stunde hätten sonst sämtliche Einwohner von Hasellöhne Bescheid gewusst.

Es waren exakt 761. Da sprach sich jede Neuigkeit schnell rum.

Ihre Hand zitterte, als sie nun den Tresor öffnete und ihre Waffe herausnahm. Kaum hatte sie sich jedoch das Schulterhalfter umgeschnallt, wurde sie ganz ruhig. Ab sofort war sie im Dienst.

Als sie die Treppe wieder hinunterlief, stand Luise in der Diele. Sie schaute Hanna kurz ins Gesicht und sagte keinen Ton mehr. In den wenigen Tagen, die Hanna bei ihr zur Untermiete lebte, hatte sie gelernt, zwischen der jungen nachdenklichen Frau, die auch mal ihren Rat suchte, und Kriminaloberkommissarin Hanna Petersen zu unterscheiden.

Hanna war ihr dankbar dafür.

In Bezug auf andere Leute in ihrem Umfeld konnte sie dasselbe leider nicht sagen. Von Polizeikommissar Fritz Westermann zum Beispiel nicht. Als ihr Untergebener hätte er ihr Respekt zollen müssen. Stattdessen versorgte er ihr Smartphone mit einem bescheuerten Klingelton.

Hanna hatte ihren Wagen erreicht und sprang hinein. Im nächsten Moment knallte sie die Blaulicht-Lampe aufs Dach und raste über löcherigen Asphalt in Richtung Norden. Sie ahnte, dass es lächerlich aussah, wie eine junge Frau in Zivil in einem dunkelblauen Golf mit Blaulicht über die verwaiste Straße eines malerischen Heidedorfes bretterte. Falls es hinter den Sprossenfenstern der Fachwerkhäuser heimliche Zuschauer gab, stünde Hanna zum x-ten Mal innerhalb einer knappen Woche im Mittelpunkt des Dorfklatsches. Andererseits gab es für sie jetzt ein spannenderes Thema. Und sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Eine Viertelstunde später erreichte Hanna den Waldrand. Von hier aus erstreckte sich Gut Fallersleben kilometerweit – mit Weizenfeldern, riesigen Weiden für die Pferde aus eigener Zucht und dem großen Forst, der direkt an den Naturpark Lüneburger Heide grenzte.

Hanna zögerte kurz. Welchen Weg sollte sie einschlagen? Vor ihr standen in langer Reihe die Autos der Einheimischen und der Jagdgäste, die zur ersten großen Jagd am letzten Sonntag im September vornehmlich aus Hamburg angereist waren. Als sie neben zwei Luxuskarossen beinahe in frisch gefallene Pferdeäpfel getreten wäre, musste sie trotz ihrer Anspannung grinsen. Weder der BMW noch der Mercedes kam für diese Hinterlassenschaft in Frage. Hanna wich dem Haufen aus, blieb dann stehen und lauschte in den Wald, der hier aus schwarz-weiß gefleckten Birken bestand.

Kein Laut drang heraus. Eine tödliche Ruhe hatte sich über die Gegend gelegt, kein Ruf, kein Schuss, kein Ton aus einem Jagdhorn war zu hören.

Hanna kniff die Augen zusammen. Dann entdeckte sie den Feldweg, eher eine Art Trampelpfad, der in den Wald hineinführte. Hie und da war Buschwerk niedergetreten worden.

Dort entlang also.

Sie zog ihre Waffe aus dem Schulterhalfter, nahm sicherheitshalber die Taschenlampe in die andere Hand und machte sich auf den Weg.

Sie mochte dreißig, vierzig Meter in den Wald eingedrungen sein, als sie erste menschliche Töne vernahm. Es klang wie ein noch weit entferntes Raunen. Inzwischen duftete die Luft nach würzigem Wacholder. Die aufrechten Sträucher und Bäume hatten sich unter die Birken gemischt, ein paar niedrige Büsche stellten sich Hanna als Stolperfallen in den Weg. Nicht weit von hier erstreckten sich die weiten, hügeligen Heideflächen.

Ihr Kopf fuhr ruckartig nach links, als sie aus dieser Richtung ein Geräusch hörte. Sie lauschte angestrengt und entspannte sich dann ein wenig. Es war nur das ferne Blöken einiger Heidschnucken gewesen.

Jetzt herrschte wieder Stille.

Vorsichtig ging Hanna weiter und betrat gleich darauf eine kleine Lichtung.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung in den Tiefen des Waldes wahr und achtete nicht darauf, wo sie hintrat.

Ihr Fuß verfing sich in einer hochragenden Wurzel, sie geriet ins Straucheln und stieß einen unterdrückten Schrei aus. Die Pistole flog ihr aus der Hand, und die Taschenlampe landete neben ihr, als Hanna der Länge nach hinschlug.

Ihre Sinne schienen auf einmal besonders geschärft, und Hanna nahm zwei Dinge gleichzeitig wahr: Den intensiven Geruch nach Blut und die unscharfe Gestalt eines Mannes, der auf sie zukam.

Im Zwielicht des Waldes konnte sie ihn nicht erkennen, aber sie spürte die Gefahr, die von ihm ausging.

Ihr Blick scannte den Boden. Verdammt! Die Pistole lag unerreichbar gute fünf Meter von ihr entfernt. Direkt neben einer Leiche.

Sie schaute wieder zu dem Mann, der sich wie in Zeitlupe näherte, und plötzlich wusste Hanna, dass sich ihr Schicksal in den nächsten paar Sekunden entscheiden würde. Ausgerechnet mitten in der Lüneburger Heide, dem letzten Ort auf Erden, wo sie je hatte sein wollen.

1

Fünf Tage zuvor

»Mist, verfluchter!« Hanna schlug mit der flachen Hand auf das Steuer. Die Straße da vorn war gesperrt. »Naturpark Lüneburger Heide«, stand auf einem großen Schild. »Durchfahrt verboten«.

Hanna spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Die Septembersonne brannte heiß auf das Autodach, die Klimaanlage war mal wieder kaputt, und ohne den Fahrtwind bei heruntergekurbelten Fenstern stieg die Hitze im Wageninneren augenblicklich auf fünfzig Grad. Mindestens. Und das nach einem Sommer, der eher ein Winter gewesen war.

»Fahren Sie geradeaus«, erklang die freundliche männliche Stimme ihres Navis. »In neunhundert Metern erreichen Sie Ihr Ziel.«

Hanna hatte sich bei der Anschaffung des Gerätes ganz bewusst einen männlichen Navi-Sprecher einstellen lassen. Wer sich als weibliche Minderheit auf einer Hamburger Polizeidienststelle durchsetzen musste, freute sich über jeden freundlichen Service eines Mannes. Und sei es nur in Form einer Sprecherstimme. Außerdem hatte sie ihm den Namen Hansdieter verpasst, nach Kriminalrat Hansdieter Behrens, ihrem ehemaligen Vorgesetzten.

»In neunhundert Metern erreichen Sie Ihr Ziel«, wiederholte Hansdieter gerade.

»Idiot«, schimpfte Hanna. Es tat ihr gut, so mit Hansdieter umzugehen, wenn es auch an ihrer misslichen Lage nichts änderte. »Du bist definitiv nicht auf dem neuesten Stand der Dinge. Wenn ich hier geradeaus fahre, mache ich mich strafbar. Das Verbotsschild ist nicht zu übersehen, und am Ende bleibe ich noch in einer Heidschnuckenherde stecken.«

Hansdieter wollte etwas sagen, aber sie schaltete ihn einfach ab. Mit seinem Namensvetter aus Fleisch und Blut war das leider nie möglich gewesen.

Hanna stieg aus und schickte einen lauten Stoßseufzer in den drückend heißen Himmel.

Wie sollte sie bloß in dieses verflixte Kaff namens Hasellöhne gelangen?

Fliegend vielleicht?

Sie sah sich um. Dort, im Halbschatten eines alten Schuppens, stand eine Pferdekutsche. Selbst für Hannas ungeübtes Auge wirkten die Tiere alt und klapperdürr. Der Mann auf dem Kutschbock sah auch nicht viel frischer aus, aber außer ihm gab’s in dieser Sackgasse kein menschliches Wesen.

Energisch ging Hanna auf die Kutsche zu. Heidesand geriet in ihre Pumps und scheuerte schon nach drei Schritten ihre Nylons durch.

»Guten Tag. Können Sie mir bitte sagen, wie ich nach Hasellöhne komme?«

Aus der Nähe wirkte der Mann wie ein schlecht erhaltener Hundertjähriger. Unter dem ehemals grünen, breitkrempigen, speckigen Filzhut breitete sich eine faltige Landschaft aus Tälern und Höhenzügen aus. Eine von Rissen und Altersflecken überzogene Hand wurde gehoben und wies kurz nach hinten.

Hanna schaute auf das Polster der Sitzbank. Es sah aus, als sei es von einer vielköpfigen Mäusefamilie bewohnt.

Sie schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber ich möchte nicht mit der Kutsche fahren. Es muss doch eine Straße in den Ort führen. Laut meinem Navigationsgerät müsste es hier eigentlich geradeaus gehen.«

»Gesperrt. Seit zwei Wochen. Naturschutz und so.«

Hanna hatte Mühe, die krächzende Stimme zu verstehen. Ganz gut, dass er kein Mann der vielen Worte war.

Wieder wies die rissige Hand nach hinten. »Nur zehn Euro. In Undeloh kostet’s das Dreifache.«

Dafür kommen die Gäule dort vermutlich auch lebend an, dachte Hanna bei sich. Erneut lehnte sie das Angebot ab. »Ich muss wirklich mit dem Auto dorthin. Es ist wichtig.«

»Keine Touristin?«

»Nein. Ich bin die neue Kommissarin für Hasellöhne und die umliegenden Orte.«

Die Augen des alten Mannes blitzten auf einmal regelrecht lebendig auf. So viel Temperament hätte sie ihm gar nicht zugetraut. »Brauchen wir nicht. Karl Överbeck soll wiederkommen.«

Hanna starrte ihn an. Offenbar hatte sie es hier mit einem hundertjährigen Geisteskranken zu tun.

»Mein Vorgänger ist vor drei Wochen gestorben. Haben Sie das nicht gewusst?«

Der Alte würdigte sie keines Blickes mehr. Er schnalzte mit der Zunge, und die beiden dunkelbraunen Klappergerüste setzten sich schnaufend in Bewegung. Im Zeitlupentempo rollte die Kutsche am Verbotsschild vorbei und in die Heide hinein. Eine riesige Staubwolke entstand, als die asphaltierte Straße in einen breiten Feldweg überging.

Hanna stand da und überlegte für einen Moment ernsthaft, der Kutsche hinterherzulaufen und aufzuspringen. Irgendwie musste sie ja an ihr Ziel gelangen.

Stattdessen ging sie zum Wagen zurück. Kaiser Napoleon hatte sich auf seinem Weg nach Elba auch nicht so erniedrigt.

Es musste einen anderen Weg geben.

Sie stieg in den Hochofen ein, wendete und fuhr zurück, während der wieder eingeschaltete Hansdieter vor sich hin meckerte. »An der nächsten Kreuzung vollziehen Sie eine U-Kehre. An der nächsten Kreuzung … In hundert Metern rechts in die Hermann-Löns-Straße einbiegen, in weiteren fünfzig Metern …«

»Ach, halt die Klappe.« Hanna gab es auf und stellte das Navi endgültig aus. Hansdieter legte es darauf an, sie mitsamt den nicht mehr ganz astreinen Abgaswerten ihres alten Golfs durch weite Flächen voller Heidekraut zu jagen. Vielleicht half ihr ja die gute alte Landkarte weiter. Während sie langsam die Straße zwischen Undeloh und Sahrendorf zurückfuhr, warf sie einen Blick drauf. Aha. Hier war sie selbst gerade, dort unten Wilsede mitten im Naturpark, und weiter südlich von ihrem Standort, nahe Sudermühlen, lag Hasellöhne. Okay, dachte Hanna, versuchen wir es hintenherum.

Zwei Stunden später erreichte sie nach mehrmaligem Verfahren, Nachfragen und neuerlichem Verfahren den Ort, der ihre neue Wirkungsstätte werden sollte.

Den Ort ihrer Verbannung.

Wenigstens fand sie sofort Haus Nummer 36, wo eine Wohnung im ersten Stock auf sie wartete. Die Hitze in ihrem Golf wurde schon wieder unerträglich. Ein Fachwerkhaus, hatte in der Beschreibung gestanden. Was an sich in einem Heidedorf nichts Besonderes war. Reetgedeckt. Auch nicht gerade exklusiv. Mit einem knapp zwanzig Meter hohen Wacholderbaum im Vorgarten. Der war allerdings einzigartig.

Hanna hatte Wacholder immer für einen Busch gehalten, aber sie verstand auch nicht viel von Botanik. Sie war Großstädterin durch und durch. In Hamburg-Wilhelmsburg geboren, in Hamburg-Harburg aufgewachsen, hatte sie mehr als zehn Jahre lang bei der Polizei in Hamburg-Altona in Dienst gestanden. Im Großstadtdschungel fand sie sich zurecht, weite Grünflächen oder dichte Wälder waren nicht so ihr Ding. Jedenfalls stand dieser Riesenbaum vor der Hausnummer sechsunddreißig und sah ein bisschen aus wie eine Zypresse aus der Toskana, die sich verlaufen hatte.

Hanna parkte am Straßenrand, stieg aus, ignorierte ein leichtes Schwindelgefühl und ging auf die Haustür zu. Noch bevor sie am Riesenwacholder vorbei war, wurde die Tür von innen aufgerissen.

»Da sind Sie ja endlich! Ich warte schon seit Stunden auf Sie! Wollte schon die Polizei rufen!«

Hanna blieb abrupt stehen. Wo war sie hier gelandet? In einem Dorf der verrückten Alten?

Die Frau vor ihr sah aus wie die unwesentlich jüngere Schwester des durchgeknallten Kutschers. Das mochte an dem ebenso speckigen uralten Filzhut auf ihrem Kopf liegen – oder daran, dass Hanna dringend ein Glas Wasser brauchte.

»Frau Pleschke?«, erkundigte sie sich vorsichtig und zwinkerte gegen die bunten Sterne vor ihren Augen an. Sie hatte sich unter ihrer Vermieterin jemand anderes vorgestellt. Eine junge Frau, vielleicht Anfang dreißig wie sie selbst, die ihr in ihrer Verbannung eine tröstende Freundin werden konnte. Reines Wunschdenken, wurde ihr jetzt klar.

»Die bin ich. Höchstpersönlich. Was machen Sie denn da? Sie wollen doch wohl nicht umkippen?«

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Hanna würdevoll und sackte in die Knie.

Hundert kann sie noch nicht sein, dachte sie, als Frau Pleschke mit einem Satz bei ihr war, sie unter den Achseln packte und festhielt. »Meine schönen Rosen. Bitte nicht platt drücken.«

»Nein«, versprach Hanna und hing schwer an Frau Pleschke, die ein bisschen komisch roch.

Ein Auto fuhr vorbei, bremste, kam zurück. Hanna nahm es aus den Augenwinkeln wahr, voll damit beschäftigt, ihre Muskeln anzuspannen.

»Das kommt davon, wenn man bei der Hitze nichts auf dem Kopf trägt«, schimpfte Frau Pleschke. »Da muss man ja einen Hitzschlag kriegen.«

Hanna überlegte, ob sie in Zukunft auch so einen grässlichen Filzhut würde tragen müssen, und ihr wurde ein wenig schlecht.

»Jo!«, schrie Frau Pleschke. »Komm schnell! Unsere neue Kommissarin macht schlapp!«

Toll, dachte Hanna. Genau der Einstand, den ich brauche, um mir Respekt zu verschaffen.

Eine Autotür wurde zugeschlagen, eilige Schritte näherten sich.

Bitte nicht noch ein Methusalem, dachte Hanna, während sie neue Kraft in den Beinen spürte und sich aufrichtete.

»Es geht schon wieder«, sagte sie. »Ich möchte nur ins Haus gehen und ein Glas Wasser trinken.«

»Da wüsste ich was Besseres«, erwiderte Frau Pleschke und lockerte ihren Griff.

»Untersteh dich, Luise«, sagte der Mann, der nun herangekommen war. »Deinen Wacholderschnaps lässt du unter Verschluss. Die junge Dame braucht Ruhe, Schatten und viel Flüssigkeit. Alkoholfreie Flüssigkeit!«

Junge Dame? Hatte sich hier jemand im Jahrhundert vertan? Hannas Lebensgeister kehrten schlagartig zurück. Erleichtert stellte sie fest, dass sie keinen alten Herrn vor sich hatte. Der Mann war höchstens Mitte dreißig, von schlanker Gestalt und mittelgroß. Trotzdem überragte er Hanna noch um einige Zentimeter. Der Blick aus seinen braunen Augen war freundlich, eine dunkle Haarlocke fiel ihm vorwitzig in die Stirn.

Mit durchgedrücktem Rücken und strengem Blick reichte sie ihm die Hand. »Hanna Petersen.«

»Johann Johannsen, sehr erfreut.« Seine Hand war kräftig und warm.

Hanna verzieh ihm auf der Stelle die »junge Dame«. Und für seinen Namen konnte er ja nichts.

Johann Johannsen. Mussten die Eltern ihm so was antun? Wie oft war er als Kind wohl für dieses Doppelgemoppel gehänselt worden?

Und was interessiert dich das?, erkundigte sich Hannas innere Stimme, die sie gern mal piesackte. Mal davon abgesehen, dass dein eigener Name auch darin vorkommt, ist es doch wurscht, wie der Typ heißt.

»Nun mal nicht so bescheiden«, mischte sich Luise Pleschke ein. »Das ist unser allseits verehrter Doktor Johannsen, und Johann nennt ihn auch keiner. Jo heißt er für seine Freunde, stimmt’s oder habe ich recht?« Sie sprach den Namen auf amerikanische Art aus: Dscho. »Er ist zwar noch ein bisschen jung, aber ein erstklassiger Arzt. Sie können sich ihm mit allen Wehwehchen voll anvertrauen.«

Hanna zog die Hand zurück, doch sie hatte sie noch bemerkt, diese merkwürdige Schwingung auf der Haut, die ihr nicht neu war. Es wunderte sie nur, dass sie Bedauern darüber empfand.

Johannsen zeigte ein halbes Lächeln. »Die gute Luise übertreibt maßlos. Ich habe erst vor kurzem die Praxis meines Vaters übernommen, aber ich tu mein Bestes, um den guten Ruf unserer Arztfamilie in der Gegend zu erhalten. Gehen Sie jetzt ruhig hinein, und kommen Sie in den nächsten Tagen mal in meine Praxis, damit ich Sie gründlich durchchecken kann.«

Hanna fühlte sich herumkommandiert. Etwas, das sie gar nicht mochte. »Nicht nötig, ich bin kerngesund. Trotzdem vielen Dank.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich. Es ist nur die Hitze. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um hierherzufinden, und die Klimaanlage in meinem Auto ist schon seit Jahren kaputt.« Sie lächelte schief. »Ich dachte ja, ich trete meinen Dienst in der Lüneburger Heide an und nicht in der Sahara.«

Luise Pleschke kicherte, aus Jo Johannsens halbem Lächeln wurde ein Dreiviertellächeln.

»Also dann, herzlich willkommen«, sagte er und kehrte zu seinem Wagen zurück.

Hanna sah ihm nach und fragte sich, was sie an dem Mann störte. Wollte man Luises Lobpreisungen Glauben schenken, schien er ein fähiger Arzt zu sein. Trotzdem hatte sie vor zwei Minuten diese Schwingung in ihrer Handfläche gespürt, und die hatte nichts mit einer plötzlichen Verliebtheit zu tun. Hanna war keine Frau, die so schnell ihr Herz verlor. Auch nicht an attraktive Landärzte. Aber sie verfügte über einen besonderen Instinkt, so eine Art inneren Lügendetektor. Sie konnte spüren, wenn mit einem Menschen etwas nicht stimmte, und bei Doktor Johannsen war eindeutig etwas faul. Nur was? Sie würde es herausfinden müssen, und sie ahnte, er würde dann nicht mehr so freundlich und zuvorkommend sein.

Zehn Minuten später saß Hanna bei Luise in der kühlen guten Stube und trank ihr zweites Glas Mineralwasser.

»Jetzt erzählen Sie doch mal, was Sie hierher verschlagen hat«, bat Luise.

Sie gab sich keine Mühe, ihre Neugier zu verbergen. »Stimmt es, dass Sie strafversetzt worden sind? Was haben Sie denn angestellt?«

Hanna verschluckte sich an ihrem Wasser, hustete und verspürte auf einmal großes Heimweh. Nach Hamburg, nach ihren Kollegen und sogar nach Hendrik, den sie eigentlich nicht mehr liebte.

Luise plauderte unterdessen munter weiter. »Der arme Karl Överbeck wollte ja erst in fünf Jahren in Pension gehen. Da rafft ihn doch so ein dummer Herzinfarkt hin. Eine Schande ist so was. Er hatte noch viel vor im Leben, und wir haben ihn alle sehr geschätzt. Ein guter Polizist. Wenn es nötig war, konnte er auch mal alle fünfe gerade sein lassen.«

Na toll, dachte Hanna. Ein Dorfsheriff, der das Gesetz nach Lust und Laune ausgelegt hat. So ein Vorgänger ist genau das, was ich brauche.

»Es ist übrigens mitten in einem Einsatz passiert«, fuhr Luise fort. »Karl war einer Bande von Heidschnuckendieben auf der Spur. Da hat’s ihn erwischt, nachts allein auf der Heide. Ein paar Touristen haben ihn am nächsten Morgen gefunden. Ganz steif war er da schon. Der Jo konnte ihm auch nicht mehr helfen. Möchten Sie vielleicht ein Schnäpschen? Den mache ich selbst aus Wacholderbeeren, und es heißt, er kann Tote erwecken. Nur den Karl leider nicht.«

Heidschnuckendiebe? Tote erwecken? Sie hatte sich jetzt verhört, ja? Hanna beschloss, dass ein winzig kleiner Schnaps ganz hilfreich sein konnte, um das alles hier zu verkraften.

2

Vorsichtig nippte Hanna an ihrem Schnapsglas. Die helle Flüssigkeit duftete nach den Weiten der Lüneburger Heide und schmeckte würzig, leicht, scharf, kräftig, mild – irgendwie alles zusammen.

»Lecker.«

Luise kicherte. Schien ihre Lieblingsbeschäftigung zu sein. »Und hilft in allen Lebenslagen. Abends reibe ich mich damit ein. Ich schwöre, mein Schnaps ist das beste Rheumamittel der Welt.«

Daher der ungewöhnliche Körperduft, dachte Hanna und kicherte jetzt auch ein bisschen. Luise war schwer in Ordnung, und warum sollte eine gut Achtzigjährige eigentlich nicht ihre Freundin werden können?

»Bei Zahnweh hab ich’s auch schon ausprobiert. Hab ein Stück Brot mit meinem Schnaps getränkt und lange draufgebissen. Hab nichts mehr gespürt, musste nur ein paar Mal nachlegen. Na, und bei Weltschmerz aller Art hilft es, sich reichlich davon hinter die Binde zu kippen.«

»Ach so«, sagte Hanna und trank ihr Gläschen aus, das gleich wieder aufgefüllt wurde. Sie überlegte, ob sie im Dienst war. Nein, erst morgen. Also runter damit. Dabei konnte sie auch eine Weile vergessen, dass die Begegnung mit Johannsen sie so irritiert hatte.

»Jetzt erzähl endlich«, sagte Luise. »Was hat dich ausgerechnet in die Heide verschlagen?«

Hanna ließ sich anstandslos duzen, der destillierte Wacholder wirkte bereits Wunder.

»Eigentlich der blöde Hansdieter«, erklärte sie.

»Aha. Dein Freund?«

»Nein. Mein Freund heißt Hendrik. Also, mein Exfreund. Der war aber auch beteiligt. Jedenfalls – Hansdieter ist mein Navi … äh … ich meine, das war mein Vorgesetzter in Altona.« Sie war Luise dankbar dafür, dass sie jetzt mal nicht kicherte.

»Gut. Weiter.«

»Hansdieter Behrens hat mich drei Jahre lang bei jeder Beförderung übergangen. Das fand ich ungerecht. Ich bin eine gute Kommissarin, korrekt, fleißig und immer pünktlich.«

Etwas in Luises Blick störte sie.

»Ich hab mir nie irgendwas zu Schulden kommen lassen, und bestechlich bin ich auch nicht, das kannst du mir glauben.«

War das etwa Mitleid in Luises Augen? Hanna blinzelte. Blödsinn, der Schnaps verzerrte anscheinend ihre Wahrnehmung.

»Ich hätte es verdient gehabt, Hauptkommissarin zu werden«, fuhr sie fort. »Schon lange. Aber ich konnte so viel Einsatz zeigen, wie ich wollte, Behrens hat mich einfach nicht berücksichtigt.«

Der bekannte Zorn stieg in ihr auf, und sie hielt ihr leeres Glas hoch.

Luise schien zu zögern, schenkte aber doch nach. »Du bist noch sehr jung, Schätzchen«, murmelte sie dabei. »Mit Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein allein kommt man im Leben nicht weit.«

Hanna war nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte, und zog es vor, darüber hinwegzugehen.

»Und Hendrik, der Mistkerl, hat mich fleißig betrogen, wenn ich Doppelschichten geleistet habe. Als ich es herausfand, hat er behauptet, er könne nichts dafür, wenn sich ihm die Frauen an den Hals würfen. Und so was nach fünf Jahren Beziehung, in der er mir regelmäßig seine ewige Liebe geschworen hat.«

Luise machte eine müde Handbewegung. »Hab noch keinen Mann erlebt, der einer Versuchung widerstehen könnte. Damals, in den Fünfzigern in Berlin, hat mich auch mal einer betrogen. Ha, dem hab ich’s aber heimgezahlt …« Sie brach ab. »Die Geschichten einer alten Frau interessieren dich bestimmt nicht.«

Eigentlich schon, dachte Hanna, wollte aber nicht genauso neugierig erscheinen wie Luise. Daher fragte sie nur: »Berlin? Du bist gar nicht von hier?«

Luise kicherte, was Hanna auf einmal wieder angenehm fand. Angenehmer als diesen mitleidsvollen Blick. »Ich lebe seit vierzig Jahren in Hasellöhne, aber für manche Leute hier bin ich immer noch die Zugereiste.«

»Super. Dann habe ich so ungefähr im Jahr zweitausendfünfzig die Chance, von den Einwohnern akzeptiert zu werden?«

»Nur kein Pessimismus. Könnte auch schon zweitausendvierzig passieren.«

Sie brachen beide in Gelächter aus, stießen an und tranken.

Es fühlte sich gut an, eine Verbündete zu haben.

Nach einer Weile erzählte Hanna weiter. »Ich habe dann von einem Kollegen in Stade gehört, der nach Hamburg wechseln wollte und einen Tauschpartner suchte.«

»Einen Tauschpartner?«, hakte Luise nach. »Ist das was Unanständiges?«

Hanna musste lachen. »Quatsch. Aber man kann sich im Polizeidienst nicht einfach von einem Bundesland ins andere versetzen lassen. Dazu braucht man jemanden, mit dem man die Stelle tauscht.«

Luise wirkte enttäuscht und goss sich noch einen Schnaps ein.

»Ich dachte, das wäre die Chance für meine Karriere«, fuhr Hanna fort. »Und ich konnte gleichzeitig Abstand von Hendrik gewinnen.«

Während sie sprach, fühlte sie sich auf einmal beobachtet. Sie warf einen schnellen Blick aus dem Fenster, aber sie sah nur den Schatten des Riesenwacholders. Wirklich? Seit wann sprang ein Baumschatten davon, wenn sie nur den Kopf wandte? Zu viel Schnaps, entschied Hanna und hielt die Hand über das Glas, als Luise schon wieder zur Flasche griff.

»Lieber nicht. Ich habe heute noch nichts Richtiges gegessen.«

»Dachte ich mir, Schätzchen. Im Ofen schmort schon ein feiner Hase mit Wacholderbeeren.«

Irgendwie konnte Hanna das Wort Wacholder nicht mehr hören.

»Wunderbar«, sagte sie trotzdem artig.

»Und wie war es dann in Stade?«

»Grässlich! Einfach grässlich!«

»So schlimm?«

»Schlimmer.« Hanna schloss kurz die Augen und erinnerte sich an ihren ersten Tag auf der Dienststelle. Die Begrüßung durch die neuen Kollegen, ein wenig zurückhaltend, aber freundlich. Der Handschlag von Polizeioberrat Ehling, die heftige Schwingung, die plötzlich Hannas Haut erfasste. Sie wollte sich einbilden, da sei nichts, verdrängte tagelang ihre böse Ahnung. Bis Ehling eines Abends zur Sache kam.

»Einer der Kerle da wollte dir an die Wäsche«, mutmaßte Luise.

Hanna riss überrascht die Augen auf. »Woher weißt du das?«

Luises Blick wurde weich. »Steht dir ins Gesicht geschrieben.«

»Er hat mir meine Beförderung in Aussicht gestellt«, murmelte Hanna.

»Unter der Bedingung, dass du ein bisschen nett zu ihm bist.«

»Hm.«

Luise legte ihre Stirn in tausend Falten. »Und wie hast du reagiert? Nein, warte, lass mich raten. Ich kenne dich ja schon seit zwei Stunden, da ist es nicht besonders schwer. Du hast ihn angezeigt.«

»Ich … war kurz davor.« Die zweite Möglichkeit, nämlich ihre Waffe zu ziehen und den verheirateten Familienvater über den Haufen zu schießen, hatte Hanna nur ganz kurz in Erwägung gezogen.

Sie überlegte, wie sich wohl ihr sagenhafter Vorgänger in Hasellöhne verhalten hätte, sofern er eine Frau gewesen wäre. Vermutlich hätte Karl Överbeck die schießende Variante gewählt.

»Aber?«, hakte Luise nach.

Hanna senkte den Kopf. »Ich war zu feige. Mir war klar, dass ich für alle Zeiten bei sämtlichen Kollegen in Deutschland als Nestbeschmutzer gelten würde. Wenn ich Ehling angezeigt hätte, dann hätte ich mir auch gleich einen neuen Job suchen können. Als Nachtwächterin oder Rausschmeißerin in einem Klub auf der Reeperbahn. Etwas in der Art.«

Luise tätschelte ihre Hand. »Das hat absolut nichts mit Feigheit zu tun, Schätzchen, sondern mit einer gesunden Portion Realismus in einer von Männern dominierten Welt.«

»Danke.« Ihr war danach, Luise zu umarmen, aber sie blieb lieber sitzen. Der Wacholderschnaps zeigte langsam Wirkung, und draußen tanzte schon wieder ein verflixt großer Schatten vorbei.

»Und was ist dann passiert?«

»Strafversetzung. Ehling hat mir immerhin noch die Wahl gelassen. Teufelsmoor oder Lüneburger Heide.«

»Und warum hast du dich für die Heide entschieden?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich fand, Teufelsmoor klang irgendwie …«

»Teuflisch?«, half Luise aus.

»Genau. Die Lüneburger Heide schien mir das kleinere Übel zu sein.«

Luise wirkte verstimmt. Hanna sollte noch lernen, dass ihre Vermieterin nichts auf ihre Wahlheimat kommen ließ.

»Ich … äh … finde es sehr nett hier«, sagte sie schnell.

»Und ich glaube dir kein Wort.«

Hanna senkte den Blick. »Aber bestimmt werde ich mich schnell eingewöhnen.«

»Was weißt du über Hasellöhne?«

Hanna hob die Schultern. »Was ich so wissen muss. Ein ruhiges Dorf, die meisten Einwohner leben vom Tourismus. Ich werde wahrscheinlich nicht viel zu tun haben.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst«, bemerkte Luise. »Ganz so beschaulich, wie du es dir vorstellst, ist es hier nicht.«

Hanna hob die Augenbrauen. »Gibt es im Ort etwa auch S-Bahn-Surfer, Crack-Dealer und Aufmärsche von Neonazis?«

»Unsinn. Aber auch wir haben unsere Probleme. Außerdem bist du nicht nur für Hasellöhne, sondern auch für die umliegenden Orte zuständig. Und … na ja …«

»Was denn?«

Luise beugte sich vor. »Hier trauern alle noch dem Karl Överbeck nach. Es wird nicht leicht werden für dich. Eine junge hübsche Polizistin aus der Stadt hat niemand erwartet.«

»Kriminaloberkommissarin«, stellte Hanna richtig.

»Ungefähr das meine ich.«

Hanna verstand nicht.

»Man wird dich für arrogant halten, und das wird alles noch schwerer machen. Die Leute werden dich nicht mögen. Die Heidjer sind ein besonderes Völkchen. Man muss wissen, wie man mit ihnen umgeht.«

»Auf Zuneigung kann ich verzichten. Hauptsache, ich werde respektiert.«

Luise öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder. Die junge und die alte Frau musterten einander über die Abgründe von Erfahrung und Lebensweisheit hinweg. Hanna hatte das Gefühl, dass sie einen stillen Kampf austrugen und sie selbst dabei den Kürzeren zog.

Blöder Schnaps, dachte sie.

»Ich gehe mal nach dem Hasen schauen«, sagte Luise nach einer Weile in die Stille hinein. »Oder möchtest du vorher deine Wohnung sehen?«

Hanna winkte ab. »Das hat Zeit.«

Sie fürchtete sich ein bisschen vor einem neuen, nach dem Geschmack einer alten Frau möblierten Zuhause. Ihre eigenen Möbel hatte sie in Hamburg eingelagert. Dann war sie strafversetzt worden, noch bevor sie sich in Stade häuslich eingerichtet hatte. Und nun? Die Möbel kommen lassen und sich in Hasellöhne eine feste Bleibe suchen? Oder hoffen, dass dieser Albtraum demnächst vorbeiging? Vielleicht wachte sie ja morgen früh in ihrer schönen Altbauwohnung in Altona auf, mit Hendrik an ihrer Seite, und die letzten zwei Monate waren auf der Festplatte ihres Lebens gelöscht.

»Kann ich bitte noch einen Wacholderschnaps haben?«, rief sie Luise hinterher, die schon auf dem Weg in die Küche war.

»Bediene dich, Schätzchen. Aber sei vorsichtig. Muss man vertragen können.«

»Ich bin ein Hamburger Kapitänskind«, murmelte Hanna. »Die können was ab.«

In Wahrheit war ihr Vater vierzig Jahre lang als einfacher Matrose zur See gefahren, aber das musste niemand wissen. Schon als sie in den Polizeidienst eingetreten war, hatte Hanna ihre Biografie geschönt, und sie würde auch jetzt, ganz allein in einer Hasellöhner guten Stube, nicht damit aufhören.

Ganz allein? Wirklich?

Da war er wieder, der große Schatten vor dem Fenster. Die Sonne war inzwischen fast untergegangen, und aus dem Schatten war eher ein diffuser Schemen geworden. Trotzdem.

Da war jemand.

Hanna beschloss zu handeln.

In aller Ruhe stand sie auf, streckte sich, tat, als interessierten sie die Fotos auf dem Bücherregal, die allesamt eine um Jahrzehnte jüngere Ausgabe von Luise Pleschke zeigten. Eine schöne Frau, dachte Hanna geistesabwesend und näherte sich ganz langsam der Tür. Dann sprang sie vor, durch die Diele, zum Haus hinaus, in den Vorgarten. Keine fünf Sekunden dauerte die Aktion.

Trotz Schnaps.

Hanna war stolz auf sich. Schon hatte sie den Schatten gepackt.

»Scheiße!«, schrie der. Ein sehr großer Mann aus Fleisch und Blut, kein hüpfender Wacholdergeist.

Hanna drehte ihm den Arm auf den Rücken. Gelernt war gelernt, auch wenn der Mann ungefähr doppelt so stark war wie sie selbst. »Auf den Boden! Lang hinlegen, keine Bewegung!«

»Scheiße«, sagte er wieder und befreite sich mit einem Ruck aus ihrem Griff. Der hat auch was gelernt, stellte sie fest.

Hanna wich zurück, bis der Wacholderriese ihr mit seinen Nadeln in den Rücken piekte.

Mit ihrer strengsten Stimme befahl sie: »Polizei. Nehmen Sie die Hände hoch!«

»Auch Polizei. Das könnte Ihnen so passen.«

»Was?« Ihr war jetzt ein bisschen schwindelig. Ähnlich wie vorhin in der Hitze. Musste an dem Vorgarten liegen oder an Luises Hochprozentigem.

»Sie haben schon richtig gehört, werteste Kollegin.«

Klang aber nicht nach Wertschätzung, eher nach tiefer Ablehnung, fand Hanna. Erst jetzt bemerkte sie die dunkelblaue Polizeiuniform.

Bevor sie etwas sagen konnte, rief Luise aus dem Küchenfenster: »Essen ist fertig. Du bist auch eingeladen, Fritz. Oder wollt ihr noch eine Weile Räuber und Gendarm spielen?«

Hanna fühlte, wie sie rot wurde. Der junge Mann vor ihr grinste frech.

»Kriminaloberkommissarin Hanna Petersen. Und wer sind Sie?«

»Polizeikommissar Fritz Westermann, sehr erfreut.« Klang auch nicht erfreut.

»Warum schleichen Sie hier herum, anstatt sich vernünftig bei mir vorzustellen?«

Sein Grinsen wurde breiter. »Was heißt hier rumschleichen? Ich hab ganz unschuldig in Luises Vorgarten gestanden und den Wacholder bewundert, bevor Sie mich tätlich angegriffen haben. Gehen Sie immer so mit Ihren Untergebenen um?«

Fast, aber nur fast hätte Hanna wütend mit dem Fuß aufgestampft.

So eine Unverschämtheit!

Sie hatte nicht damit gerechnet, von ihrem einzigen Kollegen in Hasellöhne mit offenen Armen empfangen zu werden. Immerhin hatte sie vor ihrer Abreise aus Stade noch schnell ein paar Erkundigungen eingezogen. Fritz Westermann hatte sich offenbar Hoffnungen auf eine Beförderung gemacht. Nach einer entsprechenden Fortbildung wollte er den Platz des verstorbenen Karl Överbeck einnehmen und im Eiltempo Oberkommissar werden.

Tja, hatte Hanna gedacht. Dumm gelaufen, so was kenne ich auch.

Aber wenigstens eine professionelle Zusammenarbeit musste möglich sein, hatte sie noch auf der Fahrt in die Heide gedacht. Stattdessen traf sie nun auf einen Polizisten, der sie nicht nur ausspionierte, sondern auch offen ablehnte.

Klasse. Wurde immer besser hier.

Die Tatsache, dass er unverschämt gut aussah, war auch nicht gerade hilfreich. Sonnengelbes Haar, kantiges Gesicht und Augen, die sogar im Dämmerlicht hellblau schimmerten.

Mannomann! Wann war dieser germanische Gott von Walhall nach Hasellöhne umgezogen?

Wenigstens seine schlechten Manieren waren menschlich. Das beruhigte sie ein bisschen.

Westermann hob die Stimme: »Alles in Ordnung, Leute! Ihr könnt nach Hause gehen. Mit unserer feinen neuen Kommissarin ist nur grad ein bisschen das Temperament durchgegangen.«