Onkel Humbert guckt so komisch - Brigitte Kanitz - E-Book

Onkel Humbert guckt so komisch E-Book

Brigitte Kanitz

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Beschreibung

Was guckst du?

Maja Glück würde sich an ihrem 30. Geburtstag am liebsten verkriechen, denn nichts läuft in ihrem Leben so wie geplant. Zu dumm, dass ihre Mutter eine Überraschungsparty organisiert hat … Um diese zu überstehen, trinkt Maja ordentlich einen über den Durst – und stolpert so unglücklich über einen Gartenzwerg, dass sie erst im Krankenhaus wieder zu sich kommt. Doch etwas ist anders: Plötzlich hört sie Stimmen, die ihr die unglaublichsten Dinge erzählen. Als sie schon meint, verrückt zu werden, klärt ihr Onkel Humbert sie auf: Maja hat den Fluch der Familie geerbt. Sie kann Gedanken lesen …

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Seitenzahl: 316

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Buch

Haben Sie sich schon mal gewünscht, die Gedanken anderer Leute lesen zu können? Überlegen Sie sich das gut, lesen Sie erst einmal Majas Geschichte. Könnte sein, dass Sie dann Ihre Meinung ändern. Maja kann das nämlich plötzlich wirklich, die Gedanken anderer lesen, genau wie ihr komischer Großonkel Humbert. Und es ist nicht nett, was ihre Familie und der Mann ihrer Träume so über sie denken. Zum Glück entdeckt Maja, dass ihr neues Talent auch Vorteile hat. Und die wird sie brauchen, nicht nur, um ihre Heimatstadt vor skrupellosen Investoren zu retten. Sondern auch weil ihr der unverschämt gutaussehende Arzt aus der Klinik nicht mehr aus dem Kopf geht – im wahrsten Sinne des Wortes …

Autorin

Brigitte Kanitz, Jahrgang 1957, hat zunächst lange in Norddeutschland gewohnt. Inzwischen lebt und schreibt sie seit vielen Jahren in ihrer Wahlheimat Italien. Sie war Redakteurin bei diversen Printmedien, bevor sie sich ganz der Belletristik widmete. Bei Blanvalet veröffentlichte sie bereits erfolgreich einige Familienkomödien und einen Regionalkrimi.

Außerdem von Brigitte Kanitz bei Blanvalet lieferbar:

Immer Ärger mit Opa

Oma packt aus

Mord mit Schnucke

Brigitte Kanitz

Onkel Humbert guckt so komisch

Roman

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

1. Auflage

Originalausgabe August 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2014 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: bürosüd°, München

Umschlagillustration: Gerhard Glück

Redaktion: Rainer Schöttle

ES · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-10199-2www.blanvalet.de

Für IngeDu bist immer da, wenn man dich braucht. Auch, wenn’s richtig dicke kommt!

Prolog

Wo bin ich? Gute Frage. Mal überlegen. Meine Augen wollten sich nicht so recht öffnen lassen. Auf meinen Lidern lagen Miniatur-Betondeckel.

Vielleicht funktionierte ja mein Geruchssinn. Vorsichtig sog ich Luft durch die Nase. Merkwürdig. Wo war der Duft nach Grillfleisch abgeblieben? Eben noch hatten die brutzelnden Würste und fetten Nackensteaks sogar Mamas geliebte Heckenrosen übertrumpft. Der herbe Geruch des frisch gezapften Bieres war angesichts so viel gebratener Konkurrenz zurück ins Fass geschlüpft, und selbst Stines angeblich selbst gebackener Butterkuchen hatte nur noch malerisch gestapelt auf dem Gartentisch herumgelegen, ohne die kleinste Duftnote abzugeben.

Selbst gebacken.

Von wegen!

Ich war zufällig dabei gewesen, als meine Superschwester klammheimlich das Einwickelpapier der Bäckerei Borstelmann verschwinden ließ.

»Wehe, du verrätst mich!«, hatte sie gedroht.

Mein spöttisches Grinsen war nicht ganz echt gewesen. Wenn Stine mich mit diesem ganz bestimmten stechenden Blick durchbohrte, waren wir wieder fünf und neun Jahre alt, und das Kind in mir schlotterte vor Angst. Stines Strafen bestanden damals aus nächtlichen Gruselgeschichten über kleine Mädchen an Marterpfählen oder im Maul eines Wals oder, die schlimmste von allen, mutterseelenallein in unserem Keller, während die Ratten an meinem rechten großen Zeh nagten.

Nach fünfundzwanzig Jahren sollte ich darüber erhaben sein.

War ich auch.

Meistens.

Ich holte noch mal Luft. Was war das? Waschpulver? Bleichmittel? Und noch etwas, das ausgesprochen sauber roch, geradezu keimfrei.

So kam ich nicht weiter. Meinen Tastsinn konnte ich auch gleich wieder vergessen. Unter meinen Handflächen befand sich eine undefinierbare, leicht wellige Oberfläche, und darunter mein flacher Bauch.

Flacher Bauch? Aha! Ich lag auf dem Rücken. Nur in dieser Stellung verdiente mein Bauch diese freundliche Umschreibung. Immerhin, ein erster Hinweis.

Mal hören, was meine Ohren herausbekommen konnten. Auf die war hoffentlich mehr Verlass als auf meine zubetonierten Augen.

Zuerst vernahm ich in einiger Entfernung hektische Stimmen, dazu undefinierbare Pieptöne und einen Laut, der sich anhörte wie quietschende Gesundheitsschuhe auf Linoleum. Ich rätselte eine Weile herum, aber mir fiel mit aller Fantasie nicht ein, wie diese Geräusche in unseren heimischen Garten passen konnten – zu Small Talk, Gläserklirren und leisem Schmatzen.

Und warum sollte ich überhaupt lang gestreckt auf dem Rasen liegen? Der war auch plötzlich angenehm weich. Kein Stöckchen oder Steinchen pikste mich, und er roch mehr nach frischer Wäsche als nach Rasen.

Mir wurde das jetzt echt zu kompliziert. Wieso wollten meine Augen bloß nicht aufgehen?

Auf einmal war jemand ganz nah bei mir und fluchte mit tiefer Stimme.

»Verdammter Mist! Viereinhalb Minuten vor Dienstende. Warum muss das immer mir passieren? Jetzt komme ich zu spät zu meinem Date.«

Okay, dachte ich langsam. Ein Mann ärgerte sich und fluchte unfein, weil er noch arbeiten musste und eine Verabredung verpasste.

Und was hatte das mit mir zu tun?

Mein Gehör mochte ja funktionieren, mein Kopf offenbar nicht. So sehr ich mich anstrengte, ich fand keinen logischen Zusammenhang.

Dieselbe Stimme, vielleicht einen Tick höher, sagte jetzt: »Cameron, machen Sie ein MRT.«

Hä?

Doktor House? Hilfe! Wo bin ich?

Ich schluckte trocken und dachte angestrengt nach. Dann endlich rückten ein paar Nervenenden in meinem Gehirn knisternd zusammen, und ich verstand das eben gehörte richtig: »Corinna, fragen Sie an, ob das MRT frei ist.«

Hm. Cameron hieß also Corinna. Passte besser in den deutschen Norden. Aber das MRT kam immer noch in dem Satz vor.

Rätselhaft.

»Sofort, Doktor.« Eine junge weibliche Stimme, die sehr energisch klang. So eine richtige Krankenschwesterstimme. Ein wenig leiser fügte Corinna hinzu: »Aber nur, wenn du mal kurz deinen Kittel ausziehst und mir deinen Knackarsch zeigst.«

Oha!

Sex and the City?

Private Practice?

Zu meiner Überraschung antwortete der Doktor nicht darauf.

Schade. Hätte mich doch mal interessiert.

Ich beschloss, dass mir jetzt endgültig alles zu viel wurde, und driftete weg.

1. Nein, ich will keinen Geburtstag!

Zwölf Stunden zuvor.

An diesem Sonntagmorgen im Mai blieben meine Augen auch fest geschlossen. Diesmal allerdings freiwillig. Ich kniff sie zusammen, obwohl ich längst wach war. Vielleicht hatte ich heute mal Glück und der Tag strich ungelebt an mir vorbei.

Glück. Pah! Das gab es nur in meinem Nachnamen – wofür ich meine Urahnen gern mal zur Rechenschaft gezogen hätte –, aber nicht in meinem Leben.

»Maja, was soll das werden?«

Meine Mutter stand vor meinem Bett in unserem alten Kinderzimmer und hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt. Das wusste ich auch ohne hinzuschauen. War eine ihrer Lieblingsposen. Vor allem, wenn sie sich aufregte. Vorzugsweise über mich.

»Ich schlafe«, murmelte ich.

»Das sehe ich. Um zehn Uhr an einem wunderschönen Morgen.« Energische Schritte entfernten sich, das Fenster wurde geöffnet, und herein strömte eine geballte Ladung Rosenduft.

Ich kroch tiefer unter die Decke, nachdem ich einen kurzen Blick auf Mamas Silhouette geworfen hatte. Das reichte schon, um mir den Tag noch schlimmer zu verderben. Mit Anfang fünfzig besaß Marion Glück noch immer die Traummaße ihrer Jugend. Knapp eins achtzig, nordisch blond, grau-grüne Augen; Busen, Taille, Hüfte perfekt verteilt. Bis auf die Größe hatte sie mir davon nichts vererbt. War alles an meine Schwester Stine gegangen. Im Aussehen kam ich mehr nach Papa. Dunkles, strohiges Haar, schlammbraune Augen, ungünstige Proportionen, die Nase zu lang, der Mund zu breit. Wäre ich wenigstens wie er von eher kleiner Statur gewesen, hätte ich vielleicht als nicht besonders hübsches, aber immerhin süßes Mäuschen durchgehen können. So aber …

Stopp!

Keine gute Idee, schon morgens über die Ungerechtigkeit der Natur nachzudenken. Vor allem nicht an diesem speziellen Tag.

»Jetzt aber mal raus aus den Federn!«

Mir wurde langsam die Atemluft knapp, aber ich dachte gar nicht daran aufzutauchen.

»Herzlichen Glückwunsch! Heute ist dein dreißigster Geburtstag!«

War gar nicht nötig, mich daran zu erinnern. Genau deshalb wollte ich ja im Bett bleiben. Für mich klang der Hinweis wie ein Todesurteil.

Mama stieß einen tiefen Seufzer aus. Darin versteckte sich ein ganzer Satz, und der lautete: Was habe ich bloß verbrochen, um mit dieser Tochter geschlagen zu sein?

Genauso hatte sie geseufzt, als ich nicht so süß und blond wie Stine zur Welt gekommen war – das nehme ich jedenfalls mal an.

Geseufzt wurde auch gern, als ich mich nicht so lieblich entwickelte wie meine Superschwester, als meine Schulnoten eher im mittleren Bereich blieben, als ich mein Abitur so mit Ach und Krach schaffte, als ich drei Studiengänge (BWL, Jura und Germanistik) abbrach, als ich mit Winfried Wolf zusammenkam, als ich Winfried verließ, als ich einen Job bei einem Getränkehändler annahm, als ich meine eigene kleine Wohnung aufgeben musste und wieder zu Hause einzog.

Kurz und gut: Mama hatte eine ganze Menge Übung im Seufzen.

Im Augenblick wirkte das angenehm einschläfernd.

Vielleicht träumte ich ja davon, dass Mama maßlos übertrieb. Ein kompletter Reinfall war mein Leben nämlich nicht. Musste man eine Leuchte in der Schule sein, um glücklich zu werden? Nein! Durfte man sich Studiengänge noch mal überlegen? Ja! Mussten Liebesbeziehungen für die Ewigkeit halten? Nein! Und hatten andere Leute nicht auch mal Pech im Leben? Doch! Und zwar massenhaft.

Hm. Klang gut. Sollte ich mir selbst mal öfter vorsagen.

»Maja!«

Mit einem Ruck zog sie die Decke vom Bett.

Verdammt! Ich wäre fast wieder weg gewesen. Und wo bleibt die Menschenwürde? Ich bin dreißig und keine drei!

Dreißig. Erschreckend.

Um nicht weiter über diese Zahl nachdenken zu müssen, öffnete ich die Augen und sah, wie ihr Blick missbilligend über meinen uralten Pyjama und den Körper darunter wanderte.

»Du hast wieder zugenommen.«

Oh, Mann! Ja, mag sein. Ein paar klitzekleine Kilos. Höchstens fünf. Der Winter war lang, kalt und einsam gewesen. Und ich bin nicht Stine, die futtern kann, was sie will, ohne ein Gramm zuzulegen.

Im Augenblick gab es kein Entkommen. Ich schwang die Beine aus dem Bett und zog automatisch den Bauch ein.

Mama verkniff sich einen weiteren Seufzer. Als ich vor ihr stand, gab sie mir ein Geburtstagsküsschen auf die Wange und wandte sich dann ab. »Frühstück steht in der Küche. Ich muss los. Bis später.«

Einen Moment lang stand ich mit hängenden Armen da. Hätte vielleicht gern eine fette Umarmung bekommen. So einen echten, tiefen Liebesbeweis. Eine Geste, die mir sagte: Deine Mutter ist froh, dass es dich gibt – auch wenn du bloß bei einem Getränkehändler jobbst, so gut wie keine Freunde hast, von einem Mann ganz zu schweigen, immer im Schatten deiner Schwester stehst und fünf Kilo zugenommen hast.

Oder sechs. So genau wollte ich es in diesem Moment gar nicht wissen.

Fast wäre mir ein echter Mama-Seufzer entschlüpft. Hatte ich schon einmal einen so miesen Geburtstag erlebt? Hm, ja. Den einen oder anderen. Der letzte zum Beispiel war mir in keiner guten Erinnerung. Frisch von Winfried getrennt und mit einer einzigen verbliebenen Freundin aus der alten Clique. Alle anderen hielten zu meinem Ex. Von mir aus! War mir doch egal! Ich feierte mit Jette im Pulverfass, einem wirklich angesagten Pub in Schaunbeck. Nicht viel für eine Kleinstadt in der norddeutschen Tiefebene. Aber wenigstens etwas. Wurde bloß nicht lustig, der Abend. Eher trostlos.

Nicht mehr dran denken!

Ich schlüpfte ins Bad und nahm mir vor, gleich nach dem Frühstück zu verschwinden. Mama hatte mir zwar gestern das Versprechen abgenommen, wenigstens mit ihr und Papa zum Geburtstag am Nachmittag Kaffee zu trinken, aber davor konnte ich mich bestimmt noch drücken. Wo stand geschrieben, dass ein dreißigster Geburtstag unbedingt gefeiert werden musste?

Nirgends!

Theoretisch ist dieser Anlass im Leben einer Frau ja was Feines. Der Mann ihres Herzens steht nun an ihrer Seite, die Familienplanung ist angelaufen. Na gut, klappt nicht bei allen. Aber wenigstens geht es mit der Karriere steil bergauf. Auf mich traf definitiv weder das eine noch das andere Lebensmodell zu.

Im Gegensatz übrigens zu Stine. Meine Superschwester war mit einem tollen Mann verheiratet und hatte vor fünf Jahren Zwillingsmädchen zur Welt gebracht, die sich genauso süß entwickelten wie einst sie selbst, und eben doppelt. Außerdem machte sie in der Anwaltskanzlei ihres Mannes Karriere. Stine hatte ihren Dreißigsten vor vier Jahren groß im Schützenhaus gefeiert, und ich glaube, ganz Schaunbeck war gekommen. Wer keinen Einlass mehr fand, konnte beim Public Viewing auf dem Festplatz die Höhepunkte der Feier miterleben.

Nein, das war Quatsch. Hätte aber gepasst.

Mist! Jetzt war es doch passiert. Ich hatte laut und tief geseufzt. Also gut, Maja, mach einfach das Beste aus diesem Tag. Fang heute eine Diät an und gehe nachher zwei Stunden walken. Ohne die blöden Stöcke, in denen du dich immer nur verhedderst.

Sofort fühlte ich mich besser. Ich würde einfach ein neues Leben beginnen.

Mein guter Vorsatz geriet ins Wanken, als ich eine halbe Stunde später den reich gedeckten Frühstückstisch sah. Knusprige Brötchen, goldgelbe Butter, zwei Sorten Marmelade, eine Käseplatte und sogar mein geliebter Parmaschinken. Ich goss mir Kaffee ein, trank drei Tassen hintereinander weg und knabberte an einer Brötchenecke. Gerade als meine Hand ganz von selbst in Richtung Butter wanderte, klingelte mein Handy.

»Happy Birthday«, sagte Jette leise. Das war so ihre Art. Jette hob nie die Stimme.

Ich hegte den Verdacht, dass sie nur deshalb meine Freundin geblieben war, weil sie sonst auch ganz allein gewesen wäre. Jette war klein und zierlich, trug eine Harry-Potter-Brille und verkroch sich die meiste Zeit des Tages zu Hause, wo sie ihren gebrechlichen Vater pflegte. Meiner Meinung nach eine Win-win-Situation, da Jette immer einen guten Grund fand, sich nicht dem Leben da draußen stellen zu müssen. Mit Winfried war sie um diverse Ecken verwandt, deshalb war sie in der Clique auch als eine Art lästiges Anhängsel geduldet gewesen, bis sie nach unserer Trennung in einem einmaligen Akt von Willensstärke in mein Lager überwechselte.

Seitdem war sie meine beste Freundin. Wir sahen uns allerdings eher selten. Wie gesagt: Ich hockte im Büro von »Krauses Brause«, und Jette ließ ihren Vater nur ungern allein, denn kaum steckte sie auch nur den Kopf aus der Haustür, bekam Heinz Reimann den nächsten Schlaganfall.

Sagte sie wenigstens so.

Apropos Vater. Wo war eigentlich meiner? Normalerweise genoss Rainer Glück am Sonntag ein ausgiebiges Frühstück mit Zeitung und allem Pipapo, wie er gern sagte. Schließlich rackerte er sich sechs Tage die Woche in seiner kleinen Baufirma ab, damit seine drei Mädels täglich in Eselsmilch oder wahlweise in Champagner baden konnten. War auch so ein Spruch von ihm.

Nett gemeint, Papa, aber dann bau mal eine größere Badewanne ein. Außer für dich ist die nämlich für alle Familienmitglieder zu kurz, seit Stine und ich ausgewachsen sind.

Das sprach ich natürlich nie aus, hätte undankbar klingen können. Immerhin hatte Papa keinen Ton gesagt, als ich vor ein paar Monaten kleinlaut wieder zu Hause eingezogen war.

»Sobald ich einen besseren Job finde und mir die Miete leisten kann, nehme ich mir wieder eine eigene Wohnung«, versprach ich hoch und heilig.

Papa nickte, Mama seufzte. Was die beiden dachten, wollte ich lieber nicht wissen.

»Maja«, sagte Jette leise. »Bist du noch dran?«

»Ja, klar, danke für die Glückwünsche.«

»Hat Kurt sich gemeldet?«

»Noch nicht«, gab ich lässig zurück, während sich mein Magen verkrampfte. Wenigstens hatte ich jetzt keinen Hunger mehr. Frühstück hatte sich erledigt.

Kurt Krause war mein Chef, und ich war in ihn verschossen, seit ich nach sämtlichen Studienabbrüchen und drei miesen Jobs letztes Jahr bei »Krauses Brause« angefangen hatte. Anders als sein Name vermuten ließ, sah er bombastisch gut aus, eine gelungene Mischung aus Jan Fedder und Robert de Niro.

Jette fand den Vergleich merkwürdig und hatte mich auch mal gefragt, ob es mich nicht störte, dass er zehn Zentimeter kleiner war als ich.

Nö. Da stand ich drüber. Mama und Papa trennten fast fünfzehn Zentimeter, und Winfried war auch kleiner als ich gewesen, und wir hatten uns trotzdem gut verstanden, bis … Ach, daran wollte ich jetzt nicht denken.

All meine Sehnsüchte richteten sich nun auf meinen Chef, und es war nur eine Frage der Zeit, bis Kurt hinter der Fassade der fleißigen Mitarbeiterin mit dem strohigen Haar den berauschenden Vamp entdecken und sein Herz verlieren würde. Es hatte schon Momente gegeben, da war er ganz dicht davor gewesen. Da hatte ich einen gewissen Blick aus seinen Augen aufgefangen, der mir durch und durch gegangen war.

Jette räusperte sich nahezu tonlos. »Der ruft bestimmt noch an. Wirst sehen. Oder er schaut vorbei und bringt dir Blumen.«

Meine allerbeste Freundin neigte weder zu Ironie noch zu Gemeinheiten. Sie meinte es also ernst.

Vorübergehend geriet ich in Panik. Sollte ich jetzt mal ganz schnell nach oben rasen, Schlabberpulli und kneifende Jeans gegen irgendein verführerisches Outfit tauschen? Bei der Gelegenheit mein zotteliges Haar kunstvoll in Form bringen, Make-up auflegen und mal kurz fünf Kilo abnehmen? Oder zehn?

Blödsinn. So was gelang bekanntlich nur Frauen wie Julia Roberts oder Sandra Bullock, und das auch nur mit vielen Filmschnitten und einer zahlreichen Truppe von Visagisten, Friseuren und Designern.

Mein Realitätssinn erklärte mir, dass ich keinen Besuch von Kurt erwarten konnte. Er mochte mich gern, da war ich sicher, aber noch war unser Verhältnis eher förmlich. Einfach so an meinem Geburtstag bei mir hereinschneien – nein, das würde er nicht tun. Nicht ohne Einladung. Kurt war ein Mann, der auf gute Umgangsformen Wert legte. Auch aus diesem Grund hatte ich mich in ihn verliebt. Er war ein Gentleman alter Schule. Ich entspannte mich wieder.

»Willst du heute feiern?«

Ich konnte spüren, wie sie sich vor einer Wiederholung im Pulverfass fürchtete. Vier Stunden Langeweile mit Cocktails am Katzentisch direkt neben den Toiletten. Letzteres war das einzig Gute an dem Abend gewesen, da uns »Sex on the Beach«, »Bahama Mama« und »Tequila Sunrise« nicht so gut bekommen waren. Zwischendurch hatte ich mich echt bemüht, lustig zu werden, aber Jette hatte durch ihre dicken runden Brillengläser immer nur auf ihr jeweiliges Glas geschaut.

Nein, so einen Abend wollte ich auch nicht noch mal erleben.

»Ach, weißt du«, improvisierte ich, »mir ist heute nicht so gut. Irgendwie schwummerig. Ich glaube, ich kriege die Grippe.«

»Im Mai?«, kam es überrascht zurück. Manchmal vergaß ich, dass Jette hinter ihrer Unscheinbarkeit ein helles Köpfchen war.

»Ist eben eine sehr späte Grippe«, nuschelte ich und hielt mir dabei die Nase zu.

Meine Freundin holte tief Luft.

»Oder so ein unbekannter Virus. Wie die Vogelgrippe oder EHEC. Da gibt’s ja immer was Neues.« Ihre Stimme klang noch leiser. Vermutlich hielt sie das Telefon ein Stück vom Ohr ab. Mit Viren konnte man ja nie wissen. Am Ende überwanden die noch Funknetze. Jette war leicht hypochondrisch veranlagt. Bevor ich ihre Ängste entschärfen konnte, hörte ich durchs Handy eine Türklingel.

»Oh«, sagte Jette, »wer läutet denn bei uns am Sonntagmorgen?«

»Der Postbote kann es an einem Sonntag nicht sein«, witzelte ich. »Dann bleiben dir nur noch die Zeugen Jehovas.«

Falls Jette beleidigt war, ließ sie sich nichts anmerken. »Ich rufe noch einmal an, ja?«, sagte sie und legte auf.

Ich schämte mich eine Runde. Mein eigenes soziales Leben war keinen Deut besser als Jettes, und wenn bei uns jemand vorbeischaute, wollte er nie zu mir.

Plötzliche Neugier überfiel mich. Von wem bekam Jette Besuch? Noch dazu an meinem Geburtstag? Ob ich mal eben nachsehen ging? Sie wohnte ja nur drei Querstraßen entfernt, im Lessingweg.

Das Schaunbecker Dichterviertel deckte stolz sämtliche großen Namen der deutschen Literaturgeschichte ab. Mein Elternhaus stand zum Beispiel in der Goethestraße, Stine wohnte mit ihrer perfekten Familie am Schillerplatz, und Winfried lebte keine hundert Meter entfernt von mir in der Heinestraße. Es war ein schmuckes Viertel mit hübschen Einfamilienhäusern aus rotem Klinker, akkurat gepflegten Vorgärten und gesetzestreuen Bürgern. Die Nachbarn waren freundlich und hilfsbereit, und niemand redete schlecht über den anderen.

Auf Besucher mochte unsere Idylle spießig wirken, aber ich fühlte mich ganz wohl hier. Und es hatte eine Zeit gegeben, da sah ich mich schon mit Winfried in der Heinestraße leben und unsere gemeinsamen Kinder großziehen.

Ach ja, die Heinestraße. Lag dummerweise genau zwischen der Goethestraße und dem Lessingweg. Es bestand also die akute Gefahr, meinem Ex zu begegnen, wenn ich mal kurz bei Jette vorbeischaute.

So groß war meine Neugier plötzlich nicht mehr. Stattdessen beschloss ich, eine Runde durch den Schaunbecker Forst zu laufen. Kein Frühstück und ein strammer Spaziergang – das musste auf der Waage mindestens dreihundert Gramm weniger bringen!

Wenigstens etwas Gutes würde dieser verflixte dreißigste Geburtstag für mich haben.

Pfeifend räumte ich den Frühstückstisch ab und wollte gerade nach oben laufen, um Sportklamotten anzuziehen, als die Türglocke bimmelte.

Ich erstarrte mitten im Flur.

Nicht Kurt! Bitte, bitte, lieber Gott, lass es nicht Kurt Krause sein, flehte ich.

Jeder andere. Aber nicht Kurt!

Auf wackeligen Beinen ging ich öffnen, sah, wer draußen stand, und revidierte meine Bitte: Jeder andere, aber nicht Kurt Krause und nicht der hier.

Zu spät.

Der Besucher drängte sich bereits an mir vorbei ins Haus.

2. Eine böse Überraschung

»Bist du schon wieder ausgebrochen?«, fragte ich streng. Eine Antwort bekam ich nicht. Typisch.

Der alte Mann war bereits in der Küche verschwunden und öffnete nun mit Schwung die Kühlschranktür.

Auch typisch.

»Wo ist mein Frühstück?«

Oller Vielfraß, dachte ich.

Überraschend gelenkig wirbelte er zu mir herum und funkelte mich böse an. Sein vom Rheuma gekrümmter Zeigefinger stach mir in den Bauch, seine Mundwinkel zeigten tief nach unten.

»Jeden verdammten Morgen pappiger Zwieback, schimmelige Marmelade und lauwarmer Hagebuttentee. Wie würde dir das gefallen, he?«

»Aua«, sagte ich und wich zurück. Dem musste mal einer die Krallen schneiden.

Der Blick funkelte noch böser, falls das überhaupt möglich war. Machte mir ein bisschen Angst, der Typ. Schon seit ich denken konnte.

Ach, Quatsch, Maja! Nun ist mal gut. Du wirst dich doch nicht vor einem fast neunzigjährigen verhutzelten Männlein fürchten, oder?

Natürlich nicht.

»Ich bin zweiundneunzig«, stellte er fest.

Oder doch, ein bisschen.

Ich nahm einen neuen Anlauf. »Willst du mir nicht gratulieren? Ich habe heute Geburtstag.«

»Weiß ich. Deswegen bin ich hier. Wann fängt das Fest an? Und was gibt es zu essen? Hoffentlich nicht bloß fette Würste. Die vertrage ich nicht mehr.«

Vor Überraschung riss ich die Augen auf. »Fest? Welches Fest? Lieber Onkel Humbert, du musst dich irren. Ich habe nicht vor zu feiern.«

»Papperlapapp.« Mein Onkel, der eigentlich mein Großonkel war, wandte sich wieder dem Kühlschrank zu und holte die Schinkenplatte heraus. »In unserer Familie werden Ehrentage gefeiert. Das ist Tradition. Sogar damals im Krieg haben Hinrich und ich eine Geburtstagstorte bekommen, obwohl wir schon ein bisschen zu alt dafür waren. Und die Torte war zwar nur aus Roggenmehl, Eipulver und Butterersatz, hat aber geschmeckt.« Er schnalzte mit der Zunge und rollte dünne Schinkenscheiben auf.

Hinter seinem Rücken verdrehte ich die Augen. Hinrich war Humberts älterer Bruder gewesen – Papas Vater. Ein liebenswerter, wunderbarer Opa, der mir Märchen vorlas und mich auf seinen Knien reiten ließ. Den hätte ich gern behalten. Leider war er schon fast zwanzig Jahre tot. Statt seiner hatte die Familie nun Humbert am Hals, und niemand mochte ihn besonders. Darin waren sogar Stine und ich uns einig.

»Der guckt so komisch«, hatte sie oft gesagt, als wir noch Kinder waren.

Genau.

Jetzt auch wieder. Er guckte mich über die linke Schulter an. Sein Schildkrötenhals legte sich dabei in tausend Falten, ein Stück Parmaschinken hing ihm aus dem Mund. So starrte und schwieg er mich eine kleine Ewigkeit lang an.

Richtig unheimlich.

Ich sagte das Erste, was mir einfiel. »Warum hast du eigentlich nie geheiratet? Ich meine, zu deiner Zeit haben doch alle Leute eine Familie gegründet.«

Onkel Humbert verzog die Lippen, bis sie nur noch einen schmalen Strich bildeten. Zu meiner Erleichterung drehte er sich auch wieder ganz zu mir um. Auf Dauer konnte dieser verdrehte Hals nicht gesund sein.

»Hatte keine Lust, mir ein Leben lang anzuhören, was meine Frau von mir hält«, gab er schmatzend zurück.

Merkwürdig. Als ob sich Eheleute jeden Tag laut und deutlich Bosheiten an den Kopf werfen würden.

Es stimmte schon, was Papa sagte. Mit dem Onkel ging es rapide bergab. Und das war noch nett umschrieben. Im Grunde war sich die gesamte Familie darin einig, dass bei Humbert mehrere Schrauben locker waren. In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, regelmäßig aus seinem Altersheim zu türmen und wechselweise bei den Verwandten aufzutauchen. Es sei ihm da zu laut, behauptete er dann gerne. Er halte es keinen Tag länger unter diesen Leuten aus.

Völliger Blödsinn. Die Seniorenresidenz »Waldesruh« war in der ganzen Gegend bekannt für ihre ruhige, gediegene Atmosphäre.

Wenn er so weitermacht, wird er noch rausgeworfen, dachte ich jetzt. Und dann haben wir ihn am Hals.

Bis vor zwei Jahren hatte Onkel Humbert noch allein gewohnt und sich prächtig mit seiner polnischen Pflegerin verstanden. Als Natalia dann nach Krakau heimkehrte, versuchte Humbert es mit mehreren Frauen aus Schaunbeck, die er allesamt nach höchstens zwei Tagen wieder entließ.

»Ich will wieder eine Polin«, verkündete er ständig. »Oder eine Ukrainerin. Oder eine Russin. Meinetwegen auch eine Rumänin oder Ungarin.«

Papa tippte sich damals nur noch gegen die Stirn, und am Ende blieb halt die »Waldesruh« als einzige Möglichkeit für ihn übrig. Aber wie lange man es dort noch mit ihm aushalten würde, war die große Frage, die mittlerweile bei jeder Familienzusammenkunft besprochen wurde.

»Sollen die mich doch rausschmeißen«, sagte er plötzlich und stopfte sich mit den Fingern den letzten Rest Schinken in den Mund.

Mir lief ein Schauer über den Rücken. Manchmal glaubte ich fast, Onkel Humbert besäße einen siebten Sinn für das, was in mir vorging … Unsinn!

»Also, was ist jetzt mit dem Fest? Und wieso siehst du so schlampig aus, Maja? Für seinen Geburtstag muss man sich hübsch machen.«

Immerhin, ganz irre konnte er noch nicht sein. Er wusste, wen er vor sich hatte. Aber das schlampig nahm ich ihm übel.

Von Natur aus bin ich ein friedliebender Mensch, doch in diesem Augenblick war ich kurz davor, Onkel Humbert an seinem Schildkrötenhals zu packen und kräftig durchzuschütteln.

Interessant. Jetzt war er es, der vor mir zurückwich. Hatte er etwa Mordlust in meinen Augen entdeckt? Geschah ihm ganz recht.

Ich grinste. »Keine Sorge, ich vergreife mich nicht an alten schwachen Männern.«

»Pah!«, machte er, blieb aber in sicherer Entfernung von mir stehen.

Auf einmal wurde mir die Ironie der Situation bewusst. Da war nun tatsächlich Herrenbesuch zu meinem Geburtstag gekommen, aber es war nicht der herbeigesehnte Kurt Krause.

Herbeigesehnt?

Na ja, stimmte nicht so ganz, aufgrund meines, zugegeben, leicht schlampigen Aussehens. Trotzdem. Wäre doch irgendwie schön gewesen, jetzt mit Kurt hier zu stehen. Er hätte mir auch keine Blumen mitbringen müssen. Nicht mal Sekt. Meine Lieblingsbrause hätte schon genügt. Waldmeister. Ich leckte mir die trockenen Lippen.

»Gibt’s was zu trinken?«, fragte Humbert. »Dieser Schinken war viel zu salzig.«

Meine Hände zuckten schon wieder in Richtung seines Halses, aber da ging die Haustür auf, und eine halbe Minute später stand Mama in der Küche.

»Onkel Humbert!«, rief sie aus. »Was machst du denn schon hier?«

Schon? Ich schaute von einem zum anderen.

»Äh … was machst du denn schon wieder hier?«, verbesserte sich Mama schnell.

Seltsam.

»Ich will was trinken«, erwiderte Humbert.

Mama holte eine Flasche Sprudelwasser und goss ihm ein Glas ein.

»Davon kriege ich einen Blubberbauch.« Er hielt das Glas in den Händen, starrte Mama an und fügte hinzu: »Daran ersticken will ich auch nicht.«

Ich sah, wie Mama rot wurde, aber Humbert hatte sich schon umgedreht. Er ging zur Spüle, leerte das Glas in den Ausguss und ließ Leitungswasser einlaufen. Dann trank er schlürfend und stieß anschließenden einen wohligen Laut aus.

»Nun, da ich offensichtlich nicht erwünscht bin, werde ich wieder gehen.«

Flink verließ er die Küche. Mama zögerte einen Moment, dann lief sie ihm hinterher. Irgendetwas tuschelten die beiden, aber ich konnte nicht hören, was es war.

Keine Ahnung, was das sollte.

Eine halbe Stunde später lief ich durch den Wald und genoss die milde Mailuft. Humbert hatte ich aus meinen Gedanken verbannt. Meinen unerwünschten Geburtstag wurde ich nicht so leicht los. Jette erinnerte mich daran, als sie mich wieder anrief. Ich saß auf einer umgestürzten Eiche und ruhte mich aus. War derzeit nicht besonders gut in Form.

»Höre ich da Vogelgezwitscher?«

»Ja, ich bin im Wald.«

»Dann geht’s dir schon wieder besser?«

Besser? Was? Ach so.

»Ist wohl doch keine Grippe«, sagte ich schnell. »Bloß Kopfweh.« Besonders gut lügen konnte ich nicht.

»Ach so«, murmelte Jette.

Schnell das Thema wechseln. »Wer war denn vorhin bei euch zu Besuch?«

»Deine M… – äh, niemand Besonderes.«

ENDE DER LESEPROBE