Mord unter den Linden - Tim Pieper - E-Book

Mord unter den Linden E-Book

Tim Pieper

4,4

Beschreibung

Berlin, im Sommer 1890. Der Kriminologe Dr. Otto Sanftleben erforscht die Körpersprache von Kriminellen. Als eine junge Handschuhnäherin gekreuzigt und mehrere anarchistische Attentate verübt werden, erklärt er sich bereit, den ermittelnden Commissarius zu unterstützen und zur schnellen Aufklärung beizutragen. Eine geheimnisvolle Revueschauspielerin gibt den entscheidenden Fingerzeig und weckt tot geglaubte Gefühle in ihm. Zu spät begreift er, dass er in Lebensgefahr schwebt …

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Tim Pieper, geboren 1970 in Stade, studierte nach einer Weltreise Neuere und Ältere deutsche Literatur und Recht. Seit 1998 lebt er in seiner Wahlheimat Berlin und nutzt jede Gelegenheit, um die spannende und abwechslungsreiche Geschichte der Stadt zu erkunden. Zuletzt veröffentlichte er einen Mittelalterroman. »Mord unter den Linden« ist sein erster historischer Krimi im Emons Verlag.www.timpieper.net

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, einige sind es nicht.  

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: akg-images/Berlin, Cafe Bauer/Photochrom Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-061-2 Historischer Kriminalroman Originalausgabe

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Für Steffi

Prolog

Courcelles in Frankreich, 13. September 1870

Sie hatten ihn ausgezogen, Eisenringe um die Hand- und Fußgelenke geschlagen und nackt an die Mauern gekettet. Die Arme standen im rechten Winkel vom Körper ab, seine Beine waren leicht gespreizt. Ihm war fürchterlich kalt, und irgendwo klatschten Tropfen in eine Pfütze.

Als er das leise Tapsen von Pfoten vernahm, legte er den Kopf auf die Seite und kniff die Augen zusammen. Er wollte wissen, was sich da näherte, aber die Dunkelheit war undurchdringlich. Er konnte nichts erkennen. Einen Moment war alles still, dann berührte etwas Pelziges seine Ferse, wahrscheinlich eine Ratte.

»Verschwinde«, sagte er. »Hau bloß ab!« Er versuchte auszutreten, aber die Eisenringe bohrten sich nur noch tiefer in sein Fleisch.

Da quietschte über ihm eine Türangel.

Er hob den Kopf und lauschte in die Dunkelheit. Gleichzeitig wippte er mit den Füßen auf und ab, um das Tier zu verscheuchen. Es sollte nicht glauben, dass er wehrlos war. Zuerst hörte er nur seinen eigenen Atem, aber dann … Ja, jemand stieg eine Treppe hinab. Holzstufen knarrten unter dem Gewicht. Kamen sie, um mit ihm abzurechnen?

»Verdammt!«, rief er. »Ich will hier raus, ich will nicht sterben!«

Plötzlich waren die Schritte nicht mehr zu hören. Dann wurde ein Schlüssel in ein Schloss gesteckt und unter lautem Knarzen gedreht. Eine schwere Tür wurde aufgestemmt, und ein französischer Soldat trat ein. In seiner Hand trug er eine Fackel, die er in eine Wandhalterung steckte.

Die Flamme blendete ihn, aber endlich konnte er seine Umgebung erkennen. Die Mauern bestanden aus schwarzen Bruchsteinen, an denen glänzende Rinnsale hinunterliefen. Runde Säulen stützten die Decke ab. Überall standen marode Fässer, verrostete Ackergeräte und Obstkisten herum. Dazwischen spannten sich Spinnennetze, die so groß wie Segel waren. Das Gewölbe war offenbar seit Jahren nicht genutzt worden. Hier würden ihn seine Kameraden niemals finden.

Der französische Soldat griff nach einem Schemel und setzte sich. Obwohl er noch jung war, vielleicht Anfang zwanzig, lichtete sich sein Haar bereits. Auf seiner linken Wange klaffte ein Schnitt – wie von einem Bajonett –, der glasiges Wundsekret absonderte. Sein Hemd war bis zum Nabel aufgeknöpft und hing aus der Feldhose. »Wenn du meine Fragen beantwortest«, sagte er, »werde ich dir nichts tun. Ich heiße Marcel.«

Er sprach gut Deutsch, wahrscheinlich hatte Marcel eine höhere Schulbildung genossen. Vielleicht war er ein zivilisierter Mensch, mit dem man reden konnte. Aber warum hatte er das »ich« so betont? Wartete oben jemand anderes, der ihm etwas antun wollte? In seiner Lage wäre er ihm hilflos ausgeliefert. »Nimm mir bitte die Ketten ab!«, sagte er. »Die Eisenringe schmerzen, sie schneiden mir ins Fleisch.«

Unmerklich schüttelte Marcel den Kopf. »Bei welcher Einheit dienst du?«

»Was?«

Marcel zog einen Dolch. »Bei welcher Einheit dienst du?«

Er verstand die Drohung, aber vielleicht war das Verhör die einzige Chance, um hier lebend herauszukommen. »Lässt du mich gehen, wenn ich antworte?«

»Los jetzt, du verdammtes Schwein! Noch mal frag ich nicht.«

»Ist ja gut«, stieß er hervor. »Ich diene beim vierten Königlich Preußischen Garderegiment zu Fuß, erstes Bataillon, dritte Kompanie.«

»Wie heißen deine Führer?«

»Ich versteh nicht, warum … Mein Kompanieführer ist Secondeleutnant von Hellermann, sein Stellvertreter Secondeleutnant der Landwehr Ramslau. Mein Bataillonskommandeur ist Major von Sichart. Oberst von Neumann wurde bei Saint-Privat-la-Montagne verwundet, deshalb haben wir einen neuen Regimentsführer – Major von Tietzen und Hennig.«

»Hast du auch bei Saint-Privat gekämpft?«

Natürlich hatte er gekämpft. An der Erstürmung mehrerer Häuser und Straßenzüge war er beteiligt gewesen, aber er spürte instinktiv, dass die Frage gefährlich war. »Keinen Schuss hab ich abgefeuert«, log er. »Unsere Kompanie lag in Reservestellung. Bei starken Verlusten sollten wir die Linie auffüllen, aber wir sind nicht zum Einsatz gekommen.«

»Ich hab gekämpft«, sagte Marcel. »Mein Bruder auch, aber –«

»Marcel! Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich war nicht meine Idee. Wenn's nach mir ginge, wären wir nie hergekommen. Ich will dieses Gemetzel nicht, ich bin ein Menschenfreund, das musst du mir glauben.« Er leckte sich die spröden Lippen.

Da quietschte die Türangel erneut.

Er hob den Kopf und lauschte angestrengt. Die Stufen knarrten, aber nicht so laut wie beim ersten Mal. Das konnte nur bedeuten, dass weniger Gewicht auf dem Holz lastete, dass die Person also leichter war. Vielleicht stieg ein Kind oder – oh Gott! – eine Frau herab. Seine Mundwinkel zuckten. »Wer ist das?«

»Wir unterhalten uns später, du Menschenfreund«, erwiderte Marcel und steckte den Dolch weg.

»Ich kann Geld beschaffen! Viel Geld – hörst du? Wenn du mich gehen lässt, kannst du es haben.«

Plötzlich sah ihn der junge Franzose direkt an und sagte: »Ich hab versucht, es ihr auszureden. Eine ganze Stunde lang, aber sie wollte nicht auf mich hören.«

»Wovon zum Teufel sprichst du?«

»Ich sagte, dass sich eine große Seele nicht von niederen Gefühlen beherrschen lassen darf. Ich sagte, dass man im Krieg Regeln einhalten muss. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ein Standgericht abgehalten und dich dann wie einen tollwütigen Hund abgeknallt, aber sie …«

In diesem Moment humpelte eine junge Frau herein. Unter einer Arbeitsschürze trug sie ein schlichtes blaues Wollkleid. Das blonde Haar reichte ihr bis zum Gesäß. Ihr Gesicht ließ eine stolze Schönheit erahnen, aber die Züge waren kaum noch zu erkennen. Ihre Augen waren zugeschwollen. Auf ihren Wangen prangten Blutergüsse. Die Lippen waren aufgeplatzt, und der Hals wies Würgemale auf.

Er kannte die Frau. Zum ersten Mal hatte er sie auf dem Gutshof von Monsieur Wegener gesehen, wo seine Kompanie nach Waffen gesucht hatte. Als sie sich entfernt hatte, hatte sie sich von einem Stallburschen begleiten lassen, um sich vor den Zudringlichkeiten der deutschen Soldaten zu schützen. Majestätisch war sie die morastige Dorfstraße hinunterstolziert und am Ortsausgang in einen Feldweg abgebogen, wo sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Den ganzen Tag hatte er versucht, ihren aufreizenden Anblick zu vergessen, aber es war ihm nicht gelungen. Wann immer er konnte, hatte er sich davongestohlen. Er hatte sich an Baumstämmen gerieben und sich vorgestellt, wie er sie unterwarf, wie er ihr den Hochmut austrieb. Er hatte wieder und wieder seine Hand in die Hose gesteckt, aber der Druck hatte nicht nachgelassen, er war nur noch stärker geworden.

Am Abend hatte er es nicht mehr ausgehalten und hatte sich unerlaubt von der Kompanie entfernt. Über den Feldweg war er zu einem Gutshof gelangt und hatte sich auf die Lauer gelegt. Als eine Gestalt nach draußen getreten war, hatte er sofort erkannt, dass sie es war. Wie ein wildes Tier hatte er sie angefallen und genommen. Vor Raserei war er blind und taub gewesen.

Auf einmal hatte ihn etwas hart am Kopf getroffen, und er hatte das Bewusstsein verloren. Erst in diesem Verlies war er wieder aufgewacht.

»Komm bloß nicht näher, du Hure«, sagte er jetzt und wandte sich an Marcel. »Sag ihr, dass sie verschwinden soll.«

»Das kann ich mir nicht ansehen«, murmelte der junge Franzose und verließ das Gewölbe.

Jetzt war er mit der Frau allein. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und entblößten die abgebrochenen Schneidezähne. In ihrer Hand hielt sie eine seltsam geformte Zange. Sie bestand aus zwei langen Eisenstangen, die sich in der Mitte kreuzten und in zwei Scheiben mündeten. Und plötzlich begriff er, was sie vorhatte. Sie wollte es ihm heimzahlen. Sie wollte ihm etwas antun, das so grausam war, dass es kaum mit Worten auszudrücken war. Kalter Schweiß rann zwischen seinen Schulterblättern hinab. In was für einen Alptraum war er da nur geraten?

»Marcel!«, schrie er. »Komm zurück! Das verstößt gegen jede … MARCEL!«

Zwanzig Jahre später

Im Club von Berlin

Das Dienstmädchen bat ihn, sich einen Moment zu gedulden, und verließ den kleinen Salon. Dr. Otto Sanftleben verschränkte die Hände auf dem Rücken und biss sich auf die Unterlippe. Seit über sechs Jahren hatte er keinen Vortrag mehr gehalten. Zwar hatte er sich mit Akribie vorbereitet, aber alle Übungen konnten die Praxis nicht ersetzen. Er wusste genau, wie viel vom Gelingen dieses Abends abhing, und er hoffte sehr, dass er sich schnell zurechtfinden würde.

Um sich etwas abzulenken, nahm er die Einrichtung in Augenschein. Von der Decke hingen große Kronleuchter, die ein helles, strahlendes Licht spendeten. Die Sofas waren mit den beliebten Ripsstoffen bezogen. Auf dem Parkettfußboden lagen großgeblümte Teppiche. Und an den Wänden hingen Ölgemälde in goldenen Barockrahmen.

Endlich öffnete sich die Tür. Auf langen O-Beinen näherte sich ein hagerer Mann. Er trug einen schwarzen Frack, eine weiße Weste und ein weißes Hemd. »Halb acht war ausgemacht«, sagte er streng. »Sie kommen zu spät.« Das aschblonde Haar war akkurat gescheitelt und klebte, mit Makassaröl getränkt, am Schädel. Die Stirn und die Schläfen glänzten und waren mit Aknenarben übersät.

»Sie belieben zu scherzen«, sagte Otto und brachte sogar ein Lächeln zustande. Er ergriff die knochige Hand und schüttelte sie ausgiebig. »Verehrter Herr …« Schnell überlegte er, mit welchem Titel er Karl Vitell anreden sollte, der nicht nur einer der zwanzig vermögendsten Männer des Kaiserreichs, sondern auch Kommerzienrat, Träger des Preußischen Königlichen Kronenordens und Vorsitzender des Clubs von Berlin war. »… Herr Kommerzienrat, ich schätze mich glücklich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Vitell zog seine Hand aus der Umklammerung und sagte: »Ja, ja.« Er verharrte einen Moment, um Otto von Kopf bis Fuß zu mustern. »Ich habe Sie mir älter, vergeistigter und würdevoller vorgestellt, mehr wie einen Gelehrten.«

Das war eigentlich eine Respektlosigkeit, doch enthielten die Worte mehr als nur einen Funken Wahrheit. Weil er erst fünfunddreißig Jahre alt war, erkannten nur wenige den Wissenschaftler in Otto. Die meisten hielten ihn für einen Mann, der einer mehr körperlichen Beschäftigung nachging – etwa als Veterinärmediziner, Förster oder Kapitän zur See. Er schrieb es seinem gesunden Teint, den markanten Gesichtszügen und seiner kräftigen Statur zu. »Ich trainiere an der frischen Luft«, sagte er. »Das kann ich jedem nur empfehlen, gerade einem Mann in Ihrer Pos –«

»Jetzt kommen Sie endlich«, unterbrach ihn Vitell und griff nach seinem Arm. »Durch Ihre Verspätung haben wir schon mehr als genug Zeit verloren.«

Widerstrebend ließ Otto sich ein Stück mitziehen, dann befreite er seinen Ellenbogen mit einem Ruck. So allmählich reichte ihm das Gebaren dieses Mannes. Er musste sich schließlich nicht alles gefallen lassen. Um sich von seiner Pünktlichkeit zu überzeugen, zog er seine Uhr aus der Westentasche und ließ den Deckel aufspringen. Er guckte einmal auf das Ziffernblatt, dann ein zweites Mal. Plötzlich wurde ihm klar, dass sich die Zeiger seit ungefähr einer Stunde nicht bewegt hatten. Möglicherweise war die Uhr noch früher stehen geblieben, und das bedeutete, dass er sich tatsächlich verspätet hatte. Wie peinlich!

Otto schluckte hart und spürte ein Ziehen in der Magengegend. Das war ihm noch nie passiert! Und ganz bestimmt nicht an einem so entscheidenden Tag. Verunsichert folgte er dem Kommerzienrat in den Saal. Von der rückwärtigen Fensterfront bis zu einem kleinen Podest ganz vorn erstreckten sich fünfzehn voll besetzte Stuhlreihen. Es wurde lebhaft diskutiert, schwadroniert und gelacht. Niemand schien wegen der Verspätung verärgert zu sein. Die gelöste Atmosphäre beruhigte Otto etwas, sodass er sich selbst Mut machte: Eine geringfügige Verspätung war jedenfalls kein Grund, um grob zu werden. Er warf dem Kommerzienrat einen tadelnden Blick zu und reckte sein Kinn stolz in die Höhe. Soweit er aus dieser Perspektive erkennen konnte, war kein einziger Sitzplatz frei geblieben. Die gesamte Prominenz des »Millionenclubs«, wie der Club von Berlin im Volksmund genannt wurde, war gekommen, um seinen Vortrag zu hören. Sein Buch war in aller Munde, er war ein gefragter Mann. Was schadete da eine kleine Verzögerung?

Vitell hob die Arme und rief: »Meine Herren, der Dozent ist eingetroffen. Meine Herren, bitte! Wir wollen endlich anfangen.« Nach und nach wurde es etwas leiser, bis nur noch vereinzeltes Husten und Stühlerücken zu hören waren. Vitell betupfte seine Stirn mit einem Taschentuch und sagte: »Als auf der Mitgliederversammlung angeregt wurde, dass in unserer Vortragsreihe ein kriminalpsychologisches Thema behandelt werden sollte, telegrafierte ich der Koryphäe auf diesem Gebiet, dem Autor der ›Psychopathia Sexualis‹, Prof. Krafft-Ebing, nach Wien. Ich bat ihn, mir einen Wissenschaftler zu nennen, der aufgrund seiner Praxisnähe geeignet wäre, vor einem Laienpublikum zu sprechen. Noch am gleichen Tag erhielt ich Antwort. Der Professor berichtete mir, dass ihm ein Buch mit dem Titel ›Phänomenologisches. Ein Beitrag zur Kriminalpsychologie‹ in die Hände gefallen sei, das ihn sehr beeindruckt habe. So ließ ich Erkundigungen einholen und erfuhr, dass das umfangreiche Werk innerhalb eines halben Jahres viermal aufgelegt wurde und die Nachfrage unvermindert anhält. Wer das Buch noch nicht gelesen hat, der soll heute Gelegenheit bekommen, Einblicke in die Forschungen des Autors zu gewinnen. Wer das Buch bereits kennt, dem soll später die Möglichkeit gegeben werden, durch Fragen sein Wissen zu vertiefen. Meine Herren, bitte begrüßen Sie Herrn Dr. Sanftleben!«

Otto bestieg das Podium und blickte auf das begeistert applaudierende Publikum. Um seine Nervosität in den Griff zu bekommen, rief er sich ins Gedächtnis, dass nicht er, sondern seine fachliche Kompetenz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Als Experte sollte er zu einem wissenschaftlich interessierten Publikum sprechen. Er entnahm seiner Dokumententasche mehrere Bögen Papier und ordnete sie auf dem Pult. Dann hob er die Hände und dankte für die überaus herzliche Begrüßung. Nachdem Ruhe eingekehrt war, atmete er tief durch und begann den Vortrag mit einer Begriffserklärung:

»Unter der Verbrecherphänomenologie verstehen wir die Untersuchung kriminalistisch relevanter Erscheinungen, die uns Aufschluss über seelische Vorgänge des Täters geben und so die Hintergründe der Tat aufdecken können. Untersuchungsgegenstände sind unter anderem Körperhaltung, Mimik, Gestik und Kleidung …«

Während Otto fortfuhr, fiel ihm ein älterer Herr in der ersten Reihe auf. Er trug einen altmodischen Gehrock, dessen grober schwarzer Stoff an die Soutane eines Dorfpriesters erinnerte. Sein ausrasierter Backenbart war buschig und von grauen Strähnen durchsetzt. Sein Blick war seltsam starr: leblos und zugleich von einem inneren Feuer erfüllt. Als das Publikum über einen Zwischenruf lachte, presste er seine Lippen aufeinander, seine Hände ballten sich zu Fäusten, und sein Blick schoss wahre Feuerbälle ab.

Otto konnte sich nicht erinnern, diesem Mann schon einmal begegnet zu sein. So beschloss er, den Blickkontakt zu meiden, um sich ganz auf seine Ausführungen konzentrieren zu können. Buchstaben wurden zu Worten, Worte zu Sätzen und Sätze zu einem Vortrag. Zu seiner eigenen Verwunderung gewann er schnell an Sicherheit, so als hätte er seine Vortragstätigkeit nie länger unterbrochen. Die Zeit verstrich wie im Flug, und ehe es sich Otto versah, machte Kommerzienrat Vitell durch ein Handzeichen auf sich aufmerksam und schwenkte seine Taschenuhr über dem Kopf.

Otto nickte ihm zu und sagte zum Publikum gewandt: »So leid es mir tut – gerade bekomme ich ein Zeichen, dass eine Stunde schon vorüber ist. Bevor ich zum Ende komme, möchte ich noch ein paar grundsätzliche Worte sagen. Die Verbrecherphänomenologie soll keine verbindliche Merkmalslehre aufstellen, die den Anspruch auf Unfehlbarkeit erhebt. Vielmehr soll sie als Hilfswissenschaft dienen, welche Denkanstöße geben und Verdachtsmomente modifizieren kann. Nur so gibt sie den ermittelnden Behörden ein Instrument an die Hand, das zur Überführung von Kriminellen beitragen kann.« Otto nahm die Papierbögen auf und klopfte sie auf dem Pult gerade. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Das Publikum erhob sich von den Plätzen und klatschte begeistert Beifall. Einige Herren riefen sogar: »Bravo« oder »Bravissimo«.

Otto machte eine beschwichtigende Geste. »Danke, danke! Das ist zu viel der Ehre«, sagte er bescheiden, bekam aber vor lauter Stolz rote Flecken im Gesicht. Was kann mir jetzt noch passieren?, dachte er.

Nach dem Vortrag erschien das Dienstpersonal, um den Saal für das Festessen vorzubereiten. Während Stühle zur Seite gestellt und Tische hereingetragen wurden, verteilten sich die Zuhörer auf das Billardzimmer, die Bibliothek, das Spielzimmer und die beiden Salons.

Otto fand sich im Lesezimmer wieder, wo er sich sogleich von zahlreichen Clubmitgliedern umringt sah. Im Überschwang der Gefühle griff er nach einem Glas Clicquot und stürzte den Champagner in einem Zug hinunter. Das hat gutgetan, dachte er sich, stellte das leere Glas auf ein Tablett und nahm sogleich das nächste. Während er dieses Mal genussvoll trank, beantwortete er die Fragen, die nun von allen Seiten auf ihn einprasselten.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Kommerzienrat Vitell in die Tür trat, sich suchend nach ihm umschaute und sich auf seinen langen Säbelbeinen näherte. »Das haben Sie famos hingekriegt«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie den schroffen Empfang von vorhin. Wir haben heute wichtige Gäste, und ich wollte sie nur ungern noch länger warten lassen.«

»Herr Kommerzienrat«, erwiderte Otto. »Ich bitte Sie. Sie hatten ja vollkommen recht. Ich war wirklich zu spät. Meine Uhr ist offensichtlich stehen geblieben. Das tut mir außerordentlich leid.«

»Entschuldigung angenommen«, sagte Vitell sofort. »Und jetzt: Schwamm drüber. Dann können wir uns anderen Dingen zuwenden. Ich möchte Ihnen nämlich jemanden vorstellen.«

Otto blickte auf einen hoch aufgeschossenen älteren Mann, der dem Kommerzienrat gefolgt war. Seine stark gewölbten Augenbrauenbögen beschatteten metallisch glänzende und seltsam starr blickende Augen. Die Stirnfalten waren tief wie Ackerfurchen, und die aufeinandergepressten Lippen bildeten zwei messerscharfe Linien. Es war der Mann, der Otto während des Vortrags so feindselig angestarrt hatte.

»Das ist Kriminaldirigent von Grabow«, sagte Vitell. »Er ist der Leiter der Abteilung IV des Polizeipräsidiums von Berlin.«

Der Kriminaldirigent?, dachte Otto überrascht. Er konnte sich nicht erklären, wieso der Leiter der Kriminalpolizei etwas gegen ihn haben sollte. Möglicherweise hatte er die Blicke falsch gedeutet, oder es lag eine Verwechslung vor. Mit Sicherheit würde sich alles schnell aufklären. »Ich hoffe«, sagte Otto, »dass mein Vortrag Ihr Interesse wecken –«

»Mich können Sie nicht täuschen«, unterbrach ihn von Grabow. Seine außergewöhnlich hohe und schrille Stimme passte nicht zu seiner gravitätischen Erscheinung. »Ich weiß sehr wohl, wer Sie sind, und vor allem weiß ich, was Sie sind.«

Kommerzienrat Vitell fuhr sich irritiert über die Haare, so als könnte er mit einer geordneten Frisur die Situation besser kontrollieren. »Die Abteilung des Kriminaldirigenten bearbeitet den Kreuzigungsfall«, sagte er, offenbar in der Hoffnung, von Grabows seltsamen Einwurf überspielen zu können. »Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, Herr Doktor, nimmt die Bevölkerung großen Anteil an dem Schicksal der gekreuzigten Handschuhnäherin. Um Unruhe und Angst bei den Menschen zu vermeiden, ist es nötig, schnelle Ergebnisse zu präsentieren. Dabei soll Ihre Methode zur Aufklärung beitragen.«

Otto schaffte es endlich, seinen Blick von Kriminaldirigent von Grabow zu lösen, und räusperte sich. »Ihr Angebot schmeichelt mir natürlich, Herr Kommerzienrat, aber leider muss ich Sie enttäuschen. In punkto Polizeiarbeit habe ich keinerlei Erfahrung.«

»Vitell«, sagte von Grabow nun, »haben Sie überhaupt keine Ahnung, mit wem Sie es da zu tun haben? Wissen Sie, wie dieser Schurke von den Wachtmeistern und Droschkenkutschern am Opernplatz genannt wird? Nein? Dann will ich es Ihnen sagen. Man nennt ihn ›Don Quichotto‹.«

»Dr. Sanftleben soll ein Schurke sein?«, fragte Vitell ungläubig.

Endlich begriff Otto, was von Grabow so aufbrachte, aber er verspürte nicht die geringste Lust, eine Grundsatzdiskussion zu führen. Der Vortrag war zu gut gelaufen. Er hatte lange auf ihn hingearbeitet und wollte sich den Erfolg nun nicht verderben lassen. »Das ist eine Sache zwischen mir und dem Kommissariat für Fuhrwesen und geht Sie –«

»Das sehe ich völlig anders«, sagte von Grabow. »Ich sorge nämlich immer und überall dafür, dass man radikalen Elementen wie Ihnen das Handwerk legt.«

»Meine Herren«, sagte Vitell und glättete nun mit beiden Händen seine Haare. »Ich bitte Sie! Lassen Sie uns vernünftig sein und über den Kreuzigungsfall reden.«

»Mit diesem Subjekt nicht«, sagte von Grabow. »Dieser Mann ist trotz polizeilichen Verbots achtundzwanzigmal – ich wiederhole: achtundzwanzigmal – von Wachtmeistern aufgegriffen worden, als er Unter den Linden Fahrrad fuhr. Wobei Fahrrad fahren nicht der richtige Ausdruck ist. Man sollte besser sagen: die Straße hinunterraste, um sich dem Zugriff der Staatsmacht zu entziehen.«

»Ist das richtig?«, fragte Vitell.

Otto unterdrückte die in ihm aufsteigende Wut und machte sich bewusst, dass er nicht als Einzelperson, sondern stellvertretend für alle Radsportler hier stand. Und eigentlich sollte er nun besser einlenken, das wusste er. Trotzdem konnte er sich eine kleine Provokation nicht verkneifen. »Um genau zu sein«, sagte er und besah sich seinen Daumennagel, »waren es nicht achtundzwanzigmal, sondern neunundzwanzigmal.«

Von Grabow riss die Augen auf. »Umso schlimmer! Denn jedes Mal wurde ihm ein Bußgeld auferlegt, jedes Mal beglich er den Betrag sofort, jedes Mal wurde er ermahnt, nie wieder Unter den Linden Fahrrad zu fahren, und jedes Mal brach er die Vorschrift aufs Neue. Dieser Mann verspottet die Gesetzeshüter, er erhebt sich über Recht und Ordnung, er ist ein Querulant ohnegleichen.«

Otto kannte Menschen wie von Grabow. Ständig mischten sie sich in Angelegenheiten, die sie nichts angingen. Ständig verurteilten sie andere, um von den eigenen Fehlern abzulenken. Auf keinen Fall wollte er klein beigeben, aber er wollte sich auch nicht zu einer unbedachten Bemerkung hinreißen lassen, die er im Nachhinein bereuen würde. Deshalb atmete er tief durch und sagte ruhig: »Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Ihnen muss doch klar sein, dass schon bald alle Straßen von Berlin mit Fahrradfahrern bevölkert sein werden. Niemand – auch Sie nicht – kann den Fortschritt aufhalten.«

»Sie sind nicht nur ein Querulant, sondern Ihnen und Ihresgleichen ist nichts heilig«, platzte von Grabow heraus. »Die Radfahrer stören das sittliche Empfinden jedes anständigen Christenmenschen. Die Betonung der Körperlichkeit geziemt sich nicht. Und stellen Sie sich nur vor, Vitell, unsere Ehefrauen kämen auf die Idee, auf diesen Vehikeln zu fahren. Mit ihren intimsten Stellen würden sie auf dem Sattel hin- und herrutschen und lustvolle Empfindungen verspüren, die sie in einen Zustand der –«

»Herr Kriminaldirigent«, unterbrach ihn Vitell, »Sie vergessen sich ja!«

»Keineswegs«, erwiderte von Grabow. »Ich bin vielmehr der Einzige, der die Gefahr erkennt. Diese Fahrräder sind Ungetüme aus Stahl und Blech, die die Sittlichkeit untergraben. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie unsere Straßen bevölkern. Wir müssen diese Bewegung bekämpfen, und zwar mit allen Mitteln.« Von Grabow holte tief Luft und bohrte seinen Zeigefinger in Ottos Schulter. »Damit Sie es wissen: In meiner Abteilung haben Leute wie Sie keinen Platz. Und wenn Sie noch einmal Unter den Linden aufgegriffen werden, hilft kein Gerede mehr. Dann landen Sie im Gefängnis. Dafür sorge ich höchstpersönlich.«

In der Arztpraxis, zwanzig Jahre nach Courcelles

Am nächsten Morgen krabbelten Kakerlaken über seine Haut und drängten sich in seinen Anus, um ihn von innen zu zerfleischen. Er konnte die Spannung kaum noch ertragen, aber wenn er sich hier, vor der Stadtvilla in der Kurfürstenstraße, die Kleider vom Leib riss, um das Ungeziefer zu zerquetschen, würden ihn alle für wahnsinnig halten. Das ist nur Einbildung, dachte er. Das existiert nur in meinem Kopf. Sobald ich meine Medizin habe, beruhigt sich alles. Ungeduldig läutete er, bis sich vor ihm die Tür öffnete.

»Ist Dr. Saretzki da?«, fragte er hastig.

»Er ist im Behandlungsraum«, erwiderte das Dienstmädchen und trat schnell zur Seite.

Er stürmte über die weichen Teppiche. Jeder Schritt schmerzte in den Kniegelenken, die schon seit Jahren von der Knochenerweichung befallen waren. Wehe, er hat die Medizin nicht besorgt!, dachte er. Wehe, er hält mich wieder hin! Durch die riesigen Buntglasfenster fiel das Morgenlicht. Auf einer Vitrine stand ein Samowar, der auf Hochglanz poliert war. Russische Ikonen und Bilder der Zarenfamilie zierten die Wände, doch für all das hatte er keinen Blick. Ohne anzuklopfen, riss er die Tür auf und betrat den Behandlungsraum.

Dr. Fjodor Saretzki saß in Hemd und Weste hinter seinem Schreibtisch. Er war von kleiner, bulliger Statur. Fast hatte es den Anschein, als würde sein quadratischer Schädel direkt auf den Schultern sitzen. Auf die eingedrückte Nase zwängte sich ein Kneifer, und als er nun sprach, sprang sein Mund wie das Maul einer Muräne vor. »Setzen Sie sich. Ich habe noch zu tun.«

Hasserfüllt blickte er den Arzt an, der so viel Macht über ihn besaß. Als einziger Mensch hier in Berlin wusste Dr. Saretzki, dass er in Courcelles kastriert worden war. Als einziger Mensch konnte er ihm seine Medizin beschaffen. Nur weil er ihn brauchte, ließ er sich diese Behandlung gefallen.

Endlos lang kratzte die Feder des Füllfederhalters über das Papier. Irgendwo tickte eine Standuhr. Plötzlich erhob sich Dr. Saretzki und ging zu einem Schrank, wo er die Akte verstaute. Er kam mit einer neuen zurück, setzte sich wieder hin, schlug den Deckel auf und vertiefte sich in die Aufzeichnungen. Dann blickte er auf. Seine grauen blanken Augen erinnerten an Murmeln. »Haben Sie Beschwerden?«

Er biss die Zähne zusammen und zuckte nur mit den Achseln. Was für eine Frage! Beschwerden!

»Wie sieht Ihr Harn aus?«

»Unverändert.«

»Ist Blut enthalten?«

Er nickte.

»Eiter?«

Erneutes Nicken.

»Fett und Eiweiß?«

Wieder ein Nicken.

»Gegen die Nierenentzündung schreibe ich Ihnen Sodapulver auf. Lösen Sie dreimal täglich einen Esslöffel in Wasser auf und trinken Sie die Mischung in kleinen Schlucken. Es dauert eine Weile, bis die Wirkung einsetzt. Machen Sie sich jetzt frei.«

»Sie wissen, weshalb ich hier bin«, sagte er, ohne sich zu erheben.

Dr. Saretzki griff nach einem eisernen Winkelmesser. »Nun machen Sie schon.«

Widerstrebend stand er auf, trat hinter den Paravent und legte den Frack, die Weste, den Binder und das Hemd ab. Große Überwindung kostete es ihn, den Kattun-Wickel abzurollen. Er war etwa zwanzig Zentimeter breit und zwei Meter lang und verbarg, fest um den Oberkörper geschnürt, seine Brüste, die inzwischen so fest und groß wie bei einem erblühenden Mädchen waren. Sogar die Warzenhöfe waren größer geworden. Mit hochrotem Kopf trat er hinter dem Paravent hervor und flüsterte: »Ich weiß, dass sie gewachsen sind.«

Dr. Saretzki musterte seinen Oberkörper, die Stellung der Schultern und die Haltung des Halses mit den kühlen Augen des Diagnostikers. »Drücken Sie den Rücken durch und stehen Sie gerade«, sagte er und trat hinter ihn. Mit geübten Händen legte er den Winkelmesser an die Wirbelsäule und bewegte den Schieber auf dem rechtwinklig abstehenden Lineal nach links. »Die Skoliose hat sich verschlimmert. Haben Sie Schmerzen?«

»Noch bin ich nicht tot«, murmelte er.

»Ich schreibe Ihnen ein Pulver auf Basis von erdigen Kalkbestandteilen auf. Mischen Sie einen Teelöffel unter jede Mahlzeit. Machen Sie noch die Übungen zur Stärkung der Rückenmuskulatur?«

Er nickte ergeben und trat hinter den Paravent. Längst wusste er, dass die Verkrümmung der Wirbelsäule, die Brightsche Nierenentzündung und diverse Knochenbrüche der vergangenen Jahre Folgen der Kastration waren. Eines Tages würden diese Leiden seinen Organismus zum Erliegen bringen. Die Arzneien gewährten ihm nur einen Aufschub, heilen würden sie ihn nicht.

Wieder angekleidet setzte er sich vor den Schreibtisch. Plötzlich erklang ein Singen in seinen Ohren, gleichzeitig bewegte sich etwas unter dem linken Ärmel. Der Kitzel ließ ihn erschauern und jagte ihm eine Gänsehaut über die ganze linke Seite. Mit der flachen Hand klopfte er auf seinen Unterarm und blickte auf. »Wo ist meine Medizin?«

Dr. Saretzki hatte ihn genau beobachtet und machte sich eine Notiz. »Hören Sie noch Stimmen?«

»Jeder hört Stimmen.«

»Hm, hm. Wie viel haben Sie zuletzt injiziert?«

»Ein halbes Gramm pro Dosis, zwischen drei und vier Gramm am Tag.«

»Neueste Forschungen belegen, dass Kokain zu Wahnvorstellungen führen kann.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich habe Ihnen Kokain verschrieben, um Sie von Ihrer Morphiumsucht zu heilen. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass wir uns nach Alternativen umsehen sollten.«

»So langsam habe ich genug von Ihren Ausflüchten, Saretzki. Entweder Sie rücken meine Medizin heraus, oder ich marschiere geradewegs zu Ihrer Frau und berichte ihr, was Sie dem armen Mädchen angetan haben.«

Dr. Saretzki musterte ihn kalt. Dann zog er eine Schublade auf, griff hinein und warf eine braune Papiertüte auf den Schreibtisch. »Das ist das letzte Mal. Danach bekommen Sie von mir nichts mehr.«

Er nahm die Tüte und kontrollierte mit zitternden Fingern den Inhalt. »Ich bestimme, wann das letzte Mal ist. In vier Wochen komme ich wieder. Und wehe, Sie liefern nicht. Einen schönen Gruß an die Frau Gemahlin«, sagte er und eilte hinaus. Zu Hause bewahrte er ein ganzes Arsenal an Ingredienzien und Gerätschaften auf, um die wirksamste aller Lösungen herzustellen. Diese Medizin würde ihm die nötige Energie schenken, um den großen Plan zu vollenden.

In »Klein-Sanssouci«

Vor sechs Jahren war Otto auf dem Wasserweg nach Deutsch-Südwestafrika gereist, um sich von einer herben Enttäuschung zu erholen. Lange war er durch die Steppen gezogen und hatte vergeblich nach Antworten gesucht. Irgendwann hatte er entschieden, dass das Leben weitergehen musste, und war nach Deutschland zurückgekehrt. Im Januar 1888 hatte er sich in dem leer stehenden Sommerhaus seiner Eltern eingerichtet, um ein neues Buch zu verfassen. Die herrschaftliche, zweigeschossige Villa gehörte zur Colonie Alsen, die zwischen dem Großen und dem Kleinen Wannsee lag und von Wilhelm Conrad gegründet worden war. Obwohl die Gegend im Winter verlassen gewesen war, hatte sich Otto hier sofort heimisch gefühlt. So hatte er seinem Vater, dem neben der Manufakturwarenhandlung Sanftleben & Comp. zwei Eisenhüttenwerke in Schlesien gehörten, die vom Großvater geerbten Anteile am Familienunternehmen im Tausch gegen das Anwesen angeboten. Dieser hatte dem Handel nicht nur zugestimmt, sondern ihm außerdem eine großzügige Apanage bewilligt. Seitdem gehörte »Klein-Sanssouci«, wie Otto die Villa liebevoll nannte, ihm.

Der Garten, der erst vor Kurzem mit zahlreichen Blumenbeeten, Spazierwegen und einem Springbrunnen neu gestaltet worden war, fiel leicht zum westlichen Ufer des Großen Wannsees ab. An diesem Morgen blies ein frischer Wind aus nordwestlicher Richtung und raute die Wasseroberfläche auf.

Auf dem Bootsanleger hatte Otto seinen Rover-Trainier-Apparat aufbauen lassen. Dabei handelte es sich um ein stabiles Holzgestell, auf dem ein Rad stand, ohne mit den Reifen den Boden zu berühren. Otto hatte den stärksten Tretwiderstand eingestellt. Seine Beine pumpten wie Dampfkolben, sein Atem ging gleichmäßig. Er war so gut in Form wie nie zuvor in seinem Leben. Am 3. August würde er beim Meisterschaftsfahren von Deutschland antreten, um eine alte Rechnung zu begleichen. Er trainierte so verbissen, dass er nicht hörte, wie sich jemand von hinten näherte.

»Ein Bote hat das abgegeben«, sagte sein Leibdiener Moses und wedelte mit einem Umschlag.

Moses Katouje war siebzehn Jahre alt und in Deutsch-Südwestafrika geboren worden. Sein Vater war ein angesehener Viehzüchter vom Stamm der Hereros gewesen, der zusammen mit der restlichen Familie von Hottentotten massakriert worden war. Nur Moses hatte überlebt, durch schieren Zufall, weil er gerade am Fluss Wasser geschöpft hatte. Kinderlose Missionare aus Hamburg hatten ihn aufgenommen und die deutsche Sprache gelehrt. Als Otto auf seiner Afrikareise in der Mission Station gemacht hatte, hatte man ihn gebeten, den äußerst begabten Jungen mit nach Deutschland zu nehmen. Wenn Otto damals gewusst hätte, dass sich aus dem sanften, traurigen Jungen ein rebellischer Jüngling entwickeln würde, hätte er seine Entscheidung sicherlich noch einmal überdacht.

Otto drückte sich vom Lenker hoch und sagte: »Bevor man in medias res geht, begrüßt man einander. Das ist ein Zeichen von Höflichkeit.«

Moses verdrehte die Augen und streckte ungeduldig den Umschlag in seiner Hand vor. »Nun mach schon. Hier.«

Otto bereute wieder einmal, dass er dem Jungen das »Du« erlaubt hatte, als dieser beim Deutschlernen mit den Anredeformen Schwierigkeiten gehabt hatte. Eigentlich erwartete er keinen Brief und war neugierig, wer ihm eine Nachricht schickte. Trotzdem ließ er sich nicht hetzen – und schon gar nicht von seinem Leibdiener. In aller Seelenruhe stieg er vom Rover-Trainier-Apparat und trocknete sein verschwitztes Gesicht mit einem Handtuch ab. »Fangen wir noch einmal an. Guten Morgen, Moses.«

»Nie kann ich es dir recht machen.«

»Guten Morgen, Moses.«

»Also gut – wenn du dich dann besser fühlst. Guten Morgen, Otto.«

Otto nahm den Brief entgegen. »Wer hat ihn gebracht?«

»So 'n Diener von so 'nem Kommerzienrat.«

»Geht das auch in einem vollständigen Satz?«

»Ja-ha! Der Diener von einem Herrn Kommerzienrat hat den Brief abgegeben.«

Otto öffnete den Umschlag. Von Vitell? Was konnte er wollen? Nachdem Otto den Brief gelesen hatte, blickte er verwundert auf. Der Kommerzienrat bat ihn, an den Vernehmungen im Kreuzigungsfall teilzunehmen. Heute würde die erste Zeugin, eine gewisse Friederike Dürr, befragt werden. Der zuständige Beamte, Commissarius Funke, sei unterrichtet worden. Und vonseiten des Kriminaldirigenten seien keine Einwände zu erwarten, das habe er geregelt, schrieb Vitell in einem PS am Ende des Briefs.

Otto legte sich das Handtuch um die Schultern und dachte: Irgendjemandem liegt wirklich viel daran, dass ich die Ermittlungen unterstütze.

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