Finstere Havel - Tim Pieper - E-Book

Finstere Havel E-Book

Tim Pieper

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Beschreibung

Ausgefeilte Krimispannung vor traumhafter Kulisse. Ein Auto wird aus der Havel geborgen, am Steuer eine tote Frau. Beging sie Selbstmord, war es ein Unfall oder wurde sie umgebracht? Die Ermittlungen führen Hauptkommissar Toni Sanftleben in den Naturpark Westhavelland, wo die Biologin an einem großen Flussprojekt mitarbeitete und in ihrer Freizeit den Nachthimmel erforschte. Doch am dunkelsten Ort Deutschlands ist es so finster, dass man die Gefahr nicht kommen sieht.

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Tim Pieper, geboren 1970 in Stade, studierte nach einer Weltreise Neuere und Ältere deutsche Literatur und Recht. Mit seiner Familie lebt er nur wenige Kilometer vor den Toren Potsdams. Er nutzt jede Gelegenheit, um die Geschichte und die reizvolle Landschaft der Region mit dem Fahrrad zu erkunden.www.timpieper.net

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: istockphoto.com/secablue

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Carlos Westerkamp

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-735-4

Originalausgabe

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Prolog

Lautlos kam das Auto aus der Dunkelheit, rollte den Fähranleger hinunter und klatschte in die Havel. Das Wasser spülte über die Motorhaube und traf auf die Windschutzscheibe. Die Gestalt hinter dem Lenkrad unternahm keine Anstalten, um sich zu befreien. Der Wagen trieb auf den nächtlichen Fluss hinaus und versank dabei, bis auch das Heck untergetaucht war. Luftblasen stiegen auf und zerplatzten. Endlich war die pechschwarze Oberfläche wieder so glatt, als wäre nichts passiert.

Der Junge hatte dem Geschehen mit ausdruckslosem Gesicht zugeschaut. Sein Frotteeschlafanzug war zu dünn, um ihn zu wärmen, aber er merkte die Kühle nicht. Er saß auf einem Baumstumpf auf der schmalen Landzunge und hielt ein rosa Kuschelschwein im Arm. Langsam hob er den Kopf an und blickte zum Sternenhimmel hinauf, der über der Landschaft magisch glitzerte.

Als Motorenlärm die Stille durchbrach, stand er ungelenk auf. Er starrte auf rote Rücklichter, die sich in hohem Tempo entfernten, und dann auf zwei Scheinwerfer, die sich schnell näherten. Die goldgelben Kegel zogen ihn unwiderstehlich an. Er streckte die Arme aus und wankte ihnen entgegen.

Ein Familienvan hielt zwanzig Meter vor ihm. Eine Frau im Bademantel sprang heraus, lief auf ihn zu und kniete sich hin. »Ich wusste, dass du hier bist«, flüsterte sie und schloss ihn liebevoll in die Arme. »Es tut mir so leid, dass ich nicht besser aufgepasst habe. Ab sofort reiß ich mich zusammen. Wenn dir auch noch was passiert, würde ich es nicht ertragen.«

1

Am frühen Morgen wälzte sich Hauptkommissar Toni Sanftleben auf den Rücken und schaute schwer atmend zur Schlafzimmerdecke hoch. Meine Güte!, dachte er. Sie waren beide Mitte vierzig. Ihre Liaison dauerte schon über ein halbes Jahr an. Und trotzdem ließ die erotische Anziehungskraft nicht nach.

Staatsanwältin Caren Winter wusste genau, was sie wollte. Und er musste keine Zaubertricks anwenden, um sie ins Bett zu kriegen. Sie begegneten sich wie zwei Erwachsene, die Lust aufeinander hatten und zu ihren Körpern standen. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass Sex so unkompliziert und natürlich sein könnte.

Caren schmiegte sich an ihn. Eine Weile spielte sie mit seinen Brusthaaren. »Tut mir leid, dass ich heute nicht so bei der Sache war.«

Wie bitte? Toni schaute überrascht auf ihr Haar hinunter. Er hatte ihr Liebesspiel als sehr sinnlich empfunden und angenommen, dass es ihr genauso ergangen war. Jetzt fragte er sich, ob er einen Fehler begangen hatte. Er gab ein Brummen von sich, das alles und nichts bedeuten konnte.

»Versteh mich nicht falsch«, fuhr Caren fort. »Es war schön. Es ist immer schön mit dir, aber mir ist gestern was passiert, das mir einfach nicht aus dem Kopf geht.«

Ach so, dachte er erleichtert. Es gab einen konkreten Anlass, der nichts mit ihm zu tun hatte. »Willst du es mir erzählen?«

»Ich hatte Stress im Büro und bin mit einer Terminsache nicht fertig geworden. Deshalb habe ich auf dem Heimweg einen Schriftsatz ins Smartphone diktiert. Ich war so vertieft, dass ich nicht auf den Verkehr achtete und die Straße überqueren wollte, ohne nach links und rechts zu schauen. Ein Teenager hat mich am Arm gepackt und zurückgerissen. Wenn der Junge nicht so schnell reagiert hätte, hätte mich ein Bus erwischt. Wahrscheinlich wäre ich jetzt tot.«

Toni schluckte hart. »Das hast du gestern Abend gar nicht erwähnt.«

»Ich weiß. Vermutlich war ich mir selbst über die Bedeutung noch unklar.«

»Und jetzt kennst du sie?«

Caren ließ ihre Hand flach auf seiner Brust liegen. »Ich hab immer das Richtige getan. Ich hab ein ordentliches Examen abgelegt, ich hab meinen Sohn großgezogen, und ich hab viel gearbeitet. Seit fünfzehn Jahren bin ich bei der Staatsanwaltschaft, und weißt du, wie oft ich in dieser Zeit krankheitsbedingt gefehlt habe? Ein einziges Mal nach einer Kieferoperation.«

»Ich verstehe den Zusammenhang noch nicht. Was hat deine Berufsauffassung mit dem Beinaheunfall zu tun?«

»Wenn ich gestern gestorben wäre, hätte mein ganzes Leben aus Pflichterfüllung bestanden. Ich denke aber, dass es noch mehr geben muss als das Strafgesetzbuch, Verhandlungen und Schuldsprüche.«

»Moment mal. Du hast einen Sohn. Und du hast mich. Zusammen haben wir eine richtig schöne Zeit. Außerdem triffst du dich mit Freundinnen und gehst mit ihnen ins Kino, ins Café oder zu Ausstellungen.«

»Mein Sohn studiert in München und kommt nicht mehr nach Potsdam. Wenn ich ihn sehen möchte, muss ich zu ihm fahren. Und das schaffe ich höchstens sechs- oder siebenmal im Jahr. Wir beide machen ständig Überstunden. Wenn wir uns treffen, sind wir völlig erledigt. Und die Freizeitaktivitäten dienen doch nur zur Ablenkung. Sie sind garantiert nichts, woran ich mich an meinen letzten Tagen erinnern werde.«

Zwischen den Vorhängen sickerte Morgenlicht ins Schlafzimmer und erhellte den Raum. Das Gespräch nahm eine Wendung, mit der Toni nicht gerechnet hatte. Eigentlich hatte er geglaubt, dass er die existenziellen Fragen hinter sich gelassen hätte. Dass ausgerechnet Caren sie wieder in sein Leben trug, überraschte ihn.

»Und weißt du, was mich am härtesten trifft?«, fuhr sie fort. »Anscheinend bin ich unzufrieden. Ich müsste also etwas ändern, aber ich hab keine Idee, wie ich das anstellen soll. In mir sind keine geheimen Wünsche, die ich mir unbedingt erfüllen muss, oder verborgene Talente, denen ich mich bisher nicht gewidmet habe. Da ist rein gar nichts. Ich bin einfach nur ein Arbeitstier.«

»Stopp. Mir gefällt nicht, wie du über dich redest. Du hast all die Jahre funktioniert, weil du keine Alternative hattest. Da war kein Platz für irgendwelche Sehnsüchte. Wahrscheinlich hast du dir das Träumen sogar gezielt abgewöhnt. Es hätte dich nur auf Ideen gebracht, die nicht realisierbar gewesen wären und dir die Kraft für den Alltag geraubt hätten.«

»Dann will ich das Träumen wieder lernen«, sagte Caren und setzte sich auf. »Toni, ich …«

»Ja?«, erwiderte er und konnte nicht anders, als seinen Blick über ihren nackten Körper streichen zu lassen. Es gab immer noch Momente, in denen es ihm vollkommen unwirklich erschien, dass diese atemberaubende Frau mit ihm zusammen sein wollte.

»Toni, hast du es nicht manchmal satt, Kriminellen hinterherzujagen? Bist du nicht müde von dem ganzen Leid und der Brutalität, mit der wir tagtäglich konfrontiert werden? Ich hätte jedenfalls große Lust, eine längere Auszeit zu nehmen und neue Eindrücke zu sammeln. Dann könnte ich mal durchatmen und in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll. Ohne dich will ich diesen Schritt aber nicht gehen. Du musst mitkommen.«

Toni zog die Augenbrauen hoch. Das Ansinnen war neu. Meinte sie es ernst, oder stand sie noch unter Schock? Er wollte jetzt nichts Falsches sagen. »Wie stellst du dir das vor? Ich meine, praktisch.«

»Ich hab etwas Geld. Wir könnten unbezahlten Urlaub nehmen und dann …«

»Und dann?«

»In diesen Dingen kennst du dich besser aus. Du bist zweieinhalb Jahre mit einem VW-Bus um die Welt gefahren. Ich hab mal meine Schwester in Los Angeles besucht, ansonsten bin ich nie über einen Cluburlaub in Spanien hinausgekommen.«

»Du willst also reisen«, stellte er fest. »Aber meine damalige Situation kannst du mit der heutigen nicht vergleichen.«

»Und wieso nicht?«

»Ich war zwanzig. Meine Freundin war so unruhig, dass sie ständig in Bewegung sein musste. In ihrem konservativen Elternhaus hielt sie es nicht aus; sie wollte unbedingt weg. Damals hatte ich keine Wohnung, keinen Job und keine Verpflichtungen. Ich hatte rein gar nichts und hab mir gedacht: Warum nicht?«

»Du hast es also für sie getan«, sagte Caren und blickte ihn hoffnungsvoll an.

»Nicht nur. Ich hatte auch Lust auf ein Abenteuer. Aber eigentlich wollte ich sagen, dass so eine Auszeit leichterfällt, wenn man noch frei und anspruchslos ist. Man gibt nichts auf, man hat keine Erwartungen und lässt alles auf sich zukommen –«

Toni wurde von seinem Smartphone unterbrochen, das auf dem Nachttisch lag und vibrierte. So früh konnte es sich nur um einen Einsatz handeln. Er kam zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt.

»Du hast Rufbereitschaft«, sagte Caren matt. »Du musst nachschauen.«

Widerstrebend griff Toni nach dem Handy und las die Mitteilung. Er hatte richtiggelegen. Am Fähranleger bei Schmergow war der Leichnam einer Frau entdeckt worden. Die Todesumstände waren unklar. »Tut mir leid, aber ich muss los«, sagte er und kletterte aus dem Bett.

Mit den Händen strich er über seine dunklen Locken und brachte sie halbwegs in Form. Er schlüpfte in sein schwarzes T-Shirt, in die engen Jeans und die Beatstiefel, die dringend besohlt werden mussten. Zum Schluss legte er die Muschelkette an, die ihm vor vielen Jahren ein Althippie am Strand von Goa geschenkt hatte.

Er beugte sich zu Caren hinab, um sie zu küssen. Ihr Mund war weich und nachgiebig. Plötzlich fragte er sich, wie es wäre, wenn er diese Lippen gerade zum letzten Mal berührte. Wie würde es sich anfühlen, wenn sie sich wieder verlören? Das waren Gedanken, mit denen er sich nicht beschäftigen wollte und die er sofort verbannte. Er wusste bereits, wie flüchtig das Glück war. Man musste es festhalten, wenn es einem begegnete.

»Ich ruf dich heute Abend an. Dann besprechen wir alles in Ruhe. Wir finden eine Lösung«, sagte Toni, griff nach seinem Autoschlüssel und ließ Caren in ihrer großen Wohnung allein zurück.

2

3

Vor einiger Zeit

Zwei Stunden nach Sonnenuntergang endete die Dämmerung, und die Finsternis brach über dem Westhavelland herein. Forscher hatten in der dünn besiedelten Gegend den dunkelsten Nachthimmel Deutschlands gemessen. Nirgends funkelten die Sterne prachtvoller, nirgends konnte man das gesprenkelte und neblige Band der Milchstraße klarer erkennen.

Anderthalb Kilometer südlich von Spaatz saß Melanie Berndt auf einem Campingstuhl, hielt den Kopf in den Nacken und schaute verzweifelt ins Universum, als könnte es ihr Antworten geben. Gegen die Kälte trug sie einen Gefrierhausoverall, dicke Handschuhe und gefütterte Winterboots. Neben ihr standen Stative mit einem Fernglas und einem Teleskop, die sie nur aufgebaut hatte, um etwas zu tun zu haben.

Obwohl sie sich eben erleichtert hatte, musste sie schon wieder austreten. Das ging seit Tagen so und machte alles noch schlimmer. Sie war mit den Nerven runter und hielt immer ein Papiertaschentuch bereit, mit dem sie die Augen trocknen konnte. Allerdings brauchte sie es kaum noch. Sie hatte keine Tränen mehr; sie hatte sich längst leer geweint.

Über ihr funkelten zahllose winzige Lichtpunkte, die flimmernde Haufen, glitzernde Bahnen und geheimnisvoll schimmernde Flächen bildeten. Melanie machte sich die unfassbaren Dimensionen bewusst. Allein in unserer Milchstraße befanden sich hundert Milliarden Sterne, also leuchtende Himmelskörper wie unsere Sonne, die von hundert Milliarden Planeten umkreist wurden. Im ganzen Weltall gab es neuesten Berechnungen zufolge Billionen solcher Galaxien, die jeweils über Milliarden Sterne und Planeten verfügten.

Angesichts dieser Größe begriff sie sofort, warum niemand sagen konnte, wieso es das Weltall gab oder welcher Zustand vorher geherrscht hatte. Die Menschen kannten ja nicht mal alle Kreaturen, die auf dem Grund der Meere lebten. Wie sollten sie da ahnen, was sich in einer Entfernung von Milliarden Lichtjahren zutrug?

Normalerweise bewirkte die Vergegenwärtigung dieser Ausmaße, dass Melanie sich ihrer Bedeutungslosigkeit bewusst wurde. Als Folge konnte sie sich entspannen und sich nicht so wichtig nehmen. Das gelang gewöhnlich gut – nur nicht heute. Wieder spürte sie, wie sich ihre Kehle zuschnürte.

Früher hatte sie in schwierigen Phasen die Schriften von Immanuel Kant gelesen, die für viele Lebenssituationen einen Denkanstoß boten. Der kategorische Imperativ des großen Philosophen war von einer unbestechlichen Eindeutigkeit und lautete: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«

Wollte sie also herausfinden, ob sie sich gerecht verhalten hatte, musste sie ihre Vorgehensweise abstrahieren und schauen, ob sie daraus einen moralischen Grundsatz ableiten konnte – aber wie sie die Ereignisse auch bewertete, der Gegensatz war offenkundig. Sie hatte nicht nur eine Schuld auf sich geladen, sondern bis heute nichts in die Wege geleitet, um die Verantwortung zu übernehmen.

Aus der Tiefe ihres Oberkörpers drang ein Schluchzen und verhallte in der finsteren Nacht. Kurz bevor sich alles zum Guten gewendet hatte, war sie ein einziges Mal schwach geworden, und es war zu einer Katastrophe gekommen. Jetzt drohte sie alles zu verlieren, was ihr jemals etwas bedeutet hatte.

Verzweifelt schaute sie sich um. Der Beobachtungsplatz verfügte über eine geniale Rundumsicht und ein phantastisches Himmelspanorama, das sich wie eine funkelnde Kuppel über die Landschaft spannte. Die nächtliche Stille hatte sie stets umarmt wie ein liebevoller Freund. Hier hatte sie die Hektik des Alltags verarbeitet und sich auf neue Herausforderungen vorbereitet. Hier hatte sie sich geborgen gefühlt.

Trotzdem musste sie sich fragen, weshalb sie überhaupt hergekommen war. Wollte sie sich mit den furchtbaren Geschehnissen konfrontieren, um endlich die richtige Entscheidung zu treffen? Hatte sie überhaupt noch eine Wahl?

Ihre Lage hatte sich dramatisch verändert. Seit einigen Stunden wusste sie, dass es eine Person gab, die ihr Geheimnis kannte. Die Nachricht, die sie auf ihrem Handy empfangen hatte, war unmissverständlich gewesen.

»Ich weiß, was du getan hast«, hatte dort gestanden. »Ich will dreißigtausend Euro in Fünfzigerscheinen. Du hast vier Tage Zeit, um das Geld zu besorgen. Wenn du zur Polizei gehst oder nicht zahlst, werden alle erfahren, was für ein Mensch du bist.«

4

Seit einer halben Ewigkeit fuhr Toni durch den Wald am Nordufer des Hohennauener-Ferchesarer Sees. Das Haus der Verstorbenen befand sich irgendwo zwischen dem Ort Ferchesar und dem Großen Havelländischen Hauptkanal.

Obwohl er aufpasste, erwischte er tiefe Schlaglöcher, die den Peugeot bedenklich durchschaukelten. Erneut zweigte er auf einen rumpeligen Weg ab und landete dieses Mal vor einer rot-weißen Metallschranke, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war.

»So ein Mist!«, fluchte er.

Mittlerweile hatte er die Lust an dieser Rallye verloren. Er griff nach dem Smartphone und stellte fest, dass er Empfang hatte. Also rief er im Kommissariat an und bekam Gesa in die Leitung.

»Ich gebe dir jetzt mal die Adresse durch, die auf ihrem Personalausweis steht«, sagte er und nannte sie. »Was ich brauche, ist ein aussagekräftiger Kartenausschnitt mit einer Markierung. Ansonsten finde ich das Haus nie.«

»Ich bin gerade erst angekommen«, erwiderte die Kollegin. »Du musst warten, bis ich den Computer hochgefahren habe.«

Ungeduldig trommelte Toni mit den Fingerspitzen auf das Lenkrad.

Zur Sicherheit wiederholte Gesa die Anschrift und bediente dann klackend die Tastatur. »Die Adressangabe ist etwas irreführend. Kein Wunder, dass du so lange suchst. Hier hab ich mehr Möglichkeiten. Kartenausschnitt mit Markierung ist unterwegs.«

Wenig später öffnete Toni die Bilddatei und verglich sie mit der Darstellung auf dem Navi. »Das ist ziemlich genau mein Standort.«

»Dann muss sie dort irgendwo wohnen. Tschüss – ich muss jetzt los.«

Toni kam nicht mehr zu einer Erwiderung. Es tutete bereits an seinem Ohr. Er legte das Smartphone in die Mittelablage und stieg aus dem Wagen.

Draußen fiel ihm zuerst die unglaubliche Stille auf. Da waren nur die Stimmen der Natur. Ein leichter Wind strich um die Kiefern und brachte sie zum Knarren. Irgendwo klopfte ein Specht an einen Baumstamm. Ein pelziges Tier ergriff im Unterholz raschelnd die Flucht.

Er ging seitlich an der Schranke vorbei und bewegte sich auf dem Waldweg in südliche Richtung. Nach einer Linkskurve entdeckte er einen Jägerzaun, der so bemoost war, dass er farblich perfekt an die Umgebung angepasst war. Er friedete ein Waldgrundstück ein, auf dem hohe Birken, Kiefern und Eichen standen.

Toni öffnete die Pforte und betrat einen verwitterten Plattenweg, der auf ein Holzhaus mit Satteldach zuführte, das etwas größer und dekorativer als die übliche Datsche ausfiel. Vielleicht war es früher die Sommerhütte eines Parteikaders gewesen.

Toni trat auf die knarrende Veranda und drückte den Klingelknopf. Er wusste noch nicht, ob die Tote allein lebte. Als sich nichts tat, zog er die Fliegengittertür auf. Sie quietschte so schrill, dass er zusammenzuckte. Oft spiegelten die Wohnstätten der Verstorbenen ihren Charakter wider. Hier beschlich ihn das Gefühl, dass er eine streng gehütete Ruhe empfindlich störte. Er zog Handschuhe über, fischte den Schlüsselbund aus der Tüte und öffnete die Tür.

Da ertönte ein Knall. Es hörte sich an, als wäre etwas umgekippt.

»Hallo?«, rief er alarmiert und fragte sich, ob sich doch jemand im Inneren aufhielt. Warum regte sich die Person erst jetzt? Die ganze Angelegenheit erschien ihm höchst verdächtig.

Toni atmete tief durch, löste den Druckknopf seines Holsters und zog die Pistole. Auf Zehenspitzen drang er ins Haus ein. Die Dielen knarrten unter seinen Füßen.

In seiner beruflichen Laufbahn hatte er oft genug erlebt, dass Täter Material verschwinden ließen, um Spuren zu verwischen. Vorsichtig durchquerte er den Wohn-und-Ess-Bereich und hielt sich auf einem kurzen dunklen Flur links.

Ein gestreifter Kater schoss maunzend zwischen seinen Beinen hindurch und flüchtete durch eine Klappe in der Hintertür.

Das war wohl der Störenfried!

Toni bemerkte erst jetzt, wie wild sein Herz schlug. Vor ihm befand sich eine kleine Küche. Mit einem Blick erkannte er, dass das Tier Nahrung gesucht hatte. Marmeladengläser lagen umgekippt auf dem Fliesenboden. Fress- und Trinknapf waren leer.

Während Toni sie mit Futter füllte, beruhigte er sich wieder. Das Schicksal des Katers musste geregelt werden. Mit etwas Glück käme er bei Verwandten oder Freunden unter.

Toni begann seinen Rundgang und stöberte im Badezimmer in einem Arzneischränkchen. Er fotografierte die Schachteln und schickte die Bilder an die Gerichtsmedizinerin und an sein Team.

In der Abstellkammer stieß er auf zwei gut bestückte Werkzeugkästen, auf Handarbeitszeug und Teleskope. Außerdem entdeckte er Stative, Ferngläser, drehbare Himmelskarten, Sonnenfilterfolie, Rotlichtstirnlampen, Mondfilter und anderes Zubehör. Melanie Berndt hatte sich mit Astronomie beschäftigt.

Der Wohn-und-Ess-Raum war spärlich möbliert, aber nicht ungemütlich. In dem überquellenden Regal waren die Bücher alphabetisch nach Autorennamen geordnet und zeugten von einem anspruchsvollen Lesegeschmack. Wissenschaftliche und philosophische Bände überwogen.

An den Wänden hingen glänzende Fotografien des Nachthimmels, die leuchtend weiße Punkte, milchige Spiralen und blaue Strudel auf schwarzem Grund darstellten. Die Unterschriften lauteten: »M31/M32 – der Andromedanebel. Sternbild Andromeda. 27.11.2016«, »NGC 253 – die Silberdollargalaxie. Sternbild Sculptor. 27.11.2016« oder »M74 – Sternbild Fische. 14.01.2018«. Nirgends wies der Boden Dreck auf. Die Fenster waren frisch gewischt.

Hatte sie alles so penibel sauber gehalten, weil sie der Unordnung in ihrem Inneren etwas entgegensetzen wollte? Oder achtete sie nur auf Details?

Im Büro war der Schreibtisch ans Fenster gerückt, durch das man in den hinteren Teil des Grundstücks schaute. Links und rechts erhoben sich hohe Kiefern, Eichen und Weiden, die mächtige Schatten warfen. Am Ende des Geländes befand sich ein dichter Schilfgürtel, der wie eine gelbe Wand aufragte. In sie war eine Schneise geschlagen worden, die auf den glitzernden See hinausführte. Diese schmale Wasserstraße wirkte wie die einzige Verbindung zur Außenwelt.

Vieles deutete darauf hin, dass die Verstorbene hier allein gelebt hatte. Vielleicht hatte sie an diesem Ort Frieden gesucht. Gefunden hatte sie ganz sicher Stille und Abgeschiedenheit.

Die ganze Atmosphäre drückte Toni aufs Gemüt. War es Einsamkeit, die er spürte? Wenn ja – wie war Melanie Berndt mit ihr fertiggeworden? Womit hatte sie sich beschäftigt?

Sie hatte aufgeräumt und geputzt; an den endlosen Abenden hatte sie den Sternenhimmel studiert und in ihren Büchern gelesen, bis die Augen brannten und bis es nichts mehr gab, womit sie sich ablenken und die aufkommenden Gefühle ersticken konnte.

War es so gewesen?

Weshalb hatte die junge Frau überhaupt so fernab anderer Menschen gelebt? Weit und breit befand sich kein anderes Haus.

Hatte sie sich hier versteckt?

Vielleicht hatte er nicht gründlich genug gesucht.

Er unternahm einen zweiten Rundgang und kramte in den Schubladen. Schließlich entdeckte er in dem kurzen dunklen Flur eine Falltür in der Decke. In einer Nische lehnte eine Öffnerstange, die an einem Ende einen Gummihaken aufwies. Mit diesem konnte er die Luke runterziehen und eine Holzstiege ausklappen. Er kletterte auf den Dachboden, fand einen Lichtschalter und bekam vielleicht die Antwort auf seine Fragen.

Melanie Berndt hatte einem Mädchen das schönste Kinderzimmer eingerichtet, das er je gesehen hatte. In der Bettwäsche, auf dem Teppich, in den Regalen und an den Wänden fanden sich selbst gestickte, selbst gebastelte und selbst gemalte Pferdemotive, die in Rosa-, Rot- und Lilatönen farblich aufeinander abgestimmt waren und sehr phantasievoll wirkten.

Allerdings war das Bett unbenutzt, der Kleiderschrank leer. Der Teppich wies nicht die geringsten Gebrauchsspuren auf. Hier hatte nie ein Mädchen gespielt. Wieso hatte Melanie Berndt dieses Zimmer so liebevoll hergerichtet?

Jetzt kam es Toni komisch vor, dass im Erdgeschoss keine Kinderfotos ausgestellt waren. Hatte die Verstorbene den ständigen Anblick nicht ertragen, und hatte sie sich deshalb einen Ort geschaffen, an dem sie ihre zärtlichen Gefühle ausleben konnte?

Aber wo war das Mädchen?

5

Als Toni den Besprechungsraum im Kommissariat betrat, trug er den Laptop und die Notizbücher der Verstorbenen bei sich. Noch immer beschäftigte ihn die Atmosphäre des Wohnhauses. Die Abgeschiedenheit kam ihm vertraut vor und erinnerte ihn an eine längst vergangene Zeit.

Vor über zwanzig Jahren war seine Ehefrau beim Baumblütenfest in Werder verschwunden. Damals setzte er seine ganze Energie ein, um ihr Schicksal aufzuklären. Die Suche machte ihn zum Einzelgänger. Sie trieb ihn permanent an und ließ ihm keine Ruhe. Nacht für Nacht hockte er in einer dunklen Archivkammer und wälzte Akten. Nacht für Nacht ertränkte er die Sehnsucht nach ihr mit harten Spirituosen, bis er in einen traumlosen Schlaf fiel.

»Wie findest du sie?«, fragte Phong und stapfte ihm grinsend entgegen.

Toni streifte die düsteren Erinnerungen ab und kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Er blickte auf Kriminalkommissar Nguyen Duc Phong.

Seine Eltern waren als vietnamesische »Boatpeople« nach Deutschland gekommen. Das glatte schwarze Haar rahmte ein breites Gesicht ein. Er trug getönte Brillengläser mit einem Kassengestell, das schon bei seiner Geburt unmodisch gewesen war. Das ausgewaschene »The Sweet«-T-Shirt spannte über dem enormen Bauch, den er sich nach Beendigung einer Steinzeitdiät angefuttert hatte.

Vor dem Außendienst drückte sich Phong seit Jahren. In dem dreiköpfigen Ermittlungsteam ging er Bürotätigkeiten und Computerarbeiten nach. Dabei hatte er sich zu einem exzellenten Rechercheur entwickelt und umfangreiche Kenntnisse in den kriminalistischen Hilfsdisziplinen erworben, die häufig zu einem schnellen Ermittlungserfolg führten.

Toni begriff nicht, von wem Phong redete. Die Verstorbene meinte er jedenfalls nicht. Verständnislos zuckte er mit den Achseln.

»Gesa!«, sagte der Kollege. »Sie läuft rum, als hätte sie bei einer Misswahl gewonnen. Vielleicht ist sie ja Kohlrübenprinzessin oder Wirsingwoman des Jahres geworden. Hä, hä, hä.«

»Lass sie doch«, sagte Toni. »Ich hab zwar keine Ahnung, was mit ihr los ist, aber ihr neues Aussehen scheint ihr wichtig zu sein. Außerdem macht sie sich auch nicht über dein T-Shirt lustig.«

»Wieso?« Phong schaute verständnislos an sich hinunter. Mehrmals strich er über die ausgewaschene Darstellung von langhaarigen Musikern mit ihren Instrumenten. »Das sind ›The Sweet‹! Die Jungs musst du doch kennen. Ich sag nur ›The Ballroom Blitz‹. Der Song war ein Meilenstein in der Geschichte des Glamrocks.«

»Meinetwegen«, sagte Toni neutral, um das Thema zu beenden und ihr Gespräch auf eine berufliche Ebene zu lenken. Ihm lag viel daran, dass sie sich im Kommissariat auf die Arbeit konzentrierten. Bei ihren Ermittlungen spielte der Faktor Zeit eine wichtige Rolle. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Gesa in den Besprechungsraum stolzierte.

Beim Anblick der Kollegin prustete Phong beinahe hysterisch los.

Gesa blieb vollkommen ruhig, rückte sich einen Stuhl zurecht und richtete sich an ihrem Platz ein. Dabei stahl sich nach und nach ein feines Lächeln auf ihre angemalten Lippen. Plötzlich sah sie Phong in die Augen und warf ihm einen Flugkuss zu.

Das Kichern blieb ihm im Hals stecken. Eine tiefe Röte zog über sein Gesicht. Er lief um den Besprechungstisch herum und verbarrikadierte sich hinter seinem Laptop. Mit der Zeigefingerspitze schob er seine getönte Sehhilfe den Nasenrücken hoch und tat so, als würde er auf dem Monitor einen Bericht lesen. Auf den Brillengläsern konnte man jedoch deutlich erkennen, dass der Bildschirm schwarz blieb.

Toni überlegte, ob er einen Kommentar abgeben sollte, aber die Interaktion der Kollegen durfte die Besprechung nicht gefährden. »Dann lasst uns zum Fall kommen«, sagte er. »Ich hab im Wohnhaus der Verstorbenen keine verdächtigen Spuren oder Gegenstände ausmachen können, die eindeutig auf einen kriminellen Hintergrund schließen lassen. Einen Abschiedsbrief konnte ich auch nicht finden, aber es würde mich nicht wundern, wenn sie unter Depressionen gelitten hat. Sie lebte sehr zurückgezogen.«

»Nicht ganz«, wandte Phong ein. »Nachdem du Gesa angerufen hattest, hab ich mir das Grundstück auf Satellitenfotos angeschaut. In einiger Entfernung gibt es einen Nachbarn.«

»Echt? Er könnte etwas Wichtiges wissen. Wir sollten mit ihm reden. Vielleicht kann er sich auch um den Kater der Verstorbenen kümmern. Am besten telefonierst du mit ihm und kündigst mich für morgen früh an. Hat die Untersuchung der Tablettenschachteln etwas ergeben?«

»Es war ein starkes Beruhigungsmittel darunter, das bei Erregungszuständen verschrieben wird und auch gegen Schlafstörungen hilft.«

»Dann muss ein Arzt über ihren geistigen Zustand Bescheid wissen. Hier sind ihr Laptop und die Notizbücher«, sagte Toni und schob beides über den Tisch. »Versuch seinen Namen rauszufinden. Wir müssen mit ihm reden. Vielleicht hat Melanie Berndt einmal einen Suizidversuch unternommen oder war selbstmordgefährdet. Ein Handy hab ich übrigens vergeblich gesucht. Am Fundort befand sich auch keins. Kannst du checken, ob sie überhaupt eins besaß? Und wenn ja, dann überprüf bitte ihre Verbindungsdaten.«

»Alles klar.«

»Hatte sie Angehörige? Ein Kind vielleicht? In ihrem Haus befindet sich ein Mädchenzimmer.«

»Darum hat sich Gesa gekümmert«, murmelte Phong.

Die Kollegin richtete sich selbstbewusst in ihrem Stuhl auf. »Melanie Berndt wurde am 27. August 1986 in Rathenow geboren. Ihre Eltern bekleideten im benachbarten Premnitz Führungspositionen im VEB Chemiefaserwerk ›Friedrich Engels‹, bis beide bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen. Gemeinsam mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester wuchs Melanie bei ihrer Oma auf. Sie war verheiratet und ist Mutter einer fünfjährigen Tochter, die bei ihrem geschiedenen Mann lebt. Ich hab ihn bereits angerufen und ihn über den Tod seiner Ex-Frau in Kenntnis gesetzt.«

»Wie hat er reagiert?«

»Geschockt! Ich hatte den Eindruck, dass er noch nicht über die Trennung hinweg ist, aber du weißt ja selbst, wie schwer eine solche Einschätzung am Telefon ist. Ihre Schwester wohnt mittlerweile im Erzgebirge. Ich hab die dortigen Kollegen gebeten, ihr die Nachricht zu überbringen.«

»Leben die Kinder nach einer Scheidung nicht meistens bei der Mutter?«, fragte Toni.

»Du meinst, dass etwas vorgefallen sein könnte?«

»Schau dir die Familienverhältnisse mal genauer an. Aus den verletzten Gefühlen eines verlassenen Ehemannes ließe sich problemlos ein Mordmotiv konstruieren.«

»Also Fremdeinwirkung?«

»Nein, nein. Wir sollten nur in alle Richtungen offen bleiben. Vielleicht ergibt die Überprüfung der familiären Verhältnisse auch weitere Anhaltspunkte für einen Suizid. Hat einer von euch ein Foto von ihr aufgestöbert? Im Haus hab ich keine persönlichen Aufnahmen entdeckt. Vielleicht hat sie ein digitales Archiv. Jedenfalls weiß ich gar nicht, wie sie ausgesehen hat.«

Phong öffnete eine Aktenmappe und schob einen DIN-A4-Ausdruck über den Tisch. »Hab ich aus dem Internet.«

Toni studierte die Porträtaufnahme sorgfältig. Die abgebildete Frau hatte feines braunes Haar und einen hellen Teint. Mit ihren blauen Augen schaute sie seitlich nach unten, so als würde sie dem Blick des Betrachters ausweichen, was sie scheu und verletzlich wirken ließ. Die Nase war von einer zierlichen Kühnheit, und ihre Lippen waren leicht aufgeworfen. Mit diesem Äußeren hatte sie garantiert den Beschützerinstinkt zahlreicher Männer geweckt. »Sie war hübsch.«

»Nur wenn man den zerbrechlichen Typ mag«, wandte Gesa ein.

»Mein Fall ist sie nicht«, sagte Phong und errötete wieder.

Toni sah zwischen den beiden hin und her und überlegte, ob sich gerade die Ursache ihrer jahrelangen Sticheleien offenbarte. »Was hat Melanie Berndt beruflich gemacht?«

»Sie war Biologin und hat für das Brandenburger Institut für Fluss- und Auenentwicklung in Rathenow gearbeitet«, antwortete Gesa. »Abgekürzt nennt es sich BIFA und ist für die Renaturierung der Havel zwischen Pritzerbe und Gnevsdorf zuständig.«

Toni wusste, dass die untere Havel das größte Feuchtgebiet im westlichen Mitteleuropa darstellte. »Worum geht es dabei im Einzelnen?«

»Der Fluss wird auf einer Länge von neunzig Kilometern zu einem Garten Eden zurückgebaut. Dazu werden Altarme angebunden, Uferbefestigungen entfernt, trockene Flutrinnen wieder bewässert und Auenwald gepflanzt. Es werden Deiche abgetragen und Überflutungsgebiete geschaffen. Als Folge entstehen Inseln und Flussschleifen, die Lebensraum für bedrohte Tier- und Pflanzenarten bieten. Es ist das größte Renaturierungsprojekt Europas.«

»Phong, mach mir bitte einen Termin bei ihrem Chef. Am besten so, dass ich ihn nach der Befragung des Nachbarn aufsuchen kann. Danach klopfst du bei der Gerichtsmedizin und der KTU an. Gesa, es kann nichts schaden, wenn du mit der Schwester der Verstorbenen telefonierst.«

»Und du?«, fragte die Kollegin.

»Ich werde ihrem Ehemann einen Besuch abstatten«, sagte Toni und wartete kurz ab. Er wunderte sich etwas, dass Gesa nicht protestierte. Normalerweise ärgerte sie sich, wenn er in der Weltgeschichte rumgondelte und sie drinnen hocken musste. »Wo finde ich ihn?«

»Er ist Physiker und arbeitet im Wissenschaftspark Albert Einstein«, antwortete sie und zeigte immer noch keine typische Reaktion. »Wenn du ihn erwischen willst, musst du dich beeilen.«

Jetzt war Toni alarmiert.

Wollte sie ihn loswerden?

6

Vor einiger Zeit

In Rathenow stieg Melanie aus dem Auto, zog die Kapuze über den Kopf und setzte ihre Sonnenbrille auf, um sich gegen die Hektik und den Lärm der Stadt abzuschirmen. Mit hochgezogenen Schultern hastete sie über den Bürgersteig und schaute mehrmals zurück. Schon vor der Nachricht des Erpressers hatte sie den Verdacht gehabt, dass sie verfolgt wurde. Jetzt hatte sich dieses Gefühl noch verstärkt.

Plötzlich schwankte der Asphalt. Sie taumelte und stützte sich gerade noch rechtzeitig an der Hauswand ab, um nicht zu stürzen. Sie keuchte schwer; vor ihren Augen glitzerten Sterne; Speichel tropfte aus ihrem Mund. Dann legte sich der Schwindel wieder.

Melanie richtete sich auf. Wenn sie unter Druck stand, reagierte sie körperlich. Ein derartiger Anfall war zwar recht neu und zum ersten Mal vor einer knappen Woche aufgetreten, aber sie war jung und nie ernsthaft krank gewesen. Vermutlich lag die Ursache in ihrer Psyche begründet, die das Geschehen noch nicht verarbeitet hatte.

Sie setzte den Weg fort und betrat die Bank. Unglücklicherweise befand sich Frau Thalmann im Vorraum. Mit der BIFA-Sekretärin kam sie überhaupt nicht klar. Die ältere Frau trug überall die von der Gesellschaft verordnete gute Laune zur Schau und wurde zur unbarmherzigen Inquisitorin, sobald jemand sich nicht anpassen konnte. Sie redete stundenlang über Belanglosigkeiten und nahm sich dabei sehr wichtig.

Melanie waren Menschen, die nicht echt waren und die Grenzen anderer missachteten, ein Graus. Schnell wandte sie sich ab und erklärte einer jungen Auszubildenden, dass sie einen Termin hatte. Hinterher versteckte sie sich in einer Nische und tat so, als würde sie ein Plakat über private Altersvorsorge studieren, bis sie von der zuständigen Sachbearbeiterin abgeholt und zu den Beratungsplätzen geführt wurde, wo bereits ein Stuhl für sie bereitstand.

»Würden Sie bitte Ihr Gesicht frei machen?«, sagte Frau Kargen-Pellbach nach einer formellen Begrüßung. Sie war um Freundlichkeit bemüht, aber der angestrengte Tonfall war nicht zu überhören.

Die Bankkauffrau mochte Ende dreißig sein. Obwohl sie auf ihre äußere Erscheinung achtete und als Teenager vermutlich hübsch gewesen war, hatte ihre Ausstrahlung gelitten. Das Leben war offenkundig nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie zog die Mundwinkel nach unten, als müsse sie einen bitteren Geschmack ertragen. Weshalb war sie so enttäuscht?

Melanie verbannte diese Gedanken aus ihrem Kopf. Sie konnte Stimmungen spüren, als wäre sie dafür mit speziellen Antennen ausgerüstet worden. Sie musste jetzt sehr aufpassen, dass der Frust der Sachbearbeiterin nicht auf sie überschwappte und sie nach unten zog.

Also konzentrierte sie sich auf den Grund ihres Hierseins und zeigte Entgegenkommen, indem sie dem Wunsch entsprach und die Sonnenbrille absetzte.

Das war ein Fehler!

Sogleich merkte sie, dass sie das Deckenlicht unterschätzt hatte. Sie vertrug die künstlichen Strahlen nicht und fing an zu blinzeln. Es fühlte sich an, als würde ihre Netzhaut verbrennen. Gegen den Schmerz blieb ihr nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen. »Können wir anfangen?«

»Natürlich«, erwiderte Frau Kargen-Pellbach irritiert. »Es handelt sich um eine größere Summe. Sie haben Ihre Lebensversicherung und das Depot aufgelöst. Wofür brauchen Sie das Geld?«

Melanie konnte sich nicht konzentrieren. Irgendwo dudelte ein Radio, das einen ordinären Hit spielte. Entweder unterhielt sie sich, oder sie hörte Musik, aber sie konnte nicht beides gleichzeitig. Außerdem fand nebenan ein Kundengespräch statt. Die Stimme des Kreditnehmers hatte einen flehenden, hysterischen Unterton. Offenbar war ihm die Summe sehr wichtig. Melanie stellten sich bei dem schrillen Klang die Nackenhaare auf.

Wenn sie zu viel wahrnahm, konnte sie nicht aussieben und sich abgrenzen. Ihr Gehirn war überfordert und stellte den Betrieb einfach ein. Dann ging gar nichts mehr. Sie musste die Angelegenheit jetzt hinter sich bringen und zwang sich dazu, die Augen zu öffnen.

»Es ist mein Geld«, sagte sie blinzelnd. »Ich hab Ihnen drei Tage Zeit gegeben, um den Betrag zu besorgen. Rechtlich bin ich nicht verpflichtet, Ihnen Auskunft über den Verwendungszweck zu geben. Ich will es jetzt haben – bitte.«

Frau Kargen-Pellbach war beleidigt.

Melanie konnte fast hören, was in dem Kopf der Bankkauffrau vor sich ging. Wahrscheinlich bemitleidete sie sich, weil sie wieder an eine widerspenstige Kundin geraten war, die ihr das Leben schwer machte. Und wahrscheinlich fragte sie sich, womit sie das alles verdient hatte. Schließlich gewann ihr Pflichtgefühl die Oberhand, und sie zauberte ein professionelles Lächeln auf die Lippen.

»Sie haben natürlich recht«, sagte Frau Kargen-Pellbach. »Aber es liegt in Ihrem Interesse, wenn wir Vorsicht walten lassen. In der Vergangenheit haben Betrüger versucht, sich fremdes Geld auszahlen zu lassen. Bei einer Barabhebung in dieser Größenordnung besteht Identifizierungspflicht. Das dient auch zur Bekämpfung der Geldwäsche. Ich muss Sie also bitten, sich auszuweisen.«

In Melanies Kopf ertönten alle Geräusche gleich laut: der dümmliche Hit im Radio, das Klicken der großen Wanduhr in ihrem Rücken und die hysterisch-kreischige Stimme des Kunden. Hinzu kamen das sengende Deckenlicht und die Begegnung mit Frau Thalmann. War es richtig gewesen, die BIFA-Sekretärin zu ignorieren? Oder hätte sie sie grüßen sollen?

Melanie brach der Schweiß aus. Zitternd und blinzelnd kramte sie in ihrer Umhängetasche herum. Sie wusste, dass sie gleich die Nerven verlieren würde. Außerdem wurde ihr schon wieder schwindlig. Als sie den Personalausweis endlich gefunden hatte, knallte sie ihn auf den Tisch. »Da!«

Frau Kargen-Pellbach schnellte von ihrem Stuhl hoch, als wäre sie körperlich angegriffen worden. In ihren Augen blitzte etwas auf. War es Gehässigkeit? »Es wird wohl das Beste sein«, sagte sie spitz, »wenn ich in der Angelegenheit meinen Chef hinzuziehe.«

Melanie wusste, dass sie sich die Verzögerung selbst eingebrockt hatte. Warum konnte sie sich nicht einmal so benehmen, wie es von einem vernünftigen Menschen erwartet wurde? Sie musste sich zusammenreißen. In der Therapie hatte sie gelernt, wie sie schwierige Situationen meistern konnte. Sie musste sich nur folgende Regel bewusst machen: Positive Gedanken erzeugen positive Gefühle. Diese Erkenntnis war in ihrer Einfachheit nicht nur bahnbrechend, sondern barg auch eine Handlungsanleitung. Sie musste sich lediglich auf ein schönes Erlebnis fokussieren, und alles wäre wieder gut.

Also erinnerte sie sich an die Zeit, als ihre Tochter zu sprechen begonnen hatte. Ihr erstes Wort war nicht »Mama« oder »Papa« gewesen, sondern »Mozzarella«, was nach einem erstaunten Innehalten zu allgemeinem Gelächter geführt hatte. Melanie malte sich diese Begebenheit in allen Einzelheiten aus und spürte, wie ihr warm ums Herz wurde und wie sie allmählich die Herrschaft über sich zurückgewann.

Sie schlug ein Bein über das andere und machte sich bewusst, dass ihre Lichtempfindlichkeit kein Spleen war, sondern ein reales Leiden. Also setzte sie ihre Sonnenbrille wieder auf und erwartete hinter den getönten Gläsern die Ankunft der Bankleute, denen sie was von einer Reizung des Augennervs erzählen würde.

Ich bin nicht verrückt, sagte sich Melanie. Ich bin nur anders.

7

Auf dem Potsdamer Telegrafenberg, einem der ältesten und renommiertesten Wissenschaftsplätze Deutschlands, stapfte Toni zum Einsteinturm. Das Observatorium war in den Jahren 1919 bis 1922 erbaut und nach dem weltberühmten Physiker benannt worden. Mit Hilfe des Turmteleskops sollte die Gültigkeit der Allgemeinen Relativitätstheorie nachgewiesen werden.

Toni begab sich zur Informationstafel und verkürzte sich die Wartezeit, indem er sich über die Geschichte kundig machte. Er schloss die Lektüre gerade ab, als die Führung endete und einige Asiaten ins Freie traten. Würdevoll schritten sie in Richtung Großer Refraktor davon.

Am Fuß der Eingangstreppe blieb ein sportlich attraktiver Mann zurück. Mit einem kräftigen Händedruck stellte er sich als Daniele Russo vor. »Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung«, sagte er. »Aber das waren wichtige Kooperationspartner.«

Melanies Ex-Mann mochte Mitte dreißig sein und trug das schwarze gewellte Haar mit Gel aus der Stirn gekämmt. Die dunklen Augen dürften zahlreiche Frauenherzen schneller schlagen lassen. Sein enger Sommerpulli schmiegte sich an den muskulösen Oberkörper. An seinem dicht behaarten Handgelenk funkelte eine Omega-Armbanduhr, die mehrere tausend Euro gekostet hatte. Verdiente man als Wissenschaftler so gut?

Spontan würde Toni ihn als »Aufreißertyp« einordnen, aber er wusste aus Erfahrung, dass ein erster Eindruck täuschen konnte. Vorschnelle Urteile stellten für einen Ermittler eine ständige, ernst zu nehmende Gefahr dar und konnten den Blick so verstellen, dass fallrelevante Informationen übersehen wurden.

»Leider kann ich Ihnen eine Befragung nicht ersparen«, sagte Toni und beobachtete die Reaktion seines Gegenübers genau, als er fortfuhr: »Wie geht es Ihnen nach Melanies Tod?«

»Die Nachricht hat mich umgehauen«, erwiderte Russo und leckte sich nervös über die Lippen. »Aber ich hatte schon Zeit, um mich zu fangen. Natürlich helfe ich Ihnen bei den Ermittlungen.«

»Wann haben Sie Ihre Ex-Frau zuletzt gesehen?«

»Das muss eine Woche her sein.«

»Wissen Sie, wo sie gestern Abend war?«

»Nein. Wie gesagt: Der letzte Kontakt liegt länger zurück. Ich weiß auch nicht, ob sie mit jemandem zusammen war. Über solche Dinge sprachen wir nicht.«

»Dann helfen Sie mir, einen Eindruck von Ihrer Ex-Frau zu gewinnen. Wo haben Sie sich kennengelernt?«

»Ich verstehe nicht, welchen Wert diese Information für Sie haben soll.«

»Sie wollten doch behilflich sein?«

Russo seufzte ergeben. »Beim Astrotreffen in Gülpe. Wir sind beide Mitglieder im Förderverein Sternenpark Westhavelland e.V. Der Naturpark ist sehr dünn besiedelt; Sie finden dort einige der dunkelsten Orte in Europa. Der Sternenhimmel prangt so hell wie in der Wüste von Namibia. Das ist ein phantastisches Erlebnis. Wir haben uns beim Blick in den Nachthimmel verliebt.«

»Sie hatten also gemeinsame Interessen?«

»Ja, wir sind beide Naturwissenschaftler und haben uns mit Astronomie beschäftigt.«

»Klingt nach einer guten Basis. Warum haben Sie sich getrennt?«

»Ich? Ich hab mich nicht getrennt. Die Scheidung ging von Melanie aus. Sie ertrug mich nicht mehr; sie war unglaublich sensibel. Tausend Sachen haben sie gestört.«

»Können Sie Beispiele nennen?«

»Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll. Manchmal war sie so lichtempfindlich, dass das ganze Wochenende die Rollläden unten bleiben mussten. Es durfte nur indirekte Lichtquellen geben. In Neubauten aus Beton bekam sie allergische Reaktionen und Platzangst.«

»Unter diesen Voraussetzungen dürfte sich das soziale Leben schwierig gestaltet haben.«

»Soziales Leben? Das gab es nicht. Ich bin jemand, der gerne ausgeht und Freunde trifft, der laute Musik hört und Konzerte besucht. Melanie blieb am liebsten zu Hause und fand immer etwas, das sie störte. Mal lag das Besteck nicht richtig, mal ging die Uhr ein paar Sekunden nach, aber am stärksten hat sie auf Geräusche reagiert. Mein Kauen am Abendbrottisch konnte sie aus der Fassung bringen. Sie ist mal in Tränen ausgebrochen, weil ich nach dem Zähneputzen gegurgelt habe.«

»Das war sicher nicht leicht für Sie.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Russo misstrauisch.

Toni ignorierte die Bemerkung. Manchmal führte eine leichte Verunsicherung zu interessanten Aussagen. »Wie war Melanies Verhältnis zu ihrer Tochter?«

»Ach Gott«, sagte Russo und ließ seinen Blick umherwandern. »Ich weiß noch gar nicht, wie ich es der Kleinen beibringen soll.«

War seine Bestürzung echt oder inszeniert? Toni gab ihm einen Moment Zeit. »Würden Sie bitte auf meine Frage antworten?«

»Unsere Tochter hat Ähnlichkeit mit mir. Sie ist auch ein extrovertierter Typ, der schon mal schrill werden kann. Bei zu viel Krach erstarrte meine Frau. Als würde sie einen Schlag auf den Solarplexus erhalten, so hat sie es mal beschrieben.« Russo blickte ernst drein. »Ich will nicht schlecht über sie reden, das müssen Sie mir glauben, aber sie eignete sich nicht als Mutter. Sie war überfordert und konnte ihre Aufsichtspflicht nicht erfüllen.«

»Was heißt das konkret?«

»Wenn Melanie nach Hause kam, war sie völlig erledigt von ihrem Arbeitstag. Stundenlang beschäftigte sie sich damit, wer was gesagt hat und wie sie selbst darauf reagiert hat und so weiter und so fort.«

»Wieso?«

»Ich denke, dass es einfach zu viele Eindrücke für sie waren. Indem sie sich das Erlebte vergegenwärtigte, konnte sie Struktur hineinbringen und sich beruhigen, aber in einer Familie mit einem kleinen Kind kann man sich nicht einfach zurückziehen. Man ist sofort gefragt, manchmal geht es auch am Feierabend turbulent zu.« Russo stockte. »Ich will sie wirklich nicht schlechtmachen. Wahrscheinlich fragen Sie sich gerade, was ich überhaupt an ihr gefunden habe, aber ich habe sie geliebt. Wirklich geliebt! Für sie hab ich versucht, ein besserer Mann zu werden. Sie hatte Seiten an sich, die sie einzigartig gemacht haben. Eine Frau wie sie findet man nicht oft.«

»Was waren ihre positiven Eigenschaften?«

»Sie war ein sehr einfühlsamer Mensch. Mit ihr hab ich unglaublich innige Momente erlebt. Sie konnte so teilnehmend sein, dass man regelrecht süchtig nach ihrer Aufmerksamkeit wurde. Jede kleine Stimmungsschwankung hat sie aufgeschnappt und darauf reagiert. Sie wusste ganz genau, wann es mir schlecht ging oder wann ich zweifelte, und sie konnte mich so lenken, dass plötzlich alles wieder gut war. Vielleicht war sie der einzige Mensch, der mich jemals richtig verstanden hat.«

Und irgendwann ertrug sie ihn nicht mehr, dachte Toni. Das muss ein hartes Kontrastprogramm gewesen sein. »Warum lebt Ihre Tochter bei Ihnen?«

Russo holte sein Smartphone heraus, tippte darauf herum und überreichte es wortlos.

Auf dem Display wurde ein Film abgespielt, in dem ein ungefähr dreijähriges Mädchen mit einem Schneebesen auf Töpfen rumhaute und dabei ein Kinderlied brüllte. Melanie Berndt lag mit dem Oberkörper auf dem Küchentisch. Es hatte den Anschein, als würde sie schlafen. Neben ihr stand eine Flasche Ribbecker Birnenbrand. In einem Plastiktütchen steckten grüne Pflanzenknollen, wahrscheinlich Marihuana. Im Aschenbecher lag ein gerauchter Joint. Das Mädchen drehte an den Knöpfen des Gasherds herum und spielte mit einem Feuerzeug. Plötzlich griff es nach einem riesigen Fleischmesser und rannte aus dem Zimmer.

Russo nahm Toni das Smartphone wieder ab. »Die Wohnung ist nicht explodiert. Unsere Tochter hat sich auch nicht verletzt, aber es hätte leicht etwas passieren können.«

»Gab es öfters solche Vorfälle?«

»Vermutlich, ja. Ich hatte schon länger einen Verdacht. Deshalb hab ich die Kamera installiert. Nach dieser Aufnahme hab ich unsere Tochter nicht mehr mit Melanie allein gelassen. Sie war von der Energie der Kleinen überfordert und konnte sie an schlechten Tagen nur ertragen, wenn sie sich betäubte. Aus Kostengründen lebten wir damals noch unter einem Dach, haben aber im Trennungsjahr weder Bett noch Tisch miteinander geteilt.«

»Was hat Ihre Frau zu der Aufnahme gesagt? Sie haben sie doch bestimmt nicht um Erlaubnis gebeten, als Sie den Clip gemacht haben.«

»Ja, das stimmt. Melanie und ich konnten uns nicht über den dauerhaften Aufenthaltsort von Josefine einigen. Deshalb kam es auch zur Verhandlung. Vor dem Termin hab ich Melanie den Film gezeigt und ihr große Vorwürfe gemacht. Sie brach völlig zusammen und räumte dann auch vor Gericht ein, dass sie derzeit nicht in der Lage sei, sich um die Kleine zu kümmern. Ich hab in dieser Angelegenheit ein ruhiges Gewissen. Mir ging es allein um das Wohl meiner Tochter. Ich wollte unbedingt erreichen, dass sie die bestmöglichen Voraussetzungen zum Aufwachsen bekommt.«

»Bei Ihnen?«

Russo nickte. »Die Richterin verfügte, dass Melanie eine Therapie machen und eine Suchtberatung aufsuchen solle. Außerdem schränkte sie das Umgangsrecht ein. Melanie durfte die Kleine nur noch in meinem Beisein sehen. Unsere Tochter lebt seit der Verhandlung dauerhaft bei mir.«

»Sie ziehen alle Register, wenn Sie etwas erreichen wollen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Toni schaute undurchsichtig drein. Er fragte sich, ob es Russo wirklich nur um seine Tochter gegangen war oder ob er insgeheim noch ein anderes Ziel verfolgt hatte. »Wie waren Melanies Besuche?«

»Eine Qual«, erwiderte Russo. »Sie zeigten jedem von uns auf, was wir verloren hatten. Gott sei Dank kamen sie nicht so häufig vor, aber dann …«

»Ja?«

»Dann ging alles von vorne los. Melanie erfüllte die Auflagen, nahm sich einen Anwalt und wollte das Umgangsrecht neu regeln lassen. Dabei konnte man bei unseren Treffen sehr gut beobachten, wie überempfindlich sie auf alles reagierte und wie sie über ihre eigene Dünnhäutigkeit verzweifelte. Trotzdem wollte sie erreichen, dass unsere Tochter jedes zweite Wochenende bei ihr wohnte. Natürlich ohne mich.«

»Weil sie das Mädchen liebte?«

»Sehr sogar. Und gleichzeitig konnte sie das Kind nicht in ihrer Nähe ertragen. Sie steckte in einem fürchterlichen Dilemma.«

Toni nickte. So erklärte sich die wunderschöne Ausgestaltung des Kinderzimmers. Alle Zärtlichkeit, die sie dem Mädchen nicht zukommen lassen konnte, hatte sie in den Raum gesteckt.

Trotzdem störte ihn etwas. Russo stellte sich als selbstlosen Mann dar, der sich mit der Trennung abgefunden hatte. War es nicht genauso denkbar, dass er für ein strenges Umgangsrecht gesorgt hatte, um den Kontakt zu seiner Frau zu kontrollieren und so Macht über sie auszuüben? Bei den weiteren Ermittlungen würde er diese Überlegung im Hinterkopf behalten.

»Halten Sie es für möglich, dass Melanie Selbstmord begangen hat?«, fragte Toni.

»Nicht zum jetzigen Zeitpunkt«, erwiderte Russo. »Sie hatte ein Ziel. Ihr Denken kreiste um die Verhandlung. Wenn das Gericht nicht in ihrem Sinne entschieden hätte, dann hätte sie sich vielleicht aus Verzweiflung etwas angetan, aber vorher bestimmt nicht.«

Für Toni klang diese Einschätzung plausibel. Selbst wenn Melanie unter der Situation gelitten hatte, wäre es zu früh gewesen, um aufzugeben. »Und Sie? Haben Sie an Ihrer Ex-Frau noch gehangen? Hätten Sie sie zurückgenommen?«

Daniele Russo bedachte ihn mit einem eigentümlichen Blick.

Unglücklicherweise ließ Toni sich von seinem vibrierenden Smartphone ablenken und nahm den Anruf entgegen. »Was ist?«

»Ich hab mit der Gerichtsmedizinerin gesprochen«, erwiderte Phong am anderen Ende der Leitung. »Vielleicht hat sie was gefunden.«

»Mach es nicht so spannend. Ich bin gerade in einer Befragung.«

»Ey, Toni. Ich kann nichts dafür, wenn sie sich so schwammig ausdrückt. Am Telefon wollte sie über die Ergebnisse nicht sprechen. Du sollst zu ihr kommen.«

Toni nahm das Handy von der rechten in die linke Hand. Er fand Ursula Grahn sympathisch und schätzte ihre Kompetenz, aber ihren Arbeitsplatz mied er nach Möglichkeit. Zuerst nahm man nur den Geruch von Desinfektionsmitteln wahr, aber nach und nach mischte sich ein feiner Verwesungsduft darunter, den keine Reinigungskraft wegputzen konnte und den er noch tagelang in der Nase hatte. »Kann Gesa das nicht übernehmen?«

»Die schwirrt irgendwo im Haus rum. Ich hab keine Ahnung, wo sie steckt. Außerdem hat Frau Dr. Grahn explizit nach dir verlangt. Du sollst es dir selbst ansehen.«

8

Auf dem Weg zur Gerichtsmedizin legte Toni einen Stopp bei der Apotheke Am Alten Rad ein, wo er eine Dose Wick VapoRub kaufte. Er setzte die Fahrt fort und parkte in der Lindstedter Chaussee im Schatten einiger Bäume. Die Pathologie lag unweit der Düsteren Teiche inmitten eines Waldgebietes.

Bevor Toni den Wagen verließ, schmierte er sich die mentholhaltige Erkältungssalbe unter die Nase. Kurz darauf betrat er das rote Backsteingebäude und machte sich auf den Weg zu Frau Dr. Grahn, die ihn schon erwartet hatte und ihm auf dem Gang entgegenkam.

»Hallo, Ursula«, sagte Toni.

»Wer hätte gedacht, dass du auch mal vorbeischaust?«, erwiderte die Gerichtsmedizinerin. Es sollte leicht und locker klingen, aber es hörte sich vorwurfsvoll an, was ungewöhnlich für sie war.

Die knapp Sechzigjährige hatte sich vor einiger Zeit von dem Vater ihrer drei erwachsenen Töchter scheiden lassen. Seitdem wirkte sie gelöster und holte in einem Rekordtempo nach, worauf sie in ihrer Ehe verzichtet hatte. Sie belegte Tanzkurse und unternahm mit einer Freundin Kreuzfahrten ans Nordkap und in die Karibik. Ab und zu begegnete Toni ihr in der Potsdamer Innenstadt. Meistens war sie in Begleitung eines älteren Gentlemans unterwegs, der sie in ein Restaurant ausführte.

Toni folgte ihr in einen gekachelten Raum, der von Leuchtstoffröhren erhellt wurde. An den Wänden standen Metalltische. Auf Rollwagen lagen diverse Pfannen, Spreizer, Knochensägen und grobe Nähnadeln bereit, die keinen Zweifel daran aufkommen ließen, dass hier ein Handwerk ausgeübt wurde.

»Die Todesursache steht fest«, sagte Ursula. »Melanie Berndt ist ertrunken. Ansonsten ist der Befund unklar.«

»Wo liegt das Problem?«

»Obwohl sie eine Zeit lang im Wasser war, konnte ich Sperma in der Scheide sicherstellen und habe bereits einen Vergleich mit der Datenbank veranlasst. Frau Berndt hatte kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr.«

»Eine Vergewaltigung?«

»Im Vaginalbereich und am Anus weist sie keine Verletzungen auf, aber an anderen Körperstellen schon.« Ursula schlug das weiße Tuch zurück und legte den Leichnam frei. »Die Brüste sehen aus, als wären sie gequetscht worden. Der Verursacher muss vor ihr gestanden oder gekniet haben. Und schau mal ihren Bauch und den Venushügel an. Dort finden sich Kratzspuren von Fingernägeln.«

»Was schließt du daraus?«

»Wenn ein Vergewaltigungsopfer außerhalb des Intimbereichs Verletzungen aufweist, ist statistisch gesehen vor allem der Kopf, speziell das Gesicht betroffen. Das reicht von Rötungen bis zu ausgeschlagenen Zähnen und noch Schlimmerem. Auch Stauungsblutungen am Hals, Quetschungen an den oberen Extremitäten und an den Oberschenkeln kommen relativ häufig vor. Insofern wäre der Befund nicht untypisch.«

»Aber?«

»Aus rechtsmedizinischer Sicht kann ich unmöglich feststellen, ob es sich um ein einvernehmliches Liebesspiel gehandelt hat, bei dem es etwas heftiger zur Sache gegangen ist, oder ob wir es mit einem Sexualdelikt zu tun haben. Ich wollte dich hierhaben, damit du dir dein eigenes Urteil bilden kannst und es bei den Ermittlungen im Hinterkopf behältst.«