Mörderische Familie - Elke Vesper - E-Book

Mörderische Familie E-Book

Elke Vesper

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Beschreibung

Anne, blond, schön, einarmig, wird neben ihrem vergifteten Bruder Johannes aufgefunden. Sie gesteht die Tat, verhält sich psychotisch und wird in die forensische Psychiatrie eingeliefert. Kristien Blau, Psychotherapeutin, fühlt sich verpflichtet Anne, die sie seit Jahren behandelt, zu helfen. Sie schart um sich eine Gruppe ehemaliger Klienten: Swantje, Anwältin, Mark, vorzeitig verrenteter Polizist und Tankred, ein Kriminalkommissar. Außerdem ihre Freundin Gudrun, Professorin der Kriminologie.Elke Vesper lässt in diesen Roman Erfahrungen aus ihrer Arbeit als Psychologin einfließen. Das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern, das familiäre und gesellschaftliche Totschweigen und die Zerstörung einer ganzen Familie wird fachkundig und anschaulich thematisiert. In diesem spannenden Thriller ist das "Wer tat es " genau so wichtig wie das Wie konnte es geschehen" .

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Seitenzahl: 626

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ELKE VESPER

MÖRDERISCHEFAMILIE

EIN PSYCHOTHRILLER

WENN MAN DEN SCHMERZ FORTWIRFT,WAR ER VERGEBENS.DANN HAT ER NUR WEHGETAN.

Per Olov Enquist

Dieser Roman ist fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebendenoder toten Personen basieren darauf,dass manche Schrecken weit verbreitet sind und einanderbesorgniserregend gleichen.

Inhalt

25. NOVEMBER

26. NOVEMBER

27. NOVEMBER

28. NOVEMBER

29. NOVEMBER

30. NOVEMBER

1. DEZEMBER

2. DEZEMBER

3. DEZEMBER

4. DEZEMBER

5. DEZEMBER

6. DEZEMBER

7. DEZEMBER

8. DEZEMBER

9. DEZEMBER

11. DEZEMBER

12. DEZEMBER

13. DEZEMBER

14. DEZEMBER

15. DEZEMBER

16. DEZEMBER

17. DEZEMBER

18. DEZEMBER

19. DEZEMBER

20. DEZEMBER

21. DEZEMBER

22. DEZEMBER

23. DEZEMBER

24. DEZEMBER

27. DEZEMBER

28. DEZEMBER

29. DEZEMBER

30. DEZEMBER

31. DEZEMBER

JANUAR

NACHWORT

DANKSAGUNG

VITA

25. NOVEMBER

„Du siehst adrett aus“, hat mein Sohn eben zu mir gesagt.

Adrett ist eigentlich nicht sein Sprachgebrauch.

„Adrett?“, habe ich gefragt, dachte, er wollte mich verspotten.

„Ja.“ Felix lächelte mich freundlich an. „Schwarze Hose, weiße Bluse, ist doch adrett, oder? So kenne ich dich sonst nicht. Steht dir.“

Ich glaube, er wollte nett sein.

Er hat zwar behauptet, er sei für ein paar Tage von Berlin nach Hamburg gekommen, um Freunde zu besuchen, aber ich habe den Verdacht, dass er nach seiner Mutter schauen will. Er weiß, wie elend es mir geht nach meiner Trennung von Max. Trennung? Ist es wirklich schon so weit? Ich will es nicht glauben.

Ich schiebe diese Gedanken und vor allem die Gefühle beiseite, die mir Bauchgrimmen bescheren. Gleich kommt Anne zur Therapie. Und das ist gut. So kümmere ich mich eine Stunde lang um ihre Probleme und meine treten in den Hintergrund.

Es ist kurz nach vier Uhr am Nachmittag. Ich stehe vor meiner Balkontür, die zur Straße weist. Neben mir Rocco, mein Golden Retriever. Dicht drängt er sich an mein Bein. Als wolle auch er nett sein, mich beschützen.

Draußen zieht die Dämmerung herauf. In einigen der gegenüberliegenden Wohnungen lassen erleuchtete Lampen darauf schließen, dass die Bewohner zu Hause sind. Ich sehe eine dicke helle Kugel aus Papier, dahinter Bücherregale, auch im schräg darunter gelegenen Zimmer Regale, prall gefüllt mit übereinander gestapelten Büchern. Das Zimmer daneben glimmt hinter verhüllenden Gardinen in violett flackerndem Fernseherlicht.

Fußgänger hasten als dunkle Schatten durch Nieselregen. Seltsam tröstlich die erleuchteten Fenster der Bäckerei schräg gegenüber. Plötzlich überfällt mich Sehnsucht. Wonach? Heil sein? Früher war mein Leben auch nicht heil, aber es gab für jede Verzweiflung eine Hoffnung, für jede Niederlage einen Neubeginn. Und heute?

Ein Auto fährt langsam durch die Einbahnstraße. Ich höre das Brummen und über Feuchtigkeit gleitende Reifen. Dann ist es wieder still. Und wieder ein Auto. Aus der Ferne klagt die Sirene eines Krankenwagens. Es klingt wie eine Botschaft, eine Warnung. Warum nur bin ich so unruhig?

Vor einer halben Stunde hat Felix sich verabschiedet. Er übernachtet bei einem Freund, den er von früher kennt. Skaterfreund. Seit einer Viertelstunde bin ich bereit für Anne. Normalerweise nehme ich es persönlich, wenn ich versetzt werde, finde, dass der ausbleibende Klient respektlos mit meiner Zeit umgeht. Bei Anne ist das anders.

Unerklärlich angstvoll blicke ich zur Straßenecke. Von dort kommt sie sonst, weil sie U-Bahn Osterstraße aussteigt. Bis hierhin sind es acht Minuten Fußweg. Üblicherweise legt Anne ihren Termin so, dass sie nach der Arbeit noch Zeit hat, durch die Osterstraße mit den kleinen Geschäften zu flanieren. Manchmal kann sie mich nicht begrüßen, weil sie in ihrer linken Hand eine Einkaufstüte trägt. Anne ist einarmig, seit ihrer Geburt. Damit geht sie so selbstverständlich um, dass ich es oft vergesse. Wenn sie etwas Schönes erstanden hat, präsentiert sie es mir in kindlicher Freude, und ich bin immer wieder beeindruckt von dieser Frau, die mit ihren langen blonden Haaren, ihrer hellen, fast durchscheinenden Haut und ihrer grazilen Gestalt etwas Elfengleiches hat. Eine einarmige Elfe.

Wo bleibt sie?

Die Regel lautet, dass ich spätestens drei Tage vorher informiert werden muss, wenn ein Termin nicht eingehalten werden kann. Ansonsten fällt das Honorar an. Die Vereinbarung unterschreiben alle Klienten zu Beginn der Therapie. Ich mache diese Arbeit seit zweiundzwanzig Jahren und habe noch nie ausstehende Honorare eingeklagt. Meistens einigen wir uns, wenn der Klientin oder dem Klienten etwas dazwischen gekommen oder sie oder er kurzfristig erkrankt ist. Die Ermahnung dient mehr dem Antrieb, auch wirklich auf der Matte zu stehen, wenn ein Termin verabredet ist.

Psychotherapie ist nichts, was man nebenbei macht, wie im Baumarkt ein Unkrautvernichtungsmittel zu besorgen. Auch wenn man hofft, dass es einem zu guter Letzt helfen wird, steht doch jede Stunde wieder vor einem wie ein gefährliches Tier. Der Mensch strebt nach Lust und meidet Schmerz. Psychotherapie zwingt zur Begegnung mit vermiedenem Schmerz.

Ob ich streng auf die Bezahlung ausgefallener Stunden dränge, hängt auch davon ab, wie lange ich die Klientin oder den Klienten schon kenne, wie zuverlässig sie oder er mitarbeitet, wie pünktlich sie oder er üblicherweise ist. Und wie spät die Stunde abgesagt wurde. Wenn ich versetzt werde, erwarte ich Zahlung. Bei Anne werde ich das nicht tun.

Sie kommt seit vierzehn Jahren zu mir, von einigen Unterbrechungen abgesehen. Anfangs weil sie suizidgefährdet war, im Laufe der Zeit erfuhr ich, dass sie Stimmen hört, und schließlich gab sie ihr tiefes Kindheitstrauma preis.

Zu einer erfolgreichen Therapie gehört, dass irgendwann die Loslösung vollzogen wird. Bestenfalls haben mich die Klienten als positive Stimme „internalisiert“. Sie brauchen mich nicht mehr, weil sie mich in sich tragen. So wie auch Eltern als innere Stimmen internalisiert werden.

Weil sie mir vertrauen, suchen mich ehemalige Klienten oft Jahre später wieder auf, wenn sie irgendwie in der Klemme stecken. Keine andere Klientin und schon gar kein männlicher Klient hat mir hingegen so lange die Treue gehalten wie Anne. Treue? Ich habe mich oft gefragt, ob es Treue oder Abhängigkeit ist. Ob ich den Ablösungsprozess vielleicht verschludert habe. Ich habe es in der Supervision zur Sprache gebracht, und meine Kolleginnen und Kollegen waren sich einig, dass Anne ein Sonderfall ist. Für sie bin ich einer von mehreren Fixpunkten, die ihr Halt und Struktur geben. Diese Quellen hat sie in jahrelanger wachsender Selbstfürsorge erworben, und darauf ist sie zu Recht stolz. Neben mir, zu der sie alle zwei bis drei Wochen für eine Stunde kommt, gibt es zweimal die Woche eine Stunde bei einer Yogalehrerin, mit der sie sich angefreundet hat, sie hat eine Hausärztin gefunden, von der sie sich mit ihrer Migräne und ihren Übelkeitsanfällen ernstgenommen fühlt, nicht zu vergessen die Friseurin, die nicht nur ihre Haare pflegt, sondern auch ihr Selbstwertgefühl, und auch auf ihrer Arbeitsstelle ist sie mittlerweile unkündbar, weil sie es dort trotz Mobbing, Rationalisierung und schlechtem Betriebsklima seit mehr als zwanzig Jahren aushält.

Fünf weitere Minuten sind vergangen, und ich schaue nervös auf die Uhr. Normalerweise erscheint Anne zehn Minuten vor dem Termin, weil sie sich die Zeit nimmt, auf die Toilette zu gehen, die Hände zu waschen und „anzukommen“. Dann setzt sie sich auf mein kleines rotes Sofa, wirft ihre langen blonden Haare zurück, macht es sich – oft im unangestrengten Schneidersitz – gemütlich, legt ihren linken Arm auf die Lehne, lächelt mit ihrem fein geschwungenen Mund und sagt: „Da bin ich wieder.“

Anfangs irritierte es mich, einen Menschen vor mir zu haben, der alles mit einem Arm macht, begrüßen, gestikulieren, schreiben, eine Tasse anfassen, einfach alles. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Bei Klienten, die nach Anne kommen, reagiere ich manchmal sogar irritiert darauf, dass sie zwei Arme haben.

Vor zehn Minuten habe ich bei Anne angerufen. Es könnte ja sein, dass sie krank ist oder den Termin vergessen hat. Obwohl beides sehr unwahrscheinlich ist. Wenn sie krank ist, meldet sie sich bei mir. Und sie hat noch nie einen Termin vergessen. Ich mache mir Sorgen. Sie lebt allein in ihrer Zweizimmerwohnung. Und wenn ihr nun etwas passiert ist? Hoffentlich hatte sie keinen Unfall.

Mit Blick auf die Straße rufe ich noch einmal bei beiden Nummern an, Festnetz und mobil. Beide Male springt der Anrufbeantworter an. „Hier ist Anne Petersen, bitte sprecht nach dem Piep.“ Ihre Stimme klingt sachlich und klar, man kann sich gar nicht vorstellen, dass sie manchmal bricht oder gar vollends verschwindet, wenn Anne von Gefühlen überwältigt wird.

„Liebe Anne, hier ist Kristien Blau, ich warte auf dich. Wir haben von sechzehn bis siebzehn Uhr einen Termin. Bitte melde dich, wenn du das hörst.“ Ich lege auf und bereue sofort, dass ich nicht meiner Sorge Ausdruck verliehen habe. Anne ist sehr empfindlich, was Kritik anbelangt. Sie hat Angst davor, etwas falsch zu machen. Sie hat immer noch Angst vor Strafe, auch nach vierzehn Jahren Therapie.

Gut, ich kann nichts tun. Ein Therapeut besitzt keine Telefonnummer der Nachbarn oder des privaten Netzwerks. Ein Therapeut ist kein Teil des alltäglichen Lebens. Das Leben da draußen müssen die Klienten ohne ihn bewältigen. Er greift nicht ins private Leben ein, außer es liegt Selbst- oder Fremdgefährdung vor. Und dann erfolgt eine Intervention über einen Richter.

Zum Glück musste ich den noch nie einschalten. Fremdgefährdende Menschen, also Menschen mit hohem Aggressionspotenzial, behandle ich nicht. Wenn ein Paar zu mir kommt, bei dem es Gewalttätigkeit über das Maß gibt, das ich verkraften kann, schicke ich den Täter zu einem Kollegen, der sich in der Täterarbeit auskennt.

Ich wurde als Kind verprügelt, und Gewalttätigkeit macht mir Angst.

Gefahr der Selbstgefährdung allerdings ist in meiner Praxis nicht selten. Bevor ich jedoch einen höchstrichterlichen Bescheid erwirke, der eine Einweisung in die Psychiatrie anordnet, spreche ich mit meinen Klienten über die Gefahr, die ich sehe, und wir finden zu einer Vereinbarung. Entweder nehme ich ihnen das Versprechen ab, dass sie mich oder eine Selbstmordhotline anrufen, bevor sie sich umbringen (und dass sie sich daran halten, liegt an unserem besonderen Vertrauensverhältnis), oder wir organisieren noch während der Sitzung eine Einweisung ins Krankenhaus oder prüfen, was unmittelbar geändert werden muss, damit sie sich ein Weiterleben vorstellen können.

Zum Glück hat sich noch keine meiner Klientinnen, keiner meiner Klienten umgebracht. Das würde ich mir verübeln.

Ich hole mir ein Glas Wasser. Mein Mund ist trocken und ich verspüre einen unangenehmen Geschmack, als hätte ich Schimmelkäse gegessen.

Wenn Anne ausbleibt, ohne einen Mucks von sich zu geben, befürchte ich das Allerschlimmste. Aber ich kann nichts tun.

Jetzt ist es fast halb fünf. Anne wird nicht mehr kommen. Ich habe es noch einmal telefonisch versucht, gleiches Ergebnis. Also gehe ich ins Internet, wo ich meine E-Mails checke. Vielleicht hat Anne mir ja eine Mail geschrieben.

Von ihr ist da nichts, aber von Max, meinem Mann.

Vor zwei Wochen hat er mein Leben ins Wanken gebracht. Viel mehr als das: Wenn man das Leben mit einer Ruderbootpartie vergleicht, hat er mir die Ruder weggenommen, sie weit fort geworfen und meinem Boot einen Schubs versetzt, sodass ich mich seitdem kreiselnd und schwankend an den Planken festhalte.

Nicht dass bis dahin alles gut gewesen wäre, im Juni bin ich schon einmal ausgezogen, nachdem ich hinter ein scheußliches Geheimnis von ihm gekommen war, aber drei Wochen später bin ich auf seine beschwörenden Appelle hin zu ihm zurückgekehrt. Nicht zum ersten Mal hatte ich seine Bitten um Verzeihung erhört. Die Zeit danach war allerdings seltsam gewesen. Einerseits mit besonders großem Nähebedürfnis von seiner Seite: Allnächtlich schliefen wir eng aneinander geschmiegt ein, und wenn ich abends zu spät nach Hause kam, beschwerte er sich, dass wir schließlich verheiratet seien, und dazu gehörten auch gemeinsame Mahlzeiten. Andererseits legte er, sobald ich sein Zimmer betrat, den Bildschirmschoner über das, was er gerade auf dem Computer anschaute. Sein Handy lag permanent neben ihm, und wenn er ins Bad ging, steckte er es vorher in die Hosentasche. Nachts wachte ich manchmal auf, und mein Herz raste. Irgendwie fühlte ich mich bedroht.

Vor zwei Wochen nun begab er sich wie oft auf eine Geschäftsreise. Drei Tage lang Südfrankreich, Teilnahme an einem Workshop der Firma, für die er seit fünfundzwanzig Jahren arbeitet. Sein Flug ging erst am Nachmittag, also wollte er vormittags noch ins Büro. Er besaß sogar die Dreistigkeit, mich zu bitten, ihn zur Arbeit zu fahren. Ein Liebesdienst, wie er sagte. So wären wir noch etwas länger beisammen. Tatsächlich bezahlt seine Firma bei Geschäftsreisen das Taxi zum Flughafen, aber ich Trottel übernahm den Taxidienst, was meinen Morgen etwas erschwerte. Also: Hundespaziergang, einmal durch Hamburg zu seiner Arbeitsstelle und dann wieder in die andere Richtung nach Eimsbüttel zu meiner Praxis.

Erst im Laufe des Tages, tröpfchenweise, sickerten Zweifel in mein Bewusstsein, ploppten befremdliche Bilder auf: Eine To-do-Liste auf seinem Schreibtisch, auf der unter anderem stand „Hotel für Montag buchen“. Seine besten schwarzen Lederschuhe, blank gewienert, ebenso seine dunkle Anzughose und ein helles Hemd. Ein herausgeputzter Mann, der sich am Morgen seiner Abreise vor mich hinstellte und fragte: „Wie sehe ich aus?“ All das passte nicht im geringsten zu einem Workshop von seiner Firma. Dorthin fuhr er in den üblichen schwarzen Jeans und Sneakers. Dafür brauchte er kein Hotel zu buchen, das tat die Sekretärin und auch nicht nur für eine Nacht.

Ich war sehr unruhig an jenem Montag, ließ die vergangenen Tage Revue passieren, klopfte alles auf möglichen Dissens zwischen uns ab. Nein, er war eher besonders liebevoll gewesen.

In der Nacht von Montag auf Dienstag schlief ich kaum. Vor meinem inneren Auge tauchte alles auf, was ich nicht bewusst wahrgenommen hatte, was nun aber klar vor mir stand. All die winzigen Ungereimtheiten der vergangenen Wochen, mein alarmiertes Gefühl. Ich schmiedete einen Plan, um mir Klarheit zu verschaffen, und lag zitternd in unserem Zweimalzweimeter großen Foutonbett, bis der Morgen endlich dämmerte. Dann brühte ich mir einen Tee auf und starrte auf die Wand gegenüber, wo ein Bild von Max und mir hängt, das uns in Marokko in der Wüste vor einem Zelt zeigt, beide mit zu Turbanen verschlungenen Tüchern als Kopfbedeckungen.

Sobald die Uhr endlich quälend langsam auf neun Uhr vorgerückt war, rief ich seine Sekretärin an und sagte in zuckersüßem Ton: „Max ist ja auf dem Workshop, wir haben aber morgen Hochzeitstag, ich würde ihn gern überraschen, können Sie mir die Adresse seines Hotels sagen, dann schicke ich ihm Blumen.“

Sie stutzte, sagte irritiert: „Nein, Frau Blau, das ist ein Irrtum. Max ist nicht auf dem Workshop. Da ist nur Frank, der Abteilungsleiter. Aber warten Sie, ich kann noch mal fragen … wieso, der Workshop ist doch erst ab Mittwoch. Aber warten Sie, ich frag Frank nochmal, ob Max überhaupt teilnimmt.“

„Nein danke, das brauchen Sie nicht. Tschüs.“

Und ich hatte aufgelegt. Mein Herz raste einen Moment, als wollte es aus meiner Brust springen, ich zitterte, als hätte ich zu lange in kaltem Wasser verbracht. Dann fühlte ich nichts mehr. Unbeweglich saß ich auf dem Stuhl, starrte ins Nichts. Die Taubheit löste sich erst ganz allmählich und wich einer hilflosen Wut.

Ich schrieb Max eine Nachricht: „Ich bin unfassbar geschockt. Mit wem liegst du gerade im Bett?“ Er reagierte nicht. Ich schrieb, er solle am Mittwoch nicht in unser Haus zurückkommen. Ich würde es nicht ertragen, mit ihm Tisch und Bett zu teilen. Daraufhin erhielt ich eine kurze SMS. „Ich bin auf einer Geburtstagsfeier. Komme morgen wie geplant am Nachmittag zurück.“

So viel Unverfrorenheit haute mich um. Eine Tsunamiwelle verschiedenster Gedanken und Gefühle brach über mich hinweg. Zweifel an meiner Intelligenz, an meiner Intuition, an meiner Liebenswürdigkeit, Fassungslosigkeit, dass jemand, der behauptet, mich zu lieben, so etwas tun kann, Überlegungen, wohin ich flüchten könnte, Zukunftsangst, und über allem die bohrende Frage: Mit wem feiert er drei Tage lang einen Geburtstag?

Seitdem wohne ich in einem Zimmerchen in meiner Praxis. Zwölf Quadratmeter. Früher das Wartezimmer, jetzt mein Schlafzimmer. Zum Wartezimmer muss die Küche herhalten.

Inzwischen weiß ich, dass er mit einer Frau drei Tage lang ihren Geburtstag gefeiert hat. Angeblich ist das nur eine Freundin, und die Geburtstagseinladung stammte noch aus der Zeit, als ich zwei Wochen lang ausgezogen war. „Ich habe nicht gewusst, wie ich ihr absagen sollte. Und ich habe mich nicht getraut, es dir zu sagen. Ich bin ein Feigling.“

Seitdem belagert Max mich mit Liebesschwüren und Bitten um Verzeihung. Wir müssen zur Paartherapie gehen, sagt er. Wir haben einander verloren. Aber wir lieben uns doch. Gehören zusammen. So auch jetzt in einer Mail, die mein Herz berührt: „Du bist das einzig wirklich Wesentliche in meinem Leben. Ich habe mich verlaufen. Kann mit dieser Frau gut sprechen, will eigentlich nur eine Freundschaft. Du hast schon so lange nichts von mir gelten lassen bei unseren ewiggleichen BPGs.“ BPGs sind Beziehungsproblemgespräche. An Problemen hat es uns nicht gemangelt. Aber an Lösungen.

Ich habe nichts gelten lassen? Neuerdings zweifle ich tatsächlich an meiner Kommunikationsfähigkeit. Dennoch will ich ihm glauben, dass ich die einzige Frau in seinem Leben bin. Also tippe ich auf replay und schreibe: „Lieber Max, ich bin unglaublich verletzt, aber ich bin bereit für eine Paartherapie. Bitte kümmer du dich darum. Deine Kristien“

26. NOVEMBER

Am Morgen treffe ich mich mit Felix im Café May zum Frühstück. Das Frühstück dort ist der Renner, es ist preiswert, opulent und köstlich. Kaum sitzen wir voreinander, er vor einem Berg voller Brötchen und Rührei und Aufschnitt, ich staunend über seinen Hunger, bemerkt er: „Sag mal, diese einarmige Anne P., kann das deine Klientin sein, die früher immer zu dir gekommen ist?“ Ich starre ihn an.

Er greift zu seinem Handy, ein paar Klicks, und vor meinen Augen erscheint schwarz auf weiß:

BRUNK, SCHLESWIG-HOLSTEIN, BRUDERMORD.

Am Montag, 21. November, wurde die einarmige und psychisch kranke Anne P. neben ihrem getöteten Bruder Johannes P. aufgefunden. Laut Aussagen der Angehörigen des Getöteten weist der Mord auf sexuelle Motive hin, ist die Täterin geständig und befindet sich in der Psychiatrie in Verwahrung.

Die Buchstaben beginnen vor meinen Augen zu tanzen.

Es ist mir schwergefallen, mit Felix zu sprechen. Zum Glück beherrsche ich die Kunst, das Gegenüber zum Reden zu animieren. Was bei Felix nicht schwer ist. Viele Freundinnen klagen über wortkarge Söhne, Felix sprudelt eher über von seinen Projekten, Gedanken, Überlegungen, Hobbys. Es ist nie langweilig mit ihm. Heute allerdings schweiften meine Gedanken immer wieder zu Anne.

Felix gegenüber habe ich abgewiegelt: „Seltsam … einarmig … Anne … naja, gibt manchmal eigenartige Zufälle … keine Ahnung … wird sich rausstellen …“

Aber innerlich war ich wie ein Rennpferd vor der Startlinie. Ich wollte losrennen, nach Hause, mich informieren über diesen dubiosen Mord.

Ich glaube, Felix hat es gemerkt, gleichwohl nichts gesagt. Als wir uns verabschiedeten, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich war nicht wirklich bei ihm gewesen. Ich forschte in seiner Miene, aber die war freundlich. Ich begleitete ihn noch bis zur U-Bahn, wir verabredeten uns für morgen Mittag ins Restaurant Little Buddha bei mir um die Ecke. Morgen Abend will er im Flixbus zurück nach Berlin fahren.

Kaum zu Hause gehe ich ins Internet.

Mich erfasst ein inneres Zittern, das ich von früher kenne. Das lange weg war und seit Max’ Betrug wieder häufiger von mir Besitz ergreift. Äußerlich ist es unsichtbar, aber innen vibriert alles. Zu der Notiz, die Felix mir gezeigt hat, finde ich einige ähnliche Artikel aus anderen Tageszeitungen, alle kurz, alle ähnlichen Inhalts. In allen Titeln taucht das Wort „Brudermord“ auf, in manchen der Begriff „schizophren“. In einem wird davon gesprochen, dass Anne ihren Bruder vergiftet haben soll. Was ist das für eine Geschichte!

Mir ist eiskalt. Habe ich etwas übersehen? War Anne gefährlich? Hätte ich reagieren müssen? Worte aus unserer letzten Therapiestunde flackern in meinem Kopf auf: „Ich habe Rachegelüste!“, sagte sie lachend. „Johannes hat sich mit mir einen Todfeind gemacht.“

Am Nachmittag eine Message über WhatsApp: „Habe über die Sache mit Anne gelesen. Wäre bereit, sie anwaltlich zu vertreten. Swantje“

Swantje ist Anwältin. Sie kennt Anne aus einer von mir geleiteten Selbsterfahrungsgruppe von vor zwölf Jahren: „Weiblichkeit und Sexualität“.

Ich tippe mit unsicheren Fingern auf mein Handy: „Ich verstehe nichts.“

27. NOVEMBER

Schweißnass wache ich auf. Dabei ist mein Schlafzimmer eiskalt. Seit ich in meiner Praxis übernachte, schlafe ich bei offenem Fenster, etwas, das Max auf den Tod nicht ausstehen konnte. Im Winter war es ihm zu kalt, im Sommer zu laut. Die Vögel, der entfernte Verkehrslärm. Also habe ich mich ihm angepasst, wie in so vielem, und bei geschlossenem Fenster geschlafen. Jetzt decke ich mich bis zur Nase zu. Üblicherweise schlafe ich gut und friere nicht. Heute Nacht aber habe ich geschwitzt.

Ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Mein Trick, abends eine halbe Stunde noch einen Roman zu lesen, der mich von all meinen persönlichen Problemen ablenkt, hat nicht funktioniert. Dabei fesselt mich „Garp und wie er die Welt sah“ sehr, obwohl ich ihn schon zum dritten Mal lese. Kaum habe ich aber mit müden Augen das Buch beiseite gelegt, wurde ich von Ängsten überschwemmt. Vor meiner Zukunft ohne Max. Vor nicht wieder gut zu machenden Fehlern. Davor, Anne nicht richtig diagnostiziert zu haben. Ein Fehler, der einen Menschen das Leben gekostet hat? Aber auch Angst, Anne im Stich zu lassen. Wie mag es ihr dort gehen? Sexualdelikt? Welches Sexualdelikt könnte Anne an ihrem Bruder begangen haben?

Anne ist schwerstmissbraucht von ihrem Vater. Zehn Jahre lang war sie Objekt seiner sadistischen Fantasien. Es begann an ihrem vierten Geburtstag. Er hatte ihr eine Puppe geschenkt und kam in der Nacht zu ihr. Sie hatte schon geschlafen. Er sagte, für die Puppe solle sie jetzt ein bisschen nett zu ihm sein. Am nächsten Morgen dachte sie, sie hätte das nur geträumt.

Ich kann immer noch nicht daran denken, ohne dass mir übel wird.

Anne ist doch keine Sexualstraftäterin!

Ich schwitze. Rocco kommt an mein Bett und leckt meine schweißnasse Hand, die aus der Bettdecke herausragt. Ich muss etwas tun. Aber ich kann die Augen noch nicht richtig öffnen. Also winde ich mich aus dem Bett.

Nachdem ich Rocco sein Futter gegeben habe, sitze ich mit einem Becher Tee wieder im Bett, das Fenster ist nun geschlossen, dahinter ein Bild, für das man nur Grautöne bräuchte, um es zu malen. Grauer Himmel, graues Haus, graue Fensterlöcher, schwarzgraue Baumruinen. Dieser Novembertag lockt nicht nach draußen. Auch in mir ist alles grau. Anne lässt mir keine Ruhe.

Ich nehme mir Annes Akte vor. Sie ist nicht so dick, wie man angesichts der vielen Jahre vermuten könnte. Anfangs längere Notizen, Zeichnungen, die sie angefertigt hat, viele von ihr beschriebene Seiten. Die Zeichnungen wirken wie von einem sechsjährigen Kind. Darauf sind Strichmännchen, unzusammenhängende Szenen. Immer wieder ein Phallus, in unterschiedlicher Größe. Immer wieder ein Riese und ein kleines Mädchen. Durch diese Zeichnungen hat sich Anne offenbart. Die Worte kamen erst viel später. Es war bei Lebensgefahr verboten gewesen, dass sie jemandem erzählte, was ihr Vater in der Nacht mit ihr tat.

Einmal hat sie es als Kind trotzdem gewagt, ungefähr sechs Jahre alt, da waren eine ihrer vielen Tanten mütterlicherseits und ihre Mutter in der Küche und wuschen das Geschirr ab. Sie sagte: „Vadder mokt Sachen mit mi, hei deit mi weh.“ Sie erinnerte sich nicht mehr, ob die Frauen gefragt hätten, wo, oder ob sie von allein auf ihre Scheide wies. „Dor.“

Auf jeden Fall widmeten die beiden Frauen sich nach kurzem Innehalten wieder emsig dem Abwasch, und die Tante sagte: „Dat mokt sei all. Dat geit vorbi.“ Ihre Mutter hatte nichts gesagt.

In den Nächten danach war er besonders grob gewesen, sie hatte gelernt, zu diesem Zufluchtsort zu gehen, wo es hell war und sie nichts mehr spürte, weil sie sich nicht mehr in ihrem Körper befand. Viel später allerdings, nach ihrem letzten Klinikaufenthalt, sagte sie erschüttert: „Ich glaube, ich bin gar nicht freiwillig dahin gegangen, ich glaube, es war so was wie eine Nahtoderfahrung. Er setzte mir ja immer diese Maske auf. Dahinter konnte ich keine Geräusche machen, aber ich glaube, ich konnte auch nicht gut atmen. Ich glaube, ich bin manchmal fast weg gewesen.“

Meine Beklemmung kommt wieder, wenn ich in den Papieren blättere. Ich habe dem schwer standgehalten, was sie beim Erinnern durchlitt. Meine und ihre große Sorge damals war, dass sie von ihren Erinnerungen und Gefühlen überflutet würde, dass das Trauma sich wiederholte. Immer habe ich darauf geachtet, dass sie sich nicht zu sehr assoziierte, dass sie das Ganze aus Distanz betrachtete, dass sie sich körperlich bewusst machte, wie sie auf meinem Sofa saß. Dass sie erwachsen war. In der Hypnotherapie gibt es eine Technik für so einen Fall: Man setzt den Klienten in seiner Vorstellung in einen Kinoraum und dann noch in den Raum dahinter, den Glaskasten oben, in dem früher die Rollen abgespult wurden. Dort behält der Klient jederzeit die Kontrolle, kann den Film stoppen, rückwärts, in Zeitlupe oder in verstärkter Geschwindigkeit laufen lassen.

In meinen Unterlagen befinden sich zwei Berichte von psychosomatischen Kliniken. In der ersten war sie vor ungefähr neun Jahren. Damals ging es vor allem um Migräneanfälle, häufige Übelkeit, starke Rückenschmerzen und nächtliche Panikattacken. Beim zweiten Klinikaufenthalt ging es um Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Panikattacken und Suizidgefahr. Anne war durch Mobbing einer feindseligen Kollegin in das frühere Trauma geglitten. Sie fühlte sich verletzt und von den anderen Kollegen im Stich gelassen.

Zu diesem Zeitpunkt kam sie wieder zu mir, nachdem sie vorher drei Jahre lang allein zurechtgekommen war. Drei Jahre, in denen sie gut für sich gesorgt hatte, regelmäßig zum Yoga ging, sogar Bauchtanzkurse besuchte, um sich mit ihrem Bauch „anzufreunden“, wie sie es nannte. „Und wenn Gefühle hochkommen, höre ich einfach auf.“ Sie hatte auch einen Aquarellmalkurs besucht, nachdem sie in der ersten Kur ihre Freude am Aquarellmalen entdeckt hatte. Nun brach alles wieder auf.

Gemeinsam mit ihrer Hausärztin entschied ich, dass sie möglichst schnell in eine Klinik musste, sie kam mir unberechenbar und suizidgefährdet vor, sie wirkte wie ein gejagtes Tier. Zwei Wochen, nachdem sie mich aufgesucht hatte, wurde sie in einer Klinik aufgenommen, die auf Depression und Angststörungen spezialisiert ist. Dort blieb sie zehn Wochen lang.

In dieser Klinik hat sie auch zu ihrem Missbrauch gearbeitet. Sie ist dort zweimal von Flashbacks überflutet worden, aber sie hat es überlebt, wie sie stolz sagte. Der Klinikbericht sprach von Stabilisierung, von langsamer Rückeingliederung in den Arbeitsprozess, von notwendiger weiterer psychotherapeutischer Begleitung.

Ich blättere die Unterlagen durch, von einem drückenden Schuldgefühl geplagt. Habe ich irgendetwas übersehen? Habe ich vielleicht aufgrund meiner Empathie und Betroffenheit meine Distanz verloren?

Wie konnte es bloß geschehen, dass Anne ihren Bruder getötet hat?

Die Tochter ihres Bruders, Sabine, war für Anne mehr als nur eine Nichte. Aufgrund ihres Traumas hatte Anne sich nie einem Mann anvertrauen können. Sie hat keine Kinder. Sabine jedoch hat sie geliebt wie eine Tochter. Sie hat diesem fast zehnjährigen Mädchen doch nicht den Vater weggenommen! Sabine hat eine Mutter, Gerlinde, Johannes’ Frau. Die ist nun Witwe! Anne hat feministische Anschauungen vertreten, Frauensolidarität. Die hat doch kein Mädchen zur Halbwaise, keine Frau zur Witwe gemacht!

Ich kann es einfach nicht glauben. Aber mir kommen immer wieder ihre Worte aus der letzten Sitzung in den Kopf: „Johannes hat sich mit mir einen Todfeind gemacht.“ Sie hat bekräftigend mit dem Kopf genickt und wiederholt: „Jaaa, Todfeind!“ Aber sie hat dabei gelächelt, und ich bin nicht im Geringsten auf die Idee gekommen, dass sie damit gemeint hat, sie wolle ihn umbringen.

Sie hat die Tat gestanden. Warum also quäle ich mich so, verdammt?

Es kommt immer wieder vor, dass Menschen in Extremsituationen Dinge tun, die sie sich vorher in schlimmen Fantasien ausgemalt haben. Dennoch kann ich es so nicht stehen lassen. Ich muss in Erfahrung bringen, was passiert ist. Es muss doch so was wie eine Mordkommission geben, das liest man immer in Krimis und sieht es auch im Fernsehen. Psychisch kranke Sexualstraftäter landen in Hamburg in Ochsenzoll, der forensischen Psychiatrie. Johannes, ihr Bruder, wohnte allerdings in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein. Brunk, steht in der Überschrift des Artikels.

Ich muss wissen, was geschehen ist.

Bislang hatte ich nichts mit der Kriminalpolizei zu tun. Meine Vergehen spielen sich im Bereich dessen ab, was die Kasse Hamburg mir mit fünfundzwanzig oder fünfzehn Euro berechnet. Falschparken. Vor Kurzem wurde ich sogar abgeschleppt und musste dreihundertfünfzig Euro Strafe zahlen. Meine Praxis, die jetzt auch meine Wohnung ist, liegt in Eimsbüttel. Dort herrschte immer schon Parkraumknappheit, neuerdings ist das ins Groteske ausgewachsen.

Meine Praxis liegt parallel zur Osterstraße. Dort liegt ein Café neben dem nächsten Restaurant, abgewechselt mit kleinen Boutiquen, einem Dritte-Welt-Laden, einer unabhängigen Buchhandlung. Hier gibt es die „Kleine Konditorei“ mit dem leckersten Backblechkuchen der Welt und endlosen Schlangen bis auf die Straße hinaus am Samstag und Sonntagmorgen, weil alle unbedingt dort Brötchen kaufen wollen, obwohl es in der Osterstraße an Bäckereien ebenso wenig mangelt wie an Friseuren. Aber es mangelt an Parkplätzen.

Meine Gedanken gleiten hierhin und dorthin. Gleich muss ich arbeiten. Vorher muss ich mit Rocco gehen. Mir bricht der Schweiß aus. Das kenne ich schon. Es begann mit neunundvierzig. Ich weiß es noch: Der erste Schweißausbruch führte dazu, dass ich zu meinem Hausarzt ging. Ich habe nie geschwitzt. Und dann so eine plötzliche Überflutung meines Körpers. Ich befürchtete eine schwere Krankheit, Tuberkulose mindestens. Mein Hausarzt Herr Gretesmann, so heißt er wirklich, hat mich nach ausgiebiger Untersuchung freundlich und, wie mir schien, ein wenig spöttisch oder gar hämisch angelächelt und gesagt: „Liebe Frau Blau, Sie sind unheilbar gesund. Ihre Schweißausbrüche haben nur etwas damit zu tun, dass Sie jetzt ins Klimakterium kommen.“ Süffisantes Lächeln. „Das ist altersgemäß.“ Da habe ich beschlossen, den Arzt zu wechseln. Was ich bis heute nicht getan habe, weil ich eigentlich keinen Hausarzt brauche. Ich bin, wie er so überaus witzig formulierte, unheilbar gesund. Für den Rest ist meine Gynäkologin zuständig. Die will mir Hormone verschreiben, wogegen ich mich bisher noch standhaft gewehrt habe. Ich kann diese Schweißausbrüche auch akzeptieren und durchstehen, das Komplizierte daran ist für mich, dass es so unberechenbar kommt und sich dann wirklich wie ein Ausbruch schwerer Krankheit anfühlt.

Wenn ich wüsste, okay, Klimakterium, das heißt, ich habe alle zwei Stunden einen schweren Schweißausbruch, und danach ist es wieder gut, könnte ich damit umgehen. Dann würde ich meine Termine entsprechend legen, und meine Mitmenschen vorwarnen, dass es um vierzehn Uhr beginne, um vierzehn Uhr fünfzehn wieder vorbei sei. Aber so ist es nicht. Stattdessen bleibe ich manches Mal drei Tage lang verschont, und plötzlich – mitten in einer therapeutischen Sitzung – merke ich, wie mein Gesicht heiß wird, und ich sitze der Klientin oder dem Klienten mit feuerrotem Kopf gegenüber, und dann bekomme ich den zwanghaften Drang, mich auszuziehen. Das geht selbstverständlich nicht, weil eine Psychotherapeutin keine Stripteaseshow veranstaltet.

Oft ist es wie jetzt: Mir bricht der Schweiß aus, und ich weiß nicht, wie ich diese Anwandlung interpretieren soll. Bin ich jetzt gerade gestresst, weil ich meinen Tag zu voll knalle mit irgendwelchen Problemen, nun auch noch mit einem obskuren Mord, habe ich Angst vor einer Begegnung mit der Polizei, weil es unbewusste Schuld in mir wachruft, wie sagt man so schön: Der Mörder steckt in jedem von uns, oder bin ich mit meinen Gedanken in Wirklichkeit bei Max und möchte gerade weinen, weil er mich so übelst verraten hat?

Ich kann diese Fragen nicht mehr beantworten, weil der Schweiß aus meinen Poren bricht, als würde eine Schleuse überlaufen. Im Nu ist meine Unterwäsche klitschnass, ich bekomme Luftnot, greife nach der nächstliegenden Akte und fächle mir Luft zu. Es ist doch unmöglich, dass das auf irgendwelche Hormonumstellungen zurückgeht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich keine geheime Krankheit habe. Ich ziehe mich splitternackt aus, gehe unter die Dusche und habe den Eindruck, als würde das lauwarme Wasser auf meiner Haut zischen.

Um elf Uhr stehen meine ersten Klienten vor der Tür. Die Wohnung ist picobello aufgeräumt. Niemand soll merken, dass ich hier auch wohne.

Um zwölf Uhr fünfundvierzig, die erste Sitzung von eineinhalb Stunden ist vorbei, die Klienten verabschiedet, ich will mir gerade etwas zu essen machen, höre ich die Wohnungsklingel. Scharf fährt es durch mich hindurch. Habe ich in meinem psychischen Durcheinander einen Termin vergessen? Das ist mir in den vergangenen Wochen zweimal passiert. Zweimal zu viel.

Ich frage in die Gegensprechanlage, wer da sei. Als Antwort kommt ein schwerer Schnaufer, dann brummelt eine tiefe Männerstimme etwas, was ich nicht verstehe. Das ist mir unheimlich. Ich laufe zum Balkon und beuge mich übers Geländer, sodass ich sehen kann, wer unten steht.

„Hallo“, rufe ich, „wer ist da?“

Eine Gestalt löst sich von der Tür, macht zwei schwere Schritte die Treppe hinab und wendet den Kopf nach oben. Ein alter ausgemergelter Mann, dem der Anzug um die Gestalt schlottert. Ein Obdachloser, denke ich, aber dann sagt der Mann ein Wort. Ein Zauberwort. Er sagt es weniger, als dass er es rauskotzt, es klingt wie das Bellen eines gefährlichen Hundes.

„Wolfgang Petersen, Annes Bruder. Bitte lassen Sie mich rein.“ Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.

Ich zucke zusammen. Wolfgang. Annes älterer Bruder. Während ich zur Tür gehe, schießen durch meinen Kopf Bilder, die ich mir nach Annes Beschreibung von Wolfgang gemacht habe. Oder die ich in Fotoalben gesehen habe. Fotos von Annes Konfirmation. Da war sie vierzehn und er achtzehn. Ein smarter, gut aussehender junger Mann im Anzug, der auf allen Fotos ihr leicht zugewandt steht, als wolle er sie beschützen. Dabei hatte er sie beinahe erhängt, als sie gerade zwei Jahre alt war. Sie hatte bereits Schlieren vor den Augen gehabt und keine Luft mehr bekommen, als ihr Vater auf dem Dachboden auftauchte, wo sie am Strick hing, und sie freimachte. Von da an war ihr Vater ihr Lebensretter gewesen.

Diese Geschichte hatte Anne mir bereits in der zweiten Therapiestunde erzählt. Wolfgang hatte sie gefragt, ob sie gerne mal nach Hamburg reisen wollte, was Anne bejaht hatte. Natürlich wollte sie in diese große Stadt, von der alle schwärmten. Also stieg sie auf einen Stuhl und steckte ihren Kopf in die Schlinge, so wie es der große Bruder von ihr verlangte. Dann zog er den Stuhl weg und sagte: „Los geht die Reise!“ Sie war federleicht gewesen, vielleicht hatte Wolfgang ihren Kopf auch so in die Schlinge gelegt, dass ihr Genick nicht brechen konnte, auf jeden Fall hatte der Strick sie gewürgt und nur beinahe stranguliert.

Anne hat in der Therapie viel von ihrem Bruder erzählt. Ein geliebter, bewunderter Bruder, intelligent, schön. Mit neunzehn war er ausgezogen, gemeinsam mit einer Freundin, die studierte wie er.

Ich öffne die Tür. Ein alter Mann steht da, schwer atmend, bleich, mit Augen, die trotz der tiefen schlammfarbenen Höhlen einen intensiven Glanz ausstrahlen. Einen fiebrigen Glanz. Ich strecke ihm die Hand entgegen. „Kristien Blau, kommen Sie rein.“

Ich führe ihn in die Küche. Mit ihm in mein Therapiezimmer zu gehen und ihn dort auf die Klientencouch zu setzen, kommt mir unpassend vor. Also setzt er sich auf einen meiner Küchenstühle, deren farbenfroher Bezug Patchwork imitiert. Ich biete ihm ein Glas Wasser an, das er durstig hinunterstürzt.

Die Ellbogen auf den Küchentisch gestützt, betrachte ich ihn, wie ich es gewohnt bin: eingehend, genau, vorurteilslos. Ich lese in Gesichtern, Körperhaltungen, Kleidung, Gestik, Mimik. Das ist mein Job. Die Menschen wollen, dass ich sie sehe. Aber ich vergesse manchmal, dass nicht alle Menschen gesehen werden wollen und dass dieser Blick auch missdeutet werden kann.

Viele Menschen denken, Psychologen könnten bis in die Seele blicken, Gedanken lesen, das Schlechte in ihrem Gegenüber durchschauen. Das stimmt nicht. Aber viele Psychologen sind aufmerksame Betrachter. Ich zumindest habe schon während meiner ersten Ausbildung, der zur Tanztherapeutin, gelernt, Körperhaltungen zu lesen. Es ist ja inzwischen kein Geheimnis mehr, dass wir mit unserer Körperhaltung Stimmungen ausdrücken. Einige Forschungsarbeiten beschäftigen sich damit, und wirklich: Wenn wir die Schultern hängen lassen, die Mundwinkel senken und all die äußeren Erscheinungsformen von Trauer oder Depressivität an den Tag legen, verändert sich auch unsere Stimmung. Und umgekehrt: Wenn wir die Schultern senken und straffen, den Kopf heben und einen wachen unternehmungslustigen Blick bemühen, ändert sie sich ebenfalls. Man kann sich denken, dass solche Camouflage nicht lange währt und wir wieder in den unbewussten Ausdruck unserer wirklichen Gemütslage zurückfallen. In Gruppen lasse ich gleichwohl als Aufwärmübung während des Spazierens durch den Raum die Teilnehmer die Arme begeistert in die Höhe werfen und „Oh Wonne!“ rufen. Jeder weiß, dass das albern ist, also kommt zur Verstärkung noch ein amüsiertes Lächeln oder gar Lachen über sich selbst und über die Therapeutin mit ihrer absurden Aufgabe hinzu.

Wolfgang Petersen könnte diese alberne Übung dringend gebrauchen, so gebrochen, wie er aussieht. Anne hat mir von ihm erzählt, gesehen habe ich nur die Fotos des jungen smarten Mannes. Ab zwanzig mit Bart und langen Haaren.

Dieser Mann, der vor mir sitzt, hat mit dem auf den Fotos nicht die geringste Ähnlichkeit. Er ist ungefähr in meinem Alter, aber er wirkt wie mindestens siebzig, wenn nicht älter. Seine Wangen sind eingefallen, die Lippen leicht lila verfärbt, die blassblauen Augen liegen in tiefen Höhlen wie in Morast. Er bewegt seinen Mund, als kaue er auf der Innenseite seiner Lippen. Seine fast weißen Hände sind von dicken blauen Adern durchzogen. Er faltet sie, als wolle er sie festhalten.

Ich weiß, dass er schwerkrank ist. „Mein Vater hat ihn gebrochen“, sagte Anne manchmal. Wolfgang hatte anfangs eine nässende und eiternde Zyste am After, die jedoch jeder Behandlung widerstand und sich dann so ausgewachsen hatte, dass er mehrfach operiert werden musste und heute einen zweiten Darmausgang hat, wo seine Exkremente in einer Art Plastiktüte aufgefangen werden.

Er hat inzwischen einen Nierentumor, der angeblich gutartig ist, dennoch wächst und wächst. Er ist nicht mein Klient, und ich schiebe das Grauen über die Gleichgültigkeit und Unfähigkeit seiner Ärzte während der Stunden mit Anne meist fort. Anne berichtet über ihn, und ich spreche mit ihr über ihre emotionale Reaktion. Sein Schicksal erscheint mir immer wieder ungeheuerlich, Hartz IV-Empfänger scheinen in unserer Gesellschaft auch von Ärzten als Menschen betrachtet zu werden, um deren Gesundheit es sich nicht zu kämpfen lohnt.

Jetzt sitzt er vor mir und hält sich an seinen eigenen Händen fest. Was für ein Drama, denke ich, und es schnürt mir die Kehle ab. Wie konnte aus einem so vielversprechenden Mann ein solches Wrack werden!

„Ich musste einfach nach Hamburg kommen“, sagt er nach einer Zeit, in der ich ihn angeschaut und geschwiegen habe. „Ich wusste nicht, mit wem ich reden könnte. Zu Ihnen hatte Anne Vertrauen.“ Er lächelt spöttisch. „Hatte? Sie lebt ja noch. Tot ist Johannes. “

Er hebt den Blick, der angestrengt auf den Tisch gerichtet war, und sieht mich gequält an. „Was ist da geschehen, Kristien?“ Errötend wirft er mir einen beschämten Blick zu. „Entschuldigung. Wenn Anne und ich über Sie gesprochen haben, hat sie immer Kristien gesagt, es war gar nicht leicht für mich, Ihren Nachnamen rauszukriegen.“

Erstaunt sage ich: „Sie müssen sich nicht entschuldigen. Aber wenn Sie nur meinen Vornamen kannten, woher haben Sie dann die Adresse?“

Er grinst. Und hinter dem Drama seines Lebens blitzt plötzlich die Intelligenz des jungen Mannes auf, von dem Anne gesagt hat, der hätte eine richtige Karriere machen können, so wie dem in der Schule alles zugefallen ist.

„Internet macht’s möglich“, sagt er triumphierend. „Kristien und psychologische Praxis und Eimsbüttel, schon hatte ich Sie. Und Ihre Website hat genau das gezeigt, was ich von Ihnen wusste.“

Er hat recht. Es wird nicht schwer gewesen sein. Kein besonders hoher IQ war notwendig. Ich bin fast etwas enttäuscht. Ich wüsste gern, ob Annes Einschätzung mit der Realität übereinstimmt, dass ihr Bruder, wenn ihr Vater ihn nicht systematisch kleingemacht hätte, wirklich mit einer so brillanten Intelligenz gesegnet ist, oder ob das nur ihrem Wunschdenken entspricht.

Der Vater ist klein und schmächtig. Ich habe ihn nicht nur auf Fotos gesehen, sondern auch in natura. Er hatte zu seinem Sohn hochblicken müssen.

„Ich möchte Anne helfen“, Wolfgang seufzt. „Die hat nie und nimmer Johannes umgebracht.“ Seine Stimme wird laut, und ich wundere mich, welch wütende Kraft darin steckt: „Nie und nimmer. Das kann sie gar nicht.“

Ich weiß, dass Anne von Zorn überwältigt werden kann. In meinen Gruppen hat sie zuweilen, überraschend, Wut gezeigt. Vor fünf Jahren hat sie aufgehört, Alkohol zu trinken, weil sie selbst fand, dass sie dann unkontrolliert ausfallend werden konnte. „Alkohol, Gewalt und sexueller Missbrauch, das sind die Übel meiner Familie“, hatte sie spöttisch bemerkt. „Ich kann ja wenigstens den Alkohol kontrollieren, und was das andere betrifft, kommt Willi mir auch nicht mehr über die Schwelle.“

Er ist ihr dennoch zu nah gekommen, hat immer wieder ihre Grenze überschritten, doch daran will ich jetzt nicht denken.

Ich mustere Wolfgang und versuche, zu verstehen, was er von mir will.

Da sagt er es auch schon: „Ich bin gekommen, um Sie zu bitten, uns zu helfen. Anne und mir.“

Anne und ihm? Welche Hilfe braucht er? Ich verkneife mir die Frage, bleibe still und höre zu. Ich weiß, dass er unendlich viel Hilfe bräuchte. Anne hat die Vermutung geäußert, dass seine Analfistel ein Ausdruck dessen ist, dass ihr Vater auch ihren großen Bruder vergewaltigt hat. Bei ihr hat er begonnen, als sie vier Jahre alt war. Was hat er die Jahre davor getan?

Was Anne sicher weiß, ist, dass Willi ihren Bruder immer wieder halb totgeschlagen hat. „Er wollte ihn brechen“, sagte sie. „Er hat es nicht ausgehalten, dass sein Sohn stärker und schöner und vor allem viel, viel klüger war als er.“ Willi war nicht nur sexuell gewalttätig, er liebte es auch, Macht zu spüren, wenn er seine Kinder schlug. Mit einem Gürtel, mit einem Stock, mit der Hand. Nackt. Bekleidet. Wolfgang hat Anne einmal gestanden, er verstehe es selbst nicht, aber er finde es erregend, wenn seine Freundin ihm wehtue. Die gelernte Wahrnehmung von Schmerz als Ausdruck von Zuwendung.

Wie soll ich helfen?

Eigentlich hatte Wolfgang Ingenieur werden wollen, eigentlich hatte er den Hof des Vaters als ältester Sohn übernehmen wollen, eigentlich interessierte er sich für Maschinen und Technik. Aber Willi hatte sich geweigert, sein Studium zu finanzieren, wie er vorher schon unterbunden hatte, dass Wolfgang aufs Gymnasium ging. Mittlere Reife, mehr kam ihm nicht ins Haus. Also besuchte Wolfgang danach die Fachoberschule für Maschinenbau, um im Anschluss daran Ingenieurswesen zu studieren. Er beantragte BAföG, aber das erhielt er nicht, weil sein Vater sich weigerte, die Formulare auszufüllen. „Wenn Sie sich einverstanden erklären, dass wir uns das Geld von Ihrem Vater zurückholen, erledigen wir alles für Sie“, sagte die Frau im BAföG-Amt freundlich. Wolfgang nahm die Papiere mit, schämte sich entsetzlich, für seinen Vater, für seine Familie, für seine Existenz. Und begann, Taxi zu fahren.

Vier Semester hielt er durch. Dann verließ seine Freundin ihn. Sie hatten einander kaum mehr gesehen, tags arbeitete sie, nachts fuhr er Taxi.

Anne hatte sich gut mit ihr verstanden, auch sie erlitt bei der Trennung einen Verlust. Aber sie konnte Rieke verstehen. Die gestand ihr verschämt ein, dass Wolfgang sich sexuelle „Sachen“ wünschte, auf die sie nicht die geringste Lust hatte. Das am wenigsten Befremdliche war noch sein Genuss, wenn er ihre Füße küssen durfte, was in ihr ein Gefühl von Einsamkeit auslöste, denn er war dabei körperlich und seelisch weit entfernt, und ihre Füße waren nicht ihre erogensten Zonen.

Ich schaue Wolfgang an. Es wirkt, als hätte er sich herausgeputzt wie für die Rolle des Losers in einer Theateraufführung. Seine Haare sind zu lang. Sie waren einmal wellig, das habe ich auf den Fotos gesehen, jetzt sind sie schütter. Ungepflegt sieht er aus, ein in die Jahre gekommener Hippie, der sich nicht oft genug die Haare wäscht. Und den Rest vielleicht auch nicht.

Er sucht die Demütigung! Erschrocken über die Härte, mit der ich das denke, frage ich: „Wie soll ich Ihnen helfen?“ Meine Stimme klingt müde. Wolfgang scheint diese Müdigkeit anzuspornen. Er beugt sich vor und lässt plötzlich hinter seiner schlaffen und kraftlosen Erscheinung einen Willen spüren, dass ich unwillkürlich aufmerke. „Sie sind Psychologin, Sie haben einen Doktortitel, Sie sind eine reife Frau, Ihnen schenkt man eher Glauben als uns.“

„Was soll man mir denn glauben?“, stammle ich gerade noch, dann stürzt das Unheil über mich herein. Voller Scham merke ich, dass mein Gesicht tomatenrot wird, meine Kleidung saugt den Schweiß auf, der aus mir herausbricht, als sei ich ein Berg, aus dem Quellen hervorschießen. „Entschuldigen Sie“, sage ich. Meine Stimme klingt peinlich zitterig. Auch meine Knie sind nicht ganz stabil. Ich wanke hinaus. Im Schlafzimmer werde ich den Anfall abwarten und mich dann kurz umziehen. Wie entsetzlich demütigend ist das bloß!

Als ich zurückkomme, hat Wolfgang sich ein Glas Wasser aus meiner Leitung eingeschenkt. Er hat seinen olivfarbenen Parker über die Lehne des Küchenstuhls gehängt. Er trägt einen schiefergrauen Anzug und einen weinroten Schlips. Er steht vor der Balkontür und blickt sinnend auf den Hinterhof. Einen Augenblick lang erkenne ich den jungen smarten Mann von Annes Fotos. Er ist immer noch groß, seine Schultern sind breit, er ist schlank und hat lange Arme und Beine. Er hat eine überraschend gerade Haltung. Als ich in die Küche trete, wendet er sich mir zu. Seine hellen Augen lächeln. Er sagt es nicht, aber ich lese es in seinen Augen. Wechseljahre.

Ich trete die Flucht nach vorn an. „Schön, dass Sie abgelegt haben. Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe nicht viel Zeit, gleich geht es hier bei mir weiter. Jetzt ist gerade meine Mittagspause. Sagen Sie mir bitte, wie ich Ihnen helfen soll.“

Ich lasse ein großes Glas aus der Wasserleitung einlaufen und kippe es in einem Zug hinunter, bevor ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen lasse. Diese Anfälle bewirken kaum stillbaren Durst und sehr weiche Beine. Er setzt sich ebenfalls. Nun sieht er wieder aus wie vorher: ein gebrochener Mann, fast Penner, der Kleidung aus der Kleidersammlung trägt.

Aber seine Stimme ist anders, ruhiger, gelassener, männlicher. „Sie wissen, dass Johannes von Willi als Alleinerbe des Hofes und der Ländereien eingesetzt wurde. In einer Anwandlung von Ehrlichkeit hat er es Anne gesagt. Anne leitete danach juristische Schritte ein und erfuhr so, dass in der Vereinbarung zwischen Willi und Johannes steht, dass sie und ich jeweils 50 000 Euro bekommen, sobald Willi stirbt. Anne war so zornig, dass sie gegen Johannes prozessieren wollte, damit ihr Pflichtanteil gesichert und ins Grundbuch eingetragen wird.“

Er hält inne und sieht mich prüfend an. Ich nicke. Ja, das weiß ich alles. Ich weiß auch mehr. Ich weiß, wie unglaublich schwer es ihr gefallen ist, diesen juristischen Schritt gegen ihren Bruder einzuleiten. Man prozessiert nicht gegen Familienangehörige, über dieses Tabu haben wir mehrere Sitzungen lang gesprochen, bis sie schließlich strahlend zu mir kam und sagte: „Ich habe es getan. Ich habe das Tabu gebrochen.“ Sie kicherte wie ein kleines Mädchen und fügte hinzu: „Ich habe noch ein Tabu gebrochen: Ich habe einen ganzen Weihnachtskalender auf einmal geplündert.“

Und ich weiß, dass Wolfgang sie bei der Anwältin nicht unterstützt hat. Sie hat sich von ihm im Stich gelassen gefühlt. Sie hat versucht, es zu erklären. „Das kann schwierig für ihn werden. Wenn ein Hartz IV-Empfänger 50 000 Euro hat, zahlt das Amt nicht mehr. Vielleicht will er das Geld gar nicht.“

Nach einer gedankenschweren Pause fährt Wolfgang fort: „Ich weiß, dass Anne sehr zornig auf Johannes war, aber warum um alles in der Welt soll sie ihn ermordet haben, und dann noch mit irgendwelchen sexuellen Quälereien? Das ergibt keinen Sinn.“ Wieder sackt er in sich zusammen. Die Klarheit, die eben noch in seinen Augen gelegen hat, die Festigkeit seiner Stimme, die Breite der Schultern, alles fällt in einer Sekunde in sich zusammen, und übrig bleibt ein Mensch, der zu dem unteren Drittel unserer Gesellschaft gehört, jenen, die von Ärzten und sonstigen Menschen mit fester Arbeit und akademischer Qualifikation von oben und möglichst gar nicht betrachtet werden. Invisible?

Mir schießen plötzlich Fotos von Marie-Christine Woehrl in den Sinn; sie hat Opfer fotografiert, die von Bränden oder Säureangriffen für ihr Leben verunstaltet sind. Auf einem Vortrag über dieses Werk sagte sie, die Idee dazu sei ihr auf einer Party gekommen, als die Gastgeberin sie beiseite genommen und gebeten habe, sich um einen bald erscheinenden Gast zu kümmern, einen Mann, dessen Gesicht durch einen Motorradunfall verunstaltet sei. Marie-Christine sagte, sie hätte sich sofort bereiterklärt, aber als der Mann erschien, habe sie begriffen, wie schwer es war, ihn anzuschauen. „Ich hatte so etwas noch nie erlebt“, sagte sie. „Als er in den Raum trat, schauten alle hin, und eine Sekunde später war es, als wäre er gar nicht da. Als wäre er unsichtbar.“

So heißt auch ihr Fotoband: Invisible.

Viele seelische Schäden sind mindestens genauso prägend und schrecklich wie diese sichtbaren Verunstaltungen. Und auch von diesen Schäden schauen die Menschen weg. Sie halten es nicht aus.

Dafür sind Psychologen da. Sie schauen hin, auch wenn es schwer zu ertragen ist. Sie finden eine Sprache, auch wenn alle anderen verstummen.

Ich stütze mein Kinn auf meine gefalteten Hände und sehe Wolfgang nachdenklich an. Er hat das Fahrgeld von Kiel hierher bezahlt. Er hat seinen Anzug angezogen und meine Adresse herausgefunden. Er hat hier geklingelt und sich dem Gespräch mit mir gestellt. Das alles muss ihm sehr wichtig sein. Aber irgendetwas hat er mir nicht erzählt. Ich verstehe, dass er sich Sorgen um seine Schwester macht, wer täte das nicht, dennoch gibt es mehr, das spüre ich deutlich. Irgendetwas verheimlicht er mir.

„Gibt es etwas, was Sie mir sagen möchten?“, frage ich. Ich weiß schon, dass er mit Nein antworten wird. Wie auch anders? Sonst hätte er es ja längst erzählt.

Da sagt Wolfgang zu meiner Überraschung: „Ja, ich bin hierher gefahren, weil ich dachte, dass ich das loswerden muss.“ Ich werde wach. Richtig wach. Ich blicke ihn durchdringend und abwartend an, aber nicht so, dass er Angst vor mir bekommen könnte. Ich lächle und senke den Kopf ein wenig. Als er immer noch schweigt, sage ich auffordernd: „Und?“

Er holt tief Luft. „Anne und ich haben uns in der letzten Zeit immer wieder ausgemalt, wie wir Johannes und Willi umbringen könnten. Das war gewissermaßen eine Kompensation unserer Ohnmacht.“

Oh, denke ich, du kennst dich in psychologischer Terminologie aus. Ich warte ab, bis er seine Sprechpause beendet hat. Das gehört zu meiner Arbeit, ich kann die Spannung von langen Gesprächspausen aushalten.

Da geschieht es. Er beugt sich weit über meinen Küchentisch, legt die Hände offen zwischen uns wie zur Demonstration, dass er nichts zu verbergen hat, sieht mir beschwörend in die Augen und raunt: „Das waren schlimme Fantasien, tut mir leid, aber wir sind beide nicht mit Samthandschuhen angefasst worden. Wir sind Gewalt gewohnt. Und Willi hat uns beiden verdammt wehgetan, und Johannes …“, er stockt, seine Gefühle überwältigen ihn, er schluckt, seine Augen werden feucht, seine Gesichtsfarbe verändert sich vom Blassen zum Rötlichen. „Es tut mir trotzdem leid, dass er tot ist. Er ist, war …, ist … ja irgendwie mein Bruder.“ Er fasst sich wieder, schließt die Hände wie zum Gebet und sagt: „Er hat uns beide gewaltig betrogen, wir mussten ja damit rechnen, dass er auch die 50 000 für jeden von uns noch beiseite schaffen würde, der ist ja raffiniert, wir haben uns überlegt, dass wir ihn abmurksen müssen, dann sind wir die einzigen Erben. Willi wird ja nicht ewig leben, der ist siebenundachtzig Jahre alt, der ist angeblich krank, obwohl er aussieht wie das blühende Leben, also, wir haben uns überlegt, Johannes ins Jenseits zu schicken und ihm dabei noch ein bisschen wehzutun“, er räuspert sich, „ordentlich wehzutun.“ Er zieht seine Arme zurück, lehnt sich an die Stuhllehne, ist nun wieder entfernt.

Aus dieser Distanz sieht er mich an. In seinem Blick liegt jetzt so etwas wie Überlegenheit. Diesen Blick habe ich schon bei seinem Vater gesehen, als der damals eine halbe Stunde in meiner Praxis war. Eine halbe Stunde, an die ich nicht gern zurückdenke. Ein Blick von oben herab, ein leicht zurückgelehnter Kopf, ein gerecktes Kinn. Willi ist klein, da wirkt dieser Blick angestrengt, Wolfgang ist groß, dennoch liegt Mühe um überlegene Distanz darin.

„Ist Ihnen klar, dass Sie Ihre Schwester gerade sehr belasten?“, frage ich. Und füge hinzu: „Ich bin keine Richterin und auch sonst keine juristische Größe. Warum erzählen Sie mir das? Sie müssten zur Polizei gehen.“

Er lächelt. „Ich will Anne nicht belasten …“ Er schweigt, ich auch. Er blickt mich an, als ginge es um das Kinderspiel: Wer am längsten gucken kann …

„Was wollen Sie dann?“, frage ich nach einer Weile. „Wofür müssen Sie mir erzählen, dass Anne und Sie sich Mordfantasien hingegeben haben, nachdem sie wohl Ihren Bruder ermordet hat?“

„Glauben Sie das?“, fragt er. „Glauben Sie, dass Anne Johannes ermordet hat und dann noch so bestialisch?“

Bestialisch?, denke ich. Wie kommst du auf bestialisch? Was weißt du über den Mord? Jetzt lege ich den Kopf in den Nacken und mustere ihn. „Warum sind Sie zu mir gekommen, Herr Petersen?“, frage ich, und meine Stimme überrascht mich selbst, so kalt ist sie.

„Keine Ahnung“, murmelt er. Leise wie bei einer Beichte, als spräche er zu sich selbst, sagt er: „Es ist scheußlich, dass sie weg ist. Sie ist seit ewigen Zeiten da, in meinem Leben, und sie hat mich immer geliebt. Sie hat mich früher bewundert, das hat sich irgendwann verkehrt. Sie ist zu Ihnen gegangen und hat sogar Willi konfrontiert und überlistet, dass er auch zu Ihnen gekommen ist, sie hat allen erzählt, dass er sie vergewaltigt und missbraucht hat, sie hat das ausgehalten, sie ist daran nicht zugrunde gegangen, das habe ich bewundert. Das könnte ich nie. Und überhaupt! Sie hat eine Arbeit, sie verdient Geld, sie gibt sogar mir immer mal wieder was, sie lädt mich zum Essen ein, ich kann sie immer anrufen, wenn ich bei Ärzten bin, die mich behandeln wie den letzten Dreck, wie geistig unterbelichtet, dann ruf ich sie an, und sie weiß, dass ich nicht geistig unterbemittelt bin, sondern einfach Pech im Leben hatte …“

Er vergräbt den Kopf in beiden Händen. Ich höre zu, schaue ihn an, jetzt ist er gerade vollkommen echt, das ist keine Show. Er blickt wieder hoch. „Ich musste zu irgendjemandem gehen, der wie ein Teil von Anne ist. Sie kommt so lange schon zu Ihnen, sie erzählt so viel von Ihnen, Sie sind wie jemand, der ihr das Leben gerettet hat, ach, wie jemand, der ihr geholfen hat, überhaupt zu leben, und jetzt ist sie weg, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil wir uns immer ausgemalt haben, wie wir die beiden abmurksen können, und jetzt hat sie es vielleicht getan. Ganz alleine.“ Die letzten Worte presst er heraus. Gequält.

Aber ich kann ihm die Schwester nicht ersetzen. Ich kann gar nichts für ihn tun. Als Therapeutin muss ich manchmal unangenehme Wahrheiten aussprechen, und so tue ich es auch jetzt: „Ich fürchte, dass ich nichts für Sie tun kann. Ich würde auch gerne etwas für Ihre Schwester tun, aber ich fürchte, auch da habe ich keine Möglichkeit.“

„Doch!“, widerspricht er heftig. „Für Anne können Sie etwas tun, und ehrlich gesagt, ich finde, Sie sind dazu sogar verpflichtet. Haben Sie mal ausgerechnet, wie viel Geld Anne im Laufe der Jahre zu Ihnen getragen hat? Das ist bestimmt mehr als ein Kleinwagen. Lassen Sie uns mal ausrechnen: zehn Jahre mindestens und ungefähr alle zwei Wochen achtzig Euro, anfangs häufiger, später seltener. Das sind …“ Er denkt viel zu kurz nach für das präzise Ergebnis, das dann herausschießt: „Tausendachthundert pro Jahr, achtzehntausend in zehn Jahren. Und dann noch die Gruppen undsoweiter dazu. Von achtzehntausend hätte Anne sich ein Auto kaufen können, das man einhändig fährt.“ Ich widerstehe dem Drang zu widersprechen. Es gab zwei, drei Jahre, in denen sie nicht zu mir gekommen ist, anfangs war mein Honorar niedriger als achtzig Euro. Das ist alles Unfug. Er hat recht. Anne hat sehr viel Geld an mich gezahlt, jetzt kann ich nicht einfach so tun, als ginge mich das alles nichts an.

Viel wichtiger ist: Sie hat mir ihr Vertrauen geschenkt. Sie hat mir von ihrer Befürchtung berichtet, sie könnte sich vor einen Zug werfen. So kam sie zu mir. „Manchmal wenn ich auf einem Bahnsteig stehe und der Zug fährt ein, habe ich das Gefühl, ich müsste mich vor den Zug werfen. Der Bahnsteig schwankt dann unter meinen Füßen, und ich denke, ich werde hinunterfallen. Ich habe Angst, dass ich es eines Tages tu.“

Das ist alles lange vorbei. Die Arbeit mit Anne war hart, die härteste meines therapeutischen Lebens. Manchmal habe ich gedacht, ich halte es nicht aus. Wochenlang hatten wir einen Kotzeimer im Zimmer stehen, weil sie immer, wenn sie etwas über ihren Vater preisgab oder gar wagte, einen Anflug von Wut zu empfinden, würgen musste und meinte, sie müsste sich übergeben. Damals ging es noch gar nicht um den sexuellen Missbrauch. Damals ging es nur um seine Gewalt, die Schläge, ihre Angst vor ihm.

Ich habe keine Zeit mehr, mich mit Wolfgang zu beschäftigen. Rocco steht schwanzwedelnd neben mir und stupst mich an. Gleich gehe ich mit ihm, dann ruhe ich mich kurz aus, bevor ich die Unterlagen zu den Klienten hervorhole, die ab sechzehn Uhr kommen. Bis zwanzig Uhr muss ich mich auf andere Menschen fokussieren als auf Anne oder Wolfgang. Ich stehe auf und sage: „Tut mir leid, ich muss einen Hundespaziergang machen, und dann geht es hier weiter.“

Er bleibt sitzen. „Sie können mich doch nicht einfach wegschicken. Ich bin aus Kiel extra hierhergekommen. Das geht doch nicht.“

Ich sehe Wut in seinen Augen glimmen. Das ist eine sehr alte Wut, die schwelt schon lange vor sich hin. Eine Nanosekunde lang habe ich Angst vor ihm.

Nächster Hundespaziergang, zweiundzwanzig Uhr. Es umgibt mich eine trockene Kälte, der Himmel ist sternenklar. Wenn ich keinen Hund hätte, würde ich jetzt im Bett liegen und mich wahrscheinlich wälzen, übervoll von Menschengeschichten. Es fühlt sich an, als würde Wolfgang mir im Nacken sitzen.

Wir spazieren durch die kleine Grünanlage an der Apostelkirche, gehen die Sillemstraße zurück, an Odysseus Restaurant vorbei, heute Abend steht der Kellner nicht vor der Tür, um zu rauchen. Im Weinladen sitzen noch zwei Nachzügler. Little Buddha hat schon geschlossen.

Nun stehen wir vor dem Haus, in dem ich seit dem 17. November wohne. Es fühlt sich immer wieder seltsam an, dass dies mein Zuhause sein soll. Unwillkürlich blicke ich mich um. Könnte es nicht sein, dass Max jetzt zu mir kommt, mich in den Arm nimmt und sagt: Komm nach Hause, Süße, da, wo du hingehörst.

Aber ich kann den Schlüssel im Schloss drehen, die Stufen zum ersten Stock hochgehen, der einzige, der bei mir ist, immer bei mir, ist Rocco. Ich wohne im ersten Stock eines Hauses, das Anfang des vergangenen Jahrhunderts erbaut worden ist. Wohne ich? Eher verstecke ich mich wohl. Vor Max. Vor meinem Schmerz. Vor einer Welt, in der alles falsch geworden ist. Trotz allem: Sobald ich die Tür hinter mir schließe, fühle ich mich geborgen.

Ebenso wie Altona war Eimsbüttel zu der Zeit, als dieses Haus gebaut wurde, ein Arbeiterviertel. Die kleinen Wohnungen haben „Arbeiterstuck“. In den hiesigen Dreizimmerwohnungen lebten vor dem Krieg große Familien, nach dem Krieg bot jedes der Zimmer einer Familie ein Zuhause, heute wandelt sich das Viertel in eines für junge, gut verdienende Menschen.

Die Wohnung hat nach vorn ein großes Zimmer, das durch einen Durchbruch aus zwei Zimmern entstanden ist. Nach hinten hinaus liegt die Küche und das kleine Schlafzimmer. Es war für mich als Praxis perfekt. Das Schlafzimmer hatte ich als Wartezimmer eingerichtet, nach vorne liegen mein Beratungs- und mein Arbeitszimmer, wo ich im Zweifelsfall auch im kleinen Rahmen so etwas wie Tanztherapie, besser Bewegungsarbeit, leisten kann. Es war eine großzügige Praxis, in der ich meine Pausen genoss. Manchmal, wenn ich sehr lange gearbeitet hatte, machte ich mir auf dem Schlafsofa, das auch mein Therapiesofa ist, mein Bett und schlief hier. Max konnte das nicht leiden. Er fühlte sich von mir allein gelassen. Das verstand ich. Aber ich fühlte mich von ihm auch oft alleingelassen. Ohne ihn war ich manchmal weniger allein.

Jetzt ist meine Praxis nicht mehr großzügig, und es ist mir sehr peinlich, wenn meine Klienten wahrnehmen, dass ich hier neuerdings wohne. Das kommt mir verdammt unprofessionell vor. Was soll ich ihnen auch sagen: Mein Mann hat mich übelst belogen und betrogen, gleichwohl hänge ich noch an ihm, bin aber ausgezogen, weil ich es nicht ertragen kann, mit ihm unter einem Dach zu leben, hoffe dennoch, alles wird gut?

Ich bin Paartherapeutin!

Ich gehe in die Küche, bereite mir einen Entspannungstee, den ich neben das Bett stelle. Nun brauche ich noch ein Buch. Den Irving habe ich zu Ende gelesen. Vielleicht sollte ich geliebte Bücher doch nicht dreimal lesen.