Mörderische High Heels - Elaine Viets - E-Book

Mörderische High Heels E-Book

Elaine Viets

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Beschreibung

High Heels, Mystery Shopping und ein Mord 
Ein neuer Fall in der High Society für Josie Marcus

Die leidenschaftliche Testkäuferin Josie Marcus hat einen neuen Auftrag: Sie soll die angesagte Schuh-Boutique Soft Shoe in St. Louis unter die Lupe nehmen. Als der Inhaber Mel Poulaine bei ihrem Besuch in dem Schuhgeschäft jedoch ein ungewöhnlich starkes Interesse an ihren Füßen entwickelt, verfasst Josie einen vernichtenden Bericht, der seine Karriere zerstören könnte. Kurz darauf wird Mel ermordet aufgefunden …
Josie ist entschlossen, sich dieses Mal rauszuhalten. Aber als die Tochter ihrer Nachbarin, Cheryl Malmy, verdächtigt wird, beschließt Josie, doch Nachforschungen anzustellen. Kann sie einem Killer ein Bein stellen, der ihr immer einen Schritt voraus zu sein scheint?

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Mord auf High Heels.

Alle Bände der Mord in der High Society-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

Erste Leser:innenstimmen
Elaine Viets hat hier wieder einen Cosy-Krimi der Extraklasse hingelegt.“
„Ein Mord in der Modewelt und zahlreiche Verstrickungen – super unterhaltsam!“
„Fans der Louisa Manu-Reihe von Saskia Louis kommen hier voll auf ihre Kosten.“

„Spannend, humorvoll und mysteriös. Ein toller Krimi für gemütliche Stunden!“
„Josie Marcus bei ihren Ermittlungen zu begleiten war mir eine große Freude.“

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Seitenzahl: 452

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Über dieses E-Book

Die leidenschaftliche Testkäuferin Josie Marcus hat einen neuen Auftrag: Sie soll die angesagte Schuh-Boutique Soft Shoe in St. Louis unter die Lupe nehmen. Als der Inhaber Mel Poulaine bei ihrem Besuch in dem Schuhgeschäft jedoch ein ungewöhnlich starkes Interesse an ihren Füßen entwickelt, verfasst Josie einen vernichtenden Bericht, der seine Karriere zerstören könnte. Kurz darauf wird Mel ermordet aufgefunden … Josie ist entschlossen, sich dieses Mal rauszuhalten. Aber als die Tochter ihrer Nachbarin, Cheryl Malmy, verdächtigt wird, beschließt Josie, doch Nachforschungen anzustellen. Kann sie einem Killer ein Bein stellen, der ihr immer einen Schritt voraus zu sein scheint?

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Mord auf High Heels.

Alle Bände der Mord in der High Society-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

Impressum

Erstausgabe 2006 Überarbeitete Neuausgabe Juli 2022

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-651-2

Copyright © 2006 by Elaine Viets Titel des englischen Originals: High Heels Are Murder

Copyright © 2020, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2020 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Mord auf High Heels (ISBN: 978-3-96817-125-8).

Übersetzt von: Heimo Kreuzer Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von istockphoto.com: © TerryJ stock.adobe.com: © 民凱 江, © Maryia Bahutskaya, © Duncan Andison elements.envato.com: © PixelSquid360 Korrektorat: Dorothee Scheuch

E-Book-Version 03.08.2022, 09:48:33.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mörderische High Heels

Für meine Sohlenverwandten

Kapitel 1

»Josie, bitte, kann ich reinkommen?« Josh küsste ihren Hals und ihr rechtes Ohr. Josie Marcus erwiderte seinen Kuss. Es herrschte eine tiefe Stille, die nur von schwerem Atmen unterbrochen wurde.

»Tut mir leid, Josh. Heute ist ein Schultag«, seufzte sie. »Ich muss um zehn dort sein.«

Josh öffnete die kleinen Perlknöpfe an ihrer Bluse, dann küsste er ihre Brüste obenauf.

»Ich bin auch ganz leise«, versprach er.

Mehr Stille. Mehr Küsse. Mehr Seufzer.

»Meine Mutter ist oben«, entgegnete Josie atemlos. »Sie hat Ohren wie eine Fledermaus.«

»Komm mit zu mir«, sagte Josh. »Da gibt’s keine Fledermäuse, nur ’n großes Bett mit frischen Laken und richtig guten Wein.« Er öffnete den Frontverschluss ihres BHs und sagte: »Oh mein Gott.«

Josie war froh, dass das Licht auf der Veranda aus war. Ihre Knie waren schwach. Wohl deshalb hielt sie sich an Josh fest. »Ich kann nicht«, flüsterte sie verzweifelt. »Es geht um meine Tochter, Amelia. Ich muss für sie zu Hause sein.« Josie schloss ihren BH wieder.

»Wie wär’s mit meinem Auto?«, fragte Josh und küsste sie wieder.

»Das steht unter ’ner Straßenlaterne«, keuchte sie. Wenn er sie so küsste, konnte sie kaum widerstehen.

»Die Scheiben werden bald beschlagen sein«, meinte Josh.

Josie hätte beinahe ja gesagt. Dann sah sie, wie die Vorhänge am Haus gegenüber sich bewegten. Jetzt war ihr heiß, doch die Hitze kam vom Zorn.

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Mrs. Mueller wird uns sehen.«

»Wer«, sagte er zwischen den Küssen, »ist Mrs. Mueller?«

»Die Tratschtante vom Dienst. Sie wird’s meiner Mutter sagen und mein Leben wird zur Hölle.«

»Josie, wie alt bist du?«, fragte Josh.

»Einunddreißig.«

»Warum machen wir auf deiner Veranda rum wie notgeile Teenager?«

»Bist du nicht froh, dass du dich meinetwegen jung fühlst?« Josie riss sich los und knöpfte ihre Bluse zu.

»So fühl’ ich mich nicht«, entgegnete Josh. »Ich kann bald nicht mehr aufrecht stehen. Wir sind zu alt für das hier.«

»Nein, wir sind genau im richtigen Alter«, sagte Josie. »Wenn wir Teenager wären, würden wir wie verrückt vögeln. Nur Erwachsene haben diese Probleme.«

»Josie, bitte lass mich rein.«

»Josh, ich würde wirklich gern, aber ich kann nicht.« Josie steckte sich die Bluse in die Hose. »Wir hätten früher daran denken sollen.«

»Soll das ’n Witz sein? Ich hab den ganzen Abend lang nur daran gedacht, aber ich wollt’ dich wie ’n Gentleman zum Essen ausführen, anstatt dich einfach anzuspringen. Jetzt schau, was es mir gebracht hat.«

Josie lachte. Josh nicht. »Wer zum Teufel ist diese Mrs. Mueller und warum ist sie so wichtig?«, fragte er.

Josie begutachtete ihn im Sternenlicht. Josh war vier Jahre jünger, klug und rattenscharf. Ihre Freundinnen würden ihr nicht glauben, dass sie ihm nein gesagt hatte. Josh hatte das sensible Gesicht eines Dichters, einen gefährlichen Gang und erfahrene Hände. Er wollte als Science-Fiction-Autor durchstarten, doch im Augenblick war Josh noch der beste Barista in Maplewood; er machte sensationelle Espressos und Cappuccinos mit seiner glänzenden Maschine. Wenn Josh mit Josie zusammen war, zog er alle Register.

Sie küsste seine flinken Finger und versuchte, die Beschränkungen zu erklären, die ihrem Leben auflagen. »Mrs. Mueller beherrscht die Nachbarschaft«, sagte Josie. »Sie ist davon überzeugt, dass ich ’n Flittchen bin, und dabei hab ich nichts getan, als ’n paar schlampige Outfits zur Arbeit zu tragen. Wenn ich mit dir ins Auto geh’, hat sie den Beweis. Sie schießt vielleicht sogar Fotos. Sie wird’s meiner Mutter sagen, die zugleich meine Vermieterin und meine Babysitterin ist und daher absolute Macht hat. Es ist Sonntagabend. Ich muss morgen arbeiten und Amelia muss in die Schule. Wenn ich dich reinlasse, wecken wir Mom auf und ich bekomm’s den Rest meines Lebens zu hören. Selbst wenn wir Mom nicht aufwecken, wird Mrs. Mueller mit der Stoppuhr warten. Sie wird die Schatten auf den Fenstervorhängen beobachten und nach den Bettfedern lauschen.«

»Hört sich besessen an«, meinte Josh.

»Mrs. Mueller hat es auf mich abgesehen, seit ich fünfzehn war. Sie hat mich erwischt, als ich hinter ihrer Garage geraucht hab, und hat mich an Mom verpetzt. Ich hab mich revanchiert, indem ich ’ne Tüte Hundekacke auf ihre Veranda gelegt und sie angezündet hab. Mrs. Mueller hat sie ausgetreten.«

Josh brach in schallendes Gelächter aus. »Mrs. Mueller ist auf den Trick mit der höllischen Hundekacke reingefallen?«

»Du findest’s vielleicht komisch, aber sie hat mir nie verziehen. Mein Name ist beschmutzt. Nein, schlimmer als beschmutzt.«

»Warum kümmert’s dich, was sie denkt?« Josh küsste sie so fest, dass sich beinah ihr letztes bisschen Verstand verflüchtigte.

»Es kümmert mich nicht,« meinte Josie, »aber Mrs. Mueller steht allen großen Kirchenausschüssen und Klubs in der Nachbarschaft vor. Sie herrscht über das gesellschaftliche Leben meiner Mutter. Mom meint, die Sonne geht mit dieser furchtbaren Frau auf und unter. Und um’s noch schlimmer zu machen, hat Mrs. Mueller diese perfekte Tochter namens Cheryl. Sie reibt meiner Mutter ständig Cheryls Leistungen unter die Nase, bis Mom kaum noch ihren Kopf hochhalten kann.

Josh, du lebst allein, also ist das schwer zu verstehen. Wenn es nur um mich ginge, würd’s mich nicht kümmern, aber Maplewood ist wie ’n kleines Dorf. Gerüchte über mich schaden meiner Mutter und meiner Tochter.«

»Ich versteh’ sehr wohl«, sagte er. »Es gefällt mir nur nicht.«

»Amelia übernachtet bald bei jemandem. Vielleicht können wir dann zusammenkommen«, sagte Josie.

Josh küsste sie abermals. Sie standen Händchen haltend auf Josies Veranda und sahen sich die klare Novembernacht an. Die alten Platanenbäume raschelten und das Haus knarzte im warmen Wind. Es war eine der berühmten wirren Wetterumkehrungen in St. Louis. In dieser Nacht war es frühlingshafte achtzehn Grad warm, obwohl es hätte frostig sein sollen.

»Schau«, sagte er. »’ne Sternschnuppe. Wünsch dir was.«

Josie sah, wie die Vorhänge sich wieder bewegten.

»Ich wünschte, Mrs. Mueller bekäme, was sie verdient«, meinte Josie. »Ich wünschte, sie müsste sich so sehr schämen, dass sie ihren Kopf in Maplewood nicht mehr hochhalten kann – nein, im ganzen Gebiet von St. Louis. Ich wünschte, sie würde so tief fallen, dass sie zu mir aufsehen muss.«

Josies Wunsch ging in Erfüllung. Jedes Wort davon würde wahr werden.

Und sie würde ein jedes bereuen.

Kapitel 2

Mel hielt Josies rechten Fuß und fuhr mit seinem Daumen langsam über den Bogen. Seine streichenden Finger krochen auf ihre Zehen zu. Josie versuchte, nicht wegzuzucken.

»Rosa Nagellack ist so feminin«, säuselte Mel.

»Danke«, gab Josie zurück.

Igitt, dachte sie. Ich darf meinen Fuß nicht von diesem Perversling wegziehen. Ich muss so tun, als ob mir das gefällt. Ich hab ’nen Auftrag zu erfüllen. ’n toller Job – meinen Fuß von ’nem Freak begrapschen lassen. Wenn meine Mutter das wüsste, würd’ sie an die Decke gehen. Was, wenn meine Tochter das rausfinden würde?

Wie sollte Amelia das denn rausfinden?, fragte Josies verstohlene Seite. Von dir etwa? Gott bewahre deine Tochter davor, dass sie so ihr Geld verdienen muss.

Mel hatte den spitzen roten Prada-Schuh von Josies anderem Fuß gezogen und begutachtete ihn genau. Sah er sich die Nähte an oder schnüffelte er an ihrem Schuh? Josie drehte sich der Magen um.

Mel hörte damit auf, ihren in Strümpfe gekleideten Fuß zu streicheln und setzte ihn sachte auf seinem abgeschrägten Schemel ab. Sie versenkte ihn in der weichen Polsterung. Wäre es doch nur Josh, der ihr den Fuß massierte. Wäre Josie doch nur nicht im Soft Shoe, dem exklusiven Retro-Schuhladen in St. Louis.

Der Soft Shoe war eine genaue Kopie eines Damenschuhgeschäfts aus den 1950er Jahren mit puderrosa Deko und Verkaufsangestellten, die auf altmodischen, abgeschrägten Schemeln saßen, einem die Schuhe auszogen und dann haufenweise Stilrichtungen zum Anprobieren herbeischafften. Der Laden war der Traum eines jeden Schuhliebhabers.

Mel war sein Albtraum. Er ekelte Josie an, und sie wusste nicht, warum. Er war schlank und gut gekleidet und trug einen wunderschön geschneiderten grauen Anzug. Vielleicht war es die rosa Nelke in seinem Knopfloch. Er sah damit aus wie ein altbackener Gigolo. Mel trug zu viel Herrenparfüm und seine sorgfältig geschnittenen Haare waren etwas ölig. Das war es. Mel war ölig. Sein Gehabe, seine Haare, selbst seine manikürten Hände waren ein wenig ölig und er rieb sie andauernd.

»Ich sehe, dass Sie Qualität zu schätzen wissen«, sagte Mel. »Prada ist gut gemacht. Und sexy obendrein. Ordentlich Zehendekolleté – das gefällt den Herren. Intelligente Frauen wissen das.«

Viele intelligente Frauen wussten nicht, was das war – oder kümmerten sich nicht darum; Zehendekolleté, die Furche zwischen dem großen Zeh und dem zweiten. Mels Hände jedoch wurden feucht, während seine Augen sich auf das kleine Tal zwischen ihren Zehen zubewegten. Josie wünschte, sie trüge die schwarzen Schnürschuhe ihrer Großmutter von Enna Jettick, die ihre Füße komplett verdecken würden, außer, dass die Mel womöglich erst recht erregen würden.

»Sie haben es auf einen Stöckelschuh abgesehen?« Mel lächelte. Ihm fehlte nur noch ein strichdünner Oberlippenbart.

»Ja«, antwortete Josie. »Etwas Besonderes.« Sie erwiderte sein Lächeln. Sie hoffte, dass sie gewinnend aussah und nicht, als ob ihr die Füße wehtaten.

»Ich kenne alle Stilrichtungen, die den Herren gefallen und mit denen Frauen sich schön fühlen«, sagte Mel.

Mel war der landesweit beste Verkäufer bei Soft Shoe, doch die Firma vermutete, dass Mel Schuhe ein wenig zu sehr mochte. Die Geschäftsleitung befand sich in einer prekären Lage. Sollte sie Mel zu Unrecht beschuldigen, könnte er Soft Shoe verklagen, und obendrein würde die Firma ihren besten Verkäufer verlieren; war Mel jedoch tatsächlich ein Fußfetischist und die Firma ließe ihn auf die Kunden los, gäbe es einen furchtbaren Skandal – und noch mehr Klagen. Aus diesem Grund hatten die von Soft Shoe Josies Firma, Suttin Services, damit beauftragt, einen Testkauf im Laden in St. Louis durchzuführen und Mel unter die Lupe zu nehmen.

Harry, Josies Chef, hatte ihr den Auftrag wie folgt übergeben: »Die von der Firma wollen, dass du nach einem Verkäufer namens Mel fragst«, hatte er gesagt. »Er steht auf Damenfüße – du verstehst schon.«

»Du willst, dass ich einen Perversling ausspioniere?«, hatte Josie nachgefragt.

»Er ist nicht gefährlich, Josie«, meinte Harry. »Im schlimmsten Fall massiert er dir die Füße. Könnte deinen müden Zehchen doch guttun. Hör zu, dieser Mel ist vielleicht gar nicht, was die glauben. Man hat bei der Firma ’n bisschen Verdacht geschöpft, das ist alles. Er ist ’n Schuhverkäufer, der sich ’n wenig zu sehr für Damenschuhe interessiert.«

»Ist er ’n Fuß- oder ’n Schuhfetischist?«

»Beides, glaub’ ich«, antwortete Harry. »Zumindest haben sie über beides Beschwerden bekommen. Wie zur Hölle sollte ich das wissen? Ich bin kein Freak.«

Josie hatte gemeint, die Sache stehe zur Debatte, doch nicht jetzt.

»Schau, es gab ein paar Beschwerden von weiblichen Kunden und sie wissen nicht, wie ernst sie die nehmen sollen. Frauen spinnen manchmal – weißt du, was ich meine?«

Josie hatte ihren Chef nicht auf seine sexistische Bemerkung hingewiesen. Harry war ein hoffnungsloser Fall. Außerdem bekam Josie einen Bonus für besondere Aufträge und als Testkäuferin verdiente sie ohnehin nicht viel. Nun aber, da Mel auf seinem abgeschrägten, rosa Schemel saß und über ihre Füße triefte, fragte Josie sich, ob es das extra Geld wert war.

»Warten Sie hier«, sagte Mel. »Ich bin gleich wieder da.«

Mel trat mit einem seltsam gebückten Gang durch die rosa Vorhänge in den Hinterraum. Bis jetzt hab ich nichts Verdächtiges zu berichten, dachte Josie. Was sollte ich sagen? Er hat meinen Fuß etwas länger als üblich gehalten? Er hat mir in anzüglicher Weise über den Bogen gestrichen? Da hör’ ich mich ja bekloppt an. Ich hab nichts außer meinem Gefühl, dass mit Mel was nicht stimmt.

Andererseits musste es anderen Frauen genau so ergangen sein, sonst wäre Josie jetzt nicht dort gewesen. Sie musste weiter Schuhe anprobieren, bis sie sich sicher war. Das war sie ihren Sohlenverwandten schuldig, ebenso wie der Firma.

Josie konnte ihren Testkauffragebogen nicht in den Laden mitnehmen, doch sie kannte die Fragen auswendig. Im Moment bekam Mel die volle Punktzahl. Hatte er sie herzlich begrüßt, als sie den Laden betreten hatte? Hatte er sich auf positive Weise vorgestellt und den Namen des Ladens erwähnt? Hatte er sie umgehend bedient? Hatte er ihr angeboten, die gehobene Ware vorzuzeigen? Ja, ja und ja.

Da war er nun, schleppte Schuhkartons bis zum Kinn aufgestapelt. Aus den Lautsprechern erklang The Big Bopper, der von Chantilly-Spitzen und einem hübschen Gesicht sang. Josies Mutter hatte zu dem Lied getanzt, als sie jung gewesen war.

»Ich hab ein freches paar Bruno Maglis mit offenen Zehen.« Mel nahm den Deckel des Schuhkartons mit einer darbietenden Bewegung ab.

Josie sah sich die Schuhe an. Sie waren niedlich. Hätte sie sich dreihundert Dollar für Schuhe leisten können, hätte sie sie gekauft. Zumindest wurde sie dafür bezahlt, sie anzuprobieren.

»Die mag ich«, sagte sie. »Aber ich hab die falschen Strümpfe an. Meine haben verstärkte Fußspitzen.«

»Woher haben die Frauen die Idee, dass den Männern verstärkte Fußspitzen nicht gefallen?«, fragte Mel, während er Josie die Schuhe anzog. Auf seiner Stirn war Schweiß ausgebrochen, obwohl es in dem Laden nicht warm war. Er wischte ihn mit einem seidenen Taschenquadrat ab.

»Einige von uns Männern sehnen sich nach der guten alten Zeit, als Frauen noch Strümpfe mit verstärkter Ferse und verstärkter Fußspitze trugen«, meinte Mel. »Leider haben Strumpfhosen alles verdrängt. Die sind so orthopädisch. Die Frauen haben ihren Gefallen an Stöckelschuhen verloren. Warum tragen die Frauen keine Absätze mehr wie in den Fünfzigern und den Sechzigern?«

»Weil die wehtun«, antwortete Josie. Sie musste im Zuge ihrer Arbeit als Testkäuferin auf Absätzen zig Meilen durch die Einkaufszentren zurücklegen. Bleistiftabsätze waren eine Tortur.

»Aber Absätze schmeicheln der Wade und dem Bein so. Ich möchte meinen, die Frauen würden etwas Unbehagen hinnehmen, um attraktiv zu wirken«, sagte Mel.

»Humpeln ist unattraktiv«, erwiderte Josie und fragte sich, ob sie mit ihrer Bemerkung gegen Absätze ihre Deckung verloren hatte. »Ich nehm’ die Bruno Maglis.«

»Darf ich Ihnen einen D’Orsay-Pumps von Kenneth Cole zeigen?« Mel flehte sie praktisch auf Knien an, als er den türkisen Schuh mit den offenen Seiten hervorholte.

»Klar doch.«

Mel ließ ihre Füße in das Paar gleiten. Josie stand auf und machte ein paar Schritte auf den langen Spiegel zu. Der seitlich offene Schuh war zweifellos sexy. Ihre Beine sahen umwerfend aus.

»Hinreißend«, sagte Mel. »Ich bin gleich wieder da.« Er verschwand erneut mit der seltsam gebückten Haltung hinter den rosa Vorhängen.

Josie seufzte. Sie würde den ganzen Tag lang hier sein und nichts vorzuweisen haben als malträtierte Füße. Falls Mel sich ungebührlich verhielt, hatte sie ihn nicht dabei erwischt.

Mel kam einige Minuten später mit einem weiteren schwankenden Stoß Schuhkartons zurück. »Ich hab einen wunderschönen Slingback mit Stiletto-Absatz«, sagte er. »Und eine absolut bezaubernde Sandalette mit Knöchelriemen.«

Mel öffnete die Kartons wie ein Höfling, der seiner Königin Juwelen präsentiert. Josie probierte sie an und wünschte sich, sie trüge sie für Josh und nicht für Mel. Nach beinah einer Stunde saß sie knietief in einem Durcheinander aus abgelehnten Schuhen. Sie konnte in ihrem Bericht nur schreiben, dass Mel mehr Zeit mit ihr verbracht hatte als üblich, und dass es für ihn keine verschwendete Zeit war. Sie kaufte drei Paar Schuhe – Ware im Wert von fast eintausend Dollar – glaubte er zumindest.

Verdammt, ich muss nochmal hierher, dachte Josie. Vielleicht find’ ich dann heraus, warum Mel mir gegen den Strich geht. Mit dem Kerl stimmt irgendwas nicht. Ich wünschte, es würde mir einfallen.

»Diese alten Schuhe wollen Sie nicht mitnehmen.« Mel zeigte auf ihre roten Stöckelschuhe.

Doch, dachte Josie, weil ich alles, was ich heute hier gekauft hab, in einem anderen Soft Shoe zurückgebe, im Plaza Frontenac. Josie würde diese wunderschönen Schuhe nicht behalten dürfen. Kürzlich erworbene Artikel in einem weiteren Laden zurückzugeben war eine der weniger glamourösen Aufgaben einer Testkäuferin, aber eine effektive Art und Weise, den Kundendienst zu überprüfen.

»Doch, die möcht’ ich mitnehmen«, entgegnete Josie.

Mel sah traurig aus, genauso wie ihre Pradas aus dem Gebrauchtwarenladen. Waren sie wirklich so abgenutzt? Komisch, wie Schuhe, die attraktiv gewirkt hatten, als sie in den Laden gekommen war, abgewetzt und staubig aussahen, als sie neue gekauft hatte.

»Dann lassen Sie mich sie für Sie putzen«, meinte Mel.

Zumindest bekomm’ ich meine Schuhe gratis saubergemacht, dachte Josie. Das bleibt mir.

Bevor sie etwas sagen konnte hatte Mel ihre Schuhe in der Hand und ging mit diesem seltsam gebückten Gang auf die rosa Vorhänge zu. Er erinnerte sie an Josh, wie er gestern Abend auf ihrer Veranda gestanden hatte.

Plötzlich wusste Josie, was der Verkäufer mit ihren unschuldigen Pradas vorhatte. Sie rannte auf den Hinterraum zu, riss die rosa Vorhänge auf und erwischte Mel, der wie ein halbwüchsiger Junge hinter einem Stoß Schuhkartons kniete.

»Finger weg von dem Schuh, Sie Tunichtgut!«, donnerte sie und entriss ihren noch keuschen Prada-Schuh seinen Klauen.

Josie hatte ihn. Nach ihrem Bericht würde Mel nie wieder einen Pumps missbrauchen.

Kapitel 3

»Du hast ihn also auf frischer Tat mit deinem Schuh erwischt«, sagte Harry.

Josies Chef grinste wie ein verrücktes Wiesel. Er wollte, dass Josie die Geschichte wieder und wieder erzählte. Er machte ihr beinah so viel Angst wie Mel.

»Erklär mir das mit dem Zehendekolleté nochmal«, forderte Harry.

»Bitte«, entgegnete Josie. »Ich versuch’s zu vergessen. Die Details stehen in meinem Bericht. Lies ihn. Ich hab meinen Schuh vor ’nem Schicksal bewahrt, das schlimmer ist als der Tod.«

Harry lachte. Es war ein wildes, schnatterndes Geräusch, wie der Paarungsruf eines Tieres auf dem Discovery Channel. Josie hoffte, dass nicht etwas Großes, Übelriechendes und Verliebtes bei Suttin Services zur Bürotür hereingaloppiert käme.

»Setz dich doch«, sagte Harry, als sein Lachen endlich erstickte.

Josie ließ sich in den mitgenommenen Holzstuhl fallen, der seinem Schreibtisch gegenüberstand. Er schwanke gefährlich, dann neigte er sich zur Seite. Harry brachte seine Testkäufer gern aus der Balance. Sie fragte sich, ob er wohl ein Stuhlbein kurzgesägt hatte.

»Hast du Mel wirklich ’nen Tunichtgut genannt?«, fragte Harry. »Woher hast du das denn? So redet doch niemand. In welchem Jahrhundert lebst du?«

»Der Soft Shoe war so retro, dass es zu passen schien«, antwortete Josie. »Über die Lautsprecher kamen Buddy Holly und The Big Bopper. Der Laden war in diesem damenhaften Puderrosa ausstaffiert. Es ist mir einfach in den Kopf geschossen. Wie würdest du Mel denn nennen?«

»’n Arschloch«, meinte Harry. Von der Nordseite seines Schreibtisches glitt ein Haufen gelbes Papier ab wie ein Erdrutsch.

»Wie geschmackvoll«, sagte Josie.

»Hey, passt doch wie der Schuh zum Fuß«, meinte Harry. »Ich hab schon von Kerlen wie ihm gelesen, aber ich hab nicht geglaubt, dass es die wirklich gibt.«

Die meisten Leute würden auch nicht glauben, dass es Harry wirklich gab. Er sah aus wie ein Troll aus einem Märchen – aus Grimms Märchen. Er war haarig wie sein Name. Er hatte Haare auf dem Kopf, in den Ohren und in der Nase. Aus den Gliedern seiner Finger sprossen Haare wie Unkraut in den Rissen im Bürgersteig. Fett war er auch. Harry machte die Atkins-Diät, doch er würde nie ein Vorzeigeschüler für den Plan sein. Er ignorierte die meisten von dessen Richtlinien, außer der bezüglich des Fleischverzehrs. Harry hatte immer etwas Gebratenes in der Hand, wenn Josie ihn bei Suttin Services sah. Zu jedem Telefongespräch gehörten Mampf- und Schlürfgeräusche, die schlimmer waren als das, was man zu sehen bekam.

Heute knabberte Harry an einer Truthahnkeule, die glänzte, während er redete. Seine Finger und seine gummiartigen Lippen waren fettverschmiert und glänzten ebenso. Während er sich den Mund vollstopfte, sabberte Harry über einem Katalog von Omaha Steaks, wie andere Männer es über einem Ausfalter im Playboy tun würden. Die Überschrift von Omaha wirkte beinah pornografisch:

Dicke zarte Clubsteaks.

»Sieh dir diese Schönheiten an«, sagte Harry. »Mann, wenn ich solches Fleisch in die Finger kriegen könnte, würden die Pfunde nur so von mir purzeln.«

Josie sah sich das üppige, saftige Fleisch an. Es schien auf dem Papier zu pulsieren. »Menschensrind, vier Zweihundertfünfundzwanzig-Gramm-Clubsteaks für siebenundsechzig Dollar«, las sie.

»Hey, das ist weniger, als man im Restaurant bezahlt«, meinte Harry an einem Mundvoll zerbissener Pute vorbei. »Wie wär’s damit? Vier Zweihundertfünfundzwanzig-Gramm-Hochrippenstücke für dreiundsiebzig Dollar? Vier von diesen Schätzchen, halbgar. Mann, so lässt sich’s leben. Du meintest was von gutem Geschmack? Hier hast du gefüllte Filet Mignons mit Blauschimmelkäse, Shiitake-Pilzen und –«

»Harry, du wolltest mich sprechen?«, fragte Josie.

»Ja. Wollte nur sagen: ›Gut gemacht.‹ Du kriegst deinen Bonus.« Harry überreichte Josie einen Briefumschlag. Sein Lächeln glänzte vor Zufriedenheit und Truthahnfett. Sie hatte das Soft-Shoe-Problem mit nur einem Besuch gelöst.

Josie war klüger, als dass sie Harry vertraut hätte. Er hatte sie schon einmal hintergangen. »Danke«, sagte sie und ließ den Umschlag in ihrer Handtasche verschwinden.

»Selbstverständlich halten wir deinen Namen geheim.« Schlürf. Mampf. Er riss über zehn Zentimeter Fleisch von der Truthahnkeule.

»Du musst noch bei den anderen drei Soft-Shoe-Läden einkaufen, aber Mel ist Geschichte«, meinte Harry. »Man hat ihn rausgeschmissen. Er hat heute Nachmittag die Kündigung gekriegt.«

»Gut. Das hat er verdient.« Manchmal fühlte Josie sich schuldig, wenn sie wusste, dass ihr schlechter Bericht einem unterbezahlten Arbeiter Ärger bereiten würde, doch diesmal nicht.

Harry machte sich wieder daran, über seinen Katalog zu sabbern, und Josie wusste, dass sie gehen konnte.

Sie war froh, aus Harrys staubigem, stickigem Büro raus zu sein und in den frischen Novembertag hinauszutreten. Josie bahnte sich ihren Weg an den Schlaglöchern im Parkplatz von Suttin vorbei, fand ihren anonymen, grauen Honda und ließ sich auf dem ausgeleierten Sitz nieder.

»Den Umschlag, bitte«, sagte Josie und riss ihren Bonus auf. Darin befand sich eine knackige Fünfzig-Dollar-Note. Sehr schön.

Josie wünschte, sie könnte ihrer Mutter von ihrem Triumph erzählen. Sie wünschte, Jane wäre stolz auf sie, doch ihre Mutter wäre entsetzt darüber, wie Josie Mel den Fußfasser erwischt hatte. Es würde nur Janes Meinung bestätigen, dass Josie ihr Leben ruiniert hatte.

In Janes Welt spionierten junge Frauen keinen schleimigen Schuhverkäufern nach, ja, sie arbeiteten überhaupt nicht, es sei denn, dass sie sich freiwillig einem Ausschuss für einen guten Zweck zur Verfügung stellten. Jane hatte dieses vornehme Luxusleben leider verloren, als ihr Mann sie verlassen hatte. Sie hatte viele lange, fade Jahre bei einer Bank gearbeitet, um Josies Schulbildung zu bezahlen. Zu Janes Plan für ihre kluge Tochter gehörten ein College-Abschluss, ein Haus in der Vorstadt, ein Anwalt, Arzt oder beides als Ehemann und eine Mitgliedschaft im Countryclub.

Josie sollte Janes unterbrochenes Leben weiterführen.

Josie hatte diese Hoffnungen in jener Nacht zerstört, als sie hundert Kerzen angezündet und Amelias Vater einen Margarita-Krug zubereitet hatte. Sie bekam ein Kind und er bekam Knast.

Aber, bei Gott, was für eine Nacht, dachte Josie. Wenigstens hab ich mich mit Stil ruiniert. Josie fand nicht, dass diese Nacht ein Fehler gewesen war. Sie mochte ihr Leben als Testkäuferin. Sie liebte ihre Freiheit und ihre Tochter mit gleicher Intensität.

Wenn Mom doch nur verstehen könnte, dass ich glücklicher bin, so, wie ich bin, dachte Josie. Wenn Mom doch nur stolz auf mich wär’. Doch das würde nie passieren.

Josie hatte Achtung vor ihrer Mutter. Jane war gutes Ansehen heilig, doch sie hatte zu ihrer schwangeren, unverheirateten Tochter gestanden. Sie war verrückt nach Amelia, ihrer Enkelin. Sie stand Josie als Notfallbabysitterin bei. Jane ließ sie und Amelia zum verbilligten Mietpreis im Erdgeschoss ihres Zweifamilienhauses wohnen. Sie hatte ihrer Tochter jedoch nie wirklich vergeben. Gelegentlich flackerte Janes Ärger über ihre zunichte gemachten Pläne auf, wie einen das Rheuma packte.

Nur eine Frau konnte Josies besonderen Augenblick mit Mel verstehen – ihre beste Freundin. Alyce Bohannon wohnte in Wood Winds und hatte einen Mann, der Anwalt war und bis spät arbeitete, einen pausbackigen kleinen Jungen und ein Wohnzimmer, das in die Architectural Digest gehörte. Alyce hatte alles, was Josie haben sollte, außer einem aufregenden Leben.

Alyce kam bei manchen von Josies Testkaufaufträgen mit, weil ihr perfektes Dasein sie langweilte – eine Ironie, die Josies Mutter nie auffiel.

Josie rief ihre Freundin per Handy an. »Du wirst nicht glauben, was heute passiert ist«, sagte sie.

»Da bin ich mir sicher«, meinte Alyce. »Hast du Hunger? Schon zu Mittag gegessen?«

»Ich hab Harry dabei zugesehen, wie er ’ne Truthahnkeule auseinandergenommen hat«, entgegnete Josie. »Ich hab den Appetit verloren.«

»Der Kerl ist echt widerlich«, sagte Alyce. »Du musst was Ordentliches essen. Ich mach’ uns ’nen guten Salat, schieb’ ’n paar frische Brötchen ins Rohr und mach’ ’ne Flasche Wein auf. Komm her und erzähl mir alles.«

Alyce lebte am Rande von West County, einem der neuesten und reichsten Abschnitte des Stadtgebiets. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ihre Siedlung noch aus Wäldern und Farmen bestanden. Josie fuhr über die kurvigen Seitenstraßen nach Wood Winds und wich dabei den dürren Ästen der Bäume aus, die nach ihrem Auto langten. Etwas Kleines, Graues mit einem haarlosen, rosa Schwanz lief vor ihren Honda. Josie bremste scharf, ihr Herz raste. Hatte sie das Viech erwischt? Sie sah keinen kleinen, plattgedrückten Kadaver auf der Straße, auch keinen blutigen Matsch an der Stoßstange. Josie seufzte vor Erleichterung und startete die Zündung wieder.

Alyce liebte es, Josie von den bezaubernden Wildtieren zu erzählen, die sie nahe ihrem Haus gesehen hatte – Rehkitze, braune Baumwollschwanzkaninchen, herumtollende Waschbären. Josie sah nie eines dieser Disney-Tiere. Für sie war der Wald ein einsamer Ort mit grauen, rattenhaften Viechern und Bäumen mit Ästen wie tote Klauen. Sie erinnerten sie an Serienmörder, flache Gräber und Horrorfilme.

Ich bin ein Stadtkind. Ich brauch’ Beton unter den Füßen.

Der gelangweilte Wachmann von Wood Winds winkte Josie durch das Tor. Sie fuhr durch ein weiteres Tor auf die Einfahrt von Alyces im Tudorstil gehaltenem Anwesen. Selbst die Fachwerkgarage hatte Fenster mit Mittelpfosten. Josie gab das Drei-Klopf-Signal an der Seitentür.

»Hereinspaziert!« Alyce kam ihr an der Tür mit einem Glas Weißwein entgegen. »Trink«, befahl sie und gab Josie ein dickes, kaltes Glas. »Setz dich.«

Josie gehorchte. Beim Anblick der Vollkommenheit von Alyces Zuhause überkam sie immer eine gewisse Verblüffung. In Josies Stadthaus waren die Böden schief und durchgebogen, die Gipswände hatten Risse und das Gebälk war mit dicker, alter Farbe bedeckt.

Alyces Haus strahlte vor Neuheit. Alles war frisch, sauber und glänzend. Die Küche war mit kräftigem, feinem Eichenholz vertäfelt und mit kupfernen Töpfen behängt. Die Luft duftete nach backenden Brötchen und frischem Kaffee. Alyce stand an einer Kochinsel mit Granitoberfläche, die so groß war wie die Bermuda-Inseln, und schnitt Erdbeeren für den Salat.

Josie zog einen schmiedeeisernen Stuhl heran. Sie wusste, dass sie Alyce keine Hilfe anzubieten brauchte. Josie konnte die meisten der Williams-Sonoma-Geräte in Alyces Küche gar nicht bedienen. Von der Hälfte davon hatte sie noch nicht einmal gehört. Josie hatte gedacht, die Mandoline aus Edelstahl sei ein Musikinstrument, kein ausgefallenes, französisches Schneidegerät. Sie hatte noch nie zuvor ein Brotblech gesehen und hatte bisher ohne den Marmormörser mit dem Pistill aus Buchenholz von Carrara überlebt, von denen Alyce schwor, sie seien »unverzichtbar, um Kräuter und Gewürze zu zerstampfen«. Die Gewürze, die Josie im Supermarkt in Dosen kaufte, schienen ihr gut genug gemahlen zu sein.

Die Küche war Alyces persönlicher Himmel und sie die goldhaarige Göttin. Alyce ging nicht. Sie schwebte wie auf einer Wolke. Sie war fünfzehn Zentimeter größer als Josie und gut gebaut, besaß aber eine überirdische, gleitende Art zu gehen. Selbst ihre feinen, seidenen, blonden Haare schienen zu schweben.

»Na dann, erzähl mir, was passiert ist«, sagte Alyce.

Sie ordnete zwei Haufen Spinatsalat, vollgestopft mit Ziegenkäse, karamellisierten Zwiebeln, Walnüssen und Erdbeeren auf kobaltblauen Tellern an. Die Brötchen waren heiß. Der Wein war kalt. Josie knabberte, nippte und sprach darüber, wie sie Mel geschnappt hatte.

Als sie fertig war, meinte Alyce: »Josie, von der Geschichte läuft mir ’n Schauer den Rücken runter. Ich will nicht mal an den Widerling denken. Ich hab in dem Laden Schuhe gekauft. Ich frag’ mich, ob er mich bedient hat.«

»Daran würdest du dich erinnern«, versicherte Josie ihr.

»Gott sei Dank hast du ihn erwischt«, sagte Alyce. »Aber wie kannst du die Prada-Schuhe tragen, nach dem, was Mel mit ihnen anstellen wollte?«

»Ich hab keine große Wahl«, meinte Josie. »Die gehören zu meiner Modeopfer-Verkleidung.«

»Hast du keine Angst, dass Mel sich an dir rächt?«, fragte Alyce. »Wegen dir wurde er gefeuert. Er muss stinksauer sein.«

»Harry will meinen Namen und meine Adresse geheimhalten«, sagte Josie.

»Ha. Wir wissen doch, wie schnell dein Chef dich letztes Mal hintergangen hat, als es Ärger gab«, erwiderte Alyce.

»Harry ist ’ne feige Ratte,« meinte Josie, »aber wegen ’nem Schuhverkäufer mach’ ich mir keine Sorgen. Außerdem ist’s damit vorbei.« Sie sah auf die Uhr. »Und es ist zwei Uhr. Ich muss Amelia von der Schule abholen. Vielen Dank für ein bisschen Freundlichkeit an so ’nem schäbigen Tag.«

»Ich weiß die Spannung zu schätzen«, sagte Alyce. Sie klang verträumt, doch Josie wusste, dass Alyce nicht in einer Welt ohne Knoblauchschäler leben konnte.

Josie schaffte es zurück zur Clarkson Road, ohne dass irgendwelche Tierchen sich unter ihr Auto warfen. Sie hatte eine halbe Stunde Zeit, zur Barrington School for Boys and Girls zu kommen. Josie hatte eines mit ihrer Mutter gemeinsam. Sie wollte das Beste für ihre Tochter. In ihrem Fall war das Beste die Barrington School. Amelia war als Stipendiatin dort.

Josie wartete auf der langen Einfahrt, bis sie mit dem Auto vor die Schule kam und die Direktorin »Amelia Marcus« rief. Amelia kam zur Tür der Schule herausgelaufen, ihre glatten schwarzen Haare flogen ihr hinterher. Ihre Schnürsenkel waren offen, doch Josie war sich nicht sicher, ob das gerade so in Mode war, oder ob ihr Kind einfach schlampig war. Sie sah ihrer Tochter gerne zu, wenn sie sich bewegte. Sie hatte die körperliche Zuversicht ihres Vaters und seine hohe Intelligenz. Amelia hatte alles außer seinem Talent für Sprachen geerbt, und Josie war froh darüber. Wenn Nate nicht so gut Spanisch gekonnt hätte, säße er jetzt vielleicht nicht im Gefängnis.

Amelia ließ sich in den Autositz fallen und zog ihren Rucksack hinter sich herein.

»Na, was hast du heute bei der Arbeit gemacht, Mom?«, fragte sie. Ihre Art, auf erwachsene Unterhaltungsweise umzuschalten, amüsierte Josie, doch sie antwortete immer ernsthaft.

»Ich hab bei Soft Shoe eingekauft. Hab den Tag damit verbracht, Designerschuhe anzuprobieren«, sagte Josie.

»Cool«, meinte Amelia. Mit diesem Wort drückte sie ihre Zustimmung am liebsten aus. »Durftest du welche behalten?«

»Nein, ich musste sie alle zurückgeben.« Josie lenkte das Auto die lange Einfahrt der Schule hinunter.

»Ätzend«, sagte Amelia.

»Das ist es«, meinte Josie. »Besonders wegen den Bruno Maglis mit den offenen Zehen.«

Auf dem ganzen Weg nach Maplewood unterhielten sie sich übers Schuhekaufen. Als sie von der Manchester Road auf ihre Straße abfuhren, rollte Amelia das Fenster runter und winkte energisch einem schlanken Mann in seinen kräftigen, frühen Siebzigern zu. Er war groß und leicht gebückt mit einer langen Nase und schönen grauen Haaren auf dem Kopf. »Da ist Jimmy. Grandma geht mit ihm aus«, sagte Amelia.

»Für dich heißt das Mr. Ryent, Amelia. Grandma meint, er ist nur ein Freund.«

»Ich hab gesehen, wie sie sich gestern Abend auf der Veranda geküsst haben«, entgegnete Amelia.

Ach, ist das so?, dachte Josie. Diese Information könnte ihr später nützlich sein. Sie fragte sich, ob ihre neugierige Nachbarin, Mrs. Mueller, ihre Mutter auch beobachtet hatte. Dann erinnerte Josie sich, dass sie eigentlich die Elternrolle hatte.

»Warum warst du nicht im Bett, junge Dame, anstatt deine Großmutter auszuspionieren?«

»Ich hab nicht spioniert. Die zwei haben mich aufgeweckt«, erwiderte Amelia. »Sie redeten und lachten voll laut. Ich hab aus dem Fenster geguckt und sie gesehen. Mr. Ryent meinte, Grandma hat ’ne Haut wie ’ne Rose, dabei hat sie so viele Falten, Mom.«

»Es gibt verschiedene Arten der Schönheit, Amelia«, erklärte Josie. »Die Schönheit einer reifen Frau ist etwas Besonderes, genau wie ein Mann, der sie zu schätzen weiß. Es ist schön, dass Mr. Ryent so romantisch ist.«

»Er meinte, er will sie zum Bowlen ausführen. Er sagte, dass er noch zwei gute Kugeln hat. Grandma fand das witzig. Warum ist das witzig, Mom?«, fragte Amelia.

»Ich weiß nicht«, antwortete Josie und biss sich auf die Innenseite der Wange, um nicht zu lachen. »Ich bowle nicht.« Na ja, das zumindest war wahr.

Als sie vor ihrem Haus parkte, sah Josie, wie die Vorhänge bei Mrs. Mueller zu Hause sich bewegten und winkte, ohne nachzudenken.

Mrs. Mueller winkte nicht zurück.

Kapitel 4

»Mrs. Muellers Tochter Cheryl hat heute ihre Mutter besucht«, sagte Jane.

Josie bereitete sich vor. Sie wusste, was auf sie zukam – eine weitere Ausgabe der Super-Cheryl-Nachrichten. Jane nahm einen Ausdruck benommenen Neides an, wenn sie über Cheryl sprach, als ob sie von den Abenteuern einer Heiligen oder einer Superheldin erzählte. Ihrer Mutter zufolge war Cheryl beides.

Josie hatte die Super-Cheryl-Nachrichten über sich ergehen lassen müssen, seit sie sieben Jahre alt gewesen war. Da waren sie und Jane gerade nach Maplewood gezogen.

Josie war die Neue in einer fremden Nachbarschaft. Es war, als habe sie sich verlaufen. Sie kam mitten im Schuljahr in eine neue Schule und kannte niemanden. Ihr großes, helles Haus in Ladue, das so viele Zimmer hatte, dass Josie sie nicht zählen konnte, gab es nicht mehr. Jetzt wohnten Josie und ihre Mutter im Obergeschoss in einer knarzigen Wohnung mit fünf Zimmern. Eine alte Frau, die nach Mottenkugeln roch und den Fernseher immer zu laut laufen ließ, wohnte im Untergeschoss, doch sie konnten sich nicht beschweren, weil sie die Miete pünktlich zahlte. Josies Mutter weinte jede Nacht, wenn sie dachte, dass Josie schlief. Josies Dad war mit seiner neuen Frau nach Chicago gezogen. Er rief nie an, nicht mal an ihrem Geburtstag.

Cheryl war sieben gewesen, genau wie Josie. Sie wohnte im größten Haus in der neuen Nachbarschaft. Es war ein dreistöckiges Backsteinhaus mit einer Veranda um das ganze Gebäude. Josie wusste, dass Cheryl zu den coolen Kids gehörte. Selbst nach einem Tag in der Schule hatte Cheryls rosa Rüschenbluse keine Falten. Ihre weißblonden Haare waren glatt wie die eines Models in der Seventeen.

Josies einfache braune Haare standen in sechs Richtungen ab, ihr Hemdzipfel war ihr aus der Hose gerutscht und ihre Socken hatten sich in ihre Schuhe hinuntergerollt. Sie zog sie herauf und ging über den Rasen, um Cheryl zu grüßen.

»Hallo, ich bin deine neue Nachbarin, Josie Marcus.« Sie streckte die Hand aus, wie Jane es ihr beigebracht hatte.

»Und?«, gab Cheryl zurück. Sie starrte Josies Hand an, bis sie sich klein und verwelkt anfühlte. Dann machte Cheryl kehrt und knallte die Haustür zu. Ihre Beziehung verschlechterte sich von da an.

Jane verstand nie, warum Josie sich nicht mit der netten Cheryl Mueller von nebenan anfreunden konnte. »Sie hätte einen so guten Einfluss auf dich«, sagte ihre Mutter und begann mit einer weiteren Ausgabe der Super-Cheryl-Nachrichten.

Josie lernte, sich nicht zu beschweren. »Du bist eifersüchtig«, sagte ihre Mutter. Josie wusste, dass sie Recht hatte, doch das hielt sie nicht davon ab zu beten, dass Cheryl einmal einen Augenblick lang nicht perfekt wäre. Bitte, Gott, mach, dass Cheryl von einem Lehrer angeschrien wird, einen Pickel kriegt, dass ihre Frisur verrutscht.

Es geschah nie.

In der Grundschule war Cheryl Pfadfinderin und sammelte eine Schärpe voller Verdienstabzeichen. Josie sammelte Verweise und Nachsitzen.

In der Highschool erbrachten sie beide ausgezeichnete Leistungen, doch Cheryl hielt aufgrund ihres perfekten Notenschnitts die Abschiedsrede ihrer Klasse. Sie stand auch der Theater-AG vor, war die Chefredakteurin der Schulzeitung und spielte die Hauptrolle im Schul-Musical. Sie war Cheerleaderin, als Mädchen es noch für eine Ehre hielten, die Jungs anzufeuern. Josie spielte Fußball, bevor junge Frauen große Stipendien für sportliche Leistung erhielten.

Schlimmer noch, Cheryl hatte echte Brüste, als Josie sich noch Socken in den BH stopfte.

Sie gingen beide zum Abschlussball. Cheryl war die Ballkönigin und trug ein glänzend blaues trägerloses Kleid, mit dem sie wie ein Star aussah. Josie trug schwarz und sah aus, als ginge sie auf den Strich.

Auf dem College wurde Cheryl zur Studentenvertreterin gewählt. Josie gewann den hausinternen Biertrinkwettbewerb der Frauen. Der Pokal mit der Aufschrift »Trinkfest« wurde nicht auf dem Kamin ihrer Mutter ausgestellt.

Cheryl verlobte sich etwa zur selben Zeit, als Josie schwanger wurde. Josie wusste, dass sie nicht wegen des Babys jeden Morgen erbrach. Die Übelkeit kam davon, dass sie sich die Details von Cheryls Hochzeit anhören musste. Bei der bloßen Erwähnung von Alençon-Spitzen wurde ihr jetzt noch schlecht.

Nun bereitete Josie sich auf mehr Super-Cheryl-Nachrichten vor. Sie wusste, dass es das schöne Maisbrot-und-Chili-Abendessen ruinieren würde. Sie hoffte insgeheim, dass Amelia die Nachrichten unterbrechen würde, obwohl Josie ihrer Tochter tausendmal gesagt hatte, dass das unhöflich war, doch Amelia war damit beschäftigt, Cracker zu zerbröseln und sie unter ihr Chili zu mischen. Jetzt, da Josie einmal wollte, dass ihr Kind sich danebenbenahm, tat Amelia es nicht.

»Cheryl hat ihrer Mutter einen wunderbaren Strauß Stargazer-Lilien gebracht«, erzählte Jane. »Lilien haben was von Reichtum, meinst du nicht auch?«

Josie stopfte sich den Mund mit Maisbrot voll, damit sie nicht antworten konnte. Jane schien es auch nicht zu erwarten.

»Cheryl hat ihrer Mutter englisches Rosinenbrot nach einem besonderen fett- und kalorienarmen Rezept gebacken. Es war absolut köstlich. Man würde nie annehmen, dass es achtundachtzig Kalorien pro Scheibe hat. Cheryl meinte, sie würde dir das Rezept geben, aber ich sagte, das wär’ Zeitverschwendung. Du kannst nicht wie Cheryl kochen.«

Josie schluckte ihr Chili runter, welches sie selbst zubereitet hatte. Von diesem Abendessen würde sie Sodbrennen bekommen.

»Es war so nett von ihr, mich auch einzuladen. Wir hatten echten Blatt-Tee«, sagte Jane. »Cheryl weigert sich, Teebeutel zu benutzen. Sie hat Earl Grey gemacht, den ich normalerweise zum Frühstück mag, doch er passte perfekt zu dem Kuchen.«

Natürlich passte er perfekt, dachte Josie. Alles, was Cheryl machte, passte perfekt, doch Josie wusste, dass sie sich mit einer sarkastischen Bemerkung nur einen Vortrag zusätzlich zu den Nachrichten einbringen würde.

»Cheryl hat so entzückende Zuckerwürfel mitgebracht«, fuhr Jane fort. »Jeder war mit einer kleinen rosa Rose verziert. Als wir die Würfel in den heißen Tee taten, schmolz der Zucker und die Rose schwamm an der Oberfläche. Es war so elegant.«

Josie aß, während Jane von Cheryl schwärmte. Josie hatte gedacht, dass ihr Chili in der kühlen Novembernacht etwas Besonderes wäre. Das Abendessen hatte vorzüglich geduftet, als Josie es aufgetischt hatte. Jetzt schmeckte es seltsam. Josie wusste, woher der bittere Geschmack kam. Je mehr Jane von Cheryl erzählte, desto mehr fühlte Josie sich wie eine Versagerin. Es war kindisch, doch Josie wusste sich nicht zu helfen. Cheryl war eine gemeine Göre gewesen. Sie war zu einem verwöhnten Snob herangewachsen. Warum konnte ihre Mutter das nicht sehen?

Weil Cheryl das Leben führte, dass Josies Mom sich selbst wünschte – und ihrer Tochter.

Jane konnte nicht mit Mrs. Mueller mithalten, wenn es ums Angeben ging. Der heutige Tag war ein gutes Beispiel. Nachdem Super-Cheryl ihrer Mutter ein Tee-Treffen spendiert hatte, dass des Buckingham Palace würdig war, was konnte Jane da sagen? »Meine Tochter hat einen Schuhverkäufer auffliegen lassen, der eine persönliche Beziehung mit ihrem Prada-Schuh haben wollte«?

Josie konnte ihrer Mutter den Großteil von dem, was bei Soft Shoe passiert war, nicht erzählen. Die Details würden Jane vor Kopfschmerzen schreiend die Treppe hinauftreiben. Josie konnte nur sagen, dass sie dort testkaufen gewesen war. Ein hochpreisiger Laden stellte ein gefahrloses Thema dar.

»Von dem Geschäft hab ich gehört. Cheryl kauft dort ein«, meinte Jane.

Und da haben wir das entscheidende Gütesiegel, dachte Josie gehässig.

»Cheryl hat dort ein Paar wunderschöne Bruno Maglis gekauft«, berichtete Jane.

»Die Pantoletten mit den offenen Zehen?«, fragte Josie. »Die kosten zweihundertfünfzig Dollar.«

»Stell dir vor: ein Paar Schuhe zu dem Preis.« Jane sagte es so verwundert und verträumt, als gehe es um einen Filmstar, der Couture trug. Josies Mom kaufte ihre Schuhe zum herabgesetzten Preis bei Marshalls. Josie glaubte nicht, dass Jane mehr als fünfundzwanzig Dollar für Schuhwerk ausgegeben hatte, seit ihr Vater sie verlassen hatte.

Arme Jane. Mit einer Testkäuferin als Tochter konnte eine Mutter nicht angeben. Josies Lohn war lausig. Der Job hörte sich glamourös an, doch es war harte Arbeit, durch Läden zu staksen und den Service zu bewerten, und manchmal regelrecht erniedrigend, doch Testkaufen verschaffte Josie etwas, das wertvoller war als Geld – Zeit. Sie arbeitete auf Gleitzeit. Josie konnte Amelia morgens zur Schule bringen und sie nachmittags abholen. Obwohl Amelia schon Anzeichen davon abgab, dass sie bald zu einer missmutigen Teenagerin werden würde, redete sie aus irgendeinem Grund gerne mit ihrer Mutter im Auto. Josie würde diese spaßigen Unterhaltungen nicht einmal gegen ein sechsstelliges Gehalt eintauschen.

Amelia schämte sich nicht, mit ihrer Mutter gesehen zu werden – zumindest noch nicht. Als Testkäuferin hatte Josie Zeit für ungeplante Expeditionen in den Zoo, solange Amelia ihre Gesellschaft noch duldete. Abends half sie Amelia bei den Hausaufgaben. Das waren Vorteile, die viele berufstätige Mütter nicht hatten. Die saßen in der Falle, mit Schuldgefühlen über lange Arbeitstage und die Zeit, die ihnen zu Hause fehlte.

»Zweihundertfünfzig Dollar waren mein gesamter Wochenlohn, als du in der Grundschule warst«, sagte Jane und schreckte Josie aus ihrer Träumerei auf. »Stell dir das vor: ein einziges Paar Schuhe zu dem Preis.«

Josie dachte an die Ballenzehenfüße ihrer Mutter in ihren flachen, schwarzen Schuhen und wurde von einer Welle von Schuld und Liebe ergriffen. Jane war erst achtundsechzig, doch sie sah von der Arbeit ausgezehrt und erschöpft aus.

Wäre sie so gut gealtert wie ihre Nachbarinnen aus Ladue mit ihren Diäten und Facelifts, wenn Jane nicht alleine eine junge Tochter hätte großziehen müssen? Josie hatte die Fotos von ihrer Mutter als junge Frau gesehen. Sie hatte eine zarte Schönheit gehabt, große, braune Augen und lockige, braune Haare. Hätte Jane einen anderen Anwalt oder Arzt heiraten und das Leben führen können, das sie gewollt hatte? Josie war mit genügend Männern ausgegangen um zu wissen, dass ein Kleinkind eine aufblühende Romanze zunichtemachen konnte.

Ihr Ärger über die Super-Cheryl-Nachrichten verschwand. Josie legte ihren Chili-Löffel ab und ging zum Stuhl ihrer Mutter. »LDD, Mom«, sagte sie. Das war der Familiencode für »Lass dich drücken«. Jane versteifte sich zuerst, dann umarmte sie ihre Tochter. Als Josie die Arme um ihre Mutter schlang, sah sie ihre schütteren, grauen Haare.

Ich hab die meisten dieser Haare grau gemacht, dachte Josie und küsste ihre Mutter auf den Kopf. Man versteht seine Mutter nicht wirklich, bis man selber eine ist.

Josie setzte sich wieder und erzählte Jane eine geschnittene Version ihres Besuchs bei Soft Shoe. »Der Laden hätte dir sicher gefallen, Mom«, meinte sie. »Die Deko, die Musik, alles. Der Verkäufer hatte sogar eine rosa Nelke im Knopfloch. Es war genau wie in den Neunzehnfünfzigern.«

»Das waren zivilisierte Zeiten«, sagte Jane. »Ein Mann, der Anzug und Anstecker trägt, ist was anderes als die Verkäufer, die du sonst triffst.«

»Ganz bestimmt«, sagte Josie selbstsicher.

Jane sah ihre Tochter scharf an. Josie war froh, als Amelia sie unterbrach.

»Warst du im Soft Shoe im Plaza Venetia? Die haben dort ’nen Dry Ice«, sagte Amelia. »Können wir da hin?« Sie hatte überall Cracker-Krümel, selbst in den Haaren.

»Du willst schon wieder shoppen gehen?«, fragte Josie.

Jetzt, wo sie neun geworden war, interessierte Amelia sich fürs Shoppen. Das gab Josie ein ungutes Gefühl. Josie arbeitete als Testkäuferin und hoffte, dass ihre Tochter diese Arbeit nie machen würde. Jane war einkaufssüchtig und konnte nicht vom Home Shopping Network lassen. Vor ein paar Monaten hatte Josie die Schränke ihrer Mutter voller ungeöffneter Schachteln Schmuck, Kosmetik und Sportgeräten vorgefunden. Jetzt ging Jane zu einem Seelsorger und sie bekamen weniger besuche vom UPS-Boten, doch Josie machte sich Sorgen, dass ihre Tochter ein bösartiges Shopping-Gen geerbt haben könnte.

»Geht das, Mom, geht das?«, flehte Amelia.

»Was brauchst du denn aus dem Einkaufszentrum?«, fragte Josie.

»Brauchen tu’ ich nix. Alle Mädchen in der Schule kaufen bei Dry Ice ein. Bitte, Mom.«

»Ich werd’s mir überlegen«, sagte Josie.

Amelia war gewieft genug, jetzt still zu sein.

Als die Super-Cheryl-Nachrichten vorbei waren, wartete Josie auf die böse Überraschung. Sie wollte wissen, ob Mrs. Mueller sie an Jane verpetzt hatte, doch ihre Mutter erwähnte ihr romantisches Zwischenspiel mit Josh auf der Veranda nicht. Das verschaffte ihr Erleichterung.

Am nächsten Morgen brach Josie in ihrem Escada-Anzug vom Flohmarkt und ihren vom Unheil bewahrten roten Stöckelschuhen zur Arbeit auf. Das gesamte Outfit kostete weniger als dreißig Dollar, doch Josie hielt es für einen Erfolg. Sie konnte in den hochpreisigen Einkaufszentren als menschliche Trophäe mit einer Brust voller Implantate und einer Handtasche voller Plastik durchgehen.

Mrs. Muellers Vorhänge bewegten sich, während Josie zu ihrem Auto eilte. Das neugierige alte Weib versteckte sich hinter den weißen Spitzen. Josie hoffte, dass sie sich Notizen über ihr Outfit machte. Die extraspitzen Schuhe würden ihre Füße umbringen, aber wenigstens würde Mrs. Mueller sie für ordentlich angezogen erachten. Als sie für einen weniger hochklassigen Auftrag ein trägerloses Top und kurze Hosen getragen hatte, hatte Mrs. M sich beschwert, dass Josie die Nachbarschaft in Misskredit brachte.

Amelia trieb ihre Mutter zum Auto wie ein nervöser Schäferhund. »Beeil dich, Mom. Wir kommen zu spät«, sagte sie.

Beinah wären sie entwischt, doch Stan, der Mann von nebenan, ihr Nachbar von gegenüber, rannte auf ihr Auto zu.

»Da kommt dein Verehrer.« Amelia kicherte unbedacht gemein, wie es für die Jugend üblich war. Stan verpasste nie eine Gelegenheit, mit Josie zu reden.

»Dafür hab ich keine Zeit«, murmelte Josie, während sie das Auto anließ, doch es war zu spät. Stan versperrte die Ausfahrt. Sie musste entweder mit Stan reden oder ihn überfahren. Die zweite Möglichkeit war verführerisch, doch dann würde sie sich noch mehr verspäten.

Stan trug ein schlaffes Hemd mit kurzen Ärmeln, das mit dem Alter ergraut war. An einer Seite hing es unter dem Gewicht eines Hemdtaschenschutzes durch. Er hatte eine puderblaue Krawatte aus Polyester mit losen Fäden an. Stan sah aus wie ein Rentner in seinen Achtzigern und nicht wie ein fünfunddreißigjähriger Mann.

»Josie«, sagte er. »Die Leuchte auf deiner Veranda ist kaputt. Das ist gefährlich. Soll ich dir eine neue Birne besorgen und sie austauschen?«

Josie errötete. Sie hatte die Verandaleuchte am Abend ihres Dates mit Josh losgeschraubt, damit sie etwas Ruhe von der ständigen Nachbarschaftswache bekamen. Die Birne würde mit nur einem Dreh wieder zum Leben erwachen.

»Danke, Stan«, antwortete sie. »Ich werd’ sie heute Abend reparieren.«

Sie hoffte, dass er nicht aus dem Fenster geschaut hatte, als sie mit Josh rumgemacht hatte. Sie wusste, dass Stan in sie verliebt war und ihr als Vorwand anbot, Dinge in ihrem Haus zu reparieren. Josie konnte keinen Mann lieben, der einen Hemdtaschenschutz trug. Das war oberflächlich und sie wusste es, doch dass änderte ihre Meinung nicht.

»Er mag dich wirklich, Mom«, sagte Amelia ernsthaft, als sie wegfuhren.

»Ich mag ihn auch wirklich«, gab Josie zurück. »Er ist ein guter Freund.«

»Grandma meint, du solltest nochmal mit ihm ausgehen«, sagte Amelia. »Sie meint, du hast ihm keine faire Chance gegeben.«

»Ich mag Stan, aber nicht als Date«, entgegnete Josie. Einmal war genug.

»Er ist nicht gerade scharf«, meinte Amelia. »Ihm hängt der Hintern runter.«

»Amelia! Wo hast du denn das Gerede her?«, fragte Josie.

»Zoe meint, ihre ältere Schwester, Celine, geht im Einkaufszentrum auf Hinternschau. Sie lässt Zoe nicht mitkommen, weil sie zu jung ist. Celine meint, dass manche Jungs scharfe Hintern haben und andere nicht.«

Zoe war ein Schatten auf Josies Leben. Das Mädel war neun, verhielt sich wie neununddreißig, und gehörte zur nächsten Generation der Flittchen Amerikas. Josie musste allerdings zugeben, dass das mit der Hinternschau ziemlich witzig war.

»Amelia, du solltest so nicht über Männer reden«, meinte Josie und versuchte, nicht zu kichern. »Das macht sie zu Sexobjekten. Männern gefällt das genauso wenig wie uns.«

»Aber es stimmt. Jungs mit Hemdtaschenschutz haben nie gute Hintern«, protestierte Amelia.

Josie gab den Kampf um die Würde der Männer auf. Sie brach in schallendes Gelächter aus. »Wenn du auf ihre Hemdtaschen schaust, starrst du ihnen zumindest nicht auf den Hintern.«

»Josh hat ’nen tollen Hintern«, meinte Amelia.

»Das reicht jetzt«, warf Josie ein, während sie auf die Einfahrt der Barrington School fuhr.

Ihre Tochter hatte jedoch Recht. Josh hatte einen tollen Hintern, eine kräftige Brust und ungeschützte Hemdtaschen. Josie war nach ihrem Date gestern Abend halb wahnsinnig vor Sehnsucht. Sie verlangte fast so sehr nach ihm wie nach ihrem Morgenkaffee bei Has Beans. Sie hatte vor ihrem ersten Besuch im Einkaufszentrum Zeit für beides.

Die Kaffeehauskunden schienen in Wellen zu kommen und jetzt gerade war Ebbe. Nur eine ältere Frau saß an einem Tisch ganz hinten.

Josh pfiff, als sie zur Tür hereinkam. »Tolles Outfit«, sagte er. »Du siehst aus wie die dritte Frau von ’nem reichen Kerl.«

»So soll ich auch aussehen«, erklärte Josie. »Ich seh’ vielleicht harmlos aus, aber ich bin tödlich. Mach mir ’nen Espresso und ich erzähl dir, wie ich ’nem Kerl das Leben ruiniert hab.«

»Eine verhängnisvolle Affäre«, meinte Josh. »Das gefällt mir. Die Gefahr ist’s, die mich anzieht.«

Er sah sich im Kaffeehaus um. Die alte Dame trank ihren koffeinfreien Kaffee aus und warf ihnen Blicke zu, die so schwarz waren wie ihre gefärbten Haare. Josh würde sich zurückhalten müssen, sonst würde Mrs. Black sich bestimmt über ihn beschweren. Er begann, Josies Espresso zuzubereiten.

Josie sah Josh gern bei der Arbeit zu. Seine Arme waren kräftig und seine Hände flink, was zu schönen Gedanken führte, die nichts mit Kaffee zu tun hatten. Sie hatte eine gute Rückansicht auf Josh in seiner gut geschnittenen Khakihose. Hinternschau und Kaffee. Amelia hatte Recht. Tolle Sache.

Die schwarzhaarige Frau knallte ihre leere Tasse auf den Tresen und ging.

»Na endlich«, sagte Josh und sprang einhändig über den Tresen. »Wann kann ich dich wieder sehen?« Er schlang die Arme um sie.

Josie konnte seinen festen Körper spüren. Sie verzehrte sich nach seinem Kuss, doch Josh wich urplötzlich zurück und meinte: »Verdammt, da ist der Geier.«

Den Geier fand man für gewöhnlich über den Kaffeehaus-Computer gebeugt vor. Mit seinen krummen, knochigen Schultern und einer Nase wie ein langer Schnabel sah er wie ein Raubvogel aus. Der Geier kaufte eine Tasse Kaffee – das Mindeste, um den Computer benutzen zu dürfen – und füllte sie mit so viel Zucker, dass der Löffel aufrecht im Becher stehen konnte. Der Geier jagte im Internet nach kuriosen Kleinigkeiten, die er auf seinen Blog stellen konnte.

Josh ging wieder auf die andere Seite des Tresens – diesmal durch das Türchen. Josie spürte die Spannung, die zwischen ihnen floss.

»Also«, sagte Josh mit strapazierter Stimme. »Du wolltest mir erzählen, wie du ’nem Kerl das Leben ruiniert hast. Außer meinem, mein’ ich.« Er sprach leiser. »Ich sterb’ noch vor Frustration.«

Josie erzählte ihm von Mel, dem Fuß-Freak. Als sie beschrieb, wie der Verkäufer mit ihrem hilflosen Schuh hinter den Schuhkartons gehockt hatte, lachte Josh so kräftig, dass ihm die Tränen kamen.

»Sag mir, dass das nicht wirklich passiert ist«, sagte er. »Dieser Mel hat sich wirklich über deinen Schuh hergemacht?«

»Das hat er, und es war nicht lustig«, sagte Josie, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Es war schon lustig – auf eine ekelhafte Art und Weise. »Welche Art von Mensch hat ’ne Affäre mit ’nem Stöckelschuh?«

»Ach, ich weiß nicht«, meinte Josh. »Meine Mutter hat ’nen Stinkstiefel geheiratet.«

Josie stöhnte.

Fünf Koffeinopfer strömten zur Tür herein, zittrig wie Drogensüchtige, die ihr Gift brauchten. Josie wusste, dass sie sich ihnen nicht in den Weg stellen sollte. Sie nahm ihren Espresso zur Kaffeehauscouch mit. Sie sollte lieber austrinken und gehen. Sie hatte Arbeit zu erledigen.

»Habt ihr ’ne Zeitung?«, fragte ein Mann mit einer Tasse Halb-koffeinfrei-halb-normal Josh.

Josh langte unter den Tresen nach der vielgelesenen City Gazette, doch Josie sah, dass er innehielt, als er das Titelblatt sah. Seltsam. Josh war sonst immer ein Gewirr der Bewegung hinterm Tresen.

»Ihre Zeitung. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte Josh zu Halb-koffeinfrei-halb-normal. Er legte ein Cantuccino auf einen Teller und brachte ihn zu Josie. »Geh noch nicht. Ich sollte dir vielleicht was zeigen.«

Das könnte interessant werden, dachte Josie. Sie nippte an ihrem Espresso, knabberte ihr Cantuccino und zappelte auf der harten Kaffeehauscouch, doch davon verschwanden die Kunden nicht schneller. Zehn Minuten vergingen, bevor Josh sich ohne lästige Kaffeeschlucker an Josie wenden konnte.

Endlich ging der letzte händezitternde Kunde mit seinem Kaffee. Josh kam mit einer verdrückten, faltigen Zeitung zur Couch. »Wie hieß nochmal der Verkäufer mit dem Schuhfetisch?«, fragte er.

»Mel«, antwortete Josie. Ihr gefiel Joshs besorgte Miene nicht. »Mel Poulaine. Wieso? Ist was nicht in Ordnung? Will Mel etwa Suttin Services verklagen, weil er rausgeschmissen wurde?«

»Nee. Mel wird nie wieder jemanden stören.« Josh hielt inne und sah sie an. »Er ist tot, Josie.«

»Er hat sich doch nicht umgebracht, oder?« Josie wurde schlecht. Bitte, sag nicht, dass er Selbstmord begangen hat, weil er wegen mir gefeuert wurde, betete sie, doch Josie hatte zu viel Angst, es auszusprechen. Ich musste den Perversling doch anschwärzen. Oder nicht?

»Jemand anderes hat ihn getötet«, sagte Josh. »Mel ist ermordet worden.«

Kapitel 5

»Verkäufer aus Olympia Park ermordet«,

rief die Schlagzeile der St. Louis City Gazette.