So kalt die Asche - Elaine Viets - E-Book
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Elaine Viets

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Beschreibung

Nach dem Feuer bleibt nur die Asche – und der Hass
Der beklemmende Roman für Fans von Elizabeth George

In der eingezäunten Nachbarschaft des Olympia Forest Estates muss die Mordermittlerin Angela Richman mitansehen, wie eine Villa bei einer Explosion in Flammen aufgeht. In den Überresten wird die Leiche des siebzigjährige Bankiers Luther Delor gefunden. Er hatte eine Schwäche für Frauen und Alkohol und sorgte dafür, dass der Bezirk in einige Skandale verwickelt wurde. Doch seine Ermordung bringt die Gemeinde zusammen. Alle haben eine Verdächtige im Auge: Delors zwanzigjährige Verlobte, Kendra Salvato.

Bösartige und rassistische Anschuldigungen gegen Kendra verbreiten sich wie ein Lauffeuer. In der Zwischenzeit versucht Angela, die Flammen mit forensischer Arbeit zu löschen. Zwischen der Asche eines bösartigen Verbrechens und den bedrohlichen Geheimnissen der Privilegierten kann nur Angela die Wahrheit herausfinden und verhindern, dass eine unschuldige Frau verurteilt wird …

Erste Leserstimmen
„Ich konnte die Hitze des Feuers förmlich spüren, so sehr wurde ich in die Story gezogen!“
„Fesselnder Kriminalroman mit authentischen Charakteren.“
„stark, intelligent und geheimnisvoll“
„Todesermittlerin Angela Richmond und ihr neuer Fall haben mich wieder auf ganzer Linie überzeugt.“

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Seitenzahl: 433

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Über dieses E-Book

In der eingezäunten Nachbarschaft des Olympia Forest Estates muss die Mordermittlerin Angela Richman mitansehen, wie eine Villa bei einer Explosion in Flammen aufgeht. In den Überresten wird die Leiche des siebzigjährige Bankiers Luther Delor gefunden. Er hatte eine Schwäche für Frauen und Alkohol und sorgte dafür, dass der Bezirk in einige Skandale verwickelt wurde. Doch seine Ermordung bringt die Gemeinde zusammen. Alle haben eine Verdächtige im Auge: Delors zwanzigjährige Verlobte, Kendra Salvato.

Bösartige und rassistische Anschuldigungen gegen Kendra verbreiten sich wie ein Lauffeuer. In der Zwischenzeit versucht Angela, die Flammen mit forensischer Arbeit zu löschen. Zwischen der Asche eines bösartigen Verbrechens und den bedrohlichen Geheimnissen der Privilegierten kann nur Angela die Wahrheit herausfinden und verhindern, dass eine unschuldige Frau verurteilt wird …

Impressum

Deutsche Erstausgabe März 2021

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-644-4

Copyright © 2017 by Elaine Viets Titel des englischen Originals: Fire and Ashes

Übersetzt von: Annika Mirwald Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © elegeyda depositphotos.com: © photographee.eu Korrektorat: Katrin Gönnewig

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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So kalt die Asche

Für Dick Richmond, einen guten Freund und Zeitungsredakteur, der mir beigebracht hat, mit wenigen Worten viel auszudrücken.

KAPITEL 1

Tag 1

Fünf Löschfahrzeuge, zwei Leiterfahrzeuge, ein Kleinlöschfahrzeug, der Einsatzleitwagen sowie gefühlt jeder Polizeiwagen in ganz Chouteau County waren bei diesem Brand zur Stelle. Todesermittlerin Angela Richman wusste, dass es bereits zu spät war – sie wurde nur bei Todesfällen gerufen. Heute Nacht war jemand in diesem lodernden Gebäude gestorben, vom Rauch überwältigt und von den Flammen verbrannt. Angela war für die Untersuchung der Leichen an Tatorten im Chouteau County oder bei Todesfällen ohne Anwesenheit anderer Personen zuständig. Die Todesermittlerin unterstand dem Gerichtsmediziner des Countys.

Um wen handelte es sich? Angela wusste es noch nicht. Der Anruf des Detectives hatte nicht viel preisgegeben: „Luther Ridley Delors Anwesen brennt. Eine Leiche bisher. Wird gerade rausgetragen. Mach dich auf die Socken.“

Der siebzigjährige Luther bezeichnete sich selbst als Bankier, um dem gewinnbringenden Gewerbe seiner Familie einen etwas glamouröseren Ruf zu verleihen: Sie besaßen eine landesweite Kette von Kleinkreditunternehmen. Alle Leute – besonders die, die verzweifelt Geld brauchten – kannten den Slogan „Sorge vor mit Delor“ nur zu gut. War der alte Mann gestorben? War seine junge Verlobte das Opfer? Oder war ein Freund oder jemand vom Personal in der Flammenhölle umgekommen?

Angela betete, dass es keine weiteren Opfer gab. Dieser Tod kam nicht unerwartet. Es war das dritte große Feuer im Bezirk innerhalb von zwei Wochen. Hinter der behaglichen Fassade von Chouteau Forest, Missouri, der größten Stadt des Countys, schwelte die Angst. Chouteau County war ein Fünfundzwanzig-Quadratkilometer-Gebiet etwa fünfzig Kilometer westlich von Saint Louis, in dem die Topverdiener des Landes und deren Bedienstete lebten.

Der Brand wütete in den Olympia Forest Estates, einer exklusiven Wohnanlage, die vor fünf Jahren erbaut worden war. Damit war sie als brandneu zu bezeichnen, im Vergleich zu den extravaganten Anwesen des alten Geldadels: romanische Raubritterburgen, englische Landsitze und bayrische Jagdschlösschen, erbaut um die Jahrhundertwende. Neben diesen architektonischen Kunstwerken wirkten die Ziegelsteinbauten der Olympia Estates geradezu dezent, aber dennoch luxuriös. Dank unermüdlicher Dauerwerbung waren die Kosten – drei bis fünf Millionen – und die Ausstattung allgemein bekannt.

Angela, die sich noch immer von sechs Schlaganfällen, einer Gehirnoperation und einem Koma im relativ jungen Alter von einundvierzig Jahren erholte, stützte sich hinter dem gelben Absperrband auf ihren Gehstock und versuchte, den besten Weg durch das flirrende, rauchverhüllte Chaos auszumachen. Sie hatte ihr Todesermittler-Kit – einen schwarzen Rollkoffer – über die klatschnasse Straße gezogen. Ihr schwarzer Hosenanzug spendete ausreichend Wärme in der kühlen Mainacht und ihre flachen, schwarzen Schnürschuhe sicherten ihren Gang über den tückischen Boden.

Spärlich bekleidete Schaulustige hatten sich in der Sackgasse vor dem brennenden Haus versammelt. Angela stand neben einem dürrbeinigen, glatzköpfigen Mann in blauen Boxershorts und Sandalen und vermied es, auf seine blasse, schlaffe Brust zu starren. Sie kannte ihn: Ollie Champlain. Ollie ernährte sich hauptsächlich von faden Snacks und Martinis im Forest-Country-Club.

„Puuuh!“, sagte Ollie. „Man kann das verkohlte Geld beinahe riechen. Das ist Luthers Haus.“

Angela überkam ein Gefühl der Angst. Luthers Namen zu hören, machte den Tod real. Der „Bankier“ des Forests hatte im Alter von siebzig Jahren einen Riesenskandal ausgelöst. Er hatte seine Frau nach vierzig Jahren Ehe für Kendra Graciela Salvato, eine einundzwanzigjährige Nagelpflegerin, verlassen. Luthers Ehefrau weigerte sich, in die Scheidung einzuwilligen, aber er hatte Kendra bereits einen Verlobungsring mit einem Diamanten so groß wie Delaware an den Finger gesteckt und ihr geschworen, sie zu heiraten, sobald die Sache erledigt war.

„Sei nicht so pietätlos“, sagte eine besorgt dreinblickende Frau, die ihren langen, ausgeleierten Bademantel im Karomuster zuhielt. „Der Gestank ist fürchterlich.“

Angela atmete den üblen, toxischen Geruch von geschmolzenem Plastik, gemischt mit verbranntem Fleisch und Haar ein. Die Flammen verzehrten den Körper des Opfers.

Ollie ließ sich nicht beirren. Er führte sich auf, als sei das tödliche Feuer zu seiner Unterhaltung inszeniert worden. „Seht nur, wie die Feuerwehrmänner das Erkerfenster mit ihren Äxten einschlagen. Ich kann hören, wie die Korken der Tausenden, in dem Zimmer gelagerten Weinflaschen knallen.“

„Pah“, sagte Karomantel. „So wie Luther säuft, hatte er bestimmt keine tausend Flaschen mehr da drinnen.“

„Heute Abend war er definitiv besoffen“, sagte Ollie. „Ich habe beobachtet, wie er mit seinem kleinen, mexikanischen Mäuschen nach Hause getorkelt kam. Kendra musste ihm durch die Tür helfen. In ihrem engen, weißen Kleid war sie ein ziemlich hübscher Anblick. Luther war viel zu voll, um es ins Haus zu schaffen, geschweige denn wieder heraus. O Mann, hoffentlich verkohlt nicht sie da drin. Wäre schade um so eine heiße Pu…“ Der vernichtende Blick von Karomantel brachte ihn zum Schweigen. „Um so eine hübsche, junge Frau“, änderte er seine vulgären Worte. „Der Kristall-Cowboy ist ein verschrumpelter, alter Kauz. Ich hoffe, sie ist noch am Leben.“

Die Einwohner des Forests machten sich hinter Luthers Rücken über seine auffallenden Outfits lustig. Der von Leberflecken übersäte Bankier kleidete sich stets wie ein Möchtegern-Cowboy, von seinem schwarzen Stetson mit dem diamantbesetzten Hutband bis hin zu den engen Westernjeans, die über seine handgefertigten Lucchese-Stiefel reichten. Er trug ausschließlich glitzernde, mit Strass verzierte Hemden. Eigentlich gefiel Angela sein Stil.

„Ich hoffe, beide schaffen es lebend da raus“, sagte Karomantel und schüttelte missbilligend den grau gelockten Kopf.

„Die Feuerwehr wird ihre liebe Not haben, Luthers Anwesen zu durchsuchen, um ihn und Kendra zu retten“, sagte Ollie. „Es hat immerhin vier oder fünf Schlafzimmer.“

„Wenigstens müssen sie keine Villa mit dreißig Zimmern durchkämmen“, erwiderte Karomantel. „Ein Haus in den Olympia Estates bedeutete eine Verkleinerung für Luther. Er hat das Delor-Anwesen verlassen, das seit etwa achtzehnhundertneunzig von seiner Familie bewohnt wurde, um mit dieser Frau zusammenzuziehen. Es wundert mich nicht, dass sie nie Gäste hier haben. Keine anständige Person würde die beiden je besuchen oder einladen. Sie wird sich in dem großen Haus vermutlich verlaufen haben. Ihr vorheriges Heim war nicht viel größer als eine Hütte.“

„Um wie viel Uhr haben Sie Luther und Kendra nach Hause kommen sehen?“, fragte Angela.

„Gegen neun Uhr heute Abend“, erwiderte Karomantel. „Ich bin Elvira Smythe. Um kurz nach Mitternacht habe ich die Sirenen gehört. Mein Mann ist davon nicht aufgewacht. Er schläft immer noch.“

Angela holte ihr iPad heraus. Beide Augenzeugen hatten Informationen, die ihr bei der Untersuchung der Leiche nützlich sein könnten.

„Ob er das Feuer wohl mit einer seiner Zigarren verursacht hat?“, fragte Mrs Smythe.

„Nein, das war der Brandstifter“, sagte Ollie. „Ohne Zweifel.“

„Wer auch immer es ist, er zerstört nur die besten Nachbarschaften“, sagte Mrs Smythe. „Bisher gab es noch keinen Brand in Toonerville. Dort kommt sie her.“

Mike Peters, ein blonder Polizist, der wie ein unschuldiger Junge vom Land wirkte, kam um das gelbe Absperrband herum. „Okay, Leute, genug mit dem Spektakel. Das Feuer ist unter Kontrolle. Sie können ruhig wieder in Ihre Häuser zurückkehren.“

„Ich gehe wohl besser wieder rein“, sagte Mrs Smythe und zog ihren Bademantel fester um sich. „Es ist ziemlich kühl, obwohl wir Mai haben.“

„Gute Idee“, sagte der Polizist.

„Da drüben stehen ein paar Freunde von mir.“ Der dürre Ollie sprintete buchstäblich zu einer Gruppe auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Der Polizist wandte sich Angela zu. „Hey, Angela, sind Sie im Dienst?“

„Leider ja. Ray Greiman hat mich angerufen. Ich habe nur gewartet, bis sich der Rauch etwas legt, damit ich mir einen Weg bahnen kann.“

„Ich begleite Sie.“ Er hob das gelbe Absperrband an und Angela ging gebeugt darunter hindurch.

„Seien Sie vorsichtig – der Boden ist rutschig und voller Glasscherben. Gut, dass Sie passend gekleidet sind. Wie geht es Ihnen? Sie hatten ja ganz schön zu kämpfen vor nicht allzu langer Zeit.“

„Letztes Jahr im März. Sechs Schlaganfälle, Gehirnoperation und Koma. Drei Monate im Krankenhaus, einschließlich Physiotherapie.“

„Sie haben sich wieder richtig gut erholt.“

„Es war ein langer Weg. Ich freue mich, wieder arbeiten zu können.“

„Und Sie sehen auch wieder toll aus.“ Er lächelte sie an. „Sie würden wohl nicht …“ Er hielt inne.

O weh, dachte sie. Die frisch verwitwete Angela trug noch immer ihren Ehering, um mögliche Interessenten abzuwehren … doch anscheinend wurden sogar verheiratete Frauen angebaggert.

Mike schien seinen Mut zusammenzunehmen und verhaspelte sich, als er den nächsten Satz hervorpresste: „Sie würden wohl nicht mit einem Polizisten ausgehen?“

„Würde ich schon, Mike, aber ich bin noch nicht bereit, mich wieder zu verabreden. Es ist noch zu früh.“

„Das verstehe ich. Aber wenn Sie dazu bereit sind, bin ich hier.“

„Danke.“ Mit einem Lächeln wechselte sie das Thema. „Wissen Sie, wer gestorben ist? Kendra oder Luther? Ist sonst noch jemand im Haus?“

„Weiß ich nicht. Ich bin gerade erst angekommen und wurde angewiesen, die Gaffer fernzuhalten. Die Feuerwehrleute haben im oberen Schlafzimmer eine Leiche gefunden. Hoffentlich ist es nicht Kendra. Sie ist so ein hübsches Ding. Man bringt den Leichnam gleich raus.“

KAPITEL 2

Tag 1

Kendra war am Leben und putzmunter. Mike führte Angela durch das Gewirr aus Schläuchen, Leitern und sonstiger Ausrüstung seitlich um Luthers Haus herum, wo drei stämmige Sanitäter sich abmühten, Luthers brüllende, wild dreinblickende Verlobte in einen der wartenden Krankenwagen zu bugsieren.

„Was ist denn nur los mit euch?“, kreischte Kendra die Sanitäter an. „Feiglinge! Wenn ihr ihn nicht retten wollt, tue ich es eben. Luther ist noch da drinnen!“ Ihre weit aufgerissenen Augen funkelten.

Angela war keine Expertin, aber es sah so aus, als hätte sich das Feuer größtenteils im zweiten Stock ausgebreitet. Das Dach hatte große Löcher und unter den kaputten Fenstern glitzerten Glasscherben. Unter einem Fenster ohne Scheibe und Rahmen an der Vorderseite des Hauses lehnte eine Ausziehleiter aus Aluminium. Aus der Eingangstür und den vorderen Fenstern quoll weiterhin Rauch. Das gesamte Grundstück war abgesperrt, und mehrere Polizeibeamte hielten die spärlich bekleideten Nachbarn zurück, die sich in der Hoffnung, einen Blick auf Kendras Aufstand zu erhaschen, näher herandrängten.

„Mistkerle! Lasst mich in Ruhe.“ Kendras verzweifelter Kampf glich einer Pornoszene: Ihr weißer, im Schritt offener Body aus Spitze entblößte ihre üppigen Brüste sowie ihren kurvigen Hintern und gewährte Angela ungewollte gynäkologische Einblicke in ihren Intimbereich.

Alle Anwesenden aus der Nachbarschaft gafften. Manche waren beinahe ebenso leicht bekleidet wie Kendra, jedoch weitaus weniger aufreizend. Selbst die lauernden Schadenssachverständigen – Geier in grauen Anzügen, die auf einen Anteil des Versicherungsanspruchs hofften – hielten inne, um Kendra anzustarren, manche gar mit offenem Mund. Am Rand des Grundstücks johlte ein Rudel Männer angesichts Kendras Gerangel. Angela entdeckte Ray Greiman, den Detective, mit dem sie zusammenarbeitete, unter ihnen. Sie war angewidert, aber nicht sonderlich überrascht.

„Wir müssen Sie ins Krankenhaus bringen, Miss“, sagte ein blonder Sanitäter mit kantigem Kinn zu Kendra und griff mit einer fleischigen Hand nach ihrem Arm. Sie entwand sich seinem Griff und trat ihm mit einem schmutzigen, nackten Fuß gegen das Knie.

Kantiges Kinn wich zurück, während eine ernsthafte Sanitäterin sich Kendra schnappen wollte, doch diese kratzte mit ihren roten Nägeln über den Hals der erfolglosen Ersthelferin. „Autsch! Verdammt, das tut weh!“, fluchte die Sanitäterin, der das Blut vom Hals auf die Uniform tropfte.

„Lasst den Scheiß und helft endlich Luther!“

„Es ist zu spät, Miss“, sagte ein dritter, muskelbepackter Sanitäter mit kurz geschorenen Haaren. „Tut mir leid.“ Er schien aufrichtig betrübt zu sein.

Kendra ignorierte sein Mitleid und brüllte: „Fick dich! Dann rette ich ihn eben selbst. Luther! Halte durch, Liebling.“ Igelschnitt versuchte sie aufzuhalten, aber sie stürzte bereits auf die rauchverhangene Eingangstür zu. Als er sie zu packen versuchte, trat sie ihm in den Schritt.

„Uff!“, stieß er aus und sackte zusammen.

„Voll in die Eier“, sagte Greiman zu dem Beamten neben ihm.

„Sie ist ein mexikanisches Raubkätzchen“, erwiderte dieser anzüglich.

„Ich würde sogar Geld für die Show hier bezahlen“, sagte einer der Feuerwehrmänner.

Angela war sich ziemlich sicher, dass er vom Chouteau County dafür bezahlt wurde, den Brand zu löschen.

„Als wir kurz vor Mitternacht hier ankamen, hat sie völlig wirres Zeug von sich gegeben“, fuhr der Mann fort. „Sie war hysterisch. Ich konnte kein Wort verstehen. Jetzt ist sie plötzlich Wonder Woman und will wieder hineinrennen, um ihn zu retten.“

„Der alte Luther hatte recht“, sagte Greiman. „Er sagte, sie habe den besten Hintern in ganz Chouteau County.“

„Auf jeden Fall hat sie den reichsten Hintern der Stadt“, sagte der Polizist. „Angeblich hat Luther ihr bei der Verlobung zwei Millionen gegeben, und bei der Hochzeit sollte sie nochmal zwei Millionen bekommen. Sie muss eine unglaubliche Kanone im Bett sein.“

„In Luthers Alter ist jede Aktion im Bett unglaublich“, sagte Greiman. „Seht sie euch an, wie sie direkt auf die Tür zurennt.“

„Der Rauch hält sie schon auf“, erwiderte der Feuerwehrmann. „Nicht mal ihre Lungen packen das.“

Er hatte recht. Der dichte Rauch ließ Kendra husten und würgen. Keuchend wich sie zurück und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Im Licht der tragbaren Notfallbeleuchtung erhaschte Angela einen besseren Blick auf die verzweifelte Kendra. Ihr glänzendes, schwarzes Haar schien angesengt, zumindest um ihr Gesicht herum. Ihre hellbraune Haut und der weiße Body waren rußgeschwärzt, das knappe Spitzenoutfit hatte einen Riss an der Hüfte. Kendras lange, rote Nägel – das Aushängeschild einer Nagelpflegerin – waren abgebrochen, aber Angela wusste nicht, ob das bei dem Angriff auf die Sanitäterin oder während der Flucht aus dem Haus geschehen war. Sie hatte blutige Schnittwunden an den Händen und Füßen, doch wie schwerwiegend die Verletzungen waren, ließ sich nicht sagen.

„Helft ihm.“ Kendras Stimme klang rau und sie begann erneut zu husten. „Bitte.“ Als die Sanitäter sie dieses Mal umringten, wehrte sie sich nicht. Durch den heftigen Hustenanfall war sie zusammengekrümmt.

Angela sah drei Feuerwehrleute – nein, zwei Feuerwehrleute und vielleicht einen Mann – an dem rauchverhüllten Fenster im zweiten Stock, unter dem die Aluleiter lehnte.

Die beiden Feuerwehrmänner trugen Helme, Masken und Atemschutzgeräte auf dem Rücken. Einer von ihnen kletterte auf die oberste Stufe der Leiter, während der andere den Mann durch die Fensteröffnung zog. Es gab wohl keine Fensterbank mehr.

„Luther!“ Kendras Schrei wurde von einem erneuten Hustenanfall unterbrochen. „Du lebst!“

Angela war sich dessen nicht so sicher. Der Mann schien bewusstlos und schwer verbrannt zu sein. Seine Hände waren verkohlte Klauen, sein Gesicht eine schwarz-rote Masse. Sie konnte keine Haare an ihm sehen. Falls das Luther war und er noch lebte, erwarteten ihn qualvolle Schmerzen und geringe Überlebenschancen.

„Heilige Scheiße!“ Greiman übergab sich ins Gebüsch. „Lebt das Ding noch?“

„Um seinetwillen hoffe ich das nicht.“ Angela war übel und schwindelig, doch sie behielt ihr Abendessen bei sich. Glücklicherweise hatte sie ihren österreichischen Gehstock mit dem Korkgriff bei sich, der sie aufrecht hielt.

Der Feuerwehrmann am Fenster schob die Beine des Mannes sanft durch die Öffnung. Nun befand sich der stark verbrannte Körper in den Armen des zweiten Feuerwehrmannes, der ihn die Leiter hinuntertrug. Die Sanitäter ließen von Kendra ab und holten ein orangefarbenes Spineboard aus Plastik aus einem der Wagen. Kendra rannte zu den Feuerwehrleuten hinüber und schluchzte: „Luther, mein armer Luther. Sag doch etwas!“

Greiman stapfte in seinen schlammverkrusteten Abendschuhen über den nassen, matschigen Rasen auf Angela zu. „Der ist frittierter als ein Kentucky-Fried-Chicken-Menü. Die Sanitäter können ihm nicht einmal eine Atemmaske anlegen, weil seine Haut sich ablöst. Sie hat ihn umgebracht.“

„Wir wissen noch nicht, ob Luther tot ist“, erwiderte Angela. „Und wieso sollte Kendra ihn umgebracht haben? Stehen nicht noch weitere zwei Millionen bei der Hochzeit aus?“

„Sie hat die erste Hälfte schon bei der Verlobung erhalten. Für eine Bohnenfresserin wie sie ist das mehr als genug. Jetzt muss sie den klapprigen, alten Lustmolch nicht mehr vögeln. Und er wird sterben. Man muss kein Arzt sein, um das zu schnallen. Sie hat ihn angezündet und er war zu betrunken, um es noch rauszuschaffen.“

„Wie bist du denn darauf gekommen, Sherlock?“, fragte Angela.

„Hast du nicht gehört, was heute im Gringo Daze passiert ist?“

„Heute ist Schnäppchen-Abend … fünf Dollar Rabatt auf die Rechnung“, sagte Angela. „Daher war wohl der gesamte Forest dort. Niemand ist geiziger als der alte Geldadel. Du solltest sie mal beim Pfannkuchen-Dinner erleben.“

„Sie waren in der Tat alle da und haben mitbekommen, was los war. Luther hatte sein letztes Abendmahl, auch wenn er anscheinend nicht viel gegessen hat. Er war an der Bar, hat ein Dos Equis nach dem anderen gekippt und Kendras Hintern befummelt. Sturzbesoffen. Hat rumgeprahlt, wie großartig der Sex mit ihr sei, sich eine Viagra mit dem Bier eingeworfen und verkündet, er würde mit seinem ‚Greaser Gal‘ zum Vögeln nach Hause gehen, bis die Bude raucht. Leider hatte er damit nicht unrecht.“

„Arme Kendra. Das muss erniedrigend gewesen sein.“

„Wer weiß, was diese Leute denken? Sie hat versucht, ihn rauszuzerren, während er sie weiter begrapscht hat. Der Besitzer musste ihr letztendlich helfen, ihn ins Auto zu verfrachten. Also hatte sie auf jeden Fall ein Motiv. Siehst du den Brandermittler dort drüben, der diesen halb geschmolzenen Benzinkanister in eine Beweiskiste packt? Die Feuerwehrmänner haben das Ding in der Nähe von Luthers Tür gefunden. Da ist das Logo der Rasenpflegefirma ihres Vaters drauf. Ihr alter Mann arbeitet für die meisten hier in den Olympia Estates.“

„Und? Die Angestellten haben den Kanister vergessen.“

„In der Nacht, in der das Haus in Flammen aufgeht? Das kann kein Zufall sein. Sie hatte Mittel und Gelegenheit und zwei Millionen gute Gründe, um Luther zu töten.“

KAPITEL 3

Tag 1

„Es ist offiziell“, sagte Greiman. „Der alte Schmorbraten ist mausetot.“ Er hatte mit den Sanitätern gesprochen, bevor diese davongefahren waren.

Schmorbraten? Das war sein Spitzname für Luther? Angela hoffte, dass die Schaulustigen ihn nicht gehört hatten. Sie warf einen schnellen Blick auf die nächstgelegene Gruppe und stellte erleichtert fest, dass diese sich angeregt unterhielt.

„Wer hat ihn für tot erklärt?“, fragte sie. Die Gesetze in Missouri bezüglich der Befugnis, jemanden für tot zu erklären, waren etwas bizarr. In den meisten Staaten war eine medizinische Ausbildung erforderlich, nicht jedoch im „Show-Me-State“. Hier war jeder dazu berechtigt, sofern der Unterzeichner des Totenscheins sicher sein konnte, dass derjenige, der den Tod erklärte, diesen auch zweifelsfrei feststellen konnte. Es spielte keine Rolle, dass der Eintritt des Todes immer wieder selbst die brillantesten medizinischen Köpfe verblüffte. Angela hatte in ihrer bisherigen Karriere zwei Menschen für tot erklärt, und sie war sich beide Male absolut sicher gewesen: Einmal war es eine alte Frau in vollständig eingesetzter Leichenstarre gewesen, die in ihrem Bett gestorben war. Das andere Mal handelte es sich um einen Mann, bei dem bereits die Verwesung eingesetzt hatte. Beide Fälle waren ernst und beängstigend gewesen.

„Die Sanitäter.“ Greiman versuchte, mit einem Taschentuch Schlammflecken von seiner teuren Hose zu wischen. „Sie bringen Kendra ins SOS.“ Das Dröhnen eines Motors, Blaulichter und Sirenengeheul bekräftigten seine Aussage. Der Rettungswagen raste in Richtung des Sisters-of-Sorrow-Krankenhauses davon.

„Da geht sie hin, unsere Mörderin. Ich besorge mir einen richterlichen Beschluss für das Beweismaterial unter ihren Fingernägeln und für die Blutproben im Krankenhaus“, sagte Greiman.

„Warum glaubst du, dass Kendra die Mörderin ist?“, fragte Angela.

„Hab ich doch schon gesagt.“ Greiman klang, als spräche er mit einem Kind. „Ich habe mit den Nachbarn gesprochen. Sie kam wie eine Wilde brüllend aus Luthers Haus herausgerannt. Mit ihrem Porno-Outfit hat sie die Feuerwehrmänner von der Arbeit abgelenkt – und bevor du mir jetzt wieder mit deinem feministischen Mist kommst, es waren Feuerwehrmänner und sie war praktisch nackt. Ihr bot sich die perfekte Inszenierung für einen Mord: Sie streitet sich öffentlich mit dem alten Sack, während er betrunken und scharf ist. Er demütigt sie. Sie übergießt ihn mit Benzin und grillt sich einen Schlappschwanz.“ Greimans Stimme wurde immer lauter. „Und vergiss nicht, sie hat erst gesagt, dass Luther noch im Haus sei, als es bereits zu spät für ihn war. Der alte Mistkerl war da schon tot.“

„Immer schön langsam. Hat irgendwer sie mit dem Benzin gesehen?“, fragte Angela. „Gibt es Belege, dass sie einen Kanister gekauft hat? Ihr habt nichts weiter als diesen halb geschmolzenen Behälter. Der wird euch keine Fingerabdrücke liefern.“

„Du würdest dich wundern. Außerdem stammt er aus der Gartenfirma ihres Vaters. Laut Zeugenaussagen war Jose heute Abend hier, genau vor dem Brand, und er hatte eine unschöne Auseinandersetzung mit Luther. Sechs Personen haben das mitbekommen. Dann haben die Nachbarn gehört, wie Kendra und ihr alter Herr sich auf mexikanisch unterhalten haben. Wahrscheinlich hat er ihr erklärt, wie sie Luther umbringen soll. Dann ist Jose wieder abgehauen und Kendra hat den alten Sack frittiert.“

Angela entging sein defensiver Ich-muss-mich-vor-dir-nicht-rechtfertigen-Tonfall nicht. Greimans letzte große Ermittlung, der Mord an Dr. Porter Gravois, war ein Debakel gewesen, das die alte Garde des Forests gespalten hatte. Die Befürworter des Detectives – der Forest-Adel – sorgten dafür, dass er eine Gehaltserhöhung bekam, aber es hieß auch, dass er für seine schlampige Ermittlung eine inoffizielle Verwarnung erhalten habe. Vielleicht hatte diese Eindruck hinterlassen. Selbst Angela musste zugeben, dass er diesmal wesentlich gründlicher vorging. Sich einen richterlichen Beschluss für die Blutproben und das Beweismaterial unter den Fingernägeln einer Verdächtigen zu besorgen, war die korrekte Vorgehensweise.

„Jetzt bist du dran. Den Tatort selbst kannst du dann morgen früh untersuchen, wenn das Haus gesichert wurde. Der Schmorbraten liegt auf dem Spineboard bei dem Beamten dort drüben“, sagte Greiman.

Er deutete auf einen Beamten um die zwanzig, der, leicht grün um die Nase, Luthers Leichnam bewachte. Angela griff nach ihrem Ermittler-Kit und zog den gewöhnlichen, schwarzen Koffer über den nassen Asphalt und den schlammigen Rasen, wobei sie sich auf dem rutschigen Untergrund mit ihrem Gehstock abstützte. Dies war keine typische Todesermittlung. Man hatte Luther von dem Ort, an dem er gestorben war, weggeholt, wodurch hilfreiche Hinweise möglicherweise zerstört worden waren. Die Sanitäter hatten ihn auf einem orangefarbenen Spineboard aus Plastik in einer gut beleuchteten Ecke des Gartens zurückgelassen und waren zum Krankenhaus gerast.

Luther sah noch viel schlimmer aus, als Angela befürchtet hatte. Der Kristall-Cowboy hatte kaum noch menschliche Züge. Nur ein kleiner Teil seines schlaffen Hinterns und Beckens auf der rechten Seite waren nicht verbrannt, aber die Haut dort war rot und versengt. Es dürfte eine besonders schwierige Todesermittlung werden. Sie würde noch Wochen später Albträume haben und es würde Wochen dauern, bis sie wieder Fleisch essen konnte. Brandopfer waren so viel schlimmer als stark verweste Leichen.

Sie näherte sich Luther langsam. Glücklicherweise nahm sie den übelkeiterregenden Gestank seiner verbrannten Haare und Haut nicht länger wahr. Manche Experten benutzten Masken oder Wick VapoRub zum Schutz, aber Angela bemerkte üble Gerüche nach einer Weile nicht mehr. Ihre Nase nahm sie einfach nicht mehr auf. Dafür konnte sie Luther klar und deutlich sehen. Um ein Uhr nachts bot er auf seiner orangefarbenen Bahre einen schauerlichen Anblick.

Beim Öffnen ihres Koffers zitterten Angelas Hände leicht, und ihre Knie fühlten sich weich an. In ihrem Kit befanden sich ein Aufzeichnungsgerät, Thermometer für Körper- und Außentemperaturen, ein Maßband, Fläschchen, wiederverschließbare Beutel, Papiertüten und Plastikbehälter, die man normalerweise für Essensreste verwendete. Diese hier waren jedoch für die Leichenhalle bestimmt, nicht für die Mikrowelle.

Wie so viele Leichen erschien auch Luther im Tod kleiner. Allerdings war er tatsächlich geschrumpft. Brandopfer verloren bis zu sechzig Prozent ihres Gewichts.

Mit ihrem Maßband erfasste sie seine Größe (Länge, um genau zu sein) von einem Meter fünfundsiebzig. Der Gerichtsmediziner würde ihn wiegen. Vor ein paar Stunden war dieser verkohlte Brocken noch lebendig gewesen, voller Lust und Lachen und dank seiner sexy Verlobten von all seinen Freunden beneidet. Nun bot er einen erbärmlichen Anblick.

Angela wappnete sich für die Untersuchung des Leichnams und ihre gewohnte Routine. Zuerst zog sie sich vier Paar Latexhandschuhe über. Während der Untersuchung würde sie ein Paar nach dem anderen abstreifen und in ihre Tasche stecken, damit sie die Leiche nicht mit Flüssigkeiten oder Fasern von anderen Stellen verunreinigte. Sie fotografierte Luther aus einigen Metern Entfernung, um den ganzen Körper zu erfassen, dann aus mittlerer Distanz, und schließlich machte sie noch ein paar Nahaufnahmen. Der Brandermittler und die Polizei hatten bereits ihre eigenen Fotos und Videos aufgenommen. Angelas waren für den Gerichtsmediziner. Sie hatte zwar keinen medizinischen Abschluss, war aber ausgebildet. Todesermittler waren eine Art Anwaltsgehilfen für die Rechtsmedizin. Luther durch ein Kameraobjektiv zu betrachten, beruhigte ihren Magen, der einem aufgewühlten, stürmischen Ozean glich.

Angela rief das entsprechende Formular auf ihrem iPad auf: Leiche eines Brandopfers. Die erste Frage war leicht zu beantworten. Luther war eindeutig von Kendra identifiziert worden. In der Leichenhalle würde der Gerichtsmediziner den Leichnam röntgen, um die Präsenz von Fremdkörpern auszuschließen – beispielsweise Kugeln oder Messerspitzen –, die sie bei ihrer visuellen Untersuchung übersehen könnte. Die routinemäßigen Fragen des Formulars beruhigten sie und brachten Ordnung in dieses höllische Chaos.

Sind thermische Verletzungen vorhanden? Luthers Arme befanden sich in der typisch „faustkämpferischen Haltung“ eines Brandopfers, als hätte er neun Runden gegen den Tod gekämpft und verloren. Seine Armmuskeln hatten sich in der Hitze zusammengezogen. Normalerweise würde sie jede Schnittwunde („schnittähnliche Verletzung“) und Prellung („Kontusion“) an der Leiche notieren. In diesem Fall maß sie lediglich die Verbrennungen und Brandblasen auf seiner versengten Haut, von seinem Kopf bis zu seinen schwarzen, zweigartigen Fingerknochen. Vorsichtig zog sie Papiertüten über seine brüchigen Hände und sicherte diese mit Gummibändern. Sie könnten beim Transport in die Leichenhalle zerbrechen. Sie konnte keinen Schmuck entdecken, aber er hatte auch keinen Finger mehr, an dem ein Ring stecken könnte. Die Hitze eines Brandes ließ Knochen spröde werden und so konnten sie leicht brechen, wenn die Leiche bewegt wurde. Angela vermerkte, dass sie keine Knochen sah, die aus der Haut hervorstanden.

Ihr Magen verkrampfte sich, aber sie wusste auch, dass der Anblick viel schlimmer hätte sein können. Manchmal zerbarst der verbrannte Schädel und das zerkochte Gehirn quoll heraus. So etwas hatte sie selbst nie miterlebt und hoffte, dass es auch so bliebe. Sie schüttelte den grausigen Gedanken ab und widmete sich der nächsten Frage.

Haarfarbe? Luthers beeindruckende, weiße Mähne war gänzlich abgebrannt, aber Angela kannte die Farbe und notierte das fehlende Haupthaar.

Augenfarbe? Das konnte sie nicht sagen. Die Augen waren zerkocht und geschrumpelt. Sie kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Konzentriere dich, ermahnte sie sich. Es ist deine Aufgabe, Luther zu helfen.Er war ein reicher, alter Trottel, der von seiner Libido gesteuert wurde, aber jetzt braucht er deine Kompetenz. Der Mann, der mächtig genug gewesen war, um seiner jungen Geliebten zwei Millionen Dollar zu schenken, war nun nichts weiter als ein Haufen brüchiges Zündholz.

Wurde die Kleidung des Opfers von dem Feuer verbrannt? Luther trug die Überreste weißer Seidenboxershorts: einen geschmolzenen Elastikbund und gerade genug Stoff daran, um seine Genitalien zu bedecken. Sonst sah sie kein Anzeichen von Kleidung. Sie entfernte die Reste seiner Unterhose nicht. Das war ein Job für den Rechtsmediziner.

Roch die Kleidung nach einem Erdölprodukt? Widerwillig beugte Angela sich weiter vor, konnte aber weder Öl noch Benzin riechen.

War das Opfer bekannterweise Raucher? Befanden sich Raucherutensilien in den Taschen der Kleidung? Angela wusste, dass Luther Zigarren rauchte, konnte aber keine Raucherutensilien an der Leiche entdecken. Der Brandermittler musste später herausfinden, wie viele Zigarren er am Tag geraucht hatte und ob ebenfalls Zigaretten, Pfeife, Gras oder stärkere Substanzen. Sie wusste, dass viele ansonsten gesetzestreue, ältere Einwohner gerne ab und an kifften. Manchmal versuchten deren Familien, illegale Substanzen vor der Todesermittlung zu verstecken, und Angela musste jedes Mal behutsam erklären, dass sie nicht mit der Drogenbehörde zusammenarbeitete, aber akkurate Informationen für ihre Untersuchung benötigte.

Konsumierte das Opfer Alkohol? Ja. Der Forest wusste, dass er ein Trinker war. Greiman sagte, dass Luther am Abend zuvor Bier getrunken und sich Viagra eingeworfen habe. Dies würde der Chefpathologe des Forests, Dr. Evarts Evans, bestätigen müssen.

War das Opfer bekannt dafür, exzessiv zu trinken? Ja. Angela wusste nicht, wie viel er heute Nacht – oder vielmehr gestern Nacht – getrunken hatte, aber es musste eine Menge gewesen sein. Falls sein Körper für einen Blutalkoholtest zu verbrannt war, würde der Gerichtsmediziner für die Obduktion ein Stück des Gehirns verwenden müssen.

Führen Sie sämtliche verschriebenen Medikamente des Opfers auf. Da dies eine Brand- und Polizeiermittlung war, würden die Verantwortlichen diese Informationen später von Luthers Arzt einholen müssen. Die meisten Leute im Forest wurden von Dr. Carmen Bartlett behandelt. Greiman sagte, Luther habe eine Tablette – Viagra – geschluckt und mit einem Bier und einem härteren Drink hinuntergespült. Eine gefährliche Kombination. Hatte Doc Bartlett ihm Viagra verschrieben oder hatte Luther es von einer illegalen Quelle erhalten? Selbst virile, junge Männer nahmen Viagra in dem Glauben, dass es ihre Leistungsfähigkeit steigerte. Während der königlichen Hochzeit von William und Kate brachte eine schottische Brauerei ein limitiertes India Pale Ale heraus – gestreckt mit Viagra, Schokolade, Ziegenkraut und „einem gesunden Schuss Sarkasmus“ –, das „Arise Prince Willy“ getauft wurde. Warum muss ich jetzt daran denken?, fragte Angela sich, obwohl es ihr klar war. Sie hatte sich bewusst von dem schrecklichen Anblick auf dem Spineboard ablenken wollen. Sie schüttelte den Kopf, um ihre verwirrten Gedanken zu ordnen, und widmete sich der nächsten Frage.

Haben die medizinischen Beschwerden des Opfers möglicherweise zu dem Brand beigetragen oder zu seiner/ihrer Unfähigkeit, den Brandort zu verlassen? Falls ja, näher ausführen. Laut Ollie Champlain war Luther bei seiner Heimkehr sturzbetrunken gewesen. Opfer war stark angetrunken, als es zum letzten Mal lebend gesehen wurde, schrieb sie. Die Nachbarn hatten Greiman erzählt, der alte Mann sei äußerst angriffslustig gewesen – zumindest hatte Greiman ihr das berichtet. Luther hatte sich mit Kendras Vater gestritten. Hätte die einundzwanzigjährige Kendra den betrunkenen Luther die Treppe hinuntertragen können? Hätte sie ihn überwältigen können, wenn er sich gewehrt hätte? War er zu betrunken oder durch den Rauch zu verwirrt gewesen, um ihren Fluchtanweisungen Folge zu leisten? Hatte sie überhaupt versucht, Luther zu retten? Laut dem Tratsch im Forest hatte sie zwei Millionen allein dafür bekommen, seinen obszön großen Klunker zu tragen. Sie hätte ihn dem Tod überlassen und das Geld trotzdem einheimsen können. Und wie sollten Greiman und der Brandermittler das feststellen? Waren sie clever und unvoreingenommen genug, um herauszufinden, was wirklich geschehen war? Angesichts Angelas früherer Erfahrungen lautete die Antwort Nein. Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Fragebogen.

Wurde ein Wiederbelebungsversuch unternommen? Wurde dem Opfer Sauerstoff zugeführt? Ein Nein für beide Fragen. Für Luther war es bereits zu spät gewesen.

Haben Zeugen Schreie des Opfers gehört?Das war die Schlüsselfrage, dachte Angela. Sie war froh, dass diese Frage in ihrem Formular enthalten war. Nach der Untersuchung würde sie sich ein wenig umhören. Greiman hatte schon öfter voreilige Schlüsse gezogen. Es war nicht ihre Aufgabe, in diesem Todesfall zu ermitteln … Eigentlich verstieß das sogar gegen das Gesetz. Die Polizei und Brandermittler waren dafür verantwortlich.

Aber sie musste die Fakten aufzeichnen. Und sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um Kendra einen fairen Prozess zu ermöglichen.

KAPITEL 4

Tag 1

Ollie Champlain torkelte zu der Gruppe auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinüber, ein buckeliger Dämon, der zwischen den roten Blinklichtern und dem dichten Rauch rassistische Beschimpfungen ausspie.

„Pst, Ollie! Sag so etwas nicht!“ Angela erkannte die Frau, die Ollie ermahnt hatte. Eine dürre Blondine in Designer-Jeans. Virginia Carondelet.

„Ich sag’s nur so, wie es ist.“ Ollie streckte die magere Brust heraus. „Die kleine Chilifresserin hat meinen Freund ermordet.“

„Nicht so laut.“ Virginia blickte unbehaglich drein. Im Forest wurden solche Ausdrücke nur in geschlossenen Kreisen verwendet.

„Ich beschäftige einige Mexikaner. Die meisten von ihnen arbeiten hart und ich kann sie gut leiden. Aber wenn es zu viele werden, ändert sich der Ton. Die sind nicht wie wir.“ Der gelangweilte Tonfall gehörte zu Nick, Virginias Ehemann. Das Paar war Teil der jüngeren Forest-Elite. Nick hatte noch immer den aalglatten College-Boy-Look an sich, auch wenn sein Gesicht etwas zu langweilig war, als dass man ihn als wirklich gut aussehend hätte bezeichnen können. Angela war mit den beiden zur Schule gegangen.

„Daddy heuert auch ziemlich viele Mexikaner an. Die sind billige Arbeitskräfte“, sagte Bebe Du Pres Bradford, eine füllige, hübsche Blondine, deren blasse Haut beinahe durchsichtig war. Bebe, Nick und Virginia hielten silberne Flachmänner in den Händen. Der Alkohol musste sie wärmen. Keiner von ihnen war für die nächtliche Kälte um drei Uhr passend angezogen.

„Hi, Angela.“ Virginia winkte sie zu sich herüber, als befänden sie sich auf einer Party. Nein, das stimmte nicht ganz, dachte Angela. Dafür war die Stimmung zu gedämpft. Vielmehr wie auf einer Gedenkfeier. „Du kennst doch Ollie, nicht wahr? Gesell dich ein wenig zu uns.“

Virginia reichte Ollie ihren silbernen Flachmann voll Wodka. Der Alkohol rann Ollies faltigen Hals hinunter, als er einen großen Schluck nahm. „Danke, meine Liebe.“ Er küsste sie schmatzend auf die glatte Wange, und sie zuckte leicht. Geschieht dir recht, dachte Angela. Dein Alkohol nährt seinen brennenden Hass nur noch mehr.

Nachdem sie die Untersuchung von Luthers Leichnam beendet hatte, bewegte sich Angela vorsichtig über die nasse Straße. Mithilfe ihres Gehstocks umging sie die Pfützen und Löschschläuche. Sie wollte herausfinden, ob irgendwer Luther vor Ausbruch des Feuers um Hilfe hatte schreien hören.

„Wollen Sie einen Drink, Angela?“, fragte Bebe. „Ich habe hier Urgroßmutter Du Pres’ Bathtub-Gin-Flachmann aus den wilden Zwanzigern. Wir trinken Belvedere, Nick hätte Macallan anzubieten. Frisch aus dem Eisfach.“

„Nein, danke. Ich bin im Dienst.“

„Wir arbeiten auch schwer“, sagte Virginia. „An den Millilitern hier!“ Sie kicherte, doch ein missbilligender Blick ihres Mannes ließ sie verstummen. „Wir wollen nicht respektlos erscheinen, aber ein paar Drinks helfen uns, diese Tragödie zu verarbeiten. Wir haben gesehen, wie die Feuerwehrmänner Luther herausgetragen haben. Zumindest glaube ich, dass er das war.“

Bei dem Gedanken an den Anblick des verkohlten Kristall-Cowboys wurde Angela übel.

„Diese mexikanische Goldgräberin hat es jetzt wohl geschafft“, sagte Virginia.

Angela erwiderte nichts darauf, und die angetrunkene Virginia deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Silberflachmann, der im grellen Licht der tragbaren Leuchten schimmerte.

Mexikanische Goldgräberin? Angela konnte das nicht auf sich beruhen lassen. „Kendra wurde hier im Forest geboren.“

„Sei keine Spielverderberin, Schätzchen“, sagte Virginia. „Sie hat unseren Luther umgebracht.“

Unseren Luther? Vor dem Brand hatte der Forest ihn noch als trunkenen Ehebrecher verurteilt, der eine „anständige Frau“ betrogen hatte. Das Feuer hatte wohl seine Sünden reingewaschen.

„Wir haben ganz vorzüglichen Klatsch und Tratsch“, sagte Virginia. „Bebe arbeitet bei Luthers Anwalt. Sie hat ganz schön viel aus der Schule geplaudert.“

„Habe ich nicht!“, sagte Bebe mit gespielter Empörung. „Luther selbst hat es überall rumerzählt.“ Sie nahm einen tiefen Schluck ihres eisgekühlten Wodkas.

„Angela weiß bestimmt nichts“, sagte Virginia. „Sie ist ein Arbeitstier. Aber keine Spießerin, oder, Schätzchen?“ Sie gestikulierte wild mit ihrem Flachmann und verschüttete etwas Alkohol auf ihren Kaschmirpullover. „Ups!“

„Raus damit!“, sagte Angela.

Virginia senkte die Stimme. „Luther bot Priscilla eine Million Dollar für eine schnelle Scheidung an. Missouri legt dafür ein Minimum von dreißig Tagen fest. Aber sie hat das Angebot ausgeschlagen. Priscilla hat ihr eigenes Vermögen und sagte, sie werde jeden Cent dafür hernehmen, um zu verhindern, dass Luther diese kleine Ausspannerin heiratet. Sie hat die Scheidungspapiere nie unterschrieben, also ist sie noch immer die nächste Angehörige. Ganz schön schlau von ihr, nicht wahr? Jetzt ist sie sowohl Erbin als auch Witwe.“

„Ich habe gehört, dass Luther Kendra bei der Verlobung zwei Millionen gegeben haben soll“, sagte Angela.

„Da seht ihr’s“, sagte Bebe. „Ich habe doch gesagt, dass das nicht geheim war. Luther bot auch seiner Tochter eine Million, damit sie ihre Mutter umstimmt, aber Eve hat ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Das hat sie uns alles heute Abend – besser gesagt gestern Abend – beim Grillen am Pool erzählt.“

„Eve ist etwa gegen neun gegangen, bevor das Feuer ausgebrochen ist“, sagte Virginia. „Ob sie sich das Ganze wohl zu Hause im Fernsehen ansieht? Übrigens hat Luther seine Mexikanerin dort drüben im Pool gevögelt.“

„Er hat es zumindest versucht“, warf Bebe ein. „Sie ist im letzten Moment entwischt und zu ihrem Auto gerannt. Luther lief ihr hinterher, fasste sich in den Schritt und rief: ‚Baby, ich liebe dich! Lass mich dir zeigen, wie sehr.‘“

„Igitt“, sagte Angela.

„Ich kann nicht glauben, dass meine Nagelpflegerin eine Mörderin ist“, sagte Virginia. „Ich mochte Kendra eigentlich.“

„Glaubst du wirklich, dass Kendra ihn getötet hat?“, fragte Angela.

„Wir haben alle gesehen, wie sie in ihrem geschmacklosen Spitzenfummel aus der Haustür gerannt kam, etwa zu der Zeit, als der Rauch aus dem Schlafzimmerfenster quoll, aber niemand kann sich erinnern, dass Kendra zurück ins Haus ging, um Luther zu retten – das tat sie erst, als sich genug Zeugen versammelt hatten.“

„Hat jemand Luther um Hilfe rufen hören, als es zu brennen anfing?“, fragte Angela.

„Keinen Mucks“, sagte Nick. „Da war er schon tot. Das listige, kleine Biest hat sichergestellt, dass es zu spät für ihn war, bevor sie um Hilfe gebrüllt hat.“

„In ihrem halbnackten Aufzug hat sie die Feuerwehrleute von ihrem Job abgelenkt“, fügte Bebe hinzu. „Das hat sie absichtlich getan, um den armen Luther zu töten.“

Den armen Luther?, wunderte sich Angela. Der Geächtete des Forests wurde plötzlich zum „armen Luther“. Wieder einmal beschützte der Forest die Seinen – selbst diejenigen, die überhaupt nicht dazugehören wollten. Sie musste an Kendras Anblick denken, bevor sie in den Krankenwagen verfrachtet worden war. Ihre Hände und Füße waren blutig gewesen, ihr Haar angesengt. Sie hatte ausgesehen wie ein Opfer. Doch in den Augen dieser Meute war die minderwertige Kendra eine Mörderin.

„Sie ist die Brandstifterin.“ Bebes Stimme war schrill vor Aufregung. „Sie legt die ganzen Brände.“

Virginia nickte wissend und rülpste. „Sie hasst uns. Die alle hassen uns. Denkt doch nur an die Opfer der Brände.“ Sie zählte sie an ihren langen, manikürten Fingern ab – mit Nägeln, die feuerrot lackiert worden waren von der Frau, die sie gerade beschuldigte. „Das erste Feuer wurde in einer historischen Scheune gelegt, wodurch ein Stück unserer Geschichte zerstört worden ist. Als Nächstes war das Poolhaus der Hobarts dran. Komplett abgebrannt.“

„Die arme Familie hat so viel durchmachen müssen“, sagte Bebe.

„Der Brand im Poolhaus war keine schöne Sache“, sagte Angela. „Aber letztes Jahr ist ihre Tochter bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Konzentriert euch auf das wirklich Wichtige, Leute.

„Angeblich haben die Brandstifter vor dem Feuer bei den Hobarts dort Party gemacht. Mit Bier. Billigem Alkohol.“ Bebe senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Heroin. Die Mexikaner haben gefeiert, während das Gebäude abgebrannt ist.“

„Mexikaner?“, fragte Angela. „Es gibt mehr als einen Brandstifter?“

„Ihr Vater ist doch Mexikaner, oder nicht?“, sagte Virginia. „Er hat es so weit gebracht in diesem Land, und jetzt wendet er sich gegen uns.“

„Ihre Mutter ist auch nicht besser“, fügte Bebe hinzu. „Sie putzt Häuser und bringt immer mehr Mexikaner hierher.“

„Es ist traurig“, sagte Virginia. „Kendra ist eine gute Nagelpflegerin. Sie schiebt mich immer ein, wenn ich mir einen Nagel abbreche und einen Notfalltermin brauche. Aber wir müssen die persönlichen Gefühle außer Acht lassen und uns auf die Fakten konzentrieren. Das hier ist das dritte Feuer. Erst war es unser Besitz. Jetzt verbrennen sie uns bei lebendigem Leib in unseren Betten. Sie werden den ganzen Forest niederbrennen und dann all ihre Verwandten hierher umsiedeln.“

„Das glaube ich auch“, stimmte Nick ihr zu. Der blonde Schnösel sprach, als hätte er Murmeln im Mund. „Wie ich schon sagte, einer oder zwei von ihnen sind kein Problem. Aber jetzt kippt das Gleichgewicht und es wird gefährlich. Kendra hat die anderen Brände als Ablenkung benutzt, um unseren Luther zu töten.“

„Sie ist clever“, pflichtete Virginia ihm bei. „Aber sie hat es nicht allein getan. Sie hatte Hilfe, und nicht nur von ihrer Familie. Vor dem Feuer habe ich einen schwarzen Mann um Luthers Haus herumschleichen sehen. Die sind genauso schlimm wie die Mexikaner.“

„Wie hat er ausgesehen?“ Bebes Augen funkelten vor Neugierde.

„Groß. Muskulöse Arme. Er trug …“ Virginia nahm einen weiteren Schluck. „Goldketten. Ich habe sie im Licht glänzen sehen.“

Der mysteriöse, schwarze Mann, dachte Angela. Er tauchte an jedem Tatort in weißen Vierteln auf.

„Wenn Jose Luther umgebracht hätte, müsste seine Tochter den Alten nicht mehr heiraten“, sagte Nick. „Er hat garantiert seine Finger mit im Spiel.“

Alle nickten zustimmend, bis auf ein Paar, das gerade hinzugekommen war, Ann Burris und Dr. Bryan Berry. Ann trug ein bronzefarbenes Pailletten-Etuikleid und Bryan einen maßgeschneiderten Smoking.

„Ich glaube nicht, dass Jose oder Kendra das Feuer gelegt haben.“ Anns Pailletten glitzerten im Licht der tragbaren Leuchten. Sie und Bryan waren das glamouröseste Paar im ganzen Forest. Ann weigerte sich, die von der Elite bevorzugte, biedere Abendkleidung zu tragen und veranstaltete stets die beliebtesten Partys und Wohltätigkeitsbälle. Bryan vollführte komplizierte, zahnmedizinische Eingriffe und brauste mit seinem Porsche durch die Gegend. Sie waren die Einzigen, die es wagen konnten, sich der Meinung des Forests zu widersetzen.

„Kendra macht meine Nägel.“ Anns Nägel waren lang, hart und trendig rot lackiert.

„Also bist du die Expertin, nur weil sie deine Nägel lackiert?“ Virginia hatte genug Wodka intus, um Ann herauszufordern.

„Wir unterhalten uns während meiner Termine bei ihr. Kendra ist ein liebes, fleißiges Mädchen.“

„O ja, und wie fleißig.“ Bebes blasse Wangen waren knallrot. „Vor allem auf dem Rücken.“

„Luther war als Verlobter nicht die beste Wahl“, sagte Ann. „Aber sie hatte ihre Gründe.“

„Sie hatte zwei Millionen Gründe“, sagte Nick. „Wenn du so gut Bescheid weißt, wer hat dann die Feuer gelegt?“

„Gelangweilte Teenager“, erwiderte Ann.

„Reggie Du Pres hat der Polizei aufgetragen, die Toonerville-Kids zu überwachen“, sagte Bebe. „Dazu hat er extra eine Versammlung einberufen. Mutter hat es mir erzählt.“

„Nicht die Teens aus Toonerville sind die Brandstifter“, stellte Ann klar. „Sondern die Forest-Kids. Die sind gelangweilt. Der Sommer steht bevor und mit ihm eintönige Praktika oder noch eintönigere Ferienarbeit im Familienbetrieb.“

Die Luft um das goldene Paar kühlte deutlich ab. Niemand beschuldigte die Söhne oder Töchter des Forests des Verbrechens. „Lächerlich“, sagte Virginia. Bebe kicherte schrill.

„Du bist eine zauberhafte Frau, Ann, aber da liegst du falsch“, sagte Nick. „Wir fügen unserer Gemeinschaft keinen Schaden zu.“

„Du siehst wirklich bezaubernd aus, meine Liebe“, versuchte Bebe unbeholfen, das Thema zu wechseln. „Wart ihr auf einer Party?“

„Wir tranken Cocktails mit den Freunden der Bibliothek. Die arme Priscilla war ebenfalls dort. Endlich habe ich sie mal zum Ausgehen überreden können, und dann hat ihr jemand von Luthers peinlichem Auftritt heute Abend erzählt. Da hat sie sich plötzlich nicht gut gefühlt. Immerhin hat sie die Party gegen neun Uhr verlassen und diesen ganzen Zirkus hier nicht mitbekommen.“

KAPITEL 5

Tag 1

Eine kleine, rundliche Frau mit krausem, grauem Haar erschien plötzlich aus dem Rauch und Durcheinander und zupfte Angela am Ärmel ihres schwarzen Hosenanzugs. „Entschuldigen Sie, sind Sie die Tochter von Elise?“

Die Frau sah aus wie eine gute Fee nach Dienstschluss. Sie war um die sechzig, etwa im gleichen Alter wie Angelas verstorbene Mutter. Die grelle Beleuchtung betonte jede Falte und Furche in ihrem Gesicht, ebenso wie ihre blassblauen Augen, die dunklen Flecken auf ihrem gelben Hosenanzug aus Polyester und den Schlamm an ihren weißen Schwesternschuhen.

„Ich bin Minnie Lynn Dunbar.“ Angela konnte sie über den Lärm der Löschfahrzeuge kaum verstehen. Diese Frau könnte ihr vielleicht die Hauptfrage in Bezug auf Luther beantworten. Der Begriff „brennende Frage“ schoss ihr durch den Kopf und sie schob ihn beiseite.

„Sie erinnern sich bestimmt nicht an mich, aber ich habe gemeinsam mit Ihrer Mutter bei den Du Pres’ gearbeitet. Da waren Sie noch ganz klein.“

Angela erinnerte sich dunkel an eine rundliche Frau, die nach Lavendelcreme duftete und ihr in der zugigen, alten Küche der Du Pres’ Plätzchen zusteckte. „Sie haben beim Putzen geholfen und mir selbstgemachte Zimtplätzchen gegeben.“

„Sie erinnern sich ja doch an mich. Oder zumindest an meine Cookies.“

Angela schüttelte ihr die starke, abgearbeitete Hand. Minnie Lynns Nägel waren kurz geschnitten und nicht lackiert. Sie erinnerten Angela an die Hände ihrer Mutter.

„Ich habe den Forest verlassen, um zu heiraten. Jetzt bin ich Witwe und wieder zurückgezogen, um für die Hobarts zu arbeiten. Ich wohne zwei Häuser weiter und leite den Haushalt bei Miss Eudora Hobart, einer neunzigjährigen Jungfer. Sie sehen aus wie Ihre Mutter. Sie haben dieselben hübschen, braunen Haare. Daran habe ich Sie erkannt. Und Sie sind groß, wie Ihr Vater. Sind Sie so um die eins fünfundsiebzig?“, fragte Minnie Lynn.

„Eins achtzig.“

„Beachtlich.“ Die ältere Frau schien Angelas Körpergröße als außerordentliche Leistung zu erachten. „Warum sind Sie um diese Uhrzeit in Arbeitskleidung unterwegs?“

„Ich bin Todesermittlerin für das Chouteau County.“

„Ein College-Job“, sagte Minnie und klang beeindruckt. „Das ist eine furchtbare Nacht. Einfach furchtbar.“

Sie schüttelte betrübt den Kopf, aber in ihrer Stimme schwang ein Anflug von Schadenfreude mit.

„Untersuchen Sie den Mord an Luther?“

Mord? „Wir wissen nicht, wie er gestorben ist“, sagte Angela.

„Ich weiß es. Sie hat ihn getötet.“

„Kendra?“

„Ein Flittchen, wie es im Buche steht.“ Minnies Gesicht leuchtete vor Eifer und sie schien erpicht darauf, Kendra und Luther zu verurteilen. „Er hat Miss Priscilla verlassen, um hinter diesem …“ Minnie suchte nach den richtigen Worten. „Diesem Luder herzujagen. Der schrumpelige, alte Dummkopf hatte keine Scham. Er dachte ernsthaft, eine so junge Frau hätte Interesse an ihm. Aber sie war nur an der Ausbeulung in seiner Hose interessiert, und damit meine ich nicht sein Ding. Sie war hinter seinem Geldbeutel her. Der ist bekannterweise groß und hart.“

„Wann haben Sie Luther heute Abend zum letzten Mal gesehen? Vor dem Brand?“

„Er kam so gegen neun Uhr nach Hause, in seinem albernen Cowboy-Outfit. Sie hat seinen Mercedes gefahren. Hatte ein enges Kleid und seinen Verlobungsring an. Ein protziges Teil mit einem Diamanten von der Größe eines Golfballs.“

„Haben sie sich gestritten?“

„Nicht direkt. Er war sturzbetrunken und hat sie begrapscht, so wie immer. Hatte seine mit Leberflecken übersäten Griffel an ihrem Busen, in aller Öffentlichkeit. Und sie hat es auch noch zugelassen. Die Frau gibt den Ton in der Beziehung an.“ Minnie plusterte sich auf wie eine rechtschaffene Henne. Sie brachte Kendras Namen nicht über die Lippen.

„Er war so besoffen, dass er kaum aufrecht stehen konnte. Immer wieder hat er zu ihr gesagt, sie solle ihren weißen Spitzen…“ Sie hielt inne, bevor sie schnell fortfuhr: „Ihren weißen Spitzen-F-Body anziehen. Er hat das F-Wort oft gesagt. Es hat etwas gedauert, bis sie den alten Kauz ins Haus befördert hatte. Ich hatte es mir gerade mit einer Tasse Tee vor dem Fernseher gemütlich gemacht, als ihr Vater angestürmt kam und an Luthers Tür hämmerte. Er ist ein Mexikaner, wissen Sie? Luther und Jose haben sich an der Haustür gestritten. So laut, dass ich es hören konnte.“

Ob Minnie Lynn wohl den Fernseher ausgeschaltet und durch das Fenster gespäht hatte, um den Streit besser mitzubekommen?

„Gott sei Dank verbringen Miss Eudora und ihre Betreuerin die Nacht im Haus der Hobarts. Sie sollten dieser Art von Kraftausdrücken nicht ausgesetzt sein – oder einer solchen Auseinandersetzung.“

„Worüber haben sich die beiden gestritten?“

„Jose sagte, seine Tochter solle die Verlobung auflösen und nach Hause kommen, weil Luther sie nicht respektiere. Dann sagte Luther, er respektiere ihre Art zu …“ Sie hielt inne und senkte erneut die Stimme, obwohl keiner der umstehenden Schaulustigen sie hören konnte. „Da hat er erneut das F-Wort verwendet. Sie sei besser als eine Professionelle.

Jose versuchte, Luther zu schlagen. Kendra schrie ihren Vater an, er solle aufhören, und wollte Luther wieder hineinzerren. Sie war verärgert und weinte. Jose sagte, wenn sie weiterhin darauf bestünde, Luther zu heiraten, solle sie bis zur Hochzeit bei ihren Eltern wohnen. Sie sagte, sie wolle bei ihrem Verlobten bleiben, bis er sich beruhigt hätte und würde dann die Nacht in ihrer Wohnung verbringen. Sie hat ein nettes Apartment in Toonerville. Danach haben sie auf mexikanisch weitergesprochen. Ich habe gesehen, wie sie den Kopf schüttelte und versuchte, die Tür zu schließen.

Luther war immer noch aufgebracht. Er hat sie zur Seite gestoßen und Jose angebrüllt, dass er gefeuert sei. ‚Ich mach dich bankrott, du beschissener Bohnenfresser!‘, hat er geschrien.“

„Das hat Luther vor Kendra gesagt?“, fragte Angela.

„Hat er. Und sie hat nichts dazu gesagt. Sie hat ihn hineingezogen, während er weiterbrüllte, und hat die Tür zugeknallt. Dann war alles still. Als Nächstes roch ich plötzlich Rauch und sah, wie Flammen aus Luthers Schlafzimmer schlugen. Sie rannte draußen in Unterwäsche herum, die keine anständige Frau je anziehen würde. Sie war hysterische und fluchte. Das F-Wort fiel ständig. Ich habe sie nicht sagen hören, dass Luther noch im Haus sei, bis mehrere Leute sich versammelt hatten. Aber da war es bereits zu spät.“

„Haben Sie Luther nach Hilfe rufen hören, bevor es angefangen hat zu brennen?“

„Nein. Das konnte er nicht. Sie hat ihn umgebracht. Hat ihn mit Benzin übergossen. Sie hatte einen Kanister an der Tür. Der hat ihrem Vater gehört. Ich habe ihn dort vor dem Brand stehen sehen.“

Minnie zitterte und gähnte. „Es ist kalt“, sagte Angela. „Warum bringe ich Sie nicht nach Hause und mache Ihnen eine Tasse Tee?“

„Nein, danke. Ich müsste längst im Bett sein. Ich lasse Sie weiterarbeiten.“ Angela begleitete Minnie zurück zu Miss Eudoras Haus, einem dreistöckigen Ziegelgebäude mit schwarz lackierten Doppeltüren. Sie umarmte Minnie zum Abschied und wartete, bis die Haushälterin ihr aus dem Wohnzimmer zuwinkte und die Vorhänge schloss.

Angela sah einen großen, schwarzen Mercedes die Straße hinaufbrausen, für den die meisten Forest-Einwohner mit Sicherheit ihre Seele verkaufen würden. Das schnittige, angeberische Auto hielt kreischend neben Virginia, Nick und Bebe an. Angela erkannte Eve Delor DeMun, die Tochter, mit der Luther sich zerstritten hatte, als sie den Kopf aus dem Fenster steckte. Eves sonst so glattes, attraktives Gesicht war wutverzerrt. Die blinkenden Notlichter warfen blutige Muster auf ihr blondes Haar. „Wo ist dieser elende Mistkerl?“, schrie sie.

„Dein Vater?“, fragte Virginia. Sie wirkte unsicher und leicht verängstigt.

„Wer denn sonst, du dämliche Kuh?“

„Äh“, sagte Virginia.

Nick stellte sich schützend vor seine Frau. „Eve, es tut mir leid, aber du solltest dich auf das Schlimmste gefasst machen.“

„Und was soll das sein?“, kreischte sie.

„Luther ist verstorben.“

Eve brach in schrilles Gelächter aus. Der hässliche Ton ließ Angela erschaudern. „Also ist er tot?“ Eve wischte sich die Tränen aus den Augen. „Das soll das Schlimmste sein? Wo ist sie?“ Ihr Blick wanderte über die Menge. „Ist sie auch tot?“

„Nein, sie ist im Krankenhaus“, sagte Nick. „Anscheinend ist sie mit kleineren Verletzungen davongekommen.“ Seine vernünftigen Worte konnten Eve nicht beruhigen.

„Jetzt behält sie also die zwei Millionen Dollar meines Vaters? Sie konnte nicht mal bis nach der Hochzeit warten, um ihn umzubringen? Immerhin wird sie in der Hölle schmoren. Es wäre nur gerecht, wenn sie auch stürbe.“

KAPITEL 6

Tag 1

Zurück zu Hause ging Angela erst einmal duschen. Sie schrubbte sich mehrfach ab in dem Versuch, den Gestank von Rauch, verkohltem Fleisch und verbranntem Haar loszuwerden. Sie seifte ihr Haar ein und wusch es aus – ein, zwei, drei Mal – bis es unter dem heißen Wasser quietschte. Sie fuhr sich mit dem Schwamm über die Gliedmaßen, bis ihre Haut rot und rau war, aber der Geruch von Rauch und verkohltem Fleisch lag ihr noch immer in der Nase. Den Gedanken, dass Luthers Moleküle noch darin steckten, schob sie beiseite.