So dunkel die Gier - Elaine Viets - E-Book
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So dunkel die Gier E-Book

Elaine Viets

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Beschreibung

Nur ein Moment, der dein ganzes Leben verändert …
Der beklemmende Roman für Fans von Elizabeth George

Als ein Teenager bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kommt, ist die Mordermittlerin Angela Richman eine der ersten am Tatort. Doch kaum hat sie sich in die Ermittlungen vertieft, erleidet sie mehrere Schlaganfälle hintereinander. Vom ansässigen Neurologen Dr. Gravois fehldiagnostiziert und vom unbeholfenen, aber brillanten Neurochirurgen Dr. Jeb Travis Tritt geheilt, steht Angela vor einer schwierigen Genesung. Dann wird Dr. Gravois ermordet und ausgerechnet ihr Retter Dr. Tritt ist der Hauptverdächtige in dem Fall. Angela glaubt an Dr. Tritts Unschuld, aber kann sie ihren Instinkten vertrauen?

Dies ist die Neuauflage des bereits erschienenen Romans Spur der Toten.

Erste Leserstimmen
„sehr gut unterhaltender Roman"
„Bedrückend, bedrohlich, begeisternd!“
Elaine Viets hat hier einen sehr cleveren und vielschichtigen Roman vorgelegt.“
„Ein mitreißender Roman mit symphatischer Hauptfigur."

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Seitenzahl: 451

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Über dieses E-Book

Als ein Teenager bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kommt, ist die Mordermittlerin Angela Richman eine der ersten am Tatort. Doch kaum hat sie sich in die Ermittlungen vertieft, erleidet sie mehrere Schlaganfälle hintereinander. Vom ansässigen Neurologen Dr. Gravois fehldiagnostiziert und vom unbeholfenen, aber brillanten Neurochirurgen Dr. Jeb Travis Tritt geheilt, steht Angela vor einer schwierigen Genesung. Dann wird Dr. Gravois ermordet und ausgerechnet ihr Retter Dr. Tritt ist der Hauptverdächtige in dem Fall. Angela glaubt an Dr. Tritts Unschuld, aber kann sie ihren Instinkten vertrauen?

Dies ist die Neuauflage des bereits erschienenen Romans Spur der Toten.

Impressum

Erstausgabe 2016 Überarbeitete Neuausgabe November 2020

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-307-8

Copyright © 2016, Elaine Viets Titel des englischen Originals: Brainstorm

Copyright © 2020, dp Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2020 bei dp Verlag erschienenen Titels Spur der Toten. (ISBN: 978-3-96817-090-9).

Übersetzt von: Annika Mirwald Covergestaltung: Eva Kuch unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Evannovostro, © Arh-sib, © Matt Benzero Korrektorat: Katrin Gönnewig

E-Book-Version 11.01.2024, 10:31:31.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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So dunkel die Gier

Für Don, der sein Versprechen in guten und in schlechten Zeiten, in Reichtum und Armut, in Gesundheit und Krankheit gehalten hat … Ich liebe dich.

KAPITEL 1

11. Juni 2016

Heute fand das Begräbnis des Arztes statt, der Angela Richman beinahe umgebracht hätte, und die gesamte Krankenhausbelegschaft Missouris hatte sich zu seinen Ehren versammelt. Die Trauerreden kamen von Herzen: Ärzte, Pflegepersonal und Patienten gleichermaßen lobten Dr. Porter Gravois’ Mitgefühl und neurologisches Geschick. Es wurden aufrichtige Tränen für ihn vergossen. Auf der Straße, die nach seiner einflussreichen, aus St. Louis stammenden Familie benannt war, schritt ein kilometerlanger Trauerzug dahin. Alle nannten ihn bei seinem Spitznamen, Chip, als gehörten sie zu seinem Kreis engster Vertrauter. Dieses Gefühl hatte Chip ihnen nun einmal vermittelt.

Angela nahm nicht an der Beerdigung teil. Sie lag immer noch im Krankenhaus und erholte sich von dem Schaden, den er ihr zugefügt hatte. Seit drei Monaten war sie nun schon hier. Ebenso wie alle anderen, die den wahren Dr. Gravois kannten, war Angela regelrecht froh, dass Porter tot war. Von ihnen nannte ihn niemand Chip.

Als sie so in ihrem kratzigen Krankenhausbett lag, fragte sie sich, wie Dr. Gravois wohl in seinem Sarg aussehen mochte. Er hatte ein langes, blasses Gesicht und eine messerscharfe Nase, wie eine Statue auf einem britischen Friedhof. War es dem Bestatter gelungen, das väterliche Lächeln zu rekonstruieren, das so viele Menschen geblendet hatte? Das nie ganz bis zu seinen eisigen, blauen Augen hinaufreichte, die nun für immer geschlossen waren.

In welchem Anzug hatte man ihn wohl begraben? Chip trug für gewöhnlich Savile-Row-Maßanfertigungen von Kilgour in London, deren Namen er Kilgar aussprach und der Ansicht war, dass nur Neureiche Kilgor sagten. Seine Maßanzüge waren stets aus feinster Seide und leichter Wolle. Was für eine Verschwendung, einen davon in der Erde zu versenken. Gravois hingegen den Würmern zu überlassen fand Angela nicht weiter bedauerlich.

Und was war mit Dr. Gravois’ erbittertem Erzfeind, Dr. Jeb Travis Tritt?

Er und seine furchtbaren Anzüge von der Stange waren von der Beerdigung ausgeschlossen. Ganz gleich, wie viel er nun tatsächlich für diese bezahlte, er sah mehr aus wie ein kleinstädtischer Versicherungsvertreter als ein Neurochirurg.

Seine unverheiratete Mutter hatte ihn nach ihrem Lieblingscountrysänger benannt, und Dr. Tritt war durch und durch ein Junge vom Lande, vom schlechten Haarschnitt bis hin zu den Spitzen seiner dicksohligen, braunen Schuhe.

Ob er wohl gerade einen Sträflingsanzug trägt?, fragte Angela sich. Jeder hatte gehört, wie Tritt Gravois bedrohte. Er hatte ihn einen Betrüger und Mörder genannt und gesagt, das Beste, was Porter Gravois für seine Patienten tun könne, sei zu sterben.

Am darauffolgenden Tag wurde Dr. Gravois ermordet.

KAPITEL 2

Vierzehn Wochen zuvor

Angela Marie Richman lebt in Chouteau Forest, einem wohlhabenden Wohnviertel etwa fünfzig Kilometer westlich von St. Louis. Sie ermittelt in allen Todesfällen des Countys – Morde, Unfälle und Überdosen –, die sich außerhalb eines medizinischen Umfelds ereignen.

Chouteau County umfasst eine Fläche von etwa fünfundzwanzig Quadratkilometern. Die Bezirkshauptstadt, Chouteau Forest – von Einwohnern einfach nur der Forest genannt –, besteht hauptsächlich aus Landbesitz. Und als Einheimischer sagt man im Übrigen SHOW-toe, wenn man über Chouteau spricht.

Angela wohnt auf den Du-Pres-Ländereien, in dem Haus, das sie von ihren Eltern geerbt hat. Sie zählt zu den ärmeren Richmans. Vielleicht nicht arm nach herkömmlichem Maßstab; immerhin haben ihre Eltern als Bedienstete der Du Pres, einer der ältesten Familien im Forest, ein ansehnliches, fünfstelliges Jahreseinkommen erhalten. Eigentlich verschwendet der Forest sein Geld nicht an Angestelltenlöhne, aber ihre Eltern haben nun mal die Arbeit von mindestens sechs Personen verrichtet: Ihre Mutter, Elise, war Haushälterin, Köchin, Hundeausführerin und verrichtete die Besorgungen, während sie sich außerdem noch über ein Jahrzehnt lang um Madeline Du Pres, die anspruchsvolle Witwe der Familie, kümmerte. Angelas Vater, Mel, versah die Pflege und Instandhaltung der weitläufigen Ländereien sowie des jahrhundertealten Anwesens.

Angela ihrerseits dient nun dem Forest, indem sie sich um seine Toten kümmert.

An jenem Samstagabend, der geschäftigsten Zeit in der Woche für Mordermittler, hatte sie Bereitschaftsdienst. Für gewöhnlich feierten die Menschen dann ausgelassen, betranken sich, setzten sich Schüsse und knallten sich gegenseitig ab. Angela rechnete bereits damit, in dieser warmen Märznacht zu einem Autounfall, einer Überdosis oder einem Fall häuslicher Gewalt mit tödlichem Ausgang gerufen zu werden. Als sich um Mitternacht immer noch niemand gemeldet hatte, ging sie ins Bett. Um 2:17 Uhr morgens wurde sie von einem ohrenbetäubenden Knall aus dem Tiefschlaf gerissen. Ein wenig benommen und verwirrt setzte sie sich auf, dann rannte sie zum Schlafzimmerfenster, von wo aus sie in den Himmel gerichtete Scheinwerferlichter hinter der Mauer des Anwesens sehen konnte. Bestimmt ein Unfall, so merkwürdig, wie der Winkel der Lichter ausgerichtet war.

Als sie in ihren schwarzen Hosenanzug schlüpfte, hörte sie die Sirenen, und als endlich ihr Handy klingelte, band sie sich bereits die Schuhe zu.

Der Detective am anderen Ende der Leitung sparte sich die Begrüßung.

„Richman“, sagte er. „Ray Greiman hier.“ Sein frostiger Tonfall vereiste beinahe ihr Telefon.

Auch das noch, dachte sie sich. Jetzt habe ich ausgerechnet Ray Foster Greiman an der Backe, den faulsten Detective im ganzen Forest. Mit dem Mann zusammenzuarbeiten war die reinste Zumutung.

„Wir haben hier ein Problem“, sagte er.

„Meinst du das, das ich von meinem Fenster aus sehen kann?“, fragte sie.

„Ja, genau das. Ein BMW ist etwa hundert Meter östlich vom Haupttor in die Du-Pres-Mauer gerast“, sagte er. Immerhin sprach er es richtig aus – Duh PRAY. Nur Einheimische durften die Forest-Familien schützen.

„Sieht übel aus“, sagte er. „Die JJ-Zwillinge, massive Kopfverletzungen, ein Todesfall.“

„O nein.“ Angela fühlte sich, als hätte er ihr eine Schaufel über den Schädel gezogen. Die JJ-Zwillinge waren die Enkeltöchter des alten Reggie Du Pres, sechzehn Jahre alt, Cousinen ersten Grades. Jillian Du Pres war nur einen Monat älter als Jordan Hobart. Sie waren ein wenig verzogen, aber gutherzig. Beide Mädchen hatten langes, dunkles Haar, makellose, dampfgereinigte Haut und zierliche, kurvige Figuren. Sie sahen einander so ähnlich, dass der ganze Forest sie nur die JJ-Zwillinge nannte.

„Welche ist tot?“, fragte sie.

„Lässt sich nicht sagen“, antwortete er. „Die haben ordentlich was abbekommen, man kann sie gar nicht mehr erkennen. Ich schätze, es ist …“

„Wir sind am Handy, Ray“, unterbrach sie ihn.

„Dann beweg deinen Hintern hierher“, sagte er.

„Ich bin in fünf Minuten da.“

Angela hätte den halben Kilometer zum Unfallort zu Fuß gehen können, aber sie wollte keine Minute vergeuden. Mit einundvierzig hatte sie nun seit fast zwanzig Jahren Todesfälle im Forest untersucht und war mit dem Ablauf bestens vertraut. Sie band ihre langen, dunkelbraunen Haare zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammen. Ihre Ausrüstung lag im Kofferraum ihres Dodge Chargers. Sie schnappte sich ihr iPad, brauste aus der Garage und hatte die Unfallstelle in zwei Minuten erreicht.

Als sie den roten Ferrari sah, der wie zufällig neben dem zerschmetterten BMW-Cabrio parkte, war ihr erster Gedanke, dass die Jugendlichen ein Rennen gefahren sein mussten. Aber weder der Ferrari noch dessen Fahrer, Sandiclere „Sandy“ Warburton, der rotznäsige Sohn eines ortsansässigen Rüstungskonzernmoguls, hatten einen Kratzer abbekommen. Ja, der Teenager fuhr einen Ferrari. Hey, immerhin verkaufte sein Daddy Toilettensitze im Wert von 600 Dollar an das Militär.

Die Polizeiwagen waren um den Unfallort herum geparkt, um den Schauplatz vor neugierigen Blicken zu schützen, und zwei uniformierte Polizisten errichteten zusätzlich eine Sichtblende. Angela ließ ihren Wagen auf dem Rasen stehen. Die gleißenden, tragbaren Lampen, die aufgestellt worden waren, erhellten das Ausmaß des Blutbads.

Ein sportlicher, blauer BMW-Zweisitzer mit heruntergeklapptem Dach war frontal in die Mauer gekracht. Die Windschutzscheibe war völlig zerstört.

Vier kräftige Sanitäter schoben eine Trage von den Überresten des Fahrzeugs weg, auf der ein junges Mädchen in einem blutdurchtränkten, rosafarbenen Partykleid und mehreren Armreifen lag. Erst dachte Angela, das Mädchen trüge rote Handschuhe und einen roten Schal über dem Gesicht. Dann wurde ihr klar, dass vom Gesicht der jungen Frau nicht viel mehr übrig war als rohes Fleisch und blutverkrustetes Haar. Ihre Arme waren bis zu den Ellbogen durchgängig blutig und eines ihrer Handgelenke war in einem schier unmöglichen Winkel verdreht.

Angela versuchte, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Ich bin doch ein Profi, sagte sie sich. Ich habe schon wesentlich Schlimmeres gesehen. Aber ich kannte dieses Mädchen, und vor Kurzem war sie noch am Leben. Angela sah zu, wie das Mädchen in den Krankenwagen geladen wurde und dieser davonraste.

Durch den Aufprall war das andere Mädchen aus dem Auto auf den Rasen nahe der Mauer geschleudert worden. Kein Sicherheitsgurt?, fragte sich Angela und konnte nur hoffen, dass sie sofort gestorben war.

Die Tote lag auf dem Rücken, das schwarze Kleid war so weit hochgerutscht, dass es den roten Tanga darunter entblößte. Außerdem trug sie eine schwarze Lederjacke und einen einzelnen, durchsichtigen Plateauschuh. Ein gläserner Pantoffel für ein Aschenputtel, dessen Prinz niemals kommen würde.

Nahe ihrer Hand lag ein rotes iPhone. Nein, ein rosafarbenes iPhone, das vom Blut rot gefärbt worden war. Ihr Gesicht sah aus, als hätte man es durch den Fleischwolf gedreht.

Wann immer jemand erfuhr, was Angela beruflich machte, fragte man sie: „Sie sind Ermittlerin in Todesfällen? Wie halten Sie das nur aus? Das Blut! Der Gestank! Und diese ganzen Leichen.“ Dabei erschauerten die meisten.

Aber es sind nicht einfach nur Leichen, sagte sie sich. Zumindest nicht für mich. Das sind Menschen, die gestorben sind, wie der JJ-Zwilling hier. Vor einer Stunde war sie noch ein wunderschönes Mädchen. Man hat sie geliebt–liebt sie immer noch – und man wird um sie trauern. Jetzt versucht sie mir zu sagen, was passiert ist. Mein Job ist es, ihr zuzuhören. Das ist der letzte Dienst, den ich ihr erweisen kann.

Ein Junge im Teenageralter, blass vor Schock, sprach mit weit aufgerissenen Augen mit Detective Greiman. Es war Sandy, der Sohn des Rüstungskonzernmoguls. Der Detective und der Junge standen neben dem Ferrari. Ausnahmsweise war Sandys sonst so überhebliches, privilegiertes Gehabe wie weggeblasen. Er schwankte, als würde er gegen starke Böen ankämpfen, und fuchtelte wild und unkoordiniert mit den Armen herum. Er war betrunken.

Eine blonde Jugendliche in einem blauen Partykleid und silbernen Schuhen stand zitternd neben ihm, mit klappernden Zähnen und klirrenden Armreifen. Lucy Chantilly, die Tochter des Senators. Sie weinte, und ihre blaue Wimperntusche lief ihr in bizarren Mustern die Wangen hinunter.

Angela öffnete ihren Kofferraum und schnappte sich ihre Ausrüstung sowie die Decke, die sie stets für unter Schock stehende Zeugen dabeihatte.

Ein Uniformierter der Forester Polizei nickte ihr zu und ließ sie unter dem gelben Absperrband durch. Als sie am Ferrari vorbeilief, bemerkte Angela eine halbleere Flasche Captain Morgan Rum, deren Inhalt auf den Vordersitz sickerte, und den Geruch von Marihuana. Das Todeswrack stank nach Gras und der kupferigen Ausdünstung von Blut. Die Kinder waren betrunken und bekifft gewesen. In beiden Autos.

Detective Greiman ließ Sandy stehen und kam zu Angela herüber. Er trug einen schwarzen Hugo-Boss-Anzug. Der Forest bezahlte zwar gut, aber so gut nun auch wieder nicht. Mordermittler trugen für gewöhnlich einen von zwei Stilen: entweder zerknitterter Columbo der alten Schule oder stilvoller Metrosexueller. Das einzig Scharfe an Greiman war seine Kleidung.

Frauen, die auf Kerle mit Dienstmarken standen, sprangen bereitwillig mit ihm ins Bett, aber sie hatte nicht das geringste Interesse daran, sein Ego zu streicheln – oder sonst irgendetwas an ihm.

„Was ist passiert?“, fragte sie. Mit ihren 1,85 Metern überragte sie den Detective um gute zehn Zentimeter, sodass er zu ihr aufsehen musste. Greiman hasste es.

„Sandy und die Mädels haben sich von einer Party in Ladue ein Rennen nach Hause geliefert.“ Ein anderer wohlhabender Vorort, allerdings nicht ganz so hoch angesehen wie der Forest. „Die Mädchen haben die Kontrolle über den Wagen verloren und sind auf die Mauer geprallt“, sagte er.

„Handy am Steuer?“

„Ja“, sagte er. „Haben während dem Fahren Nachrichten geschrieben. Sie haben die Mauer frontal gerammt.“

Er deutete auf die Schleuderspuren, die von der Straße abführten und als Reifenabdrücke das frisch gemähte Gras durchpflügten. „Ich habe mir die Schleuderspuren angesehen. Der Wagen ist mit etwa 110 km/h gefahren, als die Fahrerin die Kontrolle verloren und die Mauer gerammt hat.“

Angela zuckte zusammen.

„Sie hat eine Nachricht an Sandy und die Tochter des Senators im Ferrari geschrieben. Ihre letzten Worte waren IHR SDIE GRSSTEN LSR. Ich glaube, das heißt so viel wie ‚Ihr seid die größten Loser‘. Zumindest würde ich das so interpretieren. Dieser neumodische Slang ist schwer zu lesen.“

„Wessen Handy ist es?“

„Jillians“, sagte er. „Beide Mädchen haben es benutzt.“

„Sandy hat den Ferrari gefahren?“

Greiman nickte.

„Da liegt eine offene Flasche Rum im Wagen“, sagte Angela. „Sie sind nicht volljährig. Hast du beim Fahrer und der Beifahrerin einen Alkoholtest gemacht? Die Drogenspürhunde angefordert?“

„Sein Daddy ist Warbuck, verflucht noch mal“, sagte Greiman. „Und Lucy ist die Tochter des Senators.“

„Na und? Ihre Eltern haben PR-Agenturen, die sich um so einen Mist kümmern, und eine ganze Armee von Anwälten. Mach schon, Ray. Jeder in diesem Fall ist gleichermaßen wichtig, und die Ermittler aller vier beteiligten Familien werden sich über diese Autos hermachen. Die Sanitäter kommen nicht aus dem Forest. Irgendwer wird seine Klappe nicht halten können. Die Nachricht wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten.“

„Halte du dich einfach an die Spielregeln“, sagte er höhnisch. „Du hältst dich jetzt wohl für die Allergrößte, nur weil du eine Auszeichnung bekommst, die sowieso niemand kennt.“ In seinem Blick lag Missgunst.

Angela sollte bald den renommierten „Harold Messler Gerichtsmediziner des Jahres“ – Preis erhalten, und diesen Umstand verdankte sie Greimans Fahrlässigkeit. Daran musste sie ihn nicht erinnern. Er wusste es ganz genau.

Vor zwei Jahren wurden sie und Greiman zu einem augenscheinlichen Suizid gerufen. Eine Frau aus dem Forest wurde in ihrer Garage aufgefunden, mit laufendem Motor, einer Wodkaflasche auf dem Boden und knallrotem Gesicht aufgrund der Kohlenmonoxidvergiftung.

„Suizid“, hatte Greiman gesagt. Seine Schicht war fast vorbei gewesen und er hatte nach Hause gewollt.

Aber als sie die Tote näher untersucht hatte – wie es sich für einen Ermittler gehörte – bemerkte Angela, dass die Frau weiße Socken trug, deren Unterseiten blitzsauber waren. Es war unmöglich, dass sie zu der Garage hinter ihrem Haus gelaufen war, ohne sich die Socken schmutzig zu machen. Jemand musste sie zu diesem Auto getragen haben, als sie betrunken war.

Dieser Jemand stand im Begriff, zehn Millionen Dollar zu erben. So etwas spricht sich im Forest schnell herum. Der Familie der Toten kam zu Ohren, dass Greiman den Fall ohne Untersuchung hatte abtun wollen und sie sorgten dafür, dass er eine Verwarnung erhielt. Angela hingegen erhielt eine Empfehlung und den angesehenen Harry-Preis.

„Ich mache den Job nicht, um etwas zu gewinnen“, sagte sie. „Und es gibt auch kein Preisgeld.“ Aber es gab Anerkennung. Viel Anerkennung. Am ersten Juniwochenende würde sie zur internationalen Gerichtsmediziner-Konferenz nach Washington, D.C. fliegen.

Greiman hatte jedoch nicht aus seinen Fehlern gelernt. „Pass auf, die Kinder sind sich ziemlich sicher, dass Jordan die Tote ist“, sagte er.

„Hör auf zu raten, Ray. Das bringt dir nur die nächste Klage ein.“

„Jordan hat die schwarze Lederjacke zur Party getragen.“

„Und hatte Jordan die Jacke noch an, als sie die Party verlassen haben?“, fragte Angela.

„Das wissen sie nicht so genau.“

„Die JJ-Zwillinge haben ständig Klamotten getauscht“, sagte sie. „Sogar ihr Großvater sagt immer, er kann sie nicht auseinanderhalten, und sie vertauschen extra ihre Kleidung, um ihn zu verwirren. Jillian Du Pres könnte die Jacke auf dem Heimweg getragen haben. Wir dürfen uns nicht auf die Zeugenaussagen verlassen.“

Seine saloppe Gleichgültigkeit war ihr verhasst. Als Kind wollte sie unbedingt Polizistin werden. Aber als sie älter wurde, entdeckte sie einige Seiten an der Polizeiarbeit im Forest, die ihr gar nicht gefielen. Hinter vielen davon steckte Greiman. Einmal wollte das Sisters-of-Sorrow-Krankenhaus einen Kardiologen aus Chicago einstellen, und ein Mitglied des Vorstands lud den afroamerikanischen Facharzt zu einem Abendessen in seinem Forester Anwesen ein. Auf seinem Weg zurück ins Hotel wurde der Facharzt von Ray Greiman, damals noch junger Streifenpolizist, angehalten und gefragt: „Wo hat jemand wie Sie denn so einen schicken Mercedes her?“

Der Kardiologe hatte die Stelle im SOS nicht angenommen.

Das Krankenhaus des Forests wurde von französischen Krankenschwestern geleitet. In St. Louis waren das Barnes-Jewish und das Saint Louis Universitätsklinikum die landesweiten Spitzeneinrichtungen. Das SOS war unter den fünfzig besten, aber auf welchem Platz genau hatte der Forest nie verraten. Ein Jahr später wurde Greiman zum Detective befördert. Die Gründe dafür hatte Angela nie verstanden.

In Todesfällen zu ermitteln verband Angelas Liebe zur Forensik mit der Chance, für Schutz und Ordnung zu sorgen. Sie musste zwar keine Forest-PD-Uniform tragen, dafür aber mit der Polizeidienststelle zusammenarbeiten, einschließlich Greiman.

Sie schaffte es, sich zu beherrschen, als sie sich an ihn wandte. „Wir benötigen die zahnärztlichen Unterlagen der Mädchen. Die meisten Leute hier im Forest gehen zu Dr. Stone. Er kann die digitalen Röntgenaufnahmen der beiden direkt an die Notaufnahme und den Gerichtsmediziner mailen.“

„Willst du ihn etwa um drei Uhr nachts aus dem Bett klingeln?“, fragte Greiman. Er sah auf seine Uhr. Es war klar, dass er nach Hause wollte – den gleichen Mist abziehen, der ihn damals in Schwierigkeiten gebracht hatte.

„Doc Stone macht das sicher nichts aus“, sagte sie. „Er kennt die Mädchen doch schon seit sie ihre ersten Milchzähne verloren haben. Die Familie der Überlebenden muss ins Krankenhaus kommen, um zu entscheiden, wie es mit der Behandlung weitergehen soll.“

„Was macht das schon für einen Unterschied?“, antwortete er. „Das Mädchen ist im SOS. Da gibt es keine große Auswahl.“

„Ihre Eltern möchten sie vielleicht in ein anderes Krankenhaus verlegen lassen oder einen Facharzt von außerhalb hinzuziehen“, sagte sie. „Das arme Ding wird rekonstruktive Chirurgie benötigen. Sofern sie überlebt. Es liegt an ihren Eltern, diese Entscheidungen zu treffen.“

„Dann musst du die Eltern über den Unfall informieren“, sagte er. „Ein Zahnarzt kann nicht einfach Röntgenbilder ohne das Einverständnis der Eltern herumschicken.“

Darauf war Angela schon gefasst gewesen. „Jordan Hobarts Eltern wohnen gleich die Straße hinunter. Die Hobarts kenne ich ein wenig besser, deshalb werde ich zuerst mit ihnen sprechen und mir ihre Einverständniserklärung holen. Du machst inzwischen mit den Kids hier einen Alkoholtest.“

Er seufzte laut.

Jetzt bebte sie vor Ärger. „Hey, ich muss immerhin zwei Familien sagen, dass ihre wunderschöne Tochter vielleicht tot sein könnte. Dass sie nicht länger wunderschön ist, ist das Einzige, was ich ihnen mit Sicherheit sagen kann. Und ich weiß nicht, welche der beiden besser dran ist – die Überlebende oder die Tote.

Ich hole mir jetzt die Einverständniserklärung der Eltern und dann komme ich zurück und untersuche den Leichnam. Bewegt das Mädchen nicht von der Stelle. Ihre Leiche gehört mir. So lautet das Gesetz.“

Bevor Angela sich auf den Weg machte, wickelte sie noch die schluchzende Lucy in die warme Decke und schob das Mädchen sanft von sich, nachdem es den Kopf auf ihre Schulter gelegt hatte. Dann bedeckte sie die Tote mit einem sauberen weißen Leintuch, das sie in ihrem Ermittler-Kit dabeihatte.

Die Kopfschmerzen setzten auf dem kurzen Weg zu Jordans Elternhaus ein. Es fühlte sich an wie eine Krone aus Dornen. Nein, wie eine Krone aus Stacheldraht. Lange, glühende Stacheln bohrten sich in Angelas Gehirn und die Schmerzen schossen ihr bis in den Nacken.

Sie litt manchmal unter Migräneanfällen, besonders nach Ermittlungen an schlimmen Todesschauplätzen. Der letzte Vorfall hatte sich vor sechs Monaten ereignet. Eine Haushälterin im Forest war nach einem freien Wochenende an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, nur um eine Dreijährige vermisst zu melden und von einem „verdächtigen Gestank“ zu berichten, der aus dem verschlossenen Schlafzimmer ihrer Arbeitgeberin, einer geschiedenen Mutter, herausströmte. Die Polizei brach die Tür ein und fand die Erbin des hiesigen Schuhunternehmens im Bett vor, neben ihr ihre blonde Tochter, Mandy. Durch den Tumult wurde das kleine Mädchen wach.

„Mommy schlafen“, sagte Mandy und rieb sich die Augen.

Mommy schlief in der Tat – und zwar für immer. Sie hatte eine Nadel im Arm und drei Millionen Dollar auf der Bank. Das Wochenende hatte sie wohl damit verbracht, sich eine Überdosis zu spritzen. Anstatt eine Babysitterin für Mandy zu engagieren, hatte sie einfach die Milch des kleinen Mädchens mit einem Sedativum versetzt, sodass es schlief, bis die Haushälterin zurückkehrte.

Mit den Kopfschmerzen damals musste Angela drei Tage im Bett liegen. Flackernde Scherbenringe verschleierten ihre Sicht. Vor Übelkeit konnte sie sich nicht einmal aufsetzen. Aber die Kopfschmerzen heute Nacht waren noch viel schlimmer.

Um diese Zeit sah der Forest geradezu verzaubert aus. Die Herrenhäuser hatten die unterschiedlichsten Baustile. Es kam ihr so vor, als wäre sie unversehens in ein Märchenbuch geraten. Das englische Landhaus schien in ewigen Nebel gehüllt zu sein und sie hätte schwören können, in dem Wald neben dem bayrischen Jagdschloss einen Hirsch zu sehen. In der romanischen Burg hallte das vermeintliche Echo von klappernden Ritterrüstungen wider.

Die Luft um Jordans französischen Herrensitz duftete immer leicht nach Lavendel. Ihre Mutter hatte Holden Hobart III. geheiratet, den alle nur Trip nannten. Trip öffnete ihr die Tür in einem gestreiften Schlafanzug, einem Morgenmantel und bestickten Filzpantoffeln. Nach einem Blick auf Angelas Gesicht erblasste er und fragte: „Was ist mit Jordan passiert?“

„Holen Sie besser Mrs Hobart“, sagte sie. „Ich habe schlechte Neuigkeiten.“

Sie gingen in die Küche, das Herz des Hauses, wo Angela den beiden die Nachricht mitteilte. Mrs Hobart stöhnte, als hätte man ihr die Seele aus dem Leib gerissen. Trip war völlig versteinert. Er unterschrieb die Einwilligungserklärung, wobei die Tinte durch seine Tränen verschwamm, und ließ Angela von seinem Büro aus Doc Stone anrufen. Sie scannte das Formular ein und mailte es dem Zahnarzt.

Doc Stone weinte ebenfalls. „Ich kenne die beiden Mädchen schon ihr Leben lang“, sagte er. „Das ist schrecklich. Einfach schrecklich.“

Dr. Stone konnte von seinem Computer zu Hause auf seine Unterlagen zugreifen. Er schickte die digitalen Röntgenaufnahmen an das Krankenhaus, damit die Notärzte herausfinden konnten, ob Jordan Hobart oder Jillian Du Pres vor ihnen lag.

Jordans Eltern wollten Angela zum Unfallort begleiten, aber das ließ sie nicht zu. Dann bestanden sie darauf, gemeinsam mit ihr zu Jillians Eltern zu gehen, um die Du Pres zu informieren.

Dort bekam sie noch mehr ab. Viel mehr – es war alles fürchterlich emotional. Sie hoffte, diese gequälten Klageschreie nie mehr hören zu müssen. Bei jedem von ihnen bohrte sich der Stacheldraht weiter in ihren Kopf. Die Schmerzen gruben sich in ihr Gehirn. Die Trauer der beiden Familien lastete wie ein bleierner Mantel auf ihr.

Die Eltern der JJ-Zwillinge waren gute, umsichtige Menschen, sogar in einer verzweifelten Lage wie dieser. Sie wussten, dass Angela zum Unfallort zurückmusste. Sie wussten auch, dass sie außerstande waren, selbst zum Sisters of Sorrow zu fahren. Der alte Reggie Du Pres, das Familienoberhaupt, begleitete sie. Sein Fahrer brachte die Eltern in einem verbeulten Range Rover zum Krankenhaus.

Als Angela wieder an der Unfallstelle ankam, hatte die Polizei bereits die Straße abgeriegelt, sodass die Familien der JJ-Zwillinge eine andere Strecke aus dem Forest hinausnehmen mussten. Das ersparte ihnen zumindest den Anblick der blutverschmierten Trümmer.

Sie parkte neben der Barrikade und kletterte darüber. Greiman begrüßte sie mit den Worten: „Das Krankenhaus hat die zahnärztlichen Unterlagen erhalten. Die Abgemurkste ist Jordan.“

Angela hatte die Nase endgültig voll. „Das tote Mädchen ist Jordan Hobart“, korrigierte sie ihn in einem scharfen Flüsterton, damit die Zeugen sie nicht hören konnten. „Opfer sind verstorbene Menschen, nicht irgendwelche Wasserleichen oder verkohlte Kreaturen.“

„Ist ja schon gut“, sagte er. „Bleib locker! Es hat gerade wenig Sinn, die übrigen Zeugen zu befragen. Jillian liegt im Koma und die anderen beiden warten auf ihre Anwälte.“

Sie sah zu wie Sandy, Otto Warburtons Sohn, in Handschellen in einen der Polizeiwagen geschubst wurde. Lucy schluchzte auf dem Vordersitz von Greimans Zivilfahrzeug vor sich hin.

„Nach dem Alkoholtest ist Sandy nüchtern genug geworden, um zu kapieren, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckt“, sagte Greiman. „Er ist achtzehn. Ich habe im Fußraum der Beifahrerseite deutlich eine Tüte mit einer grünen, blattartigen Substanz gesichtet.“

Das war Polizei-Jargon für eine Tüte Gras. Er würde darauf beharren, dass er sie deutlich gesehen hatte, ganz gleich, ob das der Wahrheit entsprach. Greiman wollte nicht, dass die Anwälte sich einmischten und darüber diskutierten, ob er einen Durchsuchungsbefehl für den Wagen brauchte.

„Ich habe ihm seine Rechte vorgelesen und ihn wegen Trunkenheit am Steuer, Handybenutzung am Steuer, rücksichtslosen Fahrens und was mir sonst noch eingefallen ist angeklagt. Sein Anwalt wartet im Revier auf ihn.“

„Gut gemacht“, antwortete sie.

„Reine Zeitverschwendung. Wir beide wissen doch genau, dass er nicht verurteilt wird“, sagte Greiman.

„Wahrscheinlich nicht, aber immerhin wird es Daddy Warbucks ein ganz schönes Sümmchen kosten, ihn aus diesem Schlamassel zu ziehen.“

„Lucy, seine Beifahrerin, ist noch nicht volljährig“, sagte Greiman. „Der Senator ist mit dem Familienanwalt auf dem Weg.“

„Der Senator ist ihr Vater“, erinnerte Angela ihn.

Er nannte ihr die Fallnummer und sie öffnete ihr Ermittler-Kit, einen schwarzen Trolley, aus dem sie vier Paar Latexhandschuhe zog. Im Laufe der Untersuchung würde sie diese nacheinander abstreifen, wodurch sie verhinderte, dass der Leichnam mit Blut oder Beweismaterial von einer anderen Stelle kontaminiert wurde. Die nötigen Formulare hatte Angela immer auf ihrem iPad parat. Sie verwendete ihre eigene Kompaktkamera, mit der sie Fotos für den Gerichtsmediziner machte.

Zu ihrer Ausrüstung gehörten ein Aufzeichnungsgerät, Thermometer für Körper- sowie Lufttemperaturen, ein Maßband, Fläschchen, Tüten und Behälter in sämtlichen Größen. Einige der Plastikschalen sahen aus wie die Vorführmodelle auf einer Tupperparty. Allerdings wollte diese hier nie jemand öffnen.

Sie fotografierte die Tote. Jordan Hobart lag mit dem Gesicht nach Norden auf dem Rücken, den Nacken abscheulich verdreht. Ihr linker Arm war verrenkt. Die Kopfverletzungen waren gravierend, aber Angela versuchte, die sichtbaren so gut es ging abzumessen und zu notieren. Sie konnte das Blut nicht wegwischen, das war die Aufgabe des Gerichtsmediziners.

Sie notierte jede Schnittwunde („schnittartige Verletzung“), jeden blauen Fleck (Prellung) und jede Schürfwunde auf Jordans Vorderkörper, von Kopf bis Fuß. Sie vermerkte die Kleidung des toten Mädchens und deren Zustand, jedes Loch und jeden Riss, ebenso wie den fehlenden Schuh.

Jordans diamantbesetzter Platinschmuck sah teuer aus, doch das konnte Angela nicht sagen. Offiziell trug das Mädchen „silberne Metallohrringe, jeweils mit einem großen, durchsichtigen Edelstein, und sechs silberne Metallarmreife besetzt mit durchsichtigen Steinen.“ Sie hielt einfach alles fest, sogar den silbernen Zehenring an Jordans nacktem Fuß.

Unter Jordans Kopf und Brustkorb zeigten die grellen Lichter deutlich die „dunklen Stellen signifikanten Blutes, von denen die größte fünfzig mal vierzig Zentimeter misst“.

Angela notierte die Lufttemperatur – elf Grad Celsius um 4:22 Uhr morgens. Dann schnitt sie mit einem Skalpell ein Stück am Kleidersaum unter Jordans Brustkorb entlang und setzte direkt darunter einen kleinen Schnitt in die Haut. Mit einem Kühlthermometer, das sie für fünfzig Dollar in einem Gastronomiebedarf-Outlet ergattert hatte, maß sie die Körperkerntemperatur der Toten. Ein forensisches Thermometer kostete zehnmal so viel und hatte bei weitem nicht die beste Temperaturspanne.

Sie entfernte das Thermometer wieder, umkreiste den Schnitt mit dokumentenfester Tinte und setzte ihre Initialen darunter, um dem Gerichtsmediziner bei der Autopsie die Verwirrung zu ersparen.

Der flüchtige Blick auf Jordans perfekte Haut, die sich mittlerweile leicht grüngräulich verfärbt hatte, ließ den Stacheldraht noch stärker in Angelas Gehirn pressen. Sie musste daran denken, wie Jordan und Jillian von ihren Kindermädchen in echten britischen Kinderwagen durch den Forest geschoben worden waren. Sie hatte sie zu spitzbübischen kleinen Mädchen heranwachsen sehen, die auf ihren Ponys über die Pfade im Forest ritten. Jillian ritt immer noch. Jordan spielte Tennis und arbeitete ehrenamtlich bei einem Tierheim ohne Tötungsstation. Das behütete Leben beider Mädchen hatte heute schlagartig geendet.

Nun kamen ihr die Tränen. Hör auf damit!, befahl sie sich selbst. Jordan braucht dein professionelles Urteilsvermögen, nicht deine albernen Tränen. Zurück an die Arbeit.

Die präzise Arbeit wirkte beruhigend auf sie. Sie notierte und maß sechzehn Schnitte an Jordans rechter Hand und zehn an ihrer linken. An der rechten Hand waren vier Nägel abgebrochen. Angela überzog beide blutigen Hände mit Papiertüten und umwickelte sie an den Handgelenken mit Klebeband. Dann holte sie ein weiteres sauberes Laken aus einem wiederverschließbaren Beutel und sagte zu Greiman: „Hilf mir, sie umzudrehen.“

Er murrte vor sich hin. Sie ignorierte ihn. Totes Gewicht zu heben war einer der anstrengenderen Aspekte an diesem Job. Obwohl Jordan nur knapp fünfundvierzig Kilo wog, bedurfte es ihrer vereinten Kräfte, um den zierlichen Körper auf das weiße Laken zu befördern.

Die Rückseite ihres Kleides und Körpers war blutdurchtränkt, und an ihrem Scheitel klaffte eine weitere Wunde. Angela maß die Wunde und die Blutflecken ab, notierte einen kleinen Bluterguss an Jordans linkem Bein sowie zwei weitere Schnittwunden an der Rückseite ihres rechten Beins. Anschließend rückten die Pathologieassistenten mit ihrem Leichensack und dem Papierkram an.

Sobald die Leiche weggebracht worden war, inspizierte Angela den Boden darunter. Außer Blutflecken auf dem Gras fand sie nichts weiter. Nachdem sie auch diese fotografiert und ausgemessen hatte, war ihre Arbeit beendet.

Angela sah das erste graue Licht des Tages anbrechen, als sie erschöpft in ihren Wagen stieg und langsam und traurig nach Hause fuhr. Auf ihrem Weg am Du-Pres-Anwesen vorbei bemerkte sie, dass alle Zimmer hell erleuchtet waren, sogar der Dachboden.

Zu Hause angekommen hämmerte es in Angelas Kopf und ihr war schwindelig. Sie wusste, dass ihr eine üble Kopfschmerzattacke bevorstand. Das Flimmerskotom verschleierte ihr fast gänzlich die Sicht. Lichter tanzten um sie herum, als stünde sie in einer Bonbonschale aus geschliffenem Glas.

Sie schaffte es, sich die Untersuchungsformulare erneut durchzulesen und zwei Rechtschreibfehler zu korrigieren. Dann zog sie die Fotos auf ihren Heimrechner, schickte alles an das Büro des Gerichtsmediziners und fiel mit dröhnendem Kopf ins Bett.

Angela hatte auch am Sonntag Bereitschaftsdienst, aber der Forest brauchte an diesem Tag keine Todesermittlerin. In ihrem abgedunkelten Schlafzimmer glitt sie von einer Schmerzattacke in die nächste, verworren in einen Nebel aus Übelkeit und Imitrex-Migränetabletten.

Am Sonntagabend um fünf Uhr erhielt sie einen einzigen Anruf vom Gerichtsmediziner des Chouteau County. Dr. Evarts Evans gratulierte ihr zu ihrem „einfühlsamen Vorgehen bei diesem traurigen Fall“, wie er es nannte. Er sagte, er habe eine Empfehlung in ihre Akte geschrieben.

Angela gab sich am Telefon gespielt munter, aber sie war zu benommen und niedergeschlagen, um ihren kleinen Triumph genießen zu können.

Drei Monate später sollte sie die geschmähteste Person im ganzen Forest sein. Sie würde im SOS um ihr Leben kämpfen. Haarlos, verkrüppelt und verrückt würde sie die schlimmste Sünde begehen: einen Außenseiter verteidigen, der beschuldigt wurde, den geliebten Sprössling einer Forest-Familie ermordet zu haben.

Angela würde alles riskieren, um den Mann zu retten, dem sie ihr Leben zu verdanken hatte.

KAPITEL 3

Am Mittwoch ging es Angela so weit besser, dass sie halbverbrannten Toast und eine Tasse Tee zu sich nehmen konnte. Die Migräneattacken hielten weiter an. Ihre beiden freien Tage, Montag und Dienstag, hatte sie größtenteils durchgeschlafen. Als sie an diesem Morgen aufwachte, fühlte sie sich etwas besser, aber ihr Kopf schmerzte immer noch. Sie hatte bereits eine Imitrex genommen. Zu allem Überfluss stellte sie auch noch fest, dass das Badezimmer im Erdgeschoss unter Wasser stand, weswegen sie Rick DeMun, den örtlichen Handwerker, anrufen musste. Rick wollte am Abend um fünf Uhr vorbeikommen.

Direkt nach ihrem Gespräch mit Rick rief das gerichtsmedizinische Institut bei ihr an und schickte sie zu Ben Weymullers Haus. Sie hoffte, die Untersuchung des Todesschauplatzes würde sie von den Migräneschmerzen und dem Wasserschaden ablenken, aber die grelle Frühlingssonne peinigte ihre Augen und ihr Kopf pochte.

Der zweiundneunzigjährige Ben Weymuller lag tot am Fuß seiner Kellertreppe, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Bens Tochter, Lucille, hatte ihren Vater am Mittwoch um elf Uhr vormittags dort gefunden, als sie ihn zum Mittagessen abholen wollte.

Gegen zwölf Uhr stand Lucille unter Mordverdacht.

Angela kannte Ben und seine Tochter. Bens schlichtes, blassgrünes Haus war beinahe völlig von weißem Hartriegel verdeckt. Er wohnte in Toonerville, was ein herablassender Spitzname im Forest für die Bungalowreihen zwischen Gravois, der Hauptstraße, und der Fernstraße 55 war. In Toonerville wohnten die Angestellten des Forests. Ben fertigte Schreinerarbeiten nach Maß für die örtlichen Villen an. Nach seiner Pensionierung stellte er hochwertige Schnitzereien und maßgefertigte Möbel für mondäne Boutiquen her.

Angela parkte ihren Charger in Bens Straße und zog ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum. Schockiert stellte sie fest, dass die siebenundsechzigjährige Lucille festgenommen in einem Streifenwagen saß. Schlimmer noch, sie wurde von Ted Brixton Baker bewacht, dem neuen, taktlosen Polizeibeamten. Angela hörte Lucille schluchzen und ging zum Wagen hinüber, um sie zu trösten.

„Bleiben Sie, wo Sie sind, Angela!“, sagte Ted. „Sie dürfen nicht mit der Verdächtigen sprechen.“

„Der Verdächtigen?“

„Detective Greiman nimmt sie mit aufs Revier.“

„Lucille ist eine pensionierte Lehrerin“, sagte Angela. „Ihr habt ihr doch hoffentlich keine Handschellen angelegt.“

„Noch nicht“, sagte Ted. „Aber meiner Erfahrung nach sollte man eine verdächtige Person niemals unterschätzen.“

Welche Erfahrung denn?, dachte Angela. Lucille hatte diesen Hohlkopf wahrscheinlich zu seiner Schulzeit unterrichtet.

Lucille war eine rundliche Frau mit adrettem, grauem Haar und einer Vorliebe für Hosenanzüge in knalligen Sorbet-Farben. Angela konnte sie durch den Nebel aus Kopfschmerzen und scharfen, flimmernden Lichtkreisen kaum sehen.

„Detective Greiman ist im Keller“, sagte Ted. „Die Leiche ist kopfüber die Treppe runtergekracht. Die Tochter hat ihn heute Morgen gefunden und den Notarzt gerufen. Die Sanitäter haben versucht, ihn wiederzubeleben, aber er war mausetot. Der Keller sieht aus wie der reinste Schlachthof.“

Lucille schluchzte lauter. Angela warf Ted einen vernichtenden Blick zu, doch der Neuling plapperte unbeirrt weiter. „Sehen Sie sich mal das ganze Blut auf meinen neuen Schuhen an“, sagte er und zeigte ihr einen großen, schwarzen Schnürstiefel mit dunklen Blutflecken an der Sohle. „Ich bin voll reingetreten.“

Lucilles qualvolle Schluchzer bohrten sich in Angelas schmerzenden Schädel. „Ted!“, sagte sie. „Die Tochter des Opfers kann dich hören. Das ist das Blut ihres Vaters. Sei etwas respektvoller.“

Er entfernte sich ein paar Schritte von dem Streifenwagen, senkte die Stimme und sagte: „Sie hat ihm auch keinen Respekt erwiesen. Detective Greiman sagt, sie habe ihren Vater kaltgemacht. Sie sollen seitlich durch die Kellertür rein.“ Er deutete auf den Eingang. „Der Alte hatte seine Holzwerkstatt da unten. Er liegt am Fuß der Treppe.“

Angela schluckte eine weitere Imitrex. Dann zog sie sich vier Paar Handschuhe an, startete ihr iPad und öffnete die Kellertür. Der magenumdrehende Gestank von Tod und kupferigem Blut stieg ihr in die Nase und übertönte die angenehme Note von frischem Holz.

„An der Tür sind Schuhüberzieher“, sagte Greiman. Angela schlüpfte hinein und rief die Fallnummer ab.

„Nicht, dass du hier noch groß Spuren zerstören könntest“, sagte er. „Der ganze verdammte Keller wurde von einer Büffelherde zertrampelt. Nach dem Notruf der Tochter haben diese Idioten versucht ihn wiederzubeleben, obwohl er längst Pat. ex. war.“

Exitus am Notfallort.

„Deshalb nageln Bestatter die Sargdeckel zu“, sagte Greiman. „Das ist der einzige Weg, um den Rettungsdienst davon abzuhalten, die Leichen wiederzubeleben.“

Angela ignorierte seine Tirade. Die Sanitäter mussten laut Protokoll versuchen, Ben wiederzubeleben, egal wie schlecht die Chancen standen.

Die schwache Beleuchtung im Keller linderte ihre Kopfschmerzen etwas. Als sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnten, sah Angela einen gebrechlichen alten Mann auf dem Rücken in einer dunkelroten Blutlache liegen, die von Fußspuren durchzogen und mit medizinischen Abfällen gespickt war. Bens Arme waren steif und angewinkelt. Angela fotografierte die Unfallstelle von der Tür aus.

Beim Nähertreten sah sie, dass Ben Khakihosen und beigefarbene Socken trug. Brust und Brustbein waren aufgrund der Wiederbelebungsversuche des Rettungsteams verbrannt und geprellt. An seinen Händen hingen Infusionsschläuche. Sie würde diese notieren, aber nicht entfernen. Sein rot kariertes Hemd lag zerrissen auf dem Boden. Ein zerbrochenes, goldenes Brillengestell befand sich am Rand der Blutlache. Angela fotografierte es. Sie würde Greiman daran erinnern zu überprüfen, ob es der Sehstärke des alten Mannes entsprach.

Bens schneeweißes Haar war fast schwarz vor getrocknetem Blut. Die linke Hälfte seines Gesichts und seiner schmächtigen, blassen Brust war violett verfärbt. Totenflecken, dachte Angela. Nach Bens Tod hatte sich das Blut in seinem Körper an diesen Stellen angesammelt und ein unverkennbares Merkmal hinterlassen. Er musste auf dieser Seite liegend gestorben sein.

Für ihren Bericht skizzierte sie den Keller und zeichnete in der Mitte die Treppe ein. Östlich davon waren der Ofen, der Durchlauferhitzer und die Waschküche. Auf der westlichen Seite trennten Holzregale voller Konservendosen sie von Bens Werkstattbereich.

Bens Keller war aufgeräumt. Angela sah einen Stapel Schmutzwäsche in einem Korb. Der Betonboden war besenrein. Die kleineren Werkzeuge hingen ordentlich an einer Werkzeugwand. Auf der Werkbank war ein Stück glattes, unbehandeltes Holz eingespannt. In Fässern und Tonnen befand sich weiteres Holz, sortiert von dünnen, zwei Meter hohen Pfählen bis hin zu dicken Pflöcken. Eine Kriminaltechnikerin arbeitete sich gerade durch eine der Tonnen und machte Fotos.

„Die Tochter hat ihn um die Ecke gebracht“, sagte Greiman. „Sie hat gesagt: ‚Es ist alles meine Schuld‘.“

Für Angela war das noch lange kein Geständnis. Familienmitglieder gaben sich oft die Schuld am Tod eines geliebten Menschen.

„Warum hat Lucille das gesagt?“, fragte Angela.

„Sie hat so viel geheult und gefaselt, dass ich sie kaum verstanden habe. Irgendwann habe ich herausbekommen, dass sie gestern um elf Uhr vorbeikam, um ihrem Vater Makkaroni mit Käse zum Mittagessen zu bringen. Sie war in Eile, weil sie zum Essen der ehrenamtlichen Kirchenmitglieder musste, wo sie einen zweitklassigen Preis erhalten sollte. Deshalb hat sie vergessen, ihm mehr Dosensuppe aus dem Keller zu holen. Sie sagt, der Alte sei wahrscheinlich selbst hinuntergegangen. Er hat wohl immer gegen sechs Uhr zu Abend gegessen.“

Greiman würdigte die Einwohner von Toonerville weder mit ihren Vornamen noch mit Anteilnahme. Sie brachten seine Karriere nicht voran.

„Sie denkt, er ist die Treppe hinuntergefallen, weil er diese rutschigen Socken anhatte.“

Von Nahem sah Angela, dass die Stufen aus einem ungewöhnlichen, rotgoldenen Holz gefertigt waren. „Warum gibt es keinen Rutschschutz aus Gummi?“, fragte sie.

„Er hat die Treppe selbst angefertigt“, sagte Greiman. „Und seiner Meinung nach hätten Gumminoppen sie ruiniert. War wohl ein sturer, alter Bock.“

Das war er, dachte Angela. Und ein erstklassiger Handwerker.

„Ich schätze, die Tochter war es leid zu warten, bis der Alte das Zeitliche segnet, und hat ihn die Treppe runtergeschubst.“

Nein!, wollte Angela widersprechen. So ist Lucille nicht.

Aber sie wusste auch, dass erwachsene Kinder ihren Eltern manchmal zu einem vorzeitigen Ende verhalfen – mit einem Stoß am Treppenabsatz, einem Kissen über dem Gesicht oder einer Medikamentenüberdosis.

„Ihr Vater hatte Herzprobleme und sie hat jeden Tag nach ihm gesehen“, sagte Greiman. „Muss ganz schön nervig für sie gewesen sein, wo sie doch in Rente ist. Meine Mutter ist in Rente und immer mit ihren Freundinnen unterwegs. Die Tochter sagte, sie sei heute vorbeigekommen, um den alten Knacker wie jeden Mittwoch zum Mittagessen im Golden Corral abzuholen. Er bestand darauf, zu der Filiale ganz oben im südlichen St. Louis County zu gehen. Noch ein Grund für sie, ihn umzunieten – eine wöchentliche Spazierfahrt fast hundert Kilometer hin und zurück, nur weil er das Dessertbuffet dort besonders mochte.

Sie hatte bestimmt die Nase voll von Daddys Forderungen und hat ihm gestern den Stoß verpasst, bevor sie zum Mittagessen gegangen ist. Schluss mit dem fordernden Vater. Diese Treppe ist die reinste Todesfalle.“

„Die Stufen sehen ziemlich rutschig aus“, sagte Angela. Sie zählte sie – vierundzwanzig – für ihren Bericht, wobei sie deren glatt polierte Oberfläche notierte sowie die Vierzig-Watt-Glühbirne, von der sie spärlich beleuchtet wurden.

„War das Licht über der Treppe an, als du eingetroffen bist?“, fragte sie.

„Ja, aber ich weiß nicht, wer es angeschaltet hat oder wann.“

Angela maß die Höhe des Geländers und rüttelte daran, um sich zu vergewissern, dass es stabil war. Sie fotografierte die Blutspritzer auf den Stufen und maß sie ab, einschließlich der dunklen Gerinnsel an der Kante der vierten Stufe von unten.

Anschließend begann sie mit der Bestandsaufnahme der Leiche. Durch das dick verkrustete Blut sah sie einige Blutergüsse und Kratzer auf Bens Kopf und Gesicht. An der oberen linken Schläfe hatte er eine hässliche, dreieckige Eindellung. Angela dokumentierte den „dreieckförmigen, eingedrückten Schaden“ sorgfältig und zählte, maß und fotografierte alles.

„Hast du das Blut an der vierten Stufe gesehen, Ray?“, fragte sie, während sie ein weiteres Foto schoss. „Es scheint mit der dreieckigen Eindellung an seinem Schädel übereinzustimmen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, sagte er. „Wenn die Tochter ihn nicht geschubst hat, hat sie ihm einen Holzklotz übergezogen. Die Technikerin überprüft gerade jedes Stück Holz. Ich habe sie auch die Tür, Türpfosten und den Türgriff auf Fingerabdrücke untersuchen lassen. Den Boden auf Fußabdrücke zu prüfen hat allerdings wenig Sinn.“

Angela versuchte, eine weitere Tirade über den Rettungsdienst abzuwenden. „Kein Wunder, dass Stürze bei Personen über fünfundsiebzig die Haupttodesursache sind“, sagte sie. Wie erwartet ignorierte Greiman ihre Anspielung, aber immerhin kamen sie besser miteinander aus als bei der Untersuchung der JJ-Zwillinge.

„Wirst du Lucille festnehmen?“, fragte sie.

„Ich verhöre sie und überprüfe ihr Alibi“, sagte er. „Ich will sehen, wie lange sie bei dem Mittagessen in der Kirche war und nachprüfen, was sie danach gemacht hat. Dafür nehme ich sie mit aufs Revier. Das sollte sie einschüchtern, vor allem wenn ich ihr ihre Rechte vorlese. Da kriegen sie immer Schiss.“

Eine Kirchengängerin wie Lucille wird völlig verängstigt sein, dachte Angela. Außerdem wird es die reinste Demütigung für sie, in einem Polizeiwagen abgeführt und durch den Forest kutschiert zu werden.

„Aber solange die Tochter uns nicht genau sagt, wie sie es angestellt hat, muss ich wohl auf den Bericht des Gerichtsmediziners und die Tz warten.“

Todeszeit. Nicht mal der Gerichtsmediziner würde Greiman den genauen Todeszeitpunkt nennen können. Es gab einfach zu viele Variablen.

Angela war erleichtert, dass Greiman vorsichtiger vorging. Sie fotografierte die Sohlen von Bens Socken. Sie waren leicht gräulich, als wäre er ohne Schuhe im Haus herumgelaufen.

„Die Leichenstarre hat voll eingesetzt“, sagte sie. „Seine Arme und Finger sind steif.“ Sie beschrieb den schlichten Ehering aus Gelbmetall an seiner von Altersflecken übersäten linken Hand in ihrem Bericht.

Die Leichenstarre war nach acht bis zwölf Stunden am schlimmsten. Dann verließ sie den Körper langsam wieder, angefangen bei den kleineren Muskeln. „Ich würde sagen, er ist etwa seit sechzehn bis zwanzig Stunden tot“, vermutete sie. Sie wussten beide, dass niemand außer einem Augenzeugen sagen konnte, wann genau Ben gestorben war.

Angelas Einschätzung unterstützte jedoch Lucilles Vermutung, dass ihr Vater gegen sechs Uhr abends gestorben war. Sie hoffte nur, dass die professionelle Einschätzung des Gerichtsmediziners ihre Annahme bestätigen würde.

Sie maß die Raumtemperatur. Dann machte sie einen Schnitt unter Bens Rippen und zeichnete seine Körperkerntemperatur auf. Sie umkreiste den Schnitt in seiner Haut und setzte ihre Initialen darunter. Seine Temperatur war um zehn Grad höher als die fünfundzwanzig Grad des Raumes.

Sie untersuchte die untere rechte Bauchgegend, fand aber keine grünliche Verfärbung. Dieses frühe Anzeichen der Verwesung trat oft nach vierundzwanzig Stunden auf.

„Wie lange war Lucille bei dem Essen der Ehrenamtlichen?“, fragte Angela.

„Sie sagt, sie habe die Kirche etwa gegen drei Uhr verlassen“, sagte Greiman. „Danach ist sie mit drei anderen alten Schachteln zum Forest Tea Shoppe gegangen. Tee! Damit haben sie gefeiert! Um fünf Uhr ist sie nach Hause gefahren und hat Thunfischauflauf für ihren Mann gemacht. Den restlichen Abend haben sie zu Hause verbracht. Highlife in Toonerville.“

Angela ignorierte seinen sarkastischen Tonfall. „Kann ich mit Lucille sprechen?“

„Erst wenn ich sie laufen lasse. Wenn ich sie überhaupt laufen lasse.“

Mies gelaunt half Greiman ihr dabei, Bens Leichnam umzudrehen. Angela entdeckte weitere Prellungen und Blut an seinem Rücken, ebenso wie die erwarteten dunkelvioletten Totenflecken auf seiner linken Körperhälfte, und fotografierte sie.

„Hast du’s bald?“, fragte der Detective. „Kann die Spurensicherung dann endlich ihre Fotos machen? Ich will den Leichenwagen rufen.“

Angela nickte. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich abfallen und davonrollen. Sie blieb am Unfallort, um den Abtransport von Bens Leichnam zu überwachen. Als die Pathologieassistenten ihn zu ihrem Transporter schoben, hörte sie Lucille erneut schluchzen.

„Ich geh nach oben und überprüfe seine Medikamente“, sagte Angela. „Danach bin ich fertig.“

„Das Wohnzimmer wurde noch nicht auf Fingerabdrücke untersucht“, sagte Greiman.

„Ich pass auf.“ Angela rollte sich das oberste Paar Handschuhe ab und schob ihr Untersuchungs-Kit zur Tür hinaus. Draußen wurde sie erneut von der gleißenden Frühlingssonne geblendet. Sie atmete die frische Luft ein und konnte regelrecht hören, wie die Pflanzen aus dem feuchten Boden sprossen.

Auf der Veranda vor dem Haus fand sie weitere Hinweise zu Bens Todeszeitpunkt: die Morgenausgabe der St. Louis City Gazette lag immer noch in Plastik gehüllt vor der Tür. Der Briefkasten war leer, die Vorhänge im Wohnzimmer geschlossen.

Bens restliches Haus war ebenso ordentlich wie sein Keller. Überall erkannte sie seine handgearbeiteten Designs. Bis auf den massiven braunen Fernsehsessel und die dazugehörige Couch hatte er alle Möbel selbst gezimmert.

In die Küchenschränke aus Eichenholz und den dazu passenden runden Tisch war sein filigranes Hartriegelblüten-Design geschnitzt. Mitten auf dem Tisch befand sich ein Drehteller voller Tablettenfläschchen. Angela suchte auf ihnen nach dem Namen des zuständigen Arztes. Wie die meisten Bewohner des Forests ging Ben zu Doc Bartlett. Den Medikamenten nach zu urteilen war Ben herzkrank gewesen.

Sie verstaute die Medikamente in einem Ziplockbeutel und beschriftete ihn. Der Gerichtsmediziner würde Bens Krankenakte haben wollen. Da Lucille unter Verdacht stand, würde Greiman auch Doc Bartlett und alle anderen verhören müssen, die eventuell hilfreiche Informationen für seine Ermittlung hatten.

Sie warf einen Blick in die Spülmaschine und sah eine ausgewaschene Kaffeetasse, eine Müslischale und einen Teller mit gelben Rückständen. Makkaroni mit Käse? Sie fotografierte alles, einschließlich der eingeschweißten Pralinen und der sauberen Kaffeemaschine auf dem Küchentresen.

Angela öffnete den Kühlschrank mit behandschuhten Fingern. Er war so gut wie leer: ein Liter Milch, eine einzelne, in Plastik verpackte Hühnerkeule, eine Plastikschüssel mit dem Rest Käse-Makkaroni, ein halber Laib Brot, Butter und grüne Weintrauben in einem Sieb. Sie fotografierte den Inhalt des Kühlschranks und packte die Portion Makkaroni für das Labor ein, falls Ben betäubt oder vergiftet worden war.

Außerdem notierte Angela alles, was sie in Bens Haus nicht vorfand. Es gab keinen Alkohol, keine Bierflaschen und keine illegalen Drogen oder Drogenutensilien.

Sie fotografierte den Mülleimer in der Küche. Ein Bonbonpapier und eine ausgespülte Suppendose lagen darin. Die Montagszeitung steckte in der Recyclingtonne.

Die Dunkelheit in Bens Schlafzimmer war wohltuend. Angela notierte und fotografierte die geöffneten, olivgrünen Vorhänge und das gemachte Bett. Ben sollte hier liegen anstatt in einem Bestattungsinstitut, dachte Angela. Sein Doppelbett war ein Meisterwerk aus gemaserter Eiche, intarsiert mit honigfarbenem Holz. Auf seinem Nachttisch, einem weiteren seiner Kunstwerke, standen eine Lampe und eine Uhr im Art-déco-Stil. Es gab weder Bücher noch einen Fernseher in dem Raum.

Auf dem anderen Nachttisch stand ein Silberrahmen mit einem Foto von Ben und einer Frau, die aussah wie eine ältere, weißhaarige Lucille. Das musste ihre Mutter sein. Neben dem Bild stand eine Vase mit Hartriegelblumen.

Glückwunsch zum 60. Ben und Harriet!, stand auf einem Spruchband über den Köpfen des Paars. Die weiß gesäumte Orchidee auf Harriets blauem Taftkleid zog sich über die Schulter bis ganz hinunter. Auf dem Foto lächelte sie Ben liebevoll an, der sich in seinem dunklen Anzug mit Anstecknelke sichtlich unwohl fühlte.

Angela fragte sich, ob Ben wohl in diesem Anzug beerdigt werden würde.

Das Badezimmer war ebenfalls blitzsauber und der Toilettensitz war nach oben geklappt – ein weiteres Anzeichen für das Heim eines alleinstehenden Mannes.

Fast geschafft, dachte Angela. Im Medizinschränkchen befanden sich Aspirintabletten, Hühneraugenpflaster und andere rezeptfreie Medikamente. Auch diese fotografierte sie, bevor sie die Arzneimittel in einen weiteren Ziplockbeutel packte. Sie würden mit dem Leichnam eingeliefert werden.

Dann verstaute sie ihre Ausrüstung wieder in ihrem Kofferraum. Es war eine Erleichterung, in ihrem Auto zu sitzen. Angela lehnte ihren schmerzenden Kopf gegen das Lenkrad. Poch. Poch. Poch. Das Blut hämmerte in ihrem Schädel. Sie schluckte eine weitere Imitrex ohne Flüssigkeit.

Bens langes, dienliches Leben hatte ein brutales Ende gefunden. Angela war sich sicher, dass seine eigene Schöpfung ihn umgebracht hatte, nicht seine einzige Tochter.

KAPITEL 4

Als Angela von Ben Weymullers Haus wegfuhr, freute sie sich regelrecht darauf, ihre Freundin Katie, die Assistenzpathologin des Forests, zu sehen. Die Leichenhalle befand sich im fensterlosen Untergeschoss des Sisters-of-Sorrow-Krankenhauses. Dort unten schien die Sonne nie, im wörtlichen und übertragenen Sinne.

Auf der kurzen Fahrt zum SOS tanzte und zitterte die Straße. Angela parkte ihren Wagen hinter dem Gebäude und gab ihren Code in die Tastatur neben der unscheinbaren beigen Hintertür ein. Beim Eintreten schlug ihr der Gestank von fauligem Fleisch und Desinfektionsmittel entgegen und sie versuchte, ihren Würgereflex zu unterdrücken. An diesen Geruch würde sie sich nie gewöhnen.

Die Rezeptionistin, Carolyn, legte ihren Liebesroman beiseite und sagte: „Katie ist in ihrem Büro.“

Katies Schuhschachtel von einem Büro war gerade groß genug für einen schmalen Schreibtisch und zwei Stühle. An der Wand hinter dem Tisch hing ein dramatisches Foto von einem Herbstwald mit einem versteckten Plastiktotenkopf zwischen dem Blattwerk.

Katie war klein, gedrungen, brünett und so pragmatisch wie ein Paar Wanderschuhe. Angela fand sie vor ihrem Computer sitzend vor.

„Ich war Sargträgerin bei Leuten, die besser ausgesehen haben als du“, sagte Katie. „Was ist denn los?“

„Dieser verdammte Greiman“, sagte Angela. „Ben Weymuller ist in seinem Haus verstorben. Seine Tochter Lucille hat ihn tot aufgefunden, als sie ihn zum Mittagessen im Golden Corral abholen wollte.“

„Tut mir leid zu hören“, sagte Katie. „Der alte Ben war ein talentierter Mann, aber er sah schon ziemlich schlecht aus, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. War es ein Herzinfarkt?“

„Ich denke, er ist die rutschige Kellertreppe hinuntergefallen. Er hatte nur Socken an.“

„Was für eine dämliche Art zu sterben“, antwortete Katie. „Aber nicht überraschend. Stürze machen sieben Prozent aller Todesfälle aus.“

„Greiman hat Lucille in einen Streifenwagen gesteckt und sie von seinem Schützling Ted Baker bewachen lassen. Der Schwachkopf hat sich vor ihr darüber beschwert, dass er sich die neuen Schuhe mit Bens Blut versaut hat.“

„Ted ist ein richtiger IIA – Idiot in Ausbildung“, sagte Katie. „Er lernt vom Besten.“

„Greiman behandelt Bens Tod wie einen Mord“, sagte Angela.

„Ich gebe es nur ungern zu, aber er tut das Richtige“, erwiderte Katie. „Das weißt du doch. Bei nicht bezeugten Todesfällen wird immer vom Schlimmsten ausgegangen. Immer. Auch wenn die Verdächtige eine nette, alte Lehrerin ist.“

„Aber ich habe die Stelle an der Treppe gesehen, an der Ben sich den Kopf gestoßen hat“, sagte Angela. „Die Wunde stimmt exakt mit der Kante überein. Ich habe sie fotografiert.“

„Gute Arbeit, aber Greiman hat trotzdem recht. Er ist ohne Zweifel ein Riesenarschloch. Gäbe es einen Arschloch-Wettbewerb, würde ich ihn sponsern und er würde in allen Kategorien absahnen, sogar in der medizinischen.“

„Ich habe Lucille im Streifenwagen weinen gehört“, sagte Angela.

„Traurige Sache“, erwiderte Katie. „Ist es wirklich. Aber du hättest ihr ja schlecht die Hand halten können. Dein größtes Problem ist, dass du kein Arschloch bist, Angela. Du bist viel zu nett, und das ist eine echte Schwachstelle. Du musst dich immer an die Fakten halten: Bens Tod ist verdächtig. Gewalt an älteren Personen kommt häufig vor, weil viele Familien ihrer nörgeligen alten Angehörigen oft überdrüssig werden. Vielleicht hat Ben Lucille angeschnauzt und vielleicht hat sie ihn die Treppe runtergeschubst.

Schau mich nicht so an. Das passiert ständig. Es ist Aufgabe des Gerichtsmediziners zu bestimmen, wann und wie Ben gestorben ist. Dein Job ist es, die Fakten zu dokumentieren. Unser Büro legt fest, ob es ein Mord war. Nicht du. Alles klar?“

„Okay“, sagte Angela. „Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum sie Greiman nicht rausschmeißen. Er ist sexistisch und rassistisch.“

„Hallo?“, erwiderte Katie. „Wir sind hier im Forest, dem Wildreservat für weiße Männer. Greiman spricht aus, was die Mächtigen da oben denken, aber selbst nicht sagen können. Die werden ihn nie rausschmeißen. Erinnerst du dich noch an die Ansprache vom alten Du Pres bei der Versammlung der Hauseigentümer?“

„Die, bei der er den Forest-Familien gesagt hat, sie mögen der Polizei Bescheid sagen, wenn sie einen farbigen Gast oder Handwerker erwarten?“, fragte Angela. „Reggie Du Pres’ Worte waren: ‚Es ist nur höflich, die Polizisten darüber zu informieren, dass es einer von unseren Farbigen ist‘.“

„Und ihn hält man für vorurteilsfrei“, sagte Katie. „Immerhin hat er ‚Farbige‘ statt dem N-Wort benutzt.“

„Aber der Forest hat auch meine Mentorin Emily als unsere erste Todesermittlerin eingestellt“, sagte Angela.

„Emily Du Pres“, betonte Katie. „Die Nichte des alten Mannes. Der Forest hat gerne einen eigenen Ermittler. Dadurch haben sie mehr Kontrolle. Sie stellen den Gerichtsmediziner ein und der ernennt den Ermittler. Hey, wir beide wissen genau, was Greiman für ein Typ ist. Trotzdem hat er bei Ben Weymuller die richtige Entscheidung getroffen. Auch eine stehen gebliebene Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit.“

„Das Problem ist zu wissen, wann das ist“, sagte Angela. Ihr Kopf schmerzte so stark, dass sie Katie nur durch einen gleißenden Schimmer sehen konnte.

„Du hast wieder Migräneanfälle“, stellte Katie fest. „Wodurch wurden sie diesmal ausgelöst? Bens Tod?“

„Sie haben schon vorher angefangen. Bei der Ermittlung zu den JJ-Zwillingen.“

„Das war Samstagnacht.“

„Ich habe den Montag und Dienstag durchgeschlafen“, sagte Angela.

„Du siehst richtig mies aus. Bestimmt schluckst du wieder Imitrex wie Tic Tacs, oder? Und fährst dabei auch noch. Du weißt es doch besser. Ruf Dr. Bartlett an.“

„Das tue ich, wenn es bis morgen nicht besser ist“, sagte Angela.