Mörderisches Stuttgart - Justin Larutan - E-Book

Mörderisches Stuttgart E-Book

Justin Larutan

0,0

Beschreibung

Eine Mordserie im Leonhardsviertel hält das Stuttgarter LKA in Atem. Beim Einbruch einer professionellen Diebesbande kehren die Hausbesitzer zu einer Unzeit zurück. Die perfekte Erpressung eskaliert auf grausame Weise - in elf Kurzkrimis wird gelogen, betrogen und gemordet. Jede Geschichte wartet mit einer überraschenden Wendung und einer Besonderheit der oft unterschätzten Großstadt am Neckar auf. Es herrscht ein beträchtlicher Druck im Stuttgarter Kessel, so fesselnd und realistisch beschrieben, dass es manchmal wehtut.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 368

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Justin Larutan

Mörderisches Stuttgart

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Leif-Hendrik Piechowski

und © Jens Hilberger – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5402-8

Widmung

Für Lily.

Aas im Wald

Stuttgart hat einige architekturgeschichtlich bedeutende Bauwerke zu bieten, allerdings weit weniger als vergleichbare europäische Großstädte. Von überregionaler Berühmtheit sind lediglich Ludwig Mies van der Rohes Weißenhofsiedlung  1 , die als Keimzelle der modernen Architektur gilt, jenes Baustils, der nach dem Zweiten Weltkrieg wie ein Ausschlag das Antlitz dieses Planeten verwandelte, und die Neue Staatsgalerie  2 als zentrales Bauwerk der postmodernen Architektur. In den letzten Jahren hinzugekommen sind zwei Würfel, der des Kunstgebäudes auf dem Schlossplatz  3 und der der Neuen Stadtbibliothek am Mailänder Platz.  4

Sicher keine architektonische Perle ist der Stadtteil Asemwald, dafür neben Stuttgart-Neugereut der bizarrste Auswuchs der modernen Wohnideologie in der Landeshauptstadt – Luft, Licht, bezahlbarer Wohnraum für jedermann –, bestehend vorwiegend aus drei großen Wohnhochhäusern aus den 1960er-Jahren, die man »Hannibal« getauft hatte.

Der karthagische Feldherr musste aus ungewissem Grund Pate stehen für die fast baugleichen Wohnblocks mit 70 Metern Höhe und jeweils 23 Stockwerken, die Stuttgart aus Richtung der Filderebene schon von Weitem ankündigen.  5  Im Grunde mitten im Wald erbaut, bilden die Grundrisse der drei Betonklötze ein rätselhaftes dreistrichiges Zeichen an außerirdische Besucher, in etwa wie ein halbierter Buchstabe eines fremden Alphabets.

Die 1.800 Bewohner müssen ein besonderer Menschenschlag sein, denn die meisten leben dort seit den 1970er-Jahren (weshalb es auch immer weniger werden). Seitens der Bauherrn wurde alles für sie getan, was das Herz eines modernistischen Stadtplaners höher schlagen ließ: eine direkte Schnellstraßenanbindung, ein Ladenzentrum, ein Tennisplatz, ein Höhenrestaurant, ein Panorama-Schwimmbad im 20. Stock  6 sowie ein evangelischer und ein katholischer Kindergarten. Der Stadtteil bringt es auf die beträchtliche Bevölkerungsdichte von 10.000 Einwohnern pro Quadratkilometer und gilt als bei Weitem nicht so verroht wie andere Plattenbausiedlungen der Republik.

In einer Wohnung im 18. Stock des westlichen, quer zu den beiden anderen stehenden Betonblocks starrte Stefan angespannt in die Nacht. Jessica schmiegte sich von hinten an ihn. Sanft begann sie, ihm den Nacken zu massieren. Er wirkte so mitgenommen in letzter Zeit. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: »Im Grunde brauchen wir vor allem eines: einen unanfechtbaren Alibizeugen, der uns nicht allzu nah auf die Pelle rückt. Mir ist da etwas eingefallen …«

Stefan musste lächeln. Was für ein hübscher kleiner Kopf und was für böse Gedanken darin! Das liebte er an ihr. Sie erklärte ihren Plan. Er stellte einige Zwischenfragen und ging, als sie fertig waren, noch einmal jede noch so unwahrscheinliche Eventualität durch: Sie wusste auf alles eine Antwort. Wahrscheinlich war es dieser Moment, als die Sonne hinter Degerloch versank und die leise gestellte Musik endgültig verklang, ein erschöpftes Innehalten der Welt, als er zum ersten Mal daran glaubte: Er würde es tun!

*

Im Großen und Ganzen haben die Leute ja keine Ahnung! Es denkt doch jeder, der Job als privater Ermittler sei vielleicht schlecht bezahlt, aber immerhin aufregend. Klischees, wenn nicht von Sherlock Holmes oder Marlowe, dann zumindest von Matula, vernebeln ihnen die Vorstellung dessen, um was es sich bei einem derartigen Broterwerb im Kern handelt: um eine stupide Routinetätigkeit, bei der man überdurchschnittlich oft erbärmlich fror.

Tatsächlich lässt sich kaum ein langweiligerer Beruf denken als der des Detektivs, denn alles, was Frank Vodenka bei der Arbeit außerhalb seines Büros tat, jedenfalls fast alles, bestand aus nicht enden wollender Warterei. Vieles ließ sich heute glücklicherweise am Rechner machen. Frank besuchte regelmäßig Fortbildungskurse, um sich über die Fortschritte der Überwachungstechnologien on- und offline zu informieren, und die waren rasant. Überwachungsgeräte boomten und wurden immer besser und billiger, eine kleine Cam für den Schlüsselanhänger mit beachtlicher Qualität bekam man heute für 10,99 Euro, eine gute Kamera-Drohne kostete keine tausend mehr. Was man theoretisch alles über den Rechner bequem im Büro herausbekam, das war unglaublich: Wie einfach sich Handys orten oder in Wanzen umwandeln ließen oder die im Rechner der Zielperson integrierte Webcam in eine Überwachungskamera umfunktioniert werden konnte, und wie leicht man über Trojaner und andere kleine Helfer auf private Dokumente, Mails und Bilder zugreifen konnte … Das Problem war nur, dass all das nicht legal war. Machte aber jeder heutzutage. Illegal war es schon, privaten Grund zu betreten, und welcher Detektiv hätte sich daran je gehalten? Den Kunden war das alles ohnehin egal. »Macht die Konkurrenz doch auch«, oder: »Ihren Rechner habe eh ich gekauft«, sagten sie, oder: »In meinen vier Wänden kann ich doch wohl tun und lassen, was ich will«, oder: »Es dient doch nur dem Schutz des Jungen«, und so weiter.

Frank, eher der vorsichtige Typ, bediente sich bei den weniger gesetzeskonformen Online-Aktionen, wenn sie sich nicht umgehen ließen, meist der aktiven Mithilfe seiner Auftraggeber, sodass er nur als Berater fungierte. Die Arbeit am Rechner war jedenfalls meist spannend und führte vergleichsweise rasch zum Ziel. Ganz anders sah es bei klassischen Observationen aus.

Zum Beispiel das hier: Seit gut zwei Stunden hockte er im Wagen, starrte in den Regen und beobachtete den Eingang, bis die da drinnen endlich fertig waren. Jede halbe Stunde musste er hinaus und sich die Beine vertreten, sein Rücken machte ihm im Sitzen große Probleme. Ab und an kamen ein paar späte Jogger oder Nordic-Walker vorbei, aber ansonsten war hier um diese Zeit fast niemand mehr draußen, weshalb auch? Auf dem Parkplatz standen einige Wagen, und der mitternachtblaue Lexus, auf den er es abgesehen hatte, parkte zwei Reihen weiter.

Und all das nur für ein klassisches Foto der beiden, am besten in inniger Umarmung, noch erhitzt vom Liebesspiel, was seiner Auftraggeberin als Beweis reichen mochte.

Die CD war zu Ende, er hatte weder Lust, sie zu wechseln, noch darauf, erneut den süßen Honig Nancy Sinatras über sich ergehen zu lassen. Vodenka seufzte und kramte nach seinen gesalzenen Erdnüssen. Unter ihnen lag die Zeitung und verdeckte die Digicam, die bereitlag, das entscheidende 1.000-Euro-Foto zu schießen. Wieder und wieder drang die Headline »Kuh tötet Lehrerin. Von DNA-Test überführt. Bäuerin droht Prozess« in sein müdes Bewusstsein, sodass er endlich wissen wollte, was denn nun diese Kuh, die ihn da aus großen Augen treuherzig anglotzte, mit der Lehrerin für ein Problem gehabt hatte. Wäre er seiner Neugier gefolgt, hätte das den ganzen Auftrag gefährdet. Im Zweifelsfall ging es um Sekunden, und er war Profi.

Beschattung untreuer Ehemänner oder -frauen, das war, entgegen der Annahme vieler seiner Bekannten, noch immer ein Herzstück seiner Arbeit. Das waren nicht gerade seine liebsten Aufträge – er lobte sich die mittelständischen Unternehmen, die im Zuge der NSA-Affäre Angst um ihre Daten bekommen hatten, Industriespionage und Geheimnisverrat durch eigene Mitarbeiter fürchteten: Diese Jobs waren einfach und brachten viel Geld. Die Privataufträge dagegen, Leute, die wissen wollten, was ihre Kinder am neuen Studienort so trieben, die eine Zufallsbekanntschaft aus der Bahn wiederfinden wollten oder die erste Liebe und natürlich all die Eifersüchtigen und die Stalker, dieses Zeug war meist viel komplizierter und langwieriger, als es aussah, und man konnte nie sicher sein, dass diese Leute bezahlten.

Viele in Franks Bekanntenkreis meinten, heute gäbe es das nicht mehr, eifersüchtige Partner, die unbedingt einen stichhaltigen Beweis für ihren Verdacht wollten, in Zeiten, wo bei Scheidungsprozessen die Schuldfrage längst gleichgültig und Fremdgehen in Beziehungen eher zum Regel- als zum Ausnahmefall geworden war, wo die Frauenzeitschriften munter texteten: »Seitensprung als Jungbrunnen – Poppen, um die Beziehung aufzupeppen«. Neulich hatte er gelesen, bei den jungen Paaren unter vierzig gingen inzwischen die Frauen prozentual noch häufiger fremd als die Männer. Nun ja, bei diesem Job blieb ihm selbst keine Zeit, eine zu haben, die ihn betrügen könnte … Und als wäre das ein Trost, starrte er umso verbissener auf die Glastür, in der sich bloß immer dieselben Buchen spiegelten.

Seine Bekannten täuschten sich. Was seine Auftraggeber wollten, ja, brauchten, das war Gewissheit. Endlich die Ruhe des sicheren Wissens, das der oft monatelangen Gedankenqual ein Ende machte. Gewissheit hatte immer Konjunktur. Und dafür zahlten sie, nicht gut, aber immerhin. Das Misstrauen den lieben Mitmenschen gegenüber stieg ohnehin immer weiter an, so lautete die Quintessenz seiner inzwischen fünfzehnjährigen Berufserfahrung. Wissen schadete eben immer denjenigen am meisten, denen es fehlte.

Er selbst war sich da gar nicht so sicher. Jeder konnte leicht einsehen, aus der Erinnerung an Zeiten, da er oder sie manches noch nicht wusste, schlicht weil man jünger war, dass die Menge an Wissen, die man Erfahrung nennt oder Bildung, recht unabhängig vom guten oder schlechten Leben ist. Ja, man durfte das nicht sagen, aber wie oft wäre es das Beste gewesen, nichts zu wissen. Wenn diese Leute ihn nie beauftragt hätten, die meisten wären besser dabei gefahren! Natürlich konnte er ihnen das nicht sagen, denn dann blieben ihm nur noch Irre und Kriminelle als Auftraggeber. Erstens waren das viel zu wenige, um davon leben zu können. Außerdem gebrauchten sie ihn allzu offensichtlich als Werkzeug in ihrem meist bösen Spiel, von dem sie ihm natürlich nichts sagten … Und Werkzeug in den Händen anderer wollte er nicht sein, deshalb hatte er sich schließlich selbstständig gemacht.

Draußen tat sich nichts. Er könnte ein Buch schreiben über seine Grübeleien … Es war klar: Zu wissen ist für Tiere, Menschen und auch die Gesellschaft insgesamt so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen; wie sollte man Autos bauen, Essen zubereiten, Krankheiten heilen ohne Wissen? Und etwas zu wissen, setzt natürlich immer anderes Wissen voraus. Es gibt immer viel mehr, was man wissen könnte, als das, was man weiß. Und die Klügeren wussten auch: Was wir wissen, muss nicht immer wahr sein. Aber war man sich einer Tatsache einmal sicher, konnte man sie weder in kleine Stücke teilen noch einfach so weitergeben (sonst wäre Lehrer der einfachste Beruf der Welt), und man konnte sie auch nicht wieder löschen.

Das Letzte war das eigentliche Problem. Denn was nutzte all unser Wissen oft? Man wusste zum Beispiel, alles war endlich. Nicht nur das eigene Leben, dieser Muckenschiss im Universum, auch dieser ganze Planet war dem Untergang geweiht. Gestern Abend war er über eine Fernsehsendung eingeschlafen, in der es um Astrophysik ging. Die Sterne, die so ruhig und beschaulich am Himmel standen, waren in Wirklichkeit eine tödliche Gefahr. Der Sendung, hauptsächlich eine nicht enden wollende Reihung psychedelischer Lichteffekte explodierender Gestirne, hatte er entnommen: Irgendwo da draußen im All gingen zwei riesige Sterne ihrem Ende entgegen, und aus der dann folgenden Supernova entstünde dann irgendein Gammaleuchten, das hellste Ereignis des Universums, welches dann allem Leben auf der Erde binnen Sekunden den Garaus machen würde. Freundlich lächelnde amerikanische Physiker hatten im Fernseher erklärt, niemand bräuchte sich Sorgen zu machen, denn das ließe sich weder beeinflussen noch sei vorherzusehen, wann es so weit sein würde; außerdem ginge das alles dann sehr schnell … Vielleicht erkaltete ja auch unsere kleine Sonne vorher. Frank würde das so oder so nicht mehr erleben. Er hatte sich einnickend gefragt: Was nutzten solche Gewissheiten? Wozu waren sie gut? Um Demut zu lernen?

Das andere Problem mit dem Wissen, das, von dem er lebte, schien ihm sein fehlendes Gegenteil zu sein: Im Unterschied zu Liebe, Gerechtigkeit, Schönheit und so weiter kennt unser Wissen kein eindeutiges Gegenteil. Der eine wusste gar nichts, der andere etwas völlig Verkehrtes, wieder ein anderer immerhin die halbe Wahrheit. Daraus folgte aber, dass die drei diesbezüglich in unterschiedlichen Welten lebten: Die Frau denkt, der Mann geht fremd. Der Mann geht nicht fremd und fragt sich, was die Frau die ganze Zeit hat. Und der Detektiv weiß, dass er zwar sein Geld bekommt, wenn er die Wahrheit sagt. Aber ob die Frau ihm dann glaubt oder nicht, ob sie einfach denkt, er habe einen schlechten Job gemacht und weitergrübelt, das weiß er nicht.

Mit dem Alter kam Frank mehr und mehr zu der Einsicht, dass Wissen und Wahrheit etwas völlig Verschiedenes waren: Wir können die Wahrheit meist gar nicht kennen, nur vermuten. Zugleich verfügen wir immer über irgendein Wissen, wie die fragliche Sache steht. Und dieses vielleicht falsche Wissen hält uns dann wie eine Marionette an seinen Fäden. Dabei wissen wir alle: Die Wahrheit zu kennen, macht uns weder besser noch glücklicher. Nur wo man nicht weiß, kann man noch hoffen. Trotzdem glauben wir, ohne Wahrheit nicht leben zu können. Menschen waren komplizierte Tiere.

Zum Beispiel diese Marie-Louise Magdanz: Was für ein Herumgeeiere, bis er den Auftrag endlich gehabt hatte! Erst war eine Mail gekommen. Sie müsse ihn sprechen, sie glaube, ihr Mann betrüge sie … Sie sei so verzweifelt! Also vereinbarten sie einen Termin. Zur verabredeten Zeit erschien sie dann nicht, dafür kam, eine Stunde später, der Anruf, sie wäre sich nicht sicher gewesen, ob das alles richtig sei … Jetzt aber habe sie sich entschieden. Gut, ein neuer Termin wurde vereinbart. Wieder stand keine Frau Magdanz in seinem Büro, dafür kam, diesmal wenigstens pünktlich, ein weiterer Anruf. Erneut klang diese müde wirkende Frauenstimme in seinem Ohr. Ihr sei nicht wohl heute, aber sie brauche endlich Gewissheit. Ob er, wenn sie ihm alles, was er brauche, per Mail sende, einfach schon einmal anfangen könne? Sie zahle 1.000 Euro im Voraus, als Anzahlung.

Eigentlich wollte Frank die Leute sehen, für die er arbeitete. Es war ihm wichtig zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Aber weil die Unterlagen höchst brauchbar waren (Namen, Fotos, KFZ-Kennzeichen des Mannes, Foto und Name der Dame, um die es mutmaßlich ging, der Dienstagabend als Termin des anscheinend wöchentlichen Stelldicheins, detaillierte Infos über den Arbeitsplatz und -beginn ihres Mannes beziehungsweise seinen Feierabend, seine sonstigen Vorlieben und Gewohnheiten und vieles andere mehr), auch weil das Geld bereits zwei Tage später auf seinem Konto war, und vor allem, weil sonst kein Auftrag anlag, hatte er sich der Sache angenommen; das sah wirklich nach nichts Größerem aus.

Tatsächlich war alles ganz einfach gewesen: Er hatte bloß am Dienstag voriger Woche den mutmaßlich untreuen Ehemann, einen höheren Beamten im Kulturamt, zum pünktlichen Feierabend um 17 Uhr vor der Stadtverwaltung in der Eberhardtstraße abpassen und in einem bereitstehenden Taxi dessen Lexus folgen müssen. Der Mann war direkt hier herauf nach Asemwald gefahren und in eines der Gebäude gegangen. Frank glaubte bei der gemeinsamen Fahrt im Aufzug eine deutliche Nervosität an dem drahtigen Mittvierziger festgestellt zu haben. Im 18. Stock war er dann in einer Wohnung verschwunden, an deren Tür »Heerwald« stand. Etwa zwei Stunden später kam der Mann wieder heraus, allein.

Eine Recherche im Block ergab anderentags, die Wohnung stünde seit Längerem leer, die Besitzerin sei verstorben. Von einer jungen Frau, die hier aus und ein ginge, war niemandem etwas bekannt. Die Woche darauf, Frank hatte hier auf den Lexus gewartet, der pünktlich erschien, dasselbe Bild; er war im Wagen geblieben, den Blick auf den Eingang. Wieder kehrte der Mann alleine zurück.

Telefonisch hatte Frank daraufhin seine Auftraggeberin über das Dienstagsritual ihres Gatten informiert; ob es sich eventuell um einen gemeinsamen Freund dort oben handeln könne? Nein, die Wohnung müsse dieser Person gehören, meinte sie fest. Er solle dranbleiben, ein gemeinsames Foto der beiden reiche ihr, aber sie brauche dieses Foto, unbedingt!

Heute war also der dritte dieser Dienstage: Das Problem bei der ewigen Warterei (neben seinen philosophischen Anwandlungen, die ihn da notorisch überkamen) war, dass dieses Herumgesitze keineswegs sicher zum Ziel führte. Dass die beiden da heute nicht bis morgen früh drin bleiben würden, war nicht ausgemacht, noch, dass sie je gemeinsam das Gebäude verlassen würden. Manche waren ja recht vorsichtig. Kurz: Die ganze Warterei hier konnte sich als völlig umsonst, in jeder Beziehung für nichts, herausstellen. Und deshalb, schlussfolgerte Frank, war seiner der langweiligste Job, noch langweiliger als der von Nachtpförtnern oder Büro-Praktikantinnen; denn deren Langeweile endete garantiert spätestens nach acht Stunden. Das hier dagegen war immer open-end. Kein Wunder, dass man da ins Nachdenken kam … Frank seufzte und räumte endlich den Rucksack mit den Essentials, der ihn schon seit Stunden störte, unter die Rückbank; drin waren Handschuhe, Thermoskanne, Nachtkamera, Fernglas, Notizbuch, Stifte, Taschenlampe, Türöffner und anderes Gerät – und die gute alte Heckenschere.

*

Stefan stand nackt mit einem Fernglas am Fenster. Der Blick aus dem 18. Stock war grandios, doch dafür hatte er keinen Sinn. »Der sitzt immer noch da, scheint ja ein richtiger Profi zu sein.«

Sie lachte. »Ja, du kannst dann mal runtergehen. Aber nicht winken!«

Er küsste sie auf den Mund. »Nächste Woche wird er sein Bild kriegen … Wir werden einander verschlingen, dass es ihm die Schamesröte ins Gesicht treibt!«

Im Halbdunkel der früh hereingebrochenen Nacht sah sie noch verführerischer aus. Versonnen kaute sie die Spitzen ihrer dunklen Lockenmähne und sagte dann fest:

»Nächsten Dienstag also! Stefan, ich bin so froh! Noch drei, vier Monate werden wir aufpassen müssen, dann sind wir endlich frei!«

»Und alles gehört uns«, ergänzte er.

Fest fasste sie sein Glied. »Ja, alles …«

Sie sprang wieder aufs Bett und griff nach ihrem Glas. Genießerisch schwenkte sie das Rot des Weines gegen das flackernde Kerzenlicht, und Stefans Blick folgte der Linie ihrer nackten Schultern, die von ihren Locken umspielt wurden; sanft huschte ein Schatten um ihre Wirbelsäule, die in jener zarten, überzähligen Erhebung auslief, den er im Scherz ihren kleinen Teufelschwanz nannte. Ein plötzlicher Windstoß löschte die Kerzen; es wurde dunkel im Zimmer.

Während sie sich anzogen, sagte sie noch: »Ich werde den Kerl noch mal anrufen, zur Sicherheit …, spiele noch ein bisschen weiter die eifersüchtige Gemahlin. Dass er uns bei der Stange bleibt. Hey, lach doch nicht so blöd …!« Sie war wieder ganz konzentriert.

Stefan machte Licht. Im Zimmer war wenig, aber alles, was er sah, bezeugte ihren erlesenen Geschmack: das Rolf-Benz-Sofa, die Stiche aus der Serie »Die Liebenden« an der Wand, die raffinierten Echtholz-Glas-Designermöbel und die elegante Stehlampe von Panton, ein Unikat. Es war sensationell, und jedes Mal, wenn er ihr Liebesnest verließ, wirkten dessen Bilder in ihm nach und ließen ihn den schrecklichen Geschmack seiner Frau zu Hause noch schmerzhafter spüren; dort sah es aus wie das Mobiliar gewordene Gerede von »Achtsamkeit«, »innerem Kind« und ihrem ewigen »Spüren«: Gewachstes Fichtenholz, getrocknete Pflanzen und Feldfrüchte, bis ins Schlafzimmer mürbe Bio-Trostlosigkeit, so weit das Auge reichte, und alles garantiert schadstofffrei. Seit einigen Jahren wählte sie sogar Grün, ach, es war unglaublich, was aus ihr geworden war.

Jessica riss ihn aus seinen Gedanken. »Und denk dran, ich folge ihm aus der Stadt hierher, und erst, wenn er da unten wieder seine Wacht aufgenommen hat, bekommst du die SMS. Dann erst legst du los, den Schlüssel für den Keller hast du ja. Wie lange, denkst du, wirst du brauchen?«

»Mit dem Rad über Hoffeld bin ich in 15 Minuten drüben …  7 Eine Stunde vielleicht, höchstens eineinhalb. Das passt perfekt!«

»Hab ja auch ich mir ausgedacht – wozu habe ich Architektur studiert? Wir müssen immer an alles denken, Fehler können wir uns nicht leisten …« Sie schlüpfte in ihre Flamenco-Pumps, und selbst diese kleine Bewegung, die neckisch das allzu enge Kleid hochrutschen ließ, sodass die netzbestrumpften Beine sich in ihrer vollen Länge zeigten, geriet zu einem Fest für seine Augen. Alles an Jessica war Grazie, Grazie und Eleganz. Wie hatte er nur ohne sie leben können?

*

Frank konnte sich keinen langweiligeren Ort als diesen Parkplatz vorstellen. Diese Dienstagabende wurden langsam zu einer festen Gewohnheit; mittlerweile glaubte er, erste der größtenteils betagten Bewohner des Areals wiederzuerkennen. Umgekehrt würde das nicht der Fall sein; Frank trug heute Jeans und Hemd (weiß, mit blauen Streifen) und seine aschblonden Haare waren akkurat, aber nicht gerade modisch geschnitten, ein Dutzendtyp mit einem Dutzendgesicht. Auch der zweijährige dunkelblaue Golf war fast ein Muss, ein Auto, das wenig über seinen Besitzer verriet. Im Rahmen einer längerfristigen Beobachtung wie bei dieser Dienstagssache variierte er nämlich Kleidungsstil und Habitus durchaus. Was er heute trug, war immerhin bequem, im Anzug mit Krawatte als eine Art Versicherungsvertreter in der Vorwoche hatte er sich nicht recht wohl gefühlt. Unauffälligkeit war sein Kapital, und Frank konnte in der Masse nahezu nach Belieben verschwinden. Für eher ins Auge stechende Typen war dieser Job mit seinen ständigen Observierungen jedenfalls nichts.

Langsam ließ er eine gesalzene Erdnuss im Mund zergehen. Heute musste es klappen! Wenn nicht, verfolgte er da noch eine andere Idee, besondere Lagen erforderten besondere Maßnahmen. Aber davon hatte er seiner Auftraggeberin nichts gesagt. Sie war wieder so verzweifelt gewesen am Telefon, hatte ihn angefleht, es noch einmal zu versuchen. Sie spüre einfach, dass da etwas sei mit dieser Jessica Bergk, Stefan könne sie nicht länger täuschen!

Stefan und Marie Magdanz, Eheleute aus Stuttgart-Degerloch  8 . Im Netz war nicht viel über das Paar zu finden gewesen, außer dass sie in einer hübschen alten Villa wohnten und er beim Kulturamt irgendetwas mit Theater zu tun hatte. Theater, das interessierte Frank überhaupt nicht, und der Respekt vor diesem Mann hielt sich bei ihm in Grenzen. Nicht aus moralischen Gründen, Gott bewahre, eher war da etwas bei der gemeinsamen Aufzugfahrt gewesen: Der Typ gefiel ihm einfach nicht! Das war so einer, der immer alles wollte, und alles konnte man nicht haben. Man musste sich entscheiden.

*

Zweimal wäre er fast in einen dieser Köter gefahren! Überhaupt hatte Stefan die Hunde nicht bedacht: Das Ramsbachtal war voll mit diesen Tieren, selbst noch in den Abendstunden, und wo Hunde waren, da gab es auch Grüppchen tratschender, meist bereits leicht tatteriger Hundehalter, die es zu umfahren galt.  9 Auf Höhe des FKK-Geländes  10 begann ein Dackel, ihn zu jagen; bald gab das Tier auf. Bei dem ganzen Auflauf hier war er froh um den verspiegelten Schutzhelm, den er nebst Sportzeug im Baseball-Stil trug; in dieser Kluft aus der Altkleidersammlung hätte ihn nicht einmal seine Mutter erkannt, wie man so schön sagte. Die war lange tot, und ihre jahrelange Demenz hatte sein gesamtes väterliches Erbe aufgezehrt. Die herbstlichen Felder lagen satt in der Abendsonne, die letzten Wiesen waren stopplig-kurz, und einige riesige Heuballen warteten darauf, eingebracht zu werden. Der Geruch des frisch gemähten Grases weckte in Stefan wie immer die Sehnsucht nach einem einfachen Leben, dessen gleichförmige Tage hingenommen werden könnten, wie sie kamen, eine Existenz frei von großen Fragen und kleinen Zweifeln. Na ja, etwas einfacher würde alles bald werden! Allerdings störte der Güllegestank; der hiesige Bauer meinte es mit dem Ausbringen der Fäkalien besonders gut. Degerloch, die alte Kirche mittig, erhob sich dagegen vor ihm wie ein unschuldiges Dorf.  11 Etwas weiter rechts ragte der Fernsehturm aus dem Wald und seine milde Beleuchtung kündete von der nahenden Nacht.  12  Stefan hasste diesen Anblick. Alles hier gehörte Marie, hatte immer Maries Familie gehört, die vor Jahrzehnten sogar den Bürgermeister des Stadtteils gestellt hatte. Vielleicht war diese materielle Ungleichheit ja der Grund, weshalb seine Ehe so grandios gescheitert war.

In der Löwenstraße lag er, sei es wegen der Hunde, sei es wegen seiner Aufregung, bereits 5 Minuten hinter der Zeit. Stefan war ein geübter Radfahrer, jeden Morgen fuhr der passionierte Frühaufsteher noch vor der Arbeit, so es nur irgend ging, zum Schloss Hohenheim  13 und wieder zurück, eine herrliche, größtenteils autofreie Strecke, die er in unter 40 Minuten schaffte. Aufgeregt war er, weil jetzt das Schwierigste vor ihm lag: Er musste unerkannt ins eigene Haus kommen. Das Problem löste er über die Geschwindigkeit: Er raste wie ein Geisteskranker, kreuzte den Gehweg. Sehr gut, die Hofeinfahrt stand offen, wie er sie hinterlassen hatte! Die Garage als Blickschutz gegen die neugierige Nachbarin nutzend, schleuderte er das Bike in das gepflegte, rabattengesäumte Grün. Gerade noch rechtzeitig dachte er daran, im Flur den Helm abzunehmen. Er wollte Marie nicht erschrecken.

»Oh, du bist es!«, begrüßte sie ihn; wie immer saß sie am Rechner. Seit sie mit Aktien spekulierte, verhielt sie sich wie ein professioneller Trader: Im Grunde starrte sie nur noch auf irgendwelche Kurse, morgens, mittags, abends, nachts, auf Zahlen, die sich freilich nie so entwickelten, wie sie hoffte. Bald wäre das ganze Geld weg, wenn er ihr nicht Einhalt gebot. »Ihr Geld«, wie sie immerzu betonte. Das Haus verließ sie seit Jahren nur noch zu den nötigsten Besorgungen. Früher hatten sie wenigstens am Wochenende gemeinsam etwas unternommen, doch seit dem schrecklichen Abend in der Wielandshöhe  14 vor gut einem halben Jahr, jenem so ungeheuer peinlichen Streit, war auch das eingeschlafen.

Sein Blick fiel auf all den Kitsch, den sie hier angehäuft hatte: All die Buddhastatuen und Lebensbäume, getrockneten Äste in Glasvasen, die so verstaubt waren, dass ihn seine Allergie nirgendwo stärker plagte als zu Hause, die mannshohe Holzgiraffe in der Ecke, überall diese Steinkätzchen, die Plastikorchideen und -rosen und all die anderen Geschmacklosigkeiten. Stefan hasste das! Der Gipfel war draußen im Garten: Die Halogenstrahler saßen auf dem Rücken täuschend echt modellierter Frösche, die tagsüber ekelhaft im Sonnenlicht glänzten. Auf die Holzbank beim Esstisch hatte sie diverse altertümlich gewandete Stoffpuppen gelegt, »damit die Ecke etwas freundlicher wirkt«, hatte sie gemeint. In letzter Zeit begann sie sogar, im Flur vereinzelte rustikale Porzellanteller mit Hafenszenen ihrer Hamburger Heimat aufzuhängen, gut, das war eine gezielte Provokation nach einem Streit gewesen. »Mein Haus«, hatte sie knapp gemeint. Kurz fragte er sich, ob alles anders geworden wäre, wenn das mit dem Kind damals geklappt hätte.

Sie starrte wieder auf die Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm. Ihr fiel noch nicht einmal auf, dass er seit Monaten dienstags nicht mehr so früh nach Hause gekommen war. Was sie überraschenderweise doch bemerkte, war seine Montur: »Schatz, das sieht aber mal richtig Scheiße aus …«, waren ihre letzten Worte.

Augenblicklich hatte sie der Elektroschocker außer Gefecht gesetzt. Er verschloss die Wohnungstür und sprang die Treppe hinauf, um ein Vollbad einzulassen. Dann veranstaltete er in der Wohnung ein Chaos, so gut es nur ging. Insbesondere achtete er darauf, alle Schubladen zu öffnen und ihren Inhalt auf dem Boden zu verteilen. Den alten Tresor hatte er die Tage bereits aufgebrochen; sie zu überreden, einmal wieder zum Frisör zu gehen, war fast das Schwierigste an der ganzen Sache gewesen. Vor Jahren schon hatte sie darauf bestanden, einen besonders scheußlichen Hundertwasser-Druck – den liebte sie abgöttisch – vor den Safe zu hängen, so hatte sie nichts von seiner Aktion bemerkt.

Abgemagert, wie sie von all ihren Entschlackungsdiäten war, fiel es ihm nicht schwer, sie nach oben zu schleppen. Er zog sie aus, legte sie ins Wasser. Dann machte er den Fön an und warf ihn dazu. Es war der Geruch nach verbranntem Fleisch, der ihm dann doch zu schaffen machte. Er suchte ihren Puls, da war nichts. Irgendwie sah sie aber immer noch so lebendig aus. Da tauchte er ihren Kopf unter Wasser, so lange, bis es ihm genug schien. Er strich ihr das dunkle Haar aus dem Gesicht. Sie sah friedlich aus, jetzt.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang er die Treppe hinab, die ganze Zeit Jessicas Satz im Ohr: »Es muss alles ein bisschen dilettantisch aussehen, denk daran: Der Einbrecher improvisiert, das ist ein Amateur.«

Am Rechner sorgte er dafür, dass die Polizei die Korrespondenz mit dem Detektiv ziemlich bald finden würde. Er kannte schon eine ganze Weile ihr Mail-Passwort, las ihre ewigen Tiraden über ihn, gerichtet an diese unsägliche Britta, ebenso mit, wie er seit Längerem ihre vielleicht politisch korrekten, dafür aber immens verlustreichen Börsengeschäfte verfolgte. Es war nicht schwer, die unter ihrem Namen gesendeten, aber in Wirklichkeit an ihn gehenden und von ihm kommenden Mails nun in ihren Account einzufügen; Outlook sortierte sie sogar automatisch korrekt nach Sendedatum ein. »Irgendein Verdacht wird früher oder später ohnehin auf uns fallen, da ist es besser, wenn wir das gleich ausräumen, dann haben wir Ruhe«, lautete Jessicas Überlegung. Beim Posteingang, also den beiden Antwortmails des Detektivs, war es ein wenig schwieriger, aber auch das klappte schließlich mittels eines Tricks, den er nächtelang auf irgendwelchen Hackerseiten recherchiert hatte. Praktischerweise ließ er den Rechner gleich an, sie war ja vom Klingeln des Einbrechers überrascht worden … Ihr Handy legte er daneben, ein uraltes Motorola-Gerät, das sie aus Prinzip immer ausgeschaltet ließ (»Ich hab doch keine Lust, dass die mich orten …«) und meist irgendwo im Haus vergaß, sodass sie es die letzten Tage nicht einmal vermisst hatte.

Er dachte auch daran, seine alte Freitag-Tasche umzuhängen, gefüllt mit Jeans und Pullover. Im Flur sah er sich noch einmal um, alles schien zu passen. Dann setzte er den Helm auf. Inzwischen war es stockdunkel, wie geplant. Die Haustür ließ er angelehnt und sprang aufs Rad. Auf der Höhe der Polizeiwache schaltete er die Helmlampe an. Es war 19.18 Uhr, er lag gut in der Zeit.

Stefan raste zurück, als hinge eine Meute zähnefletschender Rottweiler an seinem Hinterrad. Tatsächlich war etwas hinter ihm her, eine dunkle Ahnung, und sie ließ sich nicht so einfach abschütteln. Der Teufel, der sie ihm schickte, saß in all den kleinen Details, die wie Blitze in wildem Durcheinander durch seinen Kopf zuckten. Hatten sie etwas übersehen? Stefan konnte fahren, so schnell er konnte, er wurde diesen Geruch nach versengtem Haar und angebranntem Fleisch nicht los, der sich mit dem Jauchegestank von den Feldern mengte, als läge da überall Aas im Wald. Das alles hatte ihn doch stärker mitgenommen als erwartet. Marie im Bade … Er hatte sich die ganze Zeit ausgemalt, die Sache würde ihm so, so leichtfallen. Aber leicht war nichts daran gewesen.

Diesmal war das Tal fast menschenleer. Es war eine jener kalten Herbstnächte, in denen der Himmel von Sternen übersät war; ihr Gefunkel und das Streulicht der Stadt ließ die weiten Felder doppelt dunkel erscheinen. Die drei Türme von Asemwald ragten drohend am Horizont auf wie eine uneinnehmbare Festung.

Als er ankam, war die Luft so reglos, dass das dunkle Geäst der Bäume wie erstarrt gegen die Nacht stand. Das Rad brachte er an den sorgsam ausgesuchten Platz beim ersten Hochhaus; nicht allzu ungewöhnlich, dass hier eines stand, und doch etwaigen neugierigen Blicken weitgehend entzogen. Er schloss es gut ab und warf den Schlüssel etwas weiter vorn irgendwohin ins Gebüsch. »Wird wer vergessen haben«, lautete Jessicas Erklärung für das zurückgelassene Rad. Im nahen Unterholz zog er sich um und steckte die Radmontur samt Helm in die Tasche.

Dann schlenderte er wie ein Spaziergänger zur Rückseite des Gebäudes. Jessicas Baufirma hatte vorigen Herbst die Lüftungsanlage der Tiefgarage gewartet, deshalb besaß sie einen Schlüssel für den Schacht, in den er rasch huschte. Dankbar blickte er noch einmal an dem nur teilweise erleuchteten Gebäude hoch, das düster in die Nacht aufragte. Hier hatte alles begonnen, der ganze Plan. Jetzt waren sie endlich frei! Ein Glück, dass Jessica diese Wohnung gekauft hatte … Kurz entschlossen war sie, ohne ihm zuvor ein Wort zu sagen, zu der Zwangsversteigerung gegangen und hatte für ihr Liebesnest sogar einen Kaufpreis weit unter Marktwert erzielt.

Im Lüftungsschacht entsorgte er Helm, T-Shirt und die Radlershorts. Über die recht gut gefüllte Tiefgarage gelangte er in den Aufzug, der nicht stehen blieb, wie er zwischen dem zehnten und elften Stock kurz befürchtete. Er begegnete niemandem. Um halb acht lag er in Jessicas Armen. Ausführlich berichtete er, wie gut alles geklappt hatte. Bevor er unter ihren Küssen fast erstickte, fragte er noch: »Und der Trottel?«

»Sitzt noch brav unten …«

»Dann lass uns mal runtergehen …«

*

Frank schoss gestochen scharfe Bilder. Die üppige Brünette in dem hautengen, schwarz-weiß gestreiften Minikleid war wirklich ein Blickfang. Die beiden küssten sich, als wollten sie ins Fernsehen. Es war erst acht und so rief er gleich bei seiner Auftraggeberin an. Er wollte das hinter sich bringen. Niemand hob ab.

Er nahm noch ein paar Nüsse, dann genehmigte er sich einen Schluck. Blöd war nur, dass er sich den ganzen Aufwand, diese teure 13-Megabyte-Minicam mit dem Supermikrofon, hätte sparen können. Morgen würde er schon wieder hierherfahren müssen, um sich das Ding wiederzuholen, zum Glück war diese Wohnungstür so leicht aufzubekommen … So wie die Dame aussah, würde er vielleicht sogar einen Blick auf die Aufzeichnung riskieren.

Freizeittipps

 1 Die 1927 errichtete Siedlung nahe der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste im Stuttgarter Norden (Stadtteil Killesberg) gilt als Monument der modernen Architekturgeschichte von Weltrang; alles Wissenswerte unter http://www.stuttgart.de/weissenhof/.

 2:Die Architektur der Neuen Staatsgalerie, von James Stirling 1984 fertiggestellt, lohnt wirklich ein genaueres Hinsehen. Hier auch eine bedeutende Sammlung von Kunstwerken des 20. Jahrhunderts. Auch die danebenliegende Alte Staatsgalerie mit Werken seit dem 14. Jahrhundert lohnt einen Besuch, der im Sommer dienstags und donnerstags bis 20 Uhr möglich ist. Achtung: Die Museen sind montags geschlossen.

3:Das im März 2005 errichtete Kunstmuseum Stuttgart am Schlossplatz mit 5.000 m² Ausstellungsfläche wurde von den Architekten Hascher und Jehle (Berlin) entworfen. Es hat an Beliebtheit inzwischen sogar die Staatsgalerie überflügelt und zeigt wechselnde Ausstellungen, vorwiegend moderne und zeitgenössische Kunst. Es wirkt von außen als gläserner Würfel, der die Umgebung spiegelt, wobei meterhohe Wörter und Texte aus grauer und roter Klebefolie an den Glasfenstern angebracht sind, die auf die jeweilige aktuelle Ausstellung hinweisen. Mit Einbruch der Dunkelheit werden dann die beleuchteten Kalksteinwände im Innern sichtbar. Hier sind das Museum Haus Dix und das Archiv Baumeister mit Werken von Otto Dix und Willi Baumeister beheimatet. Das Museum ist bis 18 Uhr geöffnet und leider montags geschlossen.

4:Der zweite Würfel, den Stuttgart in den letzten Jahren bekommen hat, ist die 2011 fertiggestellte Neue Stadtbibliothek am Mailänder Platz. Architekt des Projekts war der Südkoreaner Eun Young Yi. Auf neun oberirdischen und zwei unterirdischen Stockwerken sind 1,2 Millionen Medien zugänglich. Mitten im sogenannten Europaviertel gelegen, das leider wieder eine der zahlreichen Stuttgarter Nachkriegsbausünden zu werden verspricht, ist ein Besuch der Bibliothek ein Spaß für Jung und Alt. Architektonisch insbesondere im Inneren hochinteressant, bietet sie mit ihrer zentralen Kinder- und Musikbibliothek sowie einer Graphothek alles, was eine zeitgemäße Bibliothek ausmacht. Es gibt eine Dachterrasse mit feinem Ausblick (wobei man besonders gut das unmittelbar benachbarte Gelände des Bahnhofsprojekt Stuttgart-21 besichtigen kann, um welches es in den letzten Jahren so viel Streit gegeben hat), ein spannendes Veranstaltungs-Programm (Infos unterhttp://www1.stuttgart.de/stadtbibliothek/) und viele ruhige Leseplätze für all die tollen Bücher. Noch mehr Bücher findet man nur in der Württembergischen Landesbibliothek (Konrad-Adenauer-Straße), der großen wissenschaftlichen Universalbibliothek.

5: Wer die Idee des modernen Wohnungsbaus mit all ihren Stärken und Schwächen auf kleinster Fläche verbildlicht sehen will, dem sei ein Besuch des 1971 fertiggestellten Ensembles Asemwald angeraten. Viele Informationen dazu finden sich auf http://www.asemwald.de. Unter der Leitung der Architekten Dr. Ing. Otto Jäger und Dr. Ing. Werner Müller wurde nach jahrzehntelanger Planung schließlich der mehrfach veränderte Entwurf aus dem Jahr 1968 verwirklicht. Die Planung berücksichtigte unter anderem »schnell steigende Einkommen und mit ihnen wachsende Wohnansprüche« und »neueste architektonische, technische und wirtschaftliche Erkenntnisse«, die aerodynamische Standsicherheit und optimale Anordnung der Gebäude wurde im Windkanal modelliert. Der Bau wurde von Anfang an von einer höchst kontroversen Debatte begleitet. Insgesamt erreichten die Bauherren das Gegenteil des von ihnen Gewünschten: »Tatsächlich ist es nicht zuletzt den Auseinandersetzungen um ›Hannibal‹ zu verdanken, dass die Einsicht in die Notwendigkeit schwerpunktartiger Bebauung weithin Boden gewonnen hat, dass die Nachteile und Gefahren der Zersiedlung nunmehr deutlicher gesehen werden, heißt es auf http://www.asemwald.de.

6: Das öffentlich zugängliche Panorama-Schwimmbad im ersten der drei Blöcke bietet eine herrliche Aussicht auf die Filderebene, den Fernsehturm mit Fernsicht bis zur Schwäbischen Alb. Danach lockt ein Besuch des Höhenrestaurants ›Hannibal‹ im selben Gebäude.

7: Der Stadtteil Hoffeld bietet dem Interessierten, von Westen her kommend, ein nahezu einzigartiges Ensemble an aufwändig von überwiegend jungen Familien renovierten Häuschen aus den 1930er- Jahren; ein Spaziergang ersetzt den Schöner-Wohnen-Katalog.

8:Stuttgart ist mit einer Höhendifferenz im Stadtbereich von über 340 Metern (207 m ü. NN am Neckar bis 549 m ü. NN im Südwesten der Stadt), die seine kennzeichnende Kessellage ausmachen, und den damit einhergehenden zahlreichen Steigungen eher etwas für sportliche Radfahrer. Wer es hingegen gemütlicher mag, der fährt (mit der »Zacke«, der U-Bahn – Linie 5, 6, 3 oder 8 – oder dem Auto) in den Stadtteil Degerloch. Trotz des Klangs des Namens (»-loch« bedeutet eigentlich »Wald«) liegt Degerloch über 200 Meter über dem Stuttgarter Kessel und ist deshalb geradezu ideal geeignet als Ausgangspunkt für eine entspannende Radtour über die Filderebene. Unter den zahlreichen Tourenvorschlägen auf http://www.unsere-filder.de/ ist für jeden Geschmack etwas dabei, etwa …

- Bella Vista, 43 km

- Durch den Sauhag, 19 km

- Gewässertour, 34 km

- Körschtalroute, 20 km

- Neckar-Körschtal-Weg, 23 km

- Rund um den Flughafen, 24 km

- Siebenmühlentalroute, 29 km

- Stuttgarter Filder-Radrundweg, 31 km

- Wiesen, Felder und Viecher: Rohr–Körschtal–Oberesslingen, 27 km

9: Hat man Lust auf einen Spaziergang und möchte einmal den um Stuttgart so reichlich vorhandenen Wald vermeiden, kann man das hübsche Ramsbachtal durchwandern; der Lauf des Bachs wurde zuletzt aufwändig künstlich renaturiert. Hier auch ein Feld-/Wiesenlehrpfad aus dem Jahr 2001.

10: FKK-Freunde finden hier im Raum Stuttgart die nahezu einzige Möglichkeit, ihrer Leidenschaft nachzugehen. Im sehr schönen, gut abgezäunten Gelände des Bunds für freie Lebensgestaltung Stuttgart e.V. (Bffl) in Degerloch mit kleinem See findet der FKK-Freund alles, was sein Herz begehrt. Eine Mitgliedschaft beim Bffl kostet für eine Einzelperson 78, für eine Familie 145 Euro. Informationen unter Telefon: 0711/466410. Der Bffl hat zudem ein Wald- und Wiesengrundstück bei Birkmannsweiler nahe Winnenden sowie einen Familiensportpark auf dem Simonsberg bei Öhringen. Dazu: http://www.bffl-stuttgart.de.

11: Die alte Michaelskirche, die auf eine Kapelle von 1361 zurückgeht, daneben befindet sich auch noch eine alte Zehntscheuer. In der seit 1100 urkundlich erwähnten Gemeinde ist neben dem Fernsehturm auch unbedingt sehenswert das umliegende Sportgelände Waldau, wo auf kleinster Fläche sehr viel erstrangiger Sport zu erleben ist (Hockey, Fußball, Tennis, Eislauf usw.). Hoch interessant ist auch die »Zacke«, die bereits im Jahr 1884 als Dampfzahnradbahn (heute elektrische Zahnradbahn) den Stadtteil mit dem Stuttgarter Süden (Marienplatz) verbindet.

12:Der leider seit März 2013 aus Sicherheitsgründen geschlossene Fernsehturm in Stuttgart ist das unbestrittene Wahrzeichen der Stadt. Eigentlich nur ein 216,6 Meter hoher Fernmeldeturm, löste das 1956 eröffnete Bauwerk eine weltweite Turmbauwelle aus. Architektonisch stellt er den Beginn einer neuen Ära im Turmbau dar, da er ganz aus Stahlbeton besteht, einen vom Schaft ausladenden »Korb« unterhalb der Antenne besitzt, in welchem ein Restaurant untergebracht war, und in sogenannter »vertikaler Kragarmbauweise« errichtet wurde. Restaurant und Aussichtsplattform, von der man bei klarer Witterung nicht nur einen wunderbaren Blick über den Stuttgarter Kessel hat, sondern sogar die Alpen sehen kann, machten das Gebäude rasch zu einer Touristenattraktion. Von einer Wiedereröffnung fürs Publikum ist auszugehen.

13:Schiller beschrieb einst den malerischen Park des Schlosses Hohenheim: »Aber die Natur, die wir in dieser englischen Anlage finden, ist diejenige nicht mehr, von der wir ausgegangen waren. Es ist mit Geist beseelte und durch Kunst exaltierte Natur …« Das Schloss wurde zwischen 1772 und 1793 vom württembergischen Herzog Carl Eugen für seine Geliebte (und spätere Frau) Franziska gebaut. Heute wird das Schloss hauptsächlich von der Universität Hohenheim genutzt. Es liegt inmitten der Hohenheimer Gärten, die noch heute nahezu 35 Hektar Parkfläche umfassen, wobei weite Teile von der Universität Hohenheim zu Forschungszwecken genutzt werden (u. a. ein Landesarboretum und ein exotischer Garten sowie ein Botanischer Garten finden sich hier). Die Gärten werden ergänzt durch einen Weinberg und eine Schafweide, die weitere 2,2 Hektar umfassen. Das Landesarboretum besitzt noch 18 aus der Zeit Karl Eugens stammende Bäume sowie drei historische Bauwerke: Das Spielhaus, das Römische Wirtshaus und die Trümmer der Säulen des Donnernden Jupiters. Bis heute werden die Gärten um weitere Bauwerke und Skulpturen ergänzt.

14:Das Restaurant Wielandshöhe (Alte Weinsteige 71, 70597 Degerloch), eines von nur neun Sternerestaurants in Stuttgart mit herrlichem Blick auf die Stadt, ist sicher das überregional berühmteste unter ihnen. Laut Betreiber und Starkoch Vincent Klink soll es gerade kein Gourmet-Tempel sein, in dem das Aussehen der Speisen mehr zählt als der Geschmack. Unbedingt vorher reservieren!

Das letzte Date

Na ja, dachte Mia, bei den Profilbildern lügen sie alle. Wer hübschte das eigene Aussehen in den gängigen Portalen nicht ein wenig auf? Etwa, im Fall der Männer, nach denen sie sich umsah, durch ein betagteres Foto – aus Tagen, als sich der Getränkebauch noch im Anfangsstadium befand und der Body von diversen sportlichen Aktivitäten kündete, Folge des Azubi- oder Studentendaseins mit seinem Übermaß an Freizeit? Oder man nutzte beim Porträt freundliches Gegenlicht, das wie mit Zaubermacht Fältchen und Hautunreinheiten entfernte, dafür den Dreitagebart und das markante Kinn umso besser zur Geltung brachte. Halbglatzenträger nutzten angeschnittene Fotos oder lässige Mützen. Einige, darin Bewanderte, bedienten sich diverser Software-Helfer, um die erstaunlichsten Effekte zu erzielen: vom Durchschnittshorst zum Johnny Depp in zehn Bildbearbeitungsschritten.

Die Realität, im Dämmerlicht eines italienischen Restaurants oder einer angesagten Szene-Bar, konnte da oft nicht mithalten, aber das war ›Frau‹ nach den ersten Dates gewohnt, und Mia verfügte über einige Dating-Erfahrung, denn nachdem sich irgendwann die Hoffnung auf Mr. Right verflüchtigt hatte, war ihr der Weg zum Ziel geworden und das Dating nebst den obligatorischen Schmetterlingen im Bauch und der Lust ersten körperlichen Kennenlernens genügte ihr völlig, um ihr etwas eintöniges Berufsleben als Anwaltsgehilfin bei der Kanzlei Ruppert & Schrader mit einem Hauch von Abenteuer aufzufrischen.

Bei SanFrancisco2005 allerdings war alles anders: Sie hatte ihn per Zufall in einer anderen Börse als der üblichen gefunden, »Christian sucht Christiane« oder so ähnlich. Für Gläubige, eigentlich nicht ihr Revier. Sein dezentes Profilbild war ihr ins Auge gestochen, der Schattenriss eines Cäsarenhaupts, den Marcel, wie er wirklich hieß, vor Jahren als Logo seiner HipHop-Band benutzt hatte, wie sich dann im Laufe eines angeregten Chats herausstellte. Frauen konnten in vielen Portalen gratis mitmachen und so hatte sie ihn angeschrieben. Die eindrucksvollen Bilder, die er ihr mailte, ließen sie an einen nicht schlecht aussehenden Typen Mitte dreißig denken, doch was hier vor ihr saß und sie aus grünen Augen anlächelte, das war einfach der Hammer! Ein scharf gezeichnetes, überraschend blasses Gesicht, ein wunderschöner Mund, darunter das maskuline Kinn, dazu halblanges schwarzes Haar, wie sie es liebte – sie fand, ihr Blond passe am besten zu dunklem Haar – und diese bezaubernden Grübchen, in einem Gesicht, das immer zu lachen schien, selbst wenn die Augen melancholisch verhangen waren wie jetzt, da er ihr immer weitere Details von seiner gescheiterten Beziehung mit irgendeiner Lena erzählte, daheim in Balingen  15 .  

Nicht auszuschließen, dass es der Schmerz war, der den erfolgreichen Ingenieur, fest angestellt bei einem hiesigen Automobilzulieferer, vor acht Jahren endgültig nach Stuttgart geführt hatte. Der letzte Romantiker, lächelte sie in sich hinein. Er sprach ein wenig Schwäbisch, aber sie fand das eigentlich ganz süß.

»Ein Schnittchen«, hätte Franzi gesagt, aber die war ja nicht hier. Mia musste ihn unbedingt nachher noch zu einem gemeinsamen Foto überreden, damit sie ihr ihre Trophäe für die obligatorische Nachbesprechung am Montag vorzeigen konnte. Franzi, ihre Kollegin, war verheiratet und gierte regelrecht auf Mias neueste Storys, die wieder­um ihre Wochenendbeute mit dem Stolz eines Großwildjägers präsentierte. Man gönnt sich ja sonst nichts, dachte sie vergnügt und nickte hier und da zu seinen Ausführungen, in denen jetzt seine ältere Schwester die Hauptrolle eingenommen hatte, weil sie dieser Lena einmal angetrunken in einem Gespräch … Es war nicht wichtig! Sie musste ein Lachen unterdrücken, als sie seiner Erzählung entnahm, dass sogar sein Nickname in diesem Dating-Portal auf einen gemeinsamen Kalifornien-Urlaub mit Lena zurückging.

Ihre Mimik war wichtig: Sie schien alles zu verstehen, was ihn bedrückte, gab ihm das Gefühl, vor Empathie und Hingabe schier überzufließen. Mia beherrschte das inzwischen perfekt.

Ihr Vorschlag, sich an diesem feinen Altweibersommerabend beim Teehaus zu treffen, war eine super Idee gewesen.  16 Es war weder zu leer noch zu voll im Außenbereich, und der herrliche Sonnenuntergang, der die Stadt unter ihnen in purpurnen Glanz tauchte, entschädigte sie für das leichte Frösteln, das sich bei ihr in ihrem zu leichten, dafür raffiniert ausgeschnittenen Kleid nach gut einer Stunde eingestellt hatte. Die erste Anwandlung von Herbst, die bereits in der Abendluft mitschwang, hatte ihr sogar erlaubt, mit Augenaufschlag Rilke zu zitieren: »Wer jetzt allein ist …« Als ein Rosenverkäufer auftauchte, nutzte sie die Gelegenheit, zu ihrem Foto zu kommen. Sie kaufte ihm eine ab, ehe Marcel protestieren konnte, und bat den Pakistani um ein Bild. Kurz entschlossen setzte sie sich auf Marcels Schoß und lächelte gekonnt in Richtung ihres iPhones. Sein muskulöser Oberkörper fühlte sich gut an.

Mia war Halbamerikanerin. In New York, wo ihr Vater seit der Scheidung von Mutter lebte, gab es ein regelrechtes »Dating-Business« mit festen Regeln, wie weit man zu gehen hatte. Spätestens nach dem dritten Date musste die Frage der besten Freundin »Did you get some?« mit »Ja« beantwortet werden, sonst war die Sache Geschichte. In Deutschland brauchte man nicht so lange zu warten. Sie sagte: »Ich glaube, die schließen hier gleich. Wenn du mich jetzt fragen würdest: ›Zu dir oder zu mir?‹, würde ich sagen: Zu dir.«

Seine Altbauwohnung im Lehenviertel hatte Klasse.  17